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TEIL I: Vergiss es!

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Ich liege im Bett, in meiner kleinen Wohnung in Hamburg-St-Pauli. Die Sonne kitzelt mich im Gesicht und weckt mich. Ich öffne träge die Augen und sehe, dass es ein strahlender Sommertag wird. Warm und sonnig und perfekt dazu geeignet, um einfach nichts zu tun.

Dann drehe ich den Kopf und werfe einen vorsichtigen Blick auf meinen Wecker. Es ist schon kurz nach zehn Uhr! Die Erkenntnis versetzt meiner gerade noch so guten Laune einen hammermäßigen K.O.-Schlag.

Ich muss aufstehen, weil ich in – Oh Gott! – in nicht einmal einer Stunde bei meinem Kellnerinnen-Job sein muss. Und ich kann unmöglich schon wieder zu spät kommen, weil ich dann garantiert rausfliege.

Ich strecke und räkele mich, und dann grunze ich und mache komische Geräusche. Nicht gerade mädchen-like, mein Verhalten, aber das ist mir egal!

Ich springe aus dem Bett und gehe mit müden Schritten rüber ins Bad. Mann, bin ich fertig. Die letzte Nacht war mal wieder viel zu lang und ich habe mal wieder viel zu viel getrunken. Dafür bezahle ich heute mit Kopfschmerzen und einem seltsamen Geschmack im Mund. Aber gelohnt hat es sich trotzdem!

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Zwanzig Minuten später sitze ich frisch geduscht und mit geputzten Zähnen am Küchentisch. Ich trinke einen starken, pechschwarzen Kaffee mit nix drin. Dazu rauche ich eine erste gute Zigarette. Ich sauge den Rauch tief in meine Lunge ein, halte ihn, bis es weh tut und mir schwindelig wird.

Ich muss an letzte Nacht denken. Meine beste Freundin Lara wollte unbedingt ins Indra, einem Club auf dem Hamburger Kiez. Typisch Lara, sie hatte mal wieder Hummeln im Hintern. Aber mir ging es genauso. Ich war nicht zu bremsen. Irgendwann, lange nach Mitternacht, habe ich einen süßen Typen kennengelernt, er hieß Hendrik, aber ich habe ihn Hank genannt, so wie Hank Williams. Wir haben miteinander geredet und dann habe ich ihn geküsst, einfach so, weil ich Lust dazu hatte. Wir tranken Bier und Wodka und Kaffee, und dann noch einmal Wodka, und ich war total verknallt in ihn. Aber dann eröffnete Hank mir, dass er eine Freundin hat. Na, klasse, dachte ich, du blöder Kerl. Ich sah rot und ich ballerte ihm eine, vor allen Leuten. Er hatte Tränen in den Augen, und irgendwie tröstete mich das. Weil ich ihm ansah, wie sehr es ihm leid tat, dass er nicht frei für mich war. Sein Herz blutete und mein Herz blutete, und der Schmerz schweißte uns zusammen wie es kein Kuss und kein Sex gekonnt hätten. Das war echt umwerfend, und ich war wieder versöhnt mit ihm und der Nacht.

Lara und ich sind dann weitergezogen, wir waren im Molotow und in der Hasenschaukel und am Schluss im Pudel Club. Wir haben weiter getrunken und gelacht, und ich weiß echt nicht, wann ich eigentlich ins Bett gekommen bin.

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Verdammt, ich muss gleich los und mich vorher unbedingt noch stylen. Ich gehe rüber ins Schlafzimmer, lasse auf dem Weg meinen Kimono zu Boden gleiten. Dann stehe ich splitternackt vor dem Schrank und krame ein paar ziemlich seltsame Klamotten raus, die ich freiwillig niemals tragen würde.

Aber für den Job im Café Hafenblick muss ich mich in ein nettes, adrettes Mädchen verwandeln. Der Laden ist eine Schicki-Location, mit reichen, schnöseligen, aufgeblasenen Gästen, und einem Chef, der auf genau solche Typen steht. Aber immerhin zahlt er einen ordentlichen Stundenlohn.

Der Job ist zurzeit meine einzige Geldquelle, mit ihr halte ich mich überwasser. Ich bin offiziell Studentin, aber die Uni habe ich seit Monaten nicht mehr von innen gesehen. Die Vorlesungen öden mich einfach nur an, sie sind Zeitverschwendung. Natürlich habe ich deswegen ein schlechtes Gewissen, schon allein wegen meiner Eltern. Sie halten mich für eine fleißige Studentin, die eines Tages einen Abschluss ablegen wird, und zwar in ... ja, in was eigentlich? Was studiere ich doch gleich? Germanistik? Romanistik? Philosophie? Keine Ahnung, ist aber auch egal, es wird mir schon wieder einfallen, irgendwann wenn die Zeit dazu reif ist.

Mit der Kohle vom Job finanziere ich meine nächtlichen Streifzüge durch Hamburg. Die sind ganz schön teuer und darum habe ich keine Ahnung, wie ich die Miete und den Riesenberg an Rechnungen und Schulden bezahlen soll. Aber egal, mir wird schon etwas einfallen.

Ich schlüpfe in eine schwarze Stoffhose, wähle einen BH mit Spitzenbesatz, und ziehe darüber eine ziemlich enge, weiße Bluse mit Hemdenschnitt an. Später, bei der Arbeit, werde ich ein paar Knöpfe aufmachen, weil jeder offene Knopf hochgerechnet auf den Tag mindestens zehn Euro Trinkgeld wert ist.

Ich übertreibe es aber auch nicht, denn das ist das Geheimnis bei den Männern: Du musst ihnen genug zeigen, damit sie ins träumen geraten. Aber nicht so viel, dass sie glauben, alles von dir haben zu können.

Ich schlurfe in den Flur herüber, sehe mich im Spiegel an und finde, dass ich so bleiben kann, jedenfalls, wenn ich meine Haare noch bändige. Im Moment sehe ich noch aus wie eine Schwester von Bob Marley, das liegt an meinen Dreadlocks, die ich mir vor ein paar Wochen gegönnt habe.

Ich probiere es erstmal mit nem Tuch, das ich mir umbinde, aber damit sehe ich aus wie ne alte Russenmutti auf dem Weg zum Wochenmarkt. Geht gar nicht.

Also Tuch wieder weg. Dafür binde ich mir die Haare zu einem Zopf zusammen, und dann nehme ich ein paar Haarnadeln und eine Spange, und bin dann mit dem Ergebnis ganz zufrieden.

Die Styling-Aktion hat mich in eine Gouvernante verwandelt, aber eine Gouvernante mit drei offenen Hemdknöpfen ist sogar noch ein bisschen mehr Trinkgeld wert… Mein Gott, ihr Männer da draußen seid wirklich primitiv. Ihr seid so einfach gestrickt wie ein mechanischer Rührbesen, hier oben drehen, dann macht es unten rssscht und die Sahne spritzt durch die Gegend.

Was soll’s, wir Frauen sind ja auch nicht besser, nur komplizierter halt. Irgendwie kommen wir schon miteinander klar.

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Ich muss unbedingt noch etwas essen, bevor ich aufbreche. Ich habe zwar keinen Hunger, aber sonst halte ich den Tag nicht durch.

Ich mache mir schnell eine Schale Müsli mit Milch, das beste Frühstück überhaupt. Viel bekomme ich dann doch nicht runter, ich bin zu müde, und außerdem ist es einfach zu warm, um etwas zu essen. Schließlich ist Hochsommer und das Thermometer klettert und klettert, als wollte es bergsteigen.

Ich trete hinaus auf den Balkon und sehe, dass auch heute nicht das geringste Wölkchen am Himmel ist. Eigentlich ist das wunderbar, ich liebe blauen Himmel, ich liebe die Sonne, ich mag die Sommerhitze, wenn alle schwitzen und einen Gang runterschalten.

Aber an einem Tag, an dem ich arbeiten muss, ist gutes Wetter eine Strafe. Ich muss draußen auf der Terrasse vom Hafenblick bedienen, also ständig rein und raus spurten. Drinnen gibt es eine Klimaanlage und es ist irre kalt, und draußen, wo nur Steine sind und die Fensterscheiben die Sonne spiegeln, herrscht das reinste Wüstenklima. Vermutlich werde ich am Abend tot sein, vor allem weil ich auch noch ne Doppelschicht habe. Die geht bis Mitternacht oder sogar noch länger. Aber sie bringt ordentlich Kohle, und darum will ich mich gar nicht beklagen.

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Als letztes male ich mir noch die Lippen an, und zwar knallrot, kirschenrot, blutrot. Das tue ich nicht für die Kerle oder das Trinkgeld, das tue ich nur für mich. Weil ich mir so gefalle, mit blassem Gesicht, mit dunklen Ringen unter den Augen und roten, sinnlichen Lippen. Ja, ich bin zufrieden mit mir, so kann ich es mit der Welt aufnehmen.

Bevor ich aus der Tür stürme, fällt mir noch Rico ein, der Kater, den ich gerade als Pensionsgast habe. Verdammt, das Vieh braucht Futter.

Rico gehört eigentlich meiner Freundin Sonja. Sie ist genau wie ich 22 Jahre alt und verbringt den Sommer auf Ibiza. Vor ein paar Wochen stand sie mit dem Kater auf dem Arm vor meiner Tür und meinte: „Verdammt, Mischa. Kannst du dich um Rico kümmern, solange ich weg bin. Ich habe vergessen, mich drum zu kümmern und ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll?!“

Was blieb mir anderes übrig, als das Tier als Untermieter aufzunehmen. Rico hat sich schon die ganze Zeit bemerkbar gemacht, hat rumgeheult und ist mir ständig auf den Schoß gesprungen und so. Aber an einem Morgen wie diesem kann selbst der Kater nicht mit allzuviel Verständnis und Zuwendung rechnen.

Andererseits darf ich ihn nicht den ganzen Tag hungern lassen. Also gehe ich an den Kühlschrank, wühle die stinkende Dose heraus und fülle seinen verklebten Napf, während er mir maunzend um die Beine streicht.

Ja, ich weiß, Rico. Ich liebe dich auch.

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Mein Auto heißt Jürgen. Er ist ein alter, klappriger Peugeot, und der einzige Mann (ist männlich, Jürgen, weiß auch nicht, warum), der mir seit über drei Jahren treu ist. Obwohl ich ihn wirklich nicht gut behandele. Ich trete und zerbeule ihn und wasche ihn nie, und ich parke ihn ständig so, dass andere ihn abschleppen und er im Autoknast von Hamburg landet.

Aber er ist mir eben trotzdem treu, er geht nie kaputt, oder wenigstens nicht wirklich. Er spinnt nur ab und zu oder röchelt herum, aber dann bekommt er eins mit dem Schraubenschlüssel übergebraten. Danach schnurrt er wieder, und so muss man es mit Männern halt machen, nett sein, aber wenn sie Zicken machen, klarstellen, wer die Chefin ist.

Jürgen ist auch ziemlich albern. Er hat zum Beispiel die Angewohnheit, sich zu verstecken. An diesem Morgen ist es mal wieder so weit. Ich komme aus dem Haus, sehe nach rechts und nach links, aber von der Scheißkarre ist nichts zu sehen. Na, super.

Ich gehe ein paar Schritte die Straße entlang, aber immer noch nichts. Wie vom Erdbeben verschluckt! Mist, verdammte Kacke, Arschloch Jürgen.

Ich denke, der Wagen macht das mit Absicht. Es macht ihm Spaß, wenn ich durch die Gegend irre, um ihn zu suchen. Und besonders klasse findet er es, wenn ich dabei fluche und vor mich hinschimpfe, und zwar so laut, dass sich die Passanten nach mir umdrehen oder ängstlich zur Seite weichen.

Heute ist es wieder soweit. Ich bin total geladen, schreie herum und drohe Jürgen sogar: „Hör zu, du blöde Blechkiste, wenn du dich nicht sofort zeigst, dann kommst du in die Schrottpresse! Vorher mache ich dir eigenhändig Kratzer in den Lack! Oder ich verkauf dich in die Mongolei, da kannst du über die Steppe rumpeln, bis du verrostest. Also sag jetzt endlich wo du steckst, oder ich hau dich eigenhändig zu Klump!

Nichts. Der Wagen bleibt verschwunden. Dabei bin ich mir doch so sicher, dass ich ihn in der Seitenstraße hinter dem Türkenmarkt abgestellt habe. Aber gut, mein Gedächtnis ist an Morgenden wie diesem ziemlich porös. Vielleicht habe ich ihn ja doch woanders abgestellt?! Oder haben die Bullen ihn gekapert?

Ich habe nicht die geringste Ahnung.

7

Ich renne verzweifelt durch die Straßen von St. Pauli, einem coolen Stadtteil, in dem ich wohne, seit ich in Hamburg bin. Aber dann fällt es mir wieder ein! Ich habe Jürgen zu unrecht verdächtigt, wieder einmal seine Spielchen mit mir zu treiben. Verzeih mir bitte, mein Guter, ich bin selbst schuld an allem. Weil ich den Wagen ja verliehen habe, und zwar an Torsten, meinen Nachbarn, der in der Wohnung gegenüber wohnt.

Torsten ist mit seinem Mann, die beiden sind zuckersüße schwule Kerls, ein paar Tage ins Grüne gefahren. Torsten ist ziemlich groß und dick, und sein Mann, die beiden haben letztes Jahr geheiratet, ist winzig klein und zierlich. Er heißt Takeo und ist Japaner, er sieht umwerfend gut aus, und ich glaube, wenn man Takeo anschrie, würde er zu Staub zerfallen. Jedenfalls sind die beiden bezaubernd miteinander, und Torsten macht einfach alles für Takeo, er trägt ihn auf Händen, und ich beneide die beiden um ihre große Liebe. Darum war es gar keine Frage, dass ich ihnen Jürgen geliehen habe, weil Torstens eigenes Auto in der Werkstatt ist. Und jetzt verbringen die beiden vermutlich ein superromantisches Wochenende auf dem Land…

Schön und gut. Aber das löst leider nicht mein Problem. Ich muss zur Arbeit! Ganz egal wie!

Ich sehe auf mein Handy, es ist fünf vor elf, um elf fängt meine Schicht an, also mehr oder weniger sofort. Wenn ich zum Hafenblick zufuß laufe, dauert es mindestens zwanzig Minuten oder noch länger, und dann hätte ich es mal wieder geschafft, ich wäre zu spät.

Und das darf auf keinen Fall passieren. Weil ich dann den Job los wäre. Winni, mein Chef, hat es mir unmissverständlich angekündigt. Noch ein einziges Mal zu spät kommen, und ich bin gefeuert. Ich könnte es ihm nicht einmal übel nehmen. Weil ich leider immer zu spät komme. Immer.

8

Ich renne ich zur Hauptstraße und winke ein Taxi heran, das heißt, ich versuche es, indem ich mit den Armen wedele wie eine Schiffbrüchige. Aber niemand beachtet mich. Die Wagen rauschen einfach an mir vorbei, als wäre ich unsichtbar.

Als sich das nächste Taxi nähert, pfeife ich durch die Finger, und zwar so laut, dass die Rentner in Sankt Pauli vermutlich denken, es wäre Fliegeralarm, und die jungen Leute denken, das Spiel des FC würde heute schon früher freigegeben, ich stürze den ganzen Stadtteil ins Chaos, aber das interessiert mich null.

Ich brauche ein Taxi und zwar sofort. Kurz darauf hält tatsächlich ein Wagen mit quietschenden Bremsen. Ich renne die zehn Meter, schmeiße mich auf den Beifahrersitz, grinse den Fahrer an, ein hübscher Türkenjunge, vielleicht Mitte dreißig, mit Dreitagebart und großen, melancholischen Augen. Er grinst mich spöttisch an, was ich ihm nicht verdenken kann. Was ich hier hinlege, ist mal wieder ein echter Mischa-Dahlem-Stunt. Und wie ich aussehe! Ne Kippe im Mund, Ringe unter den Augen, völlig außer Atem, und dazu angezogen wie ne Klosterschülerin. Außerdem habe ich einen Blick drauf, als wäre die Mafia hinter mir her.

„Hey, kannst du mein Leben retten?“, frage ich ihn.

„Klar, kein Problem. Hör einfach auf zu rauchen.“

Er tippt mit dem Zeigefinger auf den kleinen runden Aufkleber mit der durchgestrichenen Zigarette, der auf dem Armaturenbrett klebt.

„Oh Gott, das meinte ich jetzt nicht…“

„Ich aber.“

„Und ich dachte, du wärst ein Süßer.“

Jetzt muss der Fahrer doch lachen, und ich sage euch, er hat ein schönes, zartes, warmes Lachen, jungenhaft, aber auch männlich, und er hat schöne Zähne, dazu ein Grübchen am Kinn und Fältchen neben den Augen. Ich denke plötzlich, scheiß auf alles, auf Winni, den Job, das Geld.

Wie wäre es, wenn ich stattdessen einfach diesen süßen, kleinen Taxifahrer dazu überrede, mit mir irgndwohin zu fahren, wo wir alleine und ungestört sind. Dort würden wir uns ins Bett oder in ein Feld legen, würden uns lieben, zärtlich sein, an gar nichts denken, alles vergessen, und das dann möglichst den ganzen Rest unseres Lebens.

„Dann sag’s mir doch einfach“, meint der Fahrer und reißt mich aus meinen Gedanken.

„Was soll ich dir einfach sagen?“, frage ich ihn entgeistert.

„Na ja, wie ich dein Leben retten kann. Beziehungsweise, wo ich dich hinfahren soll.“

„Ich muss in den Hafenblick. Du weißt schon, diese bescheuerte Edel-Kneipe unten an der Elbe. Ich arbeite da, aber ich werde rausgeschmissen, wenn ich nicht pünktlich zu meiner Schicht aufkreuze.“

„Und wann ist deine Schicht?“

„Um elf.“

„Es ist elf.“

„Nein, noch nicht ganz. Also: Wenn wir es in drei Minuten dorthin schaffen, zahle ich dir den doppelten Fahrpreis. Okay?!“

Mein hübscher, kleiner, türkischer Chauffeur starrt mich an, als würde ich mich gerade in ein Alien verwandeln.

„Ist das dein Ernst!?“, fragt er.

„Meinst du, ich mache Witze? Sehe ich etwa so aus?“

„Nein. Tust du nicht.“

Anstatt die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen und loszufahren, tut er – nichts! Oh Gott! Warum muss immer mir so etwas passieren? Warum muss immer ich an die begriffsstutzigsten Typen der Welt geraten?

„Mann!“, schreie ich ihn an. „Jetzt fahr einfach los. Ich muss in einer Minute bei meinem Job sein oder ich stecke in den ernstesten, tiefsten, Schwierigkeiten aller Zeiten. Also gib verdammt nochmal Gas!“

Mein Fahrer lächelt. Ganz zart. Und dabei glitzert etwas in seinen Augen wie tausend Sterne an einem Nachthimmel. Mann, hör auf damit, mit so etwas kann ich nicht umgehen! Nicht im Moment! Ich verliebe mich und dann vergesse ich alles andere, und dann stecke ich in noch viel größeren Schwierigkeiten.

„Bitte!“, sage ich leise. „Bitte.“

Erst jetzt scheint er zu merken, dass es wirklich ernst ist. Das Lächeln verschwindet aus seinem Gesicht und macht einer wilden Entschlossenheit platz. „Kein Problem“, sagte er. „Schnall dich an. Es geht los. Wir heben ab.“

9

Der kleine, süße Taxifahrer drückt das Gaspedal durch, und der Wagen schießt nach vorne. Dann sausen wir auch schon mit Schallgeschwindigkeit durch die Straßen von Sankt Pauli und es fühlt sich an, als würden wir in einer großen Achterbahn sitzen oder in einem Learjet oder einer Spaceshuttle. Die Reifen quietschen, und die Leute am Straßenrand schreien hinter uns her, und ich lehne mich im Sitz zurück und zünde mir die nächste Zigarette an. Meinem kleinen süßen Fahrer zünde ich auch eine an und reiche sie ihm rüber, und er nimmt sie und nickt mir zu, und jetzt weiß ich, dass er genauso in mich verliebt ist wie ich in ihn.

Wir lächeln und ich lege ihm die Hand aufs Bein und er steuert den Wagen lässig mit nur zwei Fingern am Lenkrad, und dass obwohl wir Geschwindigkeitsrekorde aufstellen. Er fährt falschherum durch Einbahnstraßen und über rote Ampeln und durch Schleichwege, und alles mit hundert Stundenkilometern. Ab und zu sieht er zu mir rüber, unsere Blicken treffen sich, wir stehen in Flammen wie Kometen, die in der Atmosphäre verglühen. Es ist uns beiden egal. Die ganze Aktion ist verrückt, wir gehen ein bescheuertes Risiko ein. Aber das spielt überhaupt keine Rolle, denn das zwischen uns ist wie Musik.

10

Ich muss an meine letzte Auseinandersetzung mit Winni denken. Ich weiß nicht mehr, warum wir aneinander geraten waren, aber ich habe ziemlich ausgeteilt und ihn beschimpft, und es ist ein Wunder, dass er mich nicht schon damals gefeuert hat.

Aber statt mir die Papiere in die Hand zu drücken und mir den Weg zur Tür zu weisen, hat er sich an einen der Tische gesetzt und sich von Giorgio, der im Hafenblick den Tresen macht, zwei Fernet bringen lassen. Dann sagte er mit einer ganz ruhigen, knisternden, merkwürdigen Stimme: „Setz dich mal zu mir, Mischa. Bitte, hier an meinen Tisch.“

Ich rührte mich nicht von der Stelle. Ich war misstrauisch, was das jetzt wieder für ne Tour werden sollte.

„Na, komm schon“, sagte Winni, immer noch mit dieser seltsamen Stimme. „Das Kriegsbeil ist erst einmal begraben. Versprochen. Setz dich einfach hin …ich werde dich schon nicht beißen.“

Ich war immer noch geladen. Und auf solche Kriegsbeil-ist-begraben-Sprüche stehe ich überhaupt nicht. Giorgio kam dann zu mir, legte seine Hände auf meine Schultern und sah mir in die Augen. Giorgio hat umwerfende, dunkle Italiener-Augen, und die Tatsache, dass er verheiratet ist, hält uns nicht davon ab, uns ab und zu abends nach der Schicht zusammen zu besaufen. Und dann machen wir auch ein bisschen rum, also wir küssen uns, weil wir uns irgendwie lieben, er mich jedenfalls, und ich ihn auch, aber echter Sex läuft nicht. Weil er halt seine Frau hat, und weil er sagt, dass seine Ehe das nicht überleben würde. Jedenfalls hat Giorgio mir in dem Moment in die Augen gesehen und gesagt: „Hör auf Mischa! Hör auf, vor allem wegzurennen, was schwer ist und worauf du keine Lust hast. So läuft es nicht im Leben. Also setz dich verdammt nochmal an den Tisch und rede mit Winni, sonst bist du noch heute auf der Straße, glaub mir.“

Das einzige, was in solchen Momenten hilft, jedenfalls bei mir, ist Luft anhalten. Nicht atmen. Kein bisschen. Und zwar so lange, bis es nicht mehr geht. Notfalls halte ich mir sogar die Nase und den Mund zu. Bis ich ahne, dass ich gleich sterben werde. Und dann, wenn ich es kaum noch aushalte und mir schon schwarz vor Augen wird, dann mache ich es noch ein bisschen länger, noch eine Sekunde oder zwei. Na ja, und irgendwann geht es dann wirklich nicht mehr, dann gebe ich auf, dann lasse ich einfach los und hole Luft, ganz tief, ich sauge mir die Lungen voll, und ich denke an nichts anderes als daran, zu atmen, für eine Minute nur atmen.

Wenn ich Glück habe, ist es danach ein bisschen ruhiger in meinem Kopf. Dann weiß ich wieder, was richtig und was falsch ist.

An dem Tag habe ich es auch so gemacht. Ich habe die Luft angehalten und wurde ruhiger. Winni und ich tranken jeder zwei Fernet. Wir wurden lockerer, und ich war entspannt und konnte ihm zuhören.

„Weißt du, Mischa, es gibt ein paar Dinge, die gehen einfach nicht. Und ich denke, das weißt du ganz genau.“

„Wovon redest du, Winni?“

Giorgio, der hinter mir stand, kniff mir in die Schulter. Ich hielt daraufhin die Klappe. Winni fuhr fort. „Zum Beispiel diese Sache gestern, mit den Leuten an Tisch Elf. Glaubst du, ich habe das nicht mitbekommen? Was bitte schön, denkst du dir bloß? Soll ich dir so etwas durchgehen lassen!? Das kann ich nicht. Wir sind ein Lokal und wir leben von unseren Gästen …darum müssen wir uns Mühe geben, selbst wenn es uns ab und zu schwer fällt.“

„Ich weiß schon: Der Kunde ist König“, sagte ich, und klar, es klang ziemlich ätzend. „Aber, Winni, weißt du, wie das war mit denen an Tisch Elf? Die bestellen eine Cola und ein Bier. Gerne, habe ich gesagt und die Getränke gebracht. Dann winken die mich noch einmal heran und wollen die Karte. Ich bringe ihnen die Karte. Sie bestellen einen Salat und einmal Antipasti. Ich habe die Sache gerade gebracht, dann winken sie wieder und wollen noch ein Mineralwasser. Auch das geht klar. Ich liefere das Wasser ab, dann heißt es auf einmal: Und noch ein Bier. Ich bringe das Bier. Dann sagen sie, dass sie ihren Salat nicht mit Öl und Balsamico bestellt hätten, sondern mit American Dressing. Das war glatt gelogen, aber gut, ich verspreche ihnen, einen neuen zu bringen. Als ich dann zum zehnten Mal zum Tisch komme und der Typ meint, dass das Bier schal wäre und das Besteck dreckig, und dass sie darum für das Essen nicht bezahlen würden, wurde ich ein wenig ungeduldig. Mehr nicht, Winni. Ich habe ganz freundlich zu dem Typen gesagt, dass wir gerade ein frisches Fass angeschlagen hätten, und dass es nicht schal sein könne, das Bier, worauf er sein Glas nimmt und mir das ganze Zeug vor die Füße kippt. Na ja, und daraufhin habe ich...„

„Eben, Mischa. Ich weiß, was du getan hast. Du hast den Typen geohrfeigt und seiner Frau den Salat übers Kleid gekippt. Und genau das geht nicht. Eine Kellnerin muss Geduld haben, ganz egal, wie schwierig die Gäste sind. Das gehört einfach dazu.“

„Aber, Winni, ich...“

„Nein, Mischa. Kein Aber. Jeder andere Chef hätte dich für so eine Aktion rausgeworfen. Ich aber gebe dir noch eine letzte Chance. Ich hoffe, du weißt das zu würdigen.“

Ich senkte den Blick, weil ich wusste, dass er recht hat. Gott ja, ich hab dem Typen eine gelangt, aber so richtig, und danach blutete er aus der Nase, und die Frau fing hysterisch an zu schreien. „Okay, danke. Das ist echt in Ordnung von dir, Winni.“

„Und es gibt da noch etwas“, sagte Winni.

„Da bin ich aber mal gespannt.“

„Wir haben in unserem Lokal feste Arbeitszeiten, und die sind verbindlich. Auch für dich, Mischa. Ich bin nicht bereit, dein ewiges Zuspätkommen noch länger hinzunehmen.“

„Wenn das deine größte Sorge ist, kein Problem, Winni. Dann komme ich ab sofort pünktlich. Versprochen. Ich werde sogar so pünktlich sein, dass du deine Rolex danach stellen kannst.“

„Kann ich mich drauf verlassen?“

„Absolut.“

11

Dank der Fahrkünste meines türkischen Rennfahrers halten wir um fünf Minuten nach Elf vor dem Hafenblick. Die einzige Frage, die ich mir stelle, ist die, ob fünf Minuten ausreichen, um Winni platzen zu lassen. Wird er seine Drohung wahrmachen und mich rausschmeißen?!

Ich springe aus dem Auto, schmeiße die Tür hinter mir zu, reiche dem Fahrer einen großen Schein durchs Fenster, warte gar nicht aufs Wechselgeld, sondern beuge mich vor und drücke ihm einen Kuss auf die Lippen.

Dann bin ich auch schon weg und renne die Stufen zum Hafenblick hoch. Ich spurte über die Terrasse, wo tatsächlich schon die ersten Gäste sitzen. Ich sehe Giorgio, der drinnen hinter der Theke steht und Gläser putzt und mir durch die große Scheibe entgegenlächelt, vermutlich der letzte süße Trost, bevor ich rausgeworfen werde.

Ich stürme durch die Tür, bin völlig außer Atem. Giorgio macht eine beruhigende Handbewegung und sagt mit seiner rauen, schönen Stimme: „Bongiorno, Mischa. Warum rennst du so? Es ist viel zu warm, um zu rennen…“,

„Warum ich renne?“, keuche ich. „Na, wegen Winni. Weißt du, Giorgio, ich brauche diesen Job, und wenn ich Pech habe, dann bin ich ihn jetzt los. Immerhin bin ich schon wieder fünf Minuten zu spät gekommen.“

Giorgio kommt hinter der Theke hervor, lacht und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. „Winni ist noch gar nicht da. Hat einen Termin beim Steuerberater. Also, Bella, entspann dich. Und wenn du das getan hast, dann geh raus und bedien unsere Gäste.“

Ich sehe Giorgio an und kann es nicht fassen, der ganze Stress war umsonst. Das darf doch nicht wahr sein!

Ich lache laut auf und sage: „Mann, ist das schön, dich zu sehen, Giorgio. Du hast recht, ich werde die Gäste bedienen. Aber erst möchte einen schönen Kaffee, dann geht’s an die Arbeit.“

„Si, Bella. Ich mache dir eine wunderbare Kaffee, und ich freue mich auch, dich zu sehen!“

12

Zwei Stunden später weiß ich, dass Giorgio mir leider zu viel versprochen hat, als er meinte, ich soll mich entspannen. Denn mit Entspannung läuft heute gar nichts, ganz im Gegenteil. Die Schicht hat gerade erst angefangen und ich fühle mich schon wie ein Sträfling auf der Teufelsinsel.

Das liegt in erster Linie daran, dass Hamburg um diese Jahreszeit gestopft voll mit Touristen ist, Touristen aus Amerika, aus Japan, aus Schweden, aus Bayern, aus Afrika. Und alle, wirklich alle wollen am Hafen spazieren gehen und alle wollen sie danach Kaffee trinken oder ein Bier zischen oder was essen, und alle kommen sie dafür ausgerechnet in den Hafenblick. Klar, der Laden hat ja auch eine geile Terrasse mit einem geilen Ausblick, aber Scheiße, es bedeutet, dass ich rennen muss wie eine Verrückte!

Zu allem Überfluss ist Winni inzwischen aufgetaucht, und er denkt gar nicht daran, mitzuhelfen. Wie üblich sitzt er drinnen an einem der Tische, trinkt eisgekühlte Limonade, fächelt sich Luft zu und liest in irgendwelchen Papieren. Dazu macht er ein wichtiges Gesicht, das ist seine Lieblingsbeschäftigung, vermutlich sogar das einzige, was er überhaupt kann. Ein wichtiges Gesicht machen.

Ihr müsst euch Winni so vorstellen: Er ist klein, etwas zu dick, hat ein rundes Gesicht und gegelte Haare. Er trägt eine super teure Sonnenbrille, die ihm eigentlich nicht steht. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder, eine Villa in Blankenese, ein Motorboot in Wedel, zwei Luxus-Autos. Er steht auf Geld, und auf sonst eigentlich gar nichts. Ach ja, und Winni ist bis über beide Ohren verliebt, und zwar in sich selbst.

Am schlimmsten aber ist, dass er die ganze Zeit rumschreit, sobald er einen von uns Angestellten sieht. Bewegt euch schneller, vergesst bloß keine Bestellung, seid immer nett und freundlich …

Früher oder später kommt natürlich die ultimative Frage, die er jedesmal stellt: Wofür bezahle ich euch eigentlich?! Das kann ich ja nicht mit ansehen, wie langsam ihr seid. Soll ich vielleicht alles selbst machen?

Ja, Winni, das wäre eine super Idee. Dann wüsstest du nämlich endlich mal, wie anstrengend das ist, was wir tun.

13

An Tagen wie diesen ist das Hafenblick nicht nur total überfüllt, sondern leider sind die meisten Gäste auch noch so eine Art Zombies, ekelige Kreaturen aus der Unterwelt

Kleine Kostprobe?

Gast 1: Hallo, Fräulein, ich habe vor einer halben Stunde einen Cappuccino bestellt.

Ich: Erstens heiße ich nicht Fräulein, und zweitens war das nicht vor einer halben Stunde, sondern vor fünf Minuten.

Gast 2: Hallo, Sie da! Können Sie uns bitte Parmesan zu den Spaghetti bringen. Und der Salat ist kalt.

Ich: Was soll das heißen, der Salat ist kalt? Wollen Sie ihn gekocht haben?

Gast 1: Auch fünf Minuten sind zu lang. Schließlich bekomme ich kein Geld dafür, dass ich hier sitze und warte, aber Sie bekommen Geld dafür, dass Sie mich ordentlich bedienen.

Ich: Sie haben sich aber an einen anderen Tisch gesetzt, und als ich Ihnen Ihren Cappuccino bringen wollte, habe ich Sie nicht gesehen. Ich dachte, Sie wären gegangen...

Gast 1: Vielleicht sollten Sie nicht denken, sondern arbeiten.

Gast 2: Mit kalt meine ich zu kalt. Der ist ja geradezu gefroren, der Salat.

Ich: Dann bestellen Sie sich eine Suppe. Die ist schön warm.

Gast 2: Werden Sie mal nicht unverschämt! Ich habe empfindliche Zähne, wissen Sie, und darum möchte ich meinen Salat in Raumtemperatur serviert bekommen.

Gast 3: Entschuldigung! Hallo! Zahlen, bitte, aber pronto, wir haben heute noch etwas vor.

Ich: Bezahlen Sie bitte drinnen, wenn Sie es eilig haben.

Gast 4: Haben Sie etwa keine Pilzgerichte? Ja, wieso denn nicht?

Gast 2: Ich habe freiliegende Zahnhälse, kennen Sie so etwas? Sehr unangenehm. Wenn Sie allerdings so wie ich zugleich mit Parodontose zu tun haben, dann…

Gast 1: Was ist denn jetzt mit meinem Cappuccino?

Gast 3: Ich habe ja wohl ein Recht darauf, am Tisch zu bezahlen. Und glauben Sie bloß nicht, Sie bekommen Trinkgeld.

Gast 4: Immer wollen die Leute nur Pizza und Pasta. Ich aber nicht. Darum ist mir Ihr Lokal empfohlen worden, und jetzt muss ich feststellen, dass sie nicht einmal Pilzgerichte haben.

Gast 5: Behelligen Sie doch die arme Bedienung nicht mit Ihren lächerlichen Zahnproblemen. Und Sie da, dass Sie Pilze mögen, interessiert niemanden! Lassen Sie das Mädchen lieber ihre Arbeit tun – dann würden wir vielleicht auch einmal bedient.

Gast 4: Und die Auswahl an Fisch ist auch dürftig. Und das in einem Lokal, das direkt am Wasser liegt.

Gast 6: Hallo, Bedienung! Sind Sie eigentlich taub? Wir hätten gerne drei Bier. Und zwar heute noch.

Vielleicht gibt es Menschen, die so etwas aushalten. Aber das müssen Leute sein, denen ihre Seele operativ entfernt wurde. Leute, die keine Gefühle haben und die sich halt alles gefallen lassen.

Aber so jemand bin ich nicht.

Ich habe meine Grenzen. Ich kann mir nicht jeden Scheiß reinziehen. Auch nicht von Gästen in dem Lokal, in dem ich arbeite.

Geht nicht. Nicht bei mir.

In meinem Kopf wird es plötzlich schwarz, ich denke nicht mehr nach, meine Sicherungen brennen durch. Ich springe auf einen der Tische, und es ist mir egal, dass ich dabei mit einem Fuß in einer Pizza stehe und mit dem anderen in einem gemischten Salat. Scheiß drauf. Ich stehe da oben wie Kaiser Nero, der gerade Rom abfackeln lässt. Und dann brülle ich los, als hätte ich es nicht mit Gästen zu tun, sondern mit einer Meute ungezogener Kinder: „Wisst ihr was? Ihr könnt mich alle mal! Sie mit Ihrem Cappuccino und Sie mit Ihrem Salat und Sie mit Ihrem Parmesan und Sie mit Ihrer Rechnung und Sie mit Ihren Pilzen. Ich schlage vor, Sie nehmen jetzt alle Ihren Kram und hauen hier ab, und zwar auf der Stelle. Los, verpisst euch! Das war nämlich kein Witz!“

14

Nach meinem Ausbruch herrscht eine totale Stille auf der Terrasse, so als hätte es mitten im Sommer geschneit und alles wäre von einer weißen, schallschluckenden Puderzuckerschicht aus Schnee überzogen. Niemand sagt etwas, niemand pöbelt herum, niemand möchte die Karte haben, oder Salz und Pfeffer, die Rechnung, etwas zu trinken. Nichts. Die Gäste klappern nicht einmal mit ihrem Besteck. Sie sitzen wie schockgefroren auf ihren Plätzen und starren mich an. Ist mir egal. Sollen sie doch glotzen. Ich genieße den Moment der Stille, wie ein Soldat, der erfährt, dass gerade der Krieg zuende gegangen ist.

Dann stehen die ersten auf und gehen. Nicht alle, aber diejenigen, die ich angesprochen habe. Sie zahlen natürlich nicht, aber das ist mir egal.

Hauptsache ich muss ihre dämlichen Gesichter nicht mehr sehen.

15

Vielleicht sollte ich einfach das Handtuch werfen? Einfach abhauen, Schluss machen, verschwinden. Bevor Winni mich rausschmeißt.

Weil er das tun wird. So sicher wie nur irgendetwas.

Denn jetzt habe ich den Bogen überspannt.

Was soll ich dann tun? Soll ich hoch zur Reeperbahn fahren und auf den Strich gehen? Warum eigentlich nicht?! Viel erniedrigender als der Job bei Winni kann das auch nicht sein. Und lukrativer ist es auch. Dreimal an die Eier gepackt, und ich krieg nen Hunderter. Vorher könnte ich noch den Laden hier abfackeln, und zwar so gründlich, dass nichts mehr davon übrig bleibt, nichts als ein Riesenhaufen Asche, in dem dann ein paar kluge Gerichtsmediziner a la Crossing Jordan die DNA von Winni finden würden...

Zum Glück taucht in diesem Augenblick Giorgio auf. Er nimmt mich in den Arm, führt mich zu seiner Bar und serviert mir dort einen eiskalten Averna mit Zitronensaft. „Komm her, Bella. Trink das, es wird dir gut tun. Du wirst deine Kraft noch brauchen, denn bis zum Feierabend dauert es noch Ewigkeiten.“

„Ach, Giorgio. Es wird für mich bestimmt keinen Feierabend geben. Winni wird mich rauswerfen.“

Giorgio lächelt. „Ich denke nicht. Du hast Glück gehabt, er hat nichts gesehen.“

„Echt nicht?“

„Nein, ich denke nicht.“

Ich muss lachen. Scheint so, als hätte ich noch einmal Glück gehabt. „Ach, Giorgio. Wenn ich dich nicht hätte. Warum heiraten wir eigentlich nicht? Dann könntest du dich immer um mich kümmern.“

„Würde ich gerne, Bella. Aber es geht leider nicht. Weil, ich bin schon verheiratet.“

„Dann lass dich scheiden.“

„Aber ich liebe meine Frau.“

„Du bist großartig, Giorgio. Du liebst deine Frau und du bist ihr treu, und genau dafür bewundere ich dich. Aber was soll's, dann muss ich mir jemand anderen suchen, mit dem ich durchbrennen kann.“

Das ist nämlich mein Traum. Ich möchte mich aus dem Staub machen, und zwar mit einem Mann, der mir gefällt und den ich liebe. Gemeinsam mit ihm möchte ich mich auf den Weg in den Süden machen, am allerliebsten nach Italien, und dort werden wir erst einmal gar nichts tun und nur die Sonne genießen. Wir werden uns lieben und im Meer schwimmen. Und dann werden wir ein Stück Land kaufen, ein Haus bauen, ein Hotel aufmachen, was weiß ich, und wir werden verflucht glücklich sein!

16

Ich weiß nicht, wie ich die folgenden Stunden überlebe, aber Tatsache ist, dass ich es schaffe.

Irgendwann, nach gefühlten Ewigkeiten, schlägt die Uhr über der Bar Mitternacht und ich sehe aus den Augenwinkeln, wie der letzte Gast die Terrasse verlässt.

Ich fühle mich wie jemand, der nach fünf Mal Lebenslänglich endlich aus dem Knast entlassen wird.

Endlich Feierabend!

17

Ein paar Minuten muss ich noch durchhalten. Es gibt Kleinigkeiten zu erledigen. Ist so was wie der Abspann nach einem Kinofilm. Ich muss aufräumen, meine Kasse abrechnen, Bestellungen für die Küche notieren.

Aber vorher gönne ich mir den Luxus und setze mich für eine Minute hin. Ich schließe die Augen, ich atme. Scheiße, mir tut alles weh, meine Füße, meine Beine, meine Arme, mein Rücken, aber all das macht gar nichts, denn die Aussicht, in weniger als einer viertel Stunde den Hafenblick verlassen zu können, und das mit ein paar satten Scheinen in der Tasche, veranlasst mein Gehirn dazu, jede Menge Naturdrogen auszustoßen und mich in einen Zustand zu versetzen, als wäre ich Testschnupfer beim Kokainkartell von Medellin.

Plötzlich reißt mich eine Stimme aus den Gedanken. „Ich sehe ja wohl nicht richtig, Mischa. Du sitzt hier einfach rum? Ja, glaubst du denn, die Arbeit erledigt sich von alleine? Glaubst du, ich bezahle dich fürs Nichtstun?“

Es ist Winni.

Ich öffne die Augen. „Nichtstun, Winni? Das meinst du hoffentlich nicht ernst. Ich bin jetzt seit über zwölf Stunden hier, und es ist das erst Mal, dass ich mich überhaupt hinsetze.“

Winni wirft mir einen Blick zu, der so ölig ist, dass man Margarine daraus machen könnte. Aber egal, ich bin nach der Schufterei in versöhnlicher Stimmung. Und er sollte das auch sein. Der Laden hat fetten Umsatz gemacht. Kein Grund für Streit.

Ich will gerade den Mund aufmachen, um Winni ausnahmsweise mal ein paar Nettigkeiten zukommen zu lassen, als er die Hand hebt und mit bittersüßer Stimme sagt: „Danke, Mischa, war nett, dass du die Doppelschicht gemacht hast. Respekt für dein Engagement.“

„Klar, gerne.“

„Aber nimms mir nicht übel, nur – das war’s für dich hier im Hafenblick.“

„Wie!?“

„Ich bin nicht bescheuert, Mischa. Ich habe mitbekommen, wie du dich vorhin gegenüber den Gästen benommen hast. Es ist vorbei. War dein letzter Tag heute. Ich will dich nicht mehr sehen, und wenn du ausnahmsweise einmal nachdenkst, wirst du einsehen, dass es besser so ist. Ach ja, und den Lohn für heute kannst du vergessen. Wenn du eigenhändig die Gäste aus dem Lokal wirfst, dann musst du selbstverständlich für den Verlust aufkommen.“

„Aber...“

„Kein aber!“

18

Ich sitze da, starre Winni an und komme mir vor wie im Wachkoma. Stille in meinem Kopf. Stille im Hafenblick. Stille auf der ganzen Welt.

Dann ist mein Hirn endlich wieder online. Ich kann wieder denken, ich kann wieder sprechen. Ich sehe Winni in die Augen, und dann quillen die Worte auch schon aus mir raus wie Salzsäure aus einem undichten Gefahrgutcontainer. „Du bist ein mieses Schwein, Winni. Ein hinterhältiger, verlogener Leuteschinder. Ein Drecksack, der wirklich null Anstand hat. Dafür hast du umso mehr Scheiße in deinem Hirn.“

Ich höre mich das selbst sagen, und im großen ganzen bin ich mit meiner Wortwahl auch zufrieden, sie verdeutlicht meinen Standpunkt ziemlich gut.

Dennoch überkommt mich das Gefühl, dass ich gerade mal wieder dabei bin, mich noch viel tiefer in Schwierigkeiten zu reiten.

Das ist ein Talent von mir, vielleicht sogar mein größtes.

Winni nickt kühl und sagt: „Ich gehe jetzt in mein Büro und wenn ich in fünf Minuten wieder herauskomme, möchte ich, dass du verschwunden bist. Haben wir uns verstanden?“

„Klar und deutlich.“

„Gut. Also, Auf Wiedersehen, Mischa. Ich wünsche dir alles gute.“

„Spar dir die Worte, Winni.“

Er dreht sich um und verschwindet türenknallend in seinem Büro. Ich stehe da und habe das Gefühl, als wäre ich unvermutet auf dem Set irgendeiner miesen kleinen Low-Budget-Produktion gelandet. Ein Film nach einem Drehbuch, das sich ein abgehalfterter, alkoholkranker Schmierfink in seinen düstersten Stunden von der Seele geschrieben hat.

„Winni! Fuck! Komm aus deinem verschissenen Büro heraus und sag mir, dass du das nicht ernst meinst! So kannst du mich nicht behandeln, verdammt noch mal. Seit zwei Jahren schufte ich für dich und das ist nun der Dank dafür!? So ein mieser Hund bist nicht einmal du.“

Tatsächlich steckt Winni noch einmal den Kopf heraus, nickt mir zu und sagt: „Drei Minuten, Mischa. Wenn du dann nicht weg bist, hole ich die Polizei.“

Er knallt die Tür wieder zu und lässt sich nicht mehr blicken. Ich schreie noch eine Weile herum, ohne dass es die geringste Wirkung hat.

19

Giorgio, der sich das alles bisher schweigend angesehen hat, kommt hinter seiner Bar hervor und steht todtraurig vor mir. „Oh, Mischa! Mischa! Was ist nur passiert? Was hat das alles zu bedeuten? Wieso muss es soweit kommen? Wie soll ich hier ohne dich arbeiten? Denkst du denn gar nicht an mich?“

Ich muss lachen, und dabei streicht mir Giorgio zärtlich über die Wange, und das ist das schönste Geschenk, das er mir machen kann „Ach, Giorgio. Seien wir ehrlich. Winni hatte mich schon lange auf dem Kieker. Wenn es nicht heute passiert wäre, dann morgen oder übermorgen. Irgendeinen Anlass hätte er bestimmt gefunden. Dass er so mies ist und mich erst ne Doppelschicht machen lässt und mir dann den Arschtritt gibt, ist zwar selbst für seine Maßstäbe hart. Aber so ist es nun einmal. Hast es ja gehört! Er droht mir sogar mit den Bullen.“

„Madonna! Ich werde auch kündigen. Das lasse ich mir nicht gefallen. Oh, nein, das nicht.“

Giorgio reißt sich seine Schürze herunter, knäult sie zusammen und wirft sie wütend auf den Boden.

„Danke, Giorgio. Aber damit hilfst du mir nicht weiter. Denk an deine Familie. Für mich ist das alles nicht so ein Problem. Oder doch, ist es schon, aber ich komme damit klar. Ich finde einen neuen Job. Du weißt doch, ich halte es sowieso nirgendwo lange aus.“

„Ach, Mischa, mein Engel. Komm her.“

Giorgio nimmt mich in die Arme, und ich flüstere ihm ins Ohr, dass er der wunderbarste Mann auf der Welt ist. Er hört es gerne, und er revanchiert sich und sagt, dass ich die wunderbarste Frau auf der Welt wäre, vielleicht von seiner Ehefrau abgesehen. Oder auch nicht.

„Also, ich muss los. Oder Winni holt wirklich noch die Cops“, erkläre ich ihm.

„Mach’s gut Mischa. Und wenn sich der Rauch verzogen hat, dann lass dich mal wieder blicken. Wir trinken einen Averna und reden über die alten Zeiten. Versprichst du es?“

„Ja, klar. Ich verspreche es.“

Ich winke ihm noch einmal zu. Dann gehe ich zu dem Schränkchen, auf dem die Registrierkasse steht, und knalle meine Schürze drauf, und den kleinen Schlüssel, den wir für die Kasse brauchen.

Obwohl… Mir kommt ein seltsamer Gedanke. Wenn Winni mir den Lohn verweigert, dann muss ich mich halt selbst drum kümmern! Ich stecke den Schlüssel in den kleinen Schlitz und mit einem elektronischen Klingeln öffnet sich die Kassenschublade. Ich sehe auf eine ansehnliche Sammlung von Scheinen und Münzen, schließlich war der Tagesumsatz gewaltig.

Ich sehe noch einmal kurz zu Giorgio herüber, der mit den Schultern zuckt. Dann lacht er und sagt: „Ich habe nichts gesehen, Mischa. Du weißt doch, ich habe schlechte Augen.“

Ich hauche ihm einen Kuss rüber und bediene mich an der Kasse. Erst nehme ich mir die Summe, die ich als Lohn kassiert hätte. Dann gönne ich mir noch eine kleine Abfindung. Fühlen sich gar nicht schlecht an, die Scheine in meiner Hand. Andererseits, wenn ich schon dabei bin, sollte ich nicht so rumgeizen.

Und dann nehme ich mir einfach den ganzen Rest, alle Scheine und alle Münzen, richtig fette Kohle. Betrachten wir es doch einfach als eine Art Schmerzensgeld.

Ich knalle die Kassenlade wieder zu, will schon gehen, als mein Blick auf Winnis Autoschlüssel fällt, der auf der Anrichte neben der Kasse liegt.

Verdammt, denke ich. Das kannst du nicht machen, Mischa. Ach, und wieso nicht? Es wird Spaß machen. Großen Spaß.

Ja, vielleicht. Aber du wirst einen gewaltigen Haufen Probleme bekommen.

Den habe ich jetzt schon.

Stimmt auch wieder.

Ich nehme den Autoschlüssel mit dem BMW-Schildchen dran, mit dem Winni immer so gerne in der Luft rumwirbelt. Ich lasse ihn in meine Tasche gleiten und verlasse den Hafenblick.

20

Winnis Traumwagen, ein Z4 Cabrio, steht ein paar Meter entfernt am Straßenrand, und ich steige ohne groß zu überlegen ein.

Ich will den Wagen gerade starten, als ich aus den Augenwinkeln sehe, dass Winni auf mich zuläuft. Er gestikuliert wie ein Verrückter und schreit laut herum. „Tu das nicht, Mischa. Ich bitte dich, hör auf damit. Über das Geld können wir reden, aber lass den Wagen stehen. Tu mir das nicht an. Nicht den Wagen. Du weißt, wieviel er mir bedeutet!“

Ich muss lachen. Er liebt den Z4 wirklich mehr als alles andere, vermutlich sogar mehr als seine Frau und seine Kinder.

Winni rennt jetzt, stolpert aber und kullert über den Boden. Er rafft sich wieder auf, rennt weiter. Er ist stinkwütend, und das ganze ist überhaupt nicht zum lachen.

„Bitte, Mischa – nicht den Wagen!“

„Dann sieh mal genau hin, was ich jetzt mit deinem kleinen süßen Auto mache…“, antworte ich.

Ich zünde den Motor und höre einen wunderbaren, satten Tigersound. Dann trete ich das Gaspedal durch. Der BMW macht einen Satz nach vorne und beult mal eben den davor parkenden Audi so ein, dass er auf einmal wie ein VW-Lupo aussieht, dazu gibt es ein ziemlich lautes Klirr- und Scheppergeräusch.

„Ooops.“

Winni weint fast. „Mischa, bitte! Ich bitte dich! Du kannst alles von mir haben. Alles! Aber bitte steig aus dem Wagen. Ich flehe dich an.“

Ich lege den Rückwärtsgang ein, und weil es soviel Spaß macht, trete ich das Gaspedal noch einmal durch. Diesmal schießt der Wagen nach hinten und verwandelt mit einer Riesenwucht einen Porsche in einen Fiat Cinquecento, und ich denke, wenn noch irgendein Limousinenbesitzer Sehnsucht nach einem Kleinwagen hat, soll er sich einfach vertrauensvoll an mich wenden.

Dass Winnis Z4 nun ebenfalls leichte Spuren der Verwüstung aufweist, ist klar, aber andererseits ist es nicht so schlimm. Die Maschine schnurrt immer noch einwandfrei und mein Fahrspaß wird bestimmt nicht nennenswert geschmälert.

Winni ist jetzt fast herangekommen, und da der Wagen ja offen ist, kann er mich gleich packen.

Also reiße ich das Lenkrad rum, gebe wieder Gas – und weg bin ich.

Im Rückspiegel sehe ich noch, wie Winni auf dem Bürgersteig kniet und die Hände zum Gebet faltet. Ein herzerweichender Anblick. Alte Kackbratze.

Keine Zeit zum Atmen

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