Читать книгу Weißwasser - Kirsten Döbler - Страница 5
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ОглавлениеAm nächsten Morgen ruft Malte die Wetterdaten für La Gomera auf und checkt die Gezeitentabelle. Er ist hocherfreut über ein Tiefdruckgebiet mit dicht aneinander liegenden Isobaren. Also zieht er Wetsuit und Surfschuhe an, holt sein Brett und geht hinunter zum Strand. Der Wind bläst offshore, und Malte schwimmt mit dem Board hinaus und wartet geduldig, bis er seine Welle anrollen sieht. Er dreht sein Brett in Richtung Ufer. Die Welle türmt sich hinter ihm auf und hebt ihn sanft an. Sofort paddelt er mit aller Kraft Richtung Strand und stellt sich auf sein Brett. Er spürt, wie die Welle ihn schiebt, und im selben Moment hält er sich mit beiden Händen an den Rändern seines Boards fest und verlagert das Gewicht leicht nach hinten. Er zieht das Brett mit der rechten Hand hoch und surft frontside entlang der Welle. In diesem Moment scheint die Welt stillzustehen. Es ist sein Augenblick, und er hat keine Mühe, die grüne Welle zu surfen, schafft es sogar, mehrmals hinauf und hinunter zu fahren. Es besteht kein Zweifel, dass seine Wellenritte der letzten Wochen kein Zufall gewesen sind.
Nun würde er zwar nicht behaupten, dass er zu den jungen Wilden gehört, die einen Teufelsritt hinlegen. Aber er ist doch recht drahtig und behände, hat Ehrgeiz und Ausdauer, und das Wellenreiten hat ihn schon immer fasziniert. Als er im vergangenen Jahr darüber nachdachte, was er vor seinem siebzigsten Geburtstag gern noch getan hätte, war ihm als Einziges das Surfen wieder eingefallen. Sonst hat er ja alles erreicht, auch wenn seine Karriere verhalten begann: Gegen den Willen seines Vaters machte er das Abitur und weigerte sich anschließend, die elterliche Tischlerei zu übernehmen. Stattdessen finanzierte er sich mit Jobs sein Informatikstudium selbst, und als in den Neunzigern das World Wide Web zunehmend an Bedeutung gewann, hatte er bereits seine eigene EDV-Firma gegründet, die mit jedem Jahr mehr Gewinn abwarf. Er lernte Laura kennen und zog Melissa mit ihr groß. Und als ihnen mehr als genug Geld zur Verfügung stand und die Tochter eine eigene Familie hatte, erfüllten Laura und er sich den Traum vom Leben auf La Gomera.
Wenn man mich fragen würde, denkt Malte, ob ich etwas verpasst habe im Leben, würde ich sagen: Ganz im Gegenteil. Kaum hat er den Gedanken zu Ende gedacht, fällt ihm ein, dass sein Vater, wäre er noch am Leben, mit einer Bemerkung wie »Mehr Glück als Verstand« seinen Erfolg herabgesetzt hätte. Doch Malte weiß, dass er sich davon nicht hätte verunsichern lassen. Er hat sich alles selbst erarbeitet und Widerstände überwunden. Gemeinsam mit Laura hat er sich einen Wunsch nach dem anderen erfüllt: die eigene Villa in den Elbvororten, einen Motorradtrip auf der Route 66, die Besteigung des Großvenedigers, schließlich ihr Häuschen am Hang von La Calera. Nur sein Traum vom Wellenreiten war immer noch offen, und so hat er sich vergangenes Jahr ein Longboard und Gripdeck, einen Wetsuit und eine Leash gekauft. Und weil er sich als Autodidakt versteht, hat er ein Buch mit einer gut verständlichen Anleitung durchgearbeitet und das Abenteuer begonnen.
Maltes morgendliche Session läuft wie am Schnürchen. Er paddelt noch einmal hinaus, dreht sich zum Strand hin mit Blick auf die gewaltigen Bergformationen, die das Tal des Großen Königs flankieren und von Weitem unbezwingbar erscheinen. Die erodierten Abbruchkanten des Vulkangesteins kontrastieren mit dem Weiß der Häuser von La Calera, die den unteren Abschnitt der Bergflanke wie eine Kruste von Seepocken überziehen. Anhand des Standortes der Palmen, die den Ortsteil schmücken, kann Malte die Position ihres Häuschens ausmachen. Er wartet auf seine nächste Welle und fühlt sich von einer ungewohnten Euphorie erfüllt, als er ein Monstrum heranrollen sieht. Sein Puls beschleunigt sich, während die Welle sich auf ihn zu bewegt. Und als sie ihn anzuheben beginnt, meint er zu spüren, wie die Glückshormone seinen Körper fluten. Später wird er Laura davon berichten, dass er es geschafft hat, die Energie der Welle zu seiner eigenen zu machen, denn er weiß, dass ihr solche Formulierungen gefallen.
Als er das Wasser verlassen hat, am Strand entlang geht, das Surfbrett unter den Arm geklemmt, verfliegt seine Euphorie und weicht einer ihm unbekannten Empfindung. Er hat das Gefühl, im Kreis zu laufen – nicht räumlich betrachtet, sondern zeitlich. Natürlich hegt er keinen Moment lang Zweifel daran, wo er sich befindet, er muss sich nicht erst sammeln, ist geistig vollkommen auf der Höhe. Und doch könnte der Sand, in dem er mit jedem Schritt einsackt, für ihn jeder beliebige Strand sein: das Elbufer bei Wittenbergen, die Nord- oder Ostsee, der Malibu State Beach – ein universeller Strand eben. Das Bild eines Karussells kommt ihm in den Sinn, eines, das sich immer schneller zu drehen beginnt. Er stellt sich vor, wie die Fliehkräfte ihn nach außen drücken, wie das Gesicht seiner Mutter und einer Jugendfreundin an ihm vorbeifliegen, gefolgt von mathematischen Formeln, Laura in ihrem Atelier, Computer, Bücher, Autos, Schwimmflossen, Kinderwagen, Wanderstiefel, Lauras Lippen, Flugzeuge – die Bilder verwischen und verwandeln sich in bunte Farbstreifen, die ineinander übergehen. Malte zittert jetzt und setzt das Surfbrett ab. Er ist der festen Überzeugung, dass jeder unbekannte Strand wie auch jeder künftige Wellenritt ihm keine Zunahme an Lebensglück mehr bringen kann. Es erscheint ihm angebracht, das Schicksal nicht länger herauszufordern. An diesem Abend will er mit Laura sprechen.