Читать книгу Urbis oder der Tanz der Tummelfliegen - Kirsten Döbler - Страница 3

Kapitel I

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1

Caro presste ihren Schädel in die flauschige Schafswolle der Yogamatte. Mit verschränkten Fingern umfasste sie den Hinterkopf und balancierte die gebeugten Beine nach oben, bis sie in gestreckter Haltung den Punkt des perfekten Gleichgewichts fand. Wie schmale, gerade gewachsene Spargelstangen schwebten ihre Gliedmaßen zwischen den Betondecken der Fabriketage.

Das Blut sackte ihr in den Kopf, während sie das Gellen und Dröhnen der Stadt wahrnahm, den metallischen Singsang der Stahlschienen, auf denen die S-Bahnen in den Freitagabend hineinfuhren. Von den Hauptverkehrsadern gesellten sich die Schallwellen ächzender Trucks hinzu und wurden hier und da von einer potenten Wechseltonhupe übertönt. Caro war abgelenkt. Doch nicht das Getöse der Stadt war schuld daran, dass sie ihre Yogaübungen unkonzentriert ausführte. Die Vorfreude auf den Abend war es, die sie in Gedanken immer wieder abschweifen ließ. Was hatte Ben für eine Überraschung auf Lager?

Verbissen richtete Caro ihre Aufmerksamkeit auf die Lockerung der Muskulatur und begann im Geiste noch einmal bei den Zehen. Sie wanderte die Waden hinab, doch schon als sie die Oberschenkel erreicht hatte, war sie in Gedanken erneut bei Ben. Was war es, das er ihr am Abend endlich erzählen wollte? Am Telefon hatte er so ein Geheimnis darum gemacht.

Caro kapitulierte und senkte die Beine kontrolliert zu Boden. Sie schaute auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten, bis Ben sie abholen würde, lange genug, um sich das zweite Auge ins Gesicht zu malen.

Ihr linkes Auge war ein wenig kleiner als das rechte, wenn auch nicht von Geburt an. Sie war durchaus mit zwei wohlgeformten Augenlidern zur Welt gekommen, doch um ihren siebten Geburtstag herum war ihrem Vater wieder einmal die Hand ausgerutscht, und sein Uhrenarmband aus Metall landete versehentlich unterhalb ihrer Braue, so dass sie wochenlang mit Augenklappe zur Schule gehen musste. Caros Sehkraft war nicht beeinträchtigt, aber die Haut am Oberlid verheilte ein wenig anders als erhofft, so dass ihre grünen Augen seither aus unterschiedlich geformten Lidern blickten.

Mit vierzehn Jahren hatte sie endlich Zeitungen austragen dürfen, und kaum hielt sie ihr erstes selbstverdientes Geld in Händen, machte sie einen Termin bei einer Kosmetikern, um von ihr zu lernen, wie das kleine Auge größer und das unverletzte kleiner wirkte.

Das Ergebnis veranlasste Caros Schwester Petra, ihr hübsches Gesicht zu einer Fratze zu verziehen und durch die Wohnung zu brüllen, Mama möge schnell kommen, Caro sei in den Farbtopf gefallen. Mama kam in Kittelschürze herbeigeeilt, warf nur einen kurzen Blick auf die Tochter, bevor sie den Kopf schüttelte:

»Was soll denn das für eine Kriegsbemalung sein?«

Das war das Stichwort gewesen. Längst hatte Caro gelernt, die Gemeinheiten der Mutter und Schwester zu erdulden. An jenem Tag jedoch war sie ihnen sogar dankbar für den ungewollten Hinweis auf die andere Seite der Medaille. »Kriegsbemalung!« Das Schminken hatte einen Sinn bekommen, eine zusätzliche Dimension. Plötzlich ging es nicht mehr darum, lediglich zwei gleich große Augen vorzutäuschen. Sie begriff, dass sie sich etwas viel Wertvolleres angeeignet hatte: ein Ritual zur Vorbereitung auf das tägliche Gefecht in ihrem Elternhaus. Von diesem Moment an betrachtete Caro das Schminken als unentbehrlichen und willkommenen Teil ihres Tagesablaufs. Um keinen Preis, selbst mit zwei vollkommen gleichgroßen Augen, hätte sie von nun an auf die Möglichkeit verzichtet, sich auf diese Weise gegen die Bosheiten der Welt zu rüsten.

Auch zwei Jahrzehnte später gehörte die Prozedur eines sorgfältigen Make-ups weiter zu Caros täglichen Beschäftigungen. Sie hatte es sogar zu einer gewissen Meisterschaft darin gebracht: Wer sie niemals ungeschminkt gesehen hatte, kam nicht auf die Idee, dass die Farben und Schatten um ihre Augen eine weit zurückliegende Verletzung verbargen.

Caro rollte die Yogamatte zusammen und schob sie an die Wand. Auf Socken ging sie ins Bad, wusch sich und wählte ein olivfarbenes Hemd und eine Cargohose im Woodland-Design aus. Um sich von Kopf bis Fuß betrachten zu können, stellte sie sich vor die Stirnwand ihrer Fabriketage, die fast vollständig unter der Fläche mehrerer goldgerahmter Spiegel vom Flohmarkt verschwand, die Caro wie ein Puzzle zusammengehängt hatte. Sie prüfte mit ernsten Augen ihr Spiegelbild, wie sie es immer zu tun pflegte, bevor sie das Haus verließ. Ihre zahllosen feuerfarbenen, sich kräuselnden Haarfäden hatte sie zu einem bauschigen Gebilde aufgetürmt.

»Meine Schwester balanciert rote Zuckerwatte auf dem Kopf!« Jahrelang hatte sie Petras schrille Stimme auf dem Schulhof ertragen müssen, doch schon lange entfaltete der Gedanke an diese Worte nicht mehr die damals beabsichtigte Wirkung. Im Gegenteil. Caro hatte gelernt, ihren roten Watteschopf gekonnt in Szene zu setzen.

Noch zehn Minuten, bis Ben auf den pfützenübersäten Hof hinter dem Fabrikgebäude fahren und zweimal hupen würde. Sie schaute aus den engsprossigen Industriefenstern hinunter auf den Hinterhof. Es hatte gar nicht viel geregnet in diesem Februar, aber der Untergrund war lehmig und hielt das Regenwasser fest.

Kein Vergleich allerdings zu den Wassermassen im Jahr zuvor, als es wochenlang vom Himmel geschüttet hatte. Schauer über Schauer hatten täglich neue Pfützen wachsen lassen, in denen sich die Welt spiegelte und Kopf stand. Es war viel wärmer gewesen in jenem Jahr. Beinahe meinte man, bereits den Frühling in der Stadt zu riechen. Caro hatte um dieselbe Uhrzeit vor ihrer Spiegelwand gestanden. Sie war mit ihren Freundinnen Steffi und Julia verabredet gewesen und schminkte sich an jenem Abend besonders sorgfältig, denn Julia hatte außer ihrem neuen Freund noch zwei seiner Kollegen zu dem Kneipenabend eingeladen. Genau ein Jahr war seit jenem Abend vergangen, als sie zu sechst in der Kneipe am Fischmarkt gesessen hatten, Ben, der sportliche, höfliche und gut aussehende Hüne ganz dicht neben ihr, so dicht, dass ihre Oberschenkel sich berührten, als er ihr überraschend ins Ohr flüsterte:

»Ich hoffe, du willst es nicht dem Zufall überlassen, wann wir uns wiedersehen.« Dabei hatte er gelächelt, einen Arm um Caro gelegt, mit seiner freien Hand ihre Finger an seinen Mund geführt und sie einige Sekunden lang an seine Lippen gedrückt. Nach dem angedeuteten Kuss hatte er eingehend ihre Finger betrachtet und die außergewöhnliche Glätte und Festigkeit ihrer Nägel bewundert. Caro war sich an jenem Abend nicht sicher gewesen, ob sie die Bemerkung als Kompliment auffassen oder lediglich dem routinierten Blick des Arztes zuschreiben sollte.

In den folgenden Wochen trafen sie sich fast täglich und überwiegend im Freien zu ausgedehnten Spaziergängen, denen Caro zugestimmt hatte; obwohl sie sich lieber in einem Café mit ihrem neuen Bekannten unterhalten hätte. Sie nahm ihre Kamera mit, um unterwegs ein paar Pfützenbilder schießen zu können. Ben fuhr sie in den Volkspark, und sie wunderte sich, dass sie noch nie dort gewesen war, obwohl sie schon viele Jahre in Hamburg wohnte. Es gab imposante Pfützen in diesem Park – prächtige Exemplare, deren Oberfläche Ben in voller Größe, wenn auch etwas verzerrt zurückwarfen, so dass Caro nur noch abzudrücken brauchte. Die Momentaufnahmen ihrer Freiluftaktivitäten betrachtete sie später am Rechner: Ben beim Sprung über eine Parkbank, Ben beim Hüpfen in der Hocke, Ben, wie er auf sie zugelaufen kam – er schien immer in Bewegung zu sein.

Jeden Moment würde nun die Hupe seines dunkelblau glänzenden Combis zu hören sein. Man konnte sich darauf verlassen, dass Ben stets pünktlich zum verabredeten Termin erschien. Caro betrachtete sich noch einmal in ihren Spiegeln: Die roten Haare kontrastierten wie gewünscht mit dem Oliv ihres Hemdes. Sie fühlte sich gerüstet für ihren Jahrestag.

2

Ranjeet räumte die leeren Teller ab, auf denen er zuvor Gemüsepakoras mit Minzsauce und Kichererbsen mit Lamm serviert hatte. Er schenkte nach, und Caro ließ einen Schluck des kräftigen Angoori-Weins durch ihre Kehle gleiten. Sie beobachtete, wie Ben sich mit dem Wirt unterhielt. Ranjeet gab sicher keine Weisheiten von sich, aber Ben besaß die Fähigkeit, allein durch seine Aufmerksamkeit und Zuwendung das an sich triviale Gespräch bedeutungsvoll erscheinen zu lassen.

Sie bewunderte diese Fähigkeit umso mehr, als Bens Verhalten von keinerlei Berechnung gesteuert war. Er mochte Menschen und schien alles, was sie sagten, ernst zu nehmen. Ben hatte den richtigen Beruf gewählt; er war ein guter Arzt. Die Menschen vertrauten seinem Urteil, und Caro war sicher, dass in nicht unerheblichem Maße seine überzeugende Intonation und Anteilnahme zu ihrer Genesung beitrug. Gelegentlich allerdings beunruhigte Caro seine Leidenschaft für den Beruf, auch wenn alle wissend mit dem Kopf nickten, sobald sie auf das Arbeitspensum eines Klinikarztes zu sprechen kam. Aber war es gut, so viel Zeit mit Arbeiten zu verbringen? Andererseits war sie froh über seine Ernsthaftigkeit. Auf Ben war Verlass, das hatte sie vom ersten Tag an gespürt, und sie fand, dass sie allen Grund hatte zu feiern.

Ranjeet war wieder in der Küche verschwunden. Ben schob sein Glas beiseite und lehnte sich mit seinem Oberkörper über den Tisch, um an Caros Finger heranzureichen. Sie rollte sie ein und drehte ihre Fäuste ganz leicht in der schützenden Schale seiner Hände. Die Reibung ihrer Hautflächen vermittelte ihr ein Gefühl von Sicherheit, von einer Geborgenheit, die sie im Laufe des vergangenen Jahres anfänglich mit ungläubigem Staunen, später mit wachsendem Vertrauen genossen hatte. Ben schaute ihr in die Augen und drückte ihre Hände. Jetzt würde er das Geheimnis lüften. Sie reckte den Hals noch ein Stück weiter nach vorne.

»Carissima, erinnerst du dich an Bertram, meinen Kollegen, mit dem ich Tennis spiele?« Caro nickte und zog die roten Augenbrauen hoch, um vollste Aufmerksamkeit zu signalisieren. »Also Bertram«, sprudelte es im nächsten Augenblick aus Ben nur so heraus, dass Caro Hören und Sehen verging. Bertrams Vorschlag, Bertrams Vater, Bertrams Angebot. Die Fakten jagten so schnell vorbei, dass Caro sie nur mühsam erfassen konnte. Der sonst so gelassene Ben hastete von Satz zu Satz, als er seinen Fluchtplan aus der Klinikmühle schilderte, und Caro begriff schließlich: Bertrams Vater hatte eine Arztpraxis in der niedersächsischen Provinz, die er seinem Sohn übergeben wollte. Und dieser hatte Ben, der sein Glück kaum fassen konnte, vorgeschlagen, als Partner einzusteigen.

»Was sagst du nun«, hörte sie Ben mehr schreien als sprechen, als er sich und ihr das Leben in einem bezaubernden kleinen Ort am Rande des Elm-Höhenzuges ausmalte. »Und so ein Hauptgewinn rechtzeitig zu unserem Jubiläum – die Götter müssen uns lieben!«

Caro wollte etwas sagen, öffnete den Mund, aber es wollten sich keine Worte formen. Sie war sich nicht sicher, dass sie begriffen hatte, was Ben damit andeuten wollte. Überlegte er etwa ernsthaft, in eine Landpraxis einzusteigen? Aber das ging nicht! Er konnte doch Hamburg nicht verlassen, wie stellte er sich das vor?

Sie hastete gedanklich hin und her und hatte mit einem Mal die Zukunft klar vor Augen: Sie würden eine Wochenendbeziehung führen müssen. Aus und vorbei mit spontanen Treffen in Kneipen und Cafés, Schluss mit der Kostbarkeit ungeplanter Augenblicke, alles würden sie künftig im Voraus bedenken müssen. Bei Regen, Schnee, bei Hitze, immer würden über zweihundert Kilometer zwischen ihnen liegen, die es zu überwinden galt. Frühes Aufstehen am Wochenende, überfüllte Züge, Staus auf der Autobahn. Und darüber sollte sie sich freuen?

»Wie stellst du dir das vor? Ein Wochenende hier, ein Wochenende dort?«, war schließlich das Einzige, was sie auszusprechen in der Lage war.

»Caro!«, versuchte Ben sie zu begeistern für eine Idee, die, so musste er bekennen, zwar ganz frisch sei, aber sie müsse zugeben, das sei ein Angebot, das zu prüfen sich lohne, er könne zu unschlagbar günstigen Konditionen einsteigen, sie müsse sich nur mal vorstellen, einen eigenen Arbeitsbereich, keine Klinikdienste, keine Rufbereitschaft, nie mehr den Chefarzt im Nacken. Natürlich sei das zunächst nur ein Angebot von Bertram, über das er nachdenken solle. Aber er habe gehofft, sie könnten das gemeinsam tun. Er blickte ihr direkt in die Augen.

»Ist es für dich denn so abwegig, dass wir gemeinsam umziehen?« Mit einem Ruck saß Caro kerzengerade auf ihrem Stuhl. Sie nahm ihren Kelch in die Hand und trank den Angoori-Wein mit einem kräftigen Schluck aus. Beim Absetzen des Glases fiel ihr Blick auf eine Spur von Weinstein auf seinem Kristallboden, die ihr wie angespültes rotes Strandgut erschien. Alles, einfach alles war in Auflösung begriffen, trieb über die Ozeane und wurde irgendwo als Treibholz wieder angeschwemmt.

»Du meinst, aus Hamburg wegziehen?« Caro konnte selbst nicht glauben, was sie da fragte. Das war vollkommen undenkbar.

»Wäre das so schlimm?«

»Eine Katastrophe wäre das«, hätte Caro am liebsten gerufen, aber da Bens Miene einen solchen Enthusiasmus verriet, dass jede Bejahung der Frage einer schroffen Zurückweisung gleichgekommen wäre, schwächte sie ihre Antwort ab:

»Seit dem Tag, an dem ich aus dem Dorf und Haus meiner Eltern fortgegangen und nach Hamburg gezogen bin, habe ich niemals daran gedacht, die Stadt je wieder zu verlassen.«

Erschrocken räumte Ben ein, er hätte sie mit der Idee nicht so überfallen sollen. Ihm ginge jedoch das Gespräch mit Bertram nicht mehr aus dem Kopf, und an diesem besonderen Tag habe er sich darauf gefreut, bei einer Flasche Wein und Ranjeets Köstlichkeiten gemeinsam mit ihr über den Vorschlag nachzudenken.

Wie auf Kommando nahte mit kleinen schnellen Schritten der Wirt, servierte Caro ihre Okra mit Kokosnuss und Ben sein Tandoori-Hähnchen und schenkte mit ruhiger Hand Rotwein nach. Kaum war er wieder in der Küche verschwunden, sagte Caro mit einer leichten Schärfe in der Stimme:

»Nachzudenken? Sieht aus, als hättest du dich schon entschieden« und wickelte sich vor lauter Anspannung eine ihrer losen Strähnen um den Mittelfinger, bis sie am Haaransatz angekommen war, wo sie so lange an dem Strang zerrte, bis sie einige der Fäden in der Hand hielt.

»Möglicherweise bietet sich nie wieder eine so günstige Gelegenheit. Und du weißt ja selbst, dass ich bestimmt nicht traurig wäre, dem Lärm der Stadt zu entkommen. Aber ohne dich wäre die Aussicht natürlich trübe.«

Caro beobachtete, wie Ben sich aus einem kleinen Schälchen eine bescheidene Portion Chutney auf seinen Teller füllte, nicht zu viel, um seinen Zuckerkonsum in Grenzen zu halten. Sie schüttelte sich die ausgerupften Haare von der Hand, ließ sie neben sich auf den Steinfußboden gleiten und dachte:

»Trübe, mag sein. Aber gehen würdest du auch ohne mich.«

Laut bat sie ihn darum, ihr Zeit zum Nachdenken zu geben und das Thema zu vertagen.

»Sicher«, sagte Ben und begann dennoch, ihr alle Einzelheiten zu Lage und Ausstattung der Praxis und Aussicht auf Übernahme des Personals zu erläutern. Je länger er von den Möglichkeiten erzählte, die die Zukunft für ihn bereit hielt, desto deutlicher wurde Caro, dass er mit Bertram bereits detailliert geplant haben musste. Selbst die Aufteilung der Praxisräume konnte er ihr schon auf der Serviette aufzeichnen. Und je eifriger Ben Detail an Detail reihte, um seinen Traum möglichst plastisch auszumalen, desto diffuser wurden Caros Bilder ihrer eigenen Zukunft, so dass sie mit einem Mal das Gefühl hatte, Ben stoppen zu müssen.

»Lass uns heute die Zeit anhalten«, unterbrach sie ihn. Gesenkten Hauptes stocherte sie in ihrem vegetarischen Curry herum. Mit einem Mal fühlte sie sich wieder in die Sommer ihrer Kindheit versetzt, als ihre Mutter ihr eine große Schüssel Erbsen auf den Schoß stellte, die sie palen musste, während alle anderen aus der Klasse zum Schwimmen an den Baggersee gehen durften.

3

Ein Treffen mit Steffi und Julia verhieß seelischen Beistand, spannende Kontroversen oder einfach nur Spaß. An diesem Ostermorgen jedoch näherte Caro sich mit einer gewissen Anspannung der Kneipe, in der sie zum Frühstück verabredet waren. Sie konnte nicht umhin, sich mögliche Reaktionen der Freundinnen auf ihre Neuigkeiten vorzustellen.

Steffi würde ihre großen Augen vermutlich noch weiter aufreißen und die ganze Kneipe mit ungläubigen Ausrufen beglücken. Oder würde die unerwartete Nachricht ihr ausnahmsweise einmal die Sprache verschlagen? Nein, wahrscheinlicher war eine Salve lautstarker Zweifel an Caros Zurechnungsfähigkeit.

Und Julia, das war klar, würde zwischen ihren überlangen Ponyfransen hindurchgucken und sich halbtot lachen, in einer Hand ein Glas Sekt etwa in Augenhöhe balancieren und mit der anderen ihre glatten blonden Haarsträhnen vom Busen auf den Rücken befördern. Sie würde vor lauter Prusten gar nicht zum Trinken kommen und sich schließlich doch wieder beruhigen, um ihr erstes Glas leeren zu können.

Entsetzen oder Spott – was war leichter zu ertragen? Caro presste die Lippen aufeinander und öffnete die Tür, die in den Gastraum ihrer Stammkneipe führte. Ella, die Studentin hinterm Tresen, nickte ihr freundlich zu, schäumte gleichzeitig die Milch für einen Cappuccino auf und flirtete nebenbei mit einem Gast. Aus den Boxen klang »Nature Boy«, und Caro überlegte, wie lange sie Frank Sinatra ertrug, bevor sie Ella anflehen musste, etwas anderes aufzulegen.

Caro hielt diese Musik nicht aus; immer hatte sie dabei das Gesicht ihres Vaters vor Augen, wie er am Sonntag Morgen in Unterhemd und Trainingshose am Küchentisch saß, sich eine Zigarette drehte, mit dem Fuß penetrant den Takt stampfte und hin und wieder einen Schluck aus der Bierdose nahm. Wie er die Augen verdrehte, die Lippen spitzte und mit einem jaulenden »uuuhuuuhuuuhu« den Chor begleitete, als könne er mit seinem Winseln darüber hinwegtäuschen, dass er kein Wort von dem verstand, was Sinatra als »the greatest thing you’ll ever learn« besang. Missmutig wählte Caro einen Tisch aus, ließ sich auf einen Stuhl fallen und verbannte die Erinnerungen, indem sie mit den Fingern ihre Frisur abtastete, die wie immer ein Kunstwerk war.

Der Sinatra-Song war zu Ende. Aus den Lautsprechern drang ein Flamenco, und Caro atmete auf. Wenigstens das Feilschen um eine andere Musik blieb ihr erspart.

»Hey!«, rief eine Stimme am Eingang, und Caro musste lächeln, als sie Steffi erblickte. Nie konnte man ihr Outfit im Voraus erahnen. Mal erschien sie mondän, mal sportlich, an einem Tag kreischend bunt, am nächsten ganz in schwarz. An diesem Morgen hatte sie ein T-Shirt mit einem rot-gelben Superman-Dreieck angezogen, in dem sie ihre Brust herausstreckte und mit verschmitzten Augen auf die Freundin zukam.

»Es gibt keine Zufälle«, seufzte sie, umarmte Caro und ließ sich auf dem Stuhl gegenüber nieder. »Rate, wen ich eben getroffen habe.«

»Sicher deinen Fotografen mit dem seltsamen Namen, den ich mir nicht merken kann.«

»Haerviu. Richtig. Ich habe mich gerade geschlagene zehn Minuten mit ihm unterhalten. Aber dann musste ich los, bin ja schließlich hier verabredet, nicht?« Dabei kicherte sie, langte über den Tisch und kniff Caro in den Oberarm.

Natürlich hätte Steffi keinerlei Skrupel gehabt, zu spät zum Frühstück zu kommen, wenn Haerviu ihr eine Gelegenheit dazu gegeben hätte. Schließlich kannten Caro und Steffi sich seit ihrem Studium, und es hatte in den vergangenen Jahren genügend Situationen gegeben, in denen sie das Verständnis der anderen dringend gebraucht und zuverlässig bekommen hatten. Caro wäre geradezu begeistert gewesen, wenn Steffi sich verspätet und stattdessen die Bekanntschaft mit Haerviu vertieft hätte. Denn Caro hoffte, dass er sich endlich einmal als Glücksfall erweisen möge: phantasievoll, bindungsfähig und nicht gänzlich abgeneigt, ein Kind zu zeugen.

Steffi hatte jetzt ihre Strategie geändert: Sobald sie jemanden kennenlernte, tat sie alles, um ein mögliches Hindernis auf dem Weg zu ihrem Kinderwunsch so früh wie möglich aufzuspüren, denn sie hatte zu viele Enttäuschungen erlebt, zu viele Gefühle investiert, um dann jedes Mal feststellen zu müssen, dass der Auserkorene partout nicht Vater werden wollte. Caro verstand nicht, warum Steffi sich nicht dazu entschließen konnte, alleine ein Kind großzuziehen, wenn sie so dringend Mutter werden wollte. Doch da war Steffi absolut unbeweglich: Kein Vater – kein Kind. Und so hatten sie im vergangenen Monat ohne einen geeigneten Kandidaten Steffis sechsunddreißigsten Geburtstag gefeiert.

»Das wäre ja noch schöner – mich hier zu versetzen«, sagte Caro und machte ein paar Faxen, um ihre Sorgen um den Nachwuchs der Freundin zu verbergen. Sie hielt den Kopf schief, so dass eine lose Strähne ihr vors Auge fiel, und sie versuchte, sie durch Pusten wieder in ihre ursprüngliche Position zu bringen. »Reicht ja, wenn Julia uns wieder hängen lässt.« Caro griff nach dem Haarstrang und beförderte ihn vorsichtig zurück auf den Kopf.

»Sind wir heute etwas zickig?« Steffi begann, ihre geräumige Ledertasche nach irgendetwas umzugraben. Caro reagierte unwirsch, fragte, ob Steffi es in Ordnung fände, dass Julia grundsätzlich zu spät kam, ereiferte sich, spürte, wie ihr Pulsschlag sich beschleunigte. Mühelos hätte Caro das Thema ausschmücken können, Beispiele anführen, sich in Rage reden, aber da sie nur zu gut wusste, wie ihre Tiraden in der Regel endeten und sie sich vorgenommen hatte, diese Dummheiten künftig zu unterlassen, war sie dankbar, als sie unterbrochen wurde:

»Sag das nicht mir, sag das ihr.« Steffi gähnte und beförderte ein zerknittertes Stück Papier aus den Tiefen ihrer Tasche ans Tageslicht und schob es Caro hinüber. Die faltete den Bogen auseinander und schaute einige Augenblicke lang intensiv auf den Entwurf eines Abendkleides.

»Phantastisch! Steffi, du wirst der Star des Abends sein.«

»Das darf man wohl auch erwarten, wenn man sein eigenes Atelier eröffnet.« Steffi fuhr sich durch die strubbeligen Haare. »Und du brauchst gar nicht so zu grinsen. Ja, Haerviu hab ich auch eingeladen, und er hat zugesagt!«

In diesem Moment schallte aus dem Eingangsbereich der Kneipe ein dumpfer Knall herüber, gefolgt von einem spitzen Schrei. Steffi und Caro starrten in die Richtung, aus der die Störung kam, und guckten sich an, als wollten sie sagen: »Wer auch sonst?«. Aber bevor sie Julia dabei helfen konnten, den Garderobenständer wieder aufzurichten, hatte sie das Malheur bereits behoben und die Mäntel, Jacken und auf Holzhalterungen gezogenen Zeitungen zurück ans Gestell gehängt. Julia strich ihr Kleid bereits wieder glatt und schritt erhobenen Hauptes über den Holzboden an den Tisch der Freundinnen.

»Frohe Ostern, ihr beiden!«, grüßte sie mit heiserer Stimme und umarmte erst Steffi und dann Caro.

»Ostern? Was war das mal noch?«, alberte Caro herum, die seit ihrer Kindheit mit jedem kirchlichen Feiertag eine Demütigung verband. Sicher, auch sie war seinerzeit in der Dorfkirche konfirmiert worden wie alle anderen ihres Jahrgangs auch, aber dieses Ereignis hatte viel von seinem Glanz verloren, als ihre Mutter sie zwang, zur Konfirmation Petras schwarzes Kostüm zu tragen, dessen Innenfutter die Schwester unter den Achseln durchgeschwitzt hatte.

Steffi rollte mit den Augen, warf Caro einen tadelnden Blick zu und sagte »Hey, Julia, frohe Ostern«.

»Gelungener Auftritt«, nickte Caro und wusste im selben Moment, als sie es aussprach, dass ihr die Bemerkung wieder ein Quäntchen zu boshaft geraten war. Denn die Art und Weise, wie Julia sich stets in Szene setzte, ärgerte Caro. Sie missgönnte ihr die provozierte Aufmerksamkeit. Und es ärgerte sie, dass sie diese Missgunst empfand. War sie vielleicht eifersüchtig auf die Leichtigkeit, mit der die Freundin die Blicke aller Männer auf sich zog?

Die Frauen hatten längst ihre Croissants gegessen und Cappuccinos getrunken, als Caro sich endlich entschloss, auf ihre Neuigkeit zu sprechen zu kommen.

»Ben hat heute Dienst«, warf sie unvermittelt als Appetithappen in den Raum.

»Das ist ein Naturgesetz, dass Klinik-Ärzte an Feiertagen Dienst haben«, gab Julia trocken zurück.

»Aber es gibt Neuigkeiten.« Caro nahm sich vor, einfach und emotionslos nach und nach die Tatsachen auf den Tisch zu legen. Kein Grund sich aufzuregen. »Die Schinderei in der Klinik hört demnächst auf. Ben hat ein Angebot von seinem Kollegen Bertram, in eine Gemeinschaftspraxis einzusteigen.«

»Das sind ja mal gute Neuigkeiten«, rief Steffi.

»Wow!« Julia schob ihre Tasse ein Stück von sich weg und lehnte sich erwartungsvoll auf ihre Unterarme.

Caro fuhr sich über ihre Frisur und steckte eine verirrte Strähne zurück in das wattige Gebilde auf ihrem Kopf. Los jetzt. Sie würde irgendwie noch den entscheidenden Satz hinzufügen müssen.

»In welcher Ecke liegt die Praxis denn?«, kam Julia ihr zuvor.

»Ecke«, dachte Caro, »ist das falsche Wort. Ecke wäre hier in Hamburg. Ecke wäre Altona. Oder Eimsbüttel. Mit etwas gutem Willen sogar noch Barmbek. Aber die Praxis auf dem Lande – nein. Ecke passt hier wirklich nicht.«

»Im Elm«, hörte sie sich sagen und zog den Kopf ein, weil sie im nächsten Moment das klangvolle Halali ihrer Freundinnen erwartete. Doch die Jagdrufe blieben aus.

»Im Elm?« Steffi flüsterte beinahe. »Wo soll das denn sein?«

»Norddeutscher Höhenzug mit drei Buchstaben, nie gehört? Rund zweihundert Kilometer von hier.« Caros Antwort kam eine Idee zu schnell.

»Wieso denn im Elm? Zieht Ben etwa in Betracht, im Elm zu arbeiten? Meine Güte, bei der Entfernung will er pendeln?«

»Unsinn, er wird nicht pendeln, er hat beschlossen, an den Elmrand umzuziehen«, klärte Caro die Freundinnen auf und verordnete sich einen entspannten Gesichtsausdruck.

Steffi wusste nichts zu sagen, faltete den Entwurf ihres Abendkleides zusammen und wieder auseinander und blickte Caro fassungslos an. Julia zog die Augenbrauen hoch; auch ihr missfielen die Fakten ganz offensichtlich. Dennoch sagte sie nach einer Weile:

»Nun mal keine Panik, Mädels. Es gibt Tausende von Wochenendbeziehungen. Das muss ja nun nicht das Ende der Welt sein.«

»Zumal es dazu auch überhaupt nicht kommen wird«, beeilte sich Caro zu sagen. »Ben hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, dass wir gemeinsam in den Elm gehen und dort zusammen leben und arbeiten. Und meine Antwort lautet: Ja.« Erleichtert ließ sie sich gegen ihre Stuhllehne fallen. Das war’s. Sie hatte alles ausgespuckt. Ihre Freundinnen waren auf dem aktuellen Stand.

Julia erhob sich wortlos von ihrem Stuhl und stöckelte hinüber zum Tresen.

»Jetzt mal Spaß beiseite«, begann Steffi, die aufrecht am Tisch saß und Caro ins Gesicht starrte. »Denkst du allen Ernstes darüber nach, in den Elm zu ziehen? Ich meine, Caro, überleg doch mal. Was willst du denn da machen?«

»Na hör mal, dasselbe wie hier. Meine Websites kann ich genauso gut dort entwerfen. Genau das sind ja schließlich die Vorzüge des Internets: Ich kann auf einer Waldlichtung sitzen und per Satellit mit meinen Kunden kommunizieren.«

»Das ist doch Bullshit. Natürlich kannst du auf einer Waldlichtung sitzen. Die Frage ist nur, ob du das auch willst.«

»Ja, ich will. In guten wie in schlechten Zeiten«, kicherte Caro.

»Willst du ernsthaft behaupten, du hast Lust dazu, tagein tagaus in der Natur zu hocken? Ausgerechnet du? Das hältst du nie aus. Da wird dir gar nichts anderes übrig bleiben, als dich im Internet zu vergraben, weil du ja irgendwie dem Elend der Wälder entfliehen musst. Und das war’s dann. Plötzlich findest du dich wieder in der ultimativen Abhängigkeit: Ein Netzjunkie mit Laptop auf der Waldlichtung. Herzlichen Glückwunsch!«

»Denkst du, im Elm leben keine Menschen?« Caro ärgerte sich.

»Fahr halt hin und sieh nach. Aber mal ehrlich, Caro, du gehst doch nur mit, um Ben nicht aus den Augen zu lassen.«

»Was heißt aus den Augen zu lassen? Ich will mit ihm zusammen sein. Das letzte Jahr war bei Weitem das sonnigste in meinem Leben, das weißt du doch am besten!«

»Ja, hier in Hamburg«, sagte Steffi. Julia kehrte an den Tisch zurück und stellte einen Sektkühler mit Inhalt in die Mitte, öffnete die Flasche und schenkte drei Gläser voll.

»Wo genau liegt denn der Elm?« erkundigte sie sich.

»Im Niemandsland zwischen Braunschweig und Magdeburg«, alberte Caro, aber kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, ärgerte sie sich über ihre Wortwahl. Sie sollte etwas mehr Enthusiasmus an den Tag legen. »Kilometerweit saftige Buchenwälder«, fuhr sie fort, »nach unserer Erkundungstour am Wochenende werde ich euch berichten.« Im Geiste sah sie sich schon in Wanderstiefeln über Baumwurzeln stolpern und verscheuchte diese Vorstellung mit dem Griff nach ihrem Sektglas.

»Tja, dann auf die Osterüberraschung«, prostete Julia ihr aufmunternd zu. Steffi runzelte die Stirn. Anstatt etwas zu entgegnen, berührte Caro mit ihrem Kelch die beiden Gläser, die ihr entgegengehalten wurden. Dabei musste sie fast ein wenig verschämt lächeln, wie sie es seit ihrer Kindheit nicht mehr getan hatte.

4

Caro erwachte, hielt die Augen aber weiter geschlossen. Die Nacht war zu kurz gewesen. Neben sich hörte sie Steffi schmatzen, wie sie es immer tat, bevor sie zu sich kam. Jeden Moment würde die Freundin die Augen aufschlagen und sich bewusst werden, dass jener Tag vor ihr lag, auf den sie jahrelang hingearbeitet hatte: der Tag der Eröffnung ihres eigenen Modeateliers. Und Caro war froh, dass er noch in die Zeit vor ihrem Umzug an den Elm fiel, denn an einem für Steffi so wichtigen Tag erst anreisen zu müssen – das hätte sich falsch angefühlt.

Es konnte eng werden am Abend; neben Caro und Ben hatten über fünfzig Gäste zugesagt: Julia, im Moment solo, etliche Freunde und Bekannte, die Frauen aus Steffis Ladenkollektiv, die nun eine neue Mitstreiterin suchen mussten, ihre Volleyballgruppe, die Jungs von »Achterndeich«, die für das musikalische Programm sorgten, einige ihrer Kundinnen. Und, dachte Caro mit einem gewissen Unmut, auch Steffis Eltern und Bruder.

Caro hatte versucht, ihr die Idee auszureden, hatte sie daran erinnert, dass ihr Fleisch und Blut sich nur von etablierten Labels beeindrucken ließ, doch Steffi hatte sich nicht umstimmen lassen und darauf bestanden, auch ihren Eltern und Matthias an diesem Abend ihre Eröffnungskollektion zu präsentieren.

»Ich weiß doch, wo ich stehe«, hatte Steffi gesagt, »und vielleicht haben sie Spaß an einem meiner schrillen Cocktailkleider. Irgendwann muss man alte Kontroversen auch einmal beenden.« Danach hatte Caro das Thema nicht wieder angeschnitten.

Steffi wachte auf und blinzelte. Wie in Zeitlupe streckte sie sich im Liegen, machte sich dann aber klein und rollte sich zur Seite, bis sie auf der Bettkante zum Sitzen kam. Sie grinste Caro an, und in Vorfreude auf den Abend wippte sie auf der Matratze leicht auf und nieder. Schließlich drückte sie sich mit den Händen kraftvoll ab, stellte sich kerzengerade neben das Bett und schlug sich mit den Fäusten auf die Brust wie King Kong.

»Vollbracht«, dröhnte sie, als müsse sie sich selbst davon überzeugen, dass sie ihr Ziel erreicht hatte, »es ist vollbracht! Ab heute Abend wird die Welt um ein Modeatelier reicher sein.« Ihre Fußsohlen bewegten sich lautlos über den Dielenboden Richtung Küche. »Aber leider ist die Stardesignerin unpässlich«, jammerte sie. »Ich könnte schlafen, schlafen, schlafen.«

Bis in die frühen Morgenstunden hatte sie an ihrem Outfit für den Abend gesessen. Caro hatte ihr tapfer Gesellschaft geleistet und war nun sehr stolz auf ihre Freundin. Die Nachtarbeit hatte sich gelohnt: Steffis langer Rock aus petrolfarbener, glänzender Seide hing am Kleiderschrank bereit. Eine passende Korsage hatte sie in mühevoller Kleinarbeit mit winzigen Blüten in Türkis und Orange bestickt. Der Türkis-Ton wiederholte sich großflächig in einer Seidenstola, die Steffi in der vergangenen Nacht mit einigen Streifen aus orangefarbenem Kunstfell durchsetzt hatte. Gegen ein Uhr war das Ensemble schließlich bis auf das dazugehörige Stofftäschchen fertig gewesen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Steffi kurz überlegt, ob sie auf das Accessoire verzichten sollte. Wirklich komplett, befand sie jedoch, war das Ensemble erst mit genau dieser Tasche. Und so hatte sie nach kurzer Überlegung beschlossen, weniger Schlaf in Kauf zu nehmen, das Stofftäschchen mit ebensolchen Blüten zu besticken, wie sie die Korsage schmückten, und dafür in kompromisslosem Outfit zu ihrer Feier zu erscheinen.

Caro folgte ihr in die Wohnküche mit den drei alten Küchenschränken verschiedener Höhe und Breite in Dunkelblau, Hellblau und Türkis. Sie waren nebeneinander an der Wand aufgereiht, wo sie wirkten, als habe Steffi sie aus Bauklötzen zusammengesetzt. Die Morgensonne brachte das Grün einer Tischdecke zum Leuchten, unter der sich ein runder Esstisch verbarg. Momentan lebte Steffi in ihrer blau-grünen Periode. Deshalb trug sie zur Zeit eine hellblaue Farbsträhne in ihrem strubbeligen Kurzhaarschnitt, und Caro war gespannt, was Steffi auf der Feier damit machen würde, denn der Farbton vertrug sich nicht mit dem Petrol-Orange der abendlichen Garderobe. Möglicherweise schnitt sie die Strähne einfach aus dem schwarzen Haar heraus.

»Lass uns bei Jacques frühstücken gehen«, schlug Steffi vor. »Zur Feier des Tages werde ich über die Stränge schlagen. Wenn schon müde, dann wenigstens satt und müde.«

Caro war einverstanden. Ihr selbst tat es gut, ein fettes Toastbrot mit Schinken und Käse zu sich nehmen, denn es fiel ihr schwerer, ein paar Pfunde zu- als abzunehmen. Aber wenn Steffi sich dazu entschloss, den Morgen mit einer üppigen Mahlzeit zu beginnen, dann hieß das »Ausnahmezustand«.

Nach dem Frühstück trennten sich Steffis und Caros Wege. Steffi begab sich zur Vorbereitung der abendlichen Feier in ihr Atelier, und Caro ging zurück in Steffis Wohnung. Sie hatte ihr versprochen, dort mit dem Schlüssel auf Matthias zu warten, der zur Feier seiner Schwester aus München anreiste.

Caro mochte ihn nicht und sah den jungen Anwalt im Geiste schon wie seinen Vater hinter dem größten Schreibtisch einer Notariatskanzlei sitzen. Nach Meinung der Familie schlug Steffi ärgerlicherweise aus der Art. Dabei hätten die Eltern wirklich allen Grund, auf ihre Tochter stolz zu sein: Ein abgeschlossenes Modedesign-Studium und nun die Eröffnung ihres eigenen Ateliers. Aber noch immer konnten sie nicht vergessen, dass sie nach der Schule partout ein Praktikum bei einer Maßschneiderin hatte machen wollen, anstatt an dem Auswahlverfahren für Harvard teilzunehmen, das sie ihr mit Nachdruck empfohlen hatten. Erst Matthias hatte ihnen vier Jahre später diesen Herzenswunsch erfüllt.

Caro fand es empörend, dass sie Steffi die Anerkennung vorenthielten, die sie so offensichtlich verdiente. Und als sie jetzt an Steffis Eltern dachte und daran, wie sie die kreative Energie ihrer Tochter bis heute belächelten, entwickelten Caros Hände plötzlich ein Eigenleben. Sie griff blindlings auf Steffis Tisch, ihre Hand erwischte einen Graphitstift, und Caro konnte im letzten Moment verhindern, dass sie ihn auf den Boden schleuderte.

Glücklicherweise, beruhigte sie sich, dachte Steffi gar nicht daran, sich von ihrem Weg abbringen zu lassen. Sobald ihr Vater oder ihre Mutter ihr einen Plan madig machten, beendete sie das Telefongespräch oder verließ den Raum, entzog sich sofort der weiteren Einflussnahme und machte umso konsequenter das, was ihr richtig erschien. Aber eingeladen, ärgerte sich Caro, hatte Steffi ihre Familie trotzdem.

Es klingelte an Steffis Haustür. Caros Finger umklammerten noch immer den Graphitstift, und sie öffnete die Tür mit der freien Hand. Sie roch eine Molekülmischung aus teurem Aftershave und Treppenhausmoder. Im selben Moment blickte sie in Matthias’ Gleitsichtbrille und registrierte dieses halb belustigte Aufblitzen seiner Augen, das sich angesichts der Wohnsituation seiner Schwester einstellte. Caro umschloss den Graphitstift fest mit ihren Fingern.

»Einen wunderschönen guten Tag«, schmetterte Matthias, musterte sie von oben bis unten und fügte in einem kindlichen Tonfall hinzu, der so gar nicht zu seinen zweiunddreißig Jahren passen wollte: »Oho, welch apartes Armeehemd! Aus deinem vorigen Leben als Soldat?« Begeistert von seinem eigenen Scherz, fügte er wimmernd hinzu: »Aber bitte, bitte, Caro, nicht schießen, bitte tu mir nichts!«

Caro nahm sich vor, nur das Minimum an Smalltalk mit ihm zu machen, bevor sie ihm Steffis Schlüssel aushändigen und verschwinden würde.

»Komm rein«, sagte sie tonlos und ging voran über den Korridor. Der smarte Jurist betrat mit eingezogenem Kopf die Küche, als fürchte er, jeden Moment ein abgebröckeltes Stück Putz auf den Kopf zu bekommen. Plötzlich starrte er auf Steffis selbstbemalte Frühstücksteller, die sie in einem Hängeregal ausstellte, und griff sich ein Exemplar, um dessen Unterseite zu betrachten.

»Nun guck sich das einer an. KPM. Der ist unter Garantie von unserer Großmutter. Das war doch vorher ein prima Teller. Und was macht mein Schwesterherz? Verhunzt das gute Stück.« Caro betrachtete den wunderschönen Oktopus mit seinen schillernden Saugnäpfen, der zur Serie von Steffis Meerestieren in grün und blau gehörte. »Ich kann das einfach nicht verstehen«, fuhr Matthias fort. »Ich würde gern begreifen, wie man gebaut sein muss, um das Produkt einer anerkannten Firma ein für allemal mit aufgepinselten Frutti di mare zu verderben.«

»Knack«, sagte es, und der Grafitstift in Caros Hand war zerbrochen. Überrascht registrierte sie, dass dies einer jener Zerstörungsakte war, die ihr früher so zahlreich, nun aber schon lange nicht mehr unterlaufen waren. Der Schaden, beruhigte sie sich, hielt sich in Grenzen, ein kleiner Grafitstift, dessen Verlust Steffi leicht verschmerzen würde, aber dennoch. Er war ein Anklang an vergangene Zeiten, in denen vieles zu Bruch gegangen war, und Caro legte die beiden Teile des Stiftes schnell auf den Tisch, als müsse sie sich von ihrem unheilvollen Einfluss befreien, bevor sie zu Matthias sagte:

»Mit Geschirr ist es wie mit Mode, Möbeln und Musik. Spießer kommen nur mit Konfektionsware klar.« Und damit langte sie in die Beintasche ihrer Cargohose, aus der sie Steffis Schlüsselbund zog und vor Matthias auf den Tisch warf. »Bis heute Abend. Wird sich wohl nicht vermeiden lassen, dass wir uns über den Weg laufen.«

Während sie an Matthias vorbei Richtung Flur ging, fing sie einen Blick von ihm auf, der sie an irgendetwas erinnerte. An irgendjemanden. Es war der Blick einer Person, die alles, was Caro tat, vollkommen unpassend und schlichtweg unmöglich fand. Ja, es war derselbe Blick, den sie von ihrer Schwester Petra kannte. Dieser Blick, der sie getroffen hatte, wann immer sie ihr auf dem Schulhof oder vor dem Zeitschriften-Kiosk über den Weg gelaufen war. Diese leicht angeekelte, zweifelnde Miene in Petras Gesicht. Ungläubig und vorwurfsvoll zugleich, als könne sie nicht verstehen und verlange eine Erklärung dafür, aus welchem Grund sie mit solch einer Schwester wie Caro gestraft sei.

Solch einer »Hexe«, wie Petra sie zu nennen pflegte. Nicht nur hatte die Schwester ihr dieses Wort hinterhergeschrien, immer und immer wieder, nein, eines Tages hatte sie sich das Taschenmesser des Vaters ausgeliehen und die Gleichung CARO=HEXE in die Rinde der Baumstämme geritzt, an denen Caro Tag für Tag auf ihrem Weg zur Schule vorbeikam.

Dabei war sich Caro keiner Schuld bewusst gewesen, im Gegenteil, weder hatte sie die Schwester verraten, wenn diese heimlich auf der Schultoilette rauchte, noch hatte sie ihr Widerstand entgegengesetzt, wenn sie ihr Taschengeld an sie abtreten sollte. Caro hatte lediglich von ihr wissen wollen, wie man den Konjunktiv II von »helfen« bildete, denn Petra war schließlich zwei Klassen über ihr. Caro verstand nicht, warum ihre Schwester darüber so ungehalten wurde, dass sie sich am nächsten Tag die Mühe machte, ihre Hexengleichungen in die Baumrinde zu ritzen.

Über die Jahre wuchsen nicht nur die Buchen und Linden selbst, sondern ganz langsam und unaufhaltsam auch ihre Inschriften. Sie sprangen Caro an jedem Schultag ins Auge, so dass sie bald sehnsüchtig das Ende ihrer Schulzeit herbeiwünschte.

5

Ben bog mit seinem Kombi zum dritten Mal in die Schanzenstraße ein und schüttelte den Kopf.

»Ein Segen, dass wir dieses Parkplatzchaos bald für immer hinter uns lassen«, hörte Caro ihn seufzen und biss sich auf die Lippen. Durch die Windschutzscheibe sah sie die Häuserzeilen des Viertels vorbeiziehen. Sie fand es keineswegs lästig, einige Male um den Block zu fahren, um eine Parklücke zu suchen. Im Gegenteil, beim Abfahren der Haupt- und Nebenstraßen genoss sie es, Teil einer Menge von Menschen zu sein, die irgendwo inmitten all der Trödelläden, Boutiquen, Ateliers, türkischen Gemüsehändler oder asiatischen Imbisse von irgendwem erwartet wurden. Oder auch von niemandem erwartet wurden, alleine im Viertel unterwegs waren, sich in ein Café setzten, an ihrem Getränk nippten und dem Leben auf der Straße zusahen, dem sie selber angehörten, sobald sie sich von ihrem Stuhl erhoben.

Der Kombi quälte sich einen Kantstein hinauf und kam neben einem Straßenschild zum Stehen, dessen Pfahl über und über mit Zetteln beklebt war, so dass er Caro an einen Wunschbaum denken ließ. Ben stellte den Motor ab. Beim Verlassen des Wagens trat er in eine Pappschale mit Essensresten und stieß einen leisen Fluch aus, bevor er sich eine Packung Papiertaschentücher aus dem Handschuhfach holte. Caro beobachtete, wie Ben seinen schlanken sportlichen Körper mühelos nach unten beugte und mit elastischen Bewegungen die Mayonnaise von seinen Lederschuhen wischte. Er war gut in Form. Das perfekte Vorbild für seine Patienten: durchtrainiert, mit glatten Wangen und klaren blauen Augen. Die Zusammensetzung der Mineralienmischung, die er jeden Morgen und Abend zu sich nahm, musste also stimmen, überlegte Caro mit einem Anflug von Ironie. Doch sie musste zugeben, dass selbst seine hellblonden Haare ein wenig mehr zu glänzen schienen als bei anderen Männern, und wenn man es nicht besser wüsste, könnte man auf die Idee kommen, er habe eine raffinierte Haarpflege benutzt, um seinen ohnehin schimmernden Haarschopf noch effektiver in Szene zu setzen.

Dabei würde Ben derartige Maßnahmen entschieden ablehnen. Er setzte auf Gesundheit von innen und unternahm gar nichts, um sein Äußeres künstlich vorteilhafter erscheinen zu lassen. Und vielleicht war das auch kein Wunder, dachte Caro. Als Ben noch in die sechste Klasse ging, hatte der Vater die Familie verlassen und die Scheidung eingereicht. Und während Ben der Mutter wieder auf die Beine half und seine kleinen Schwestern beim Lesenlernen unterstützte, war ihm jeder Gedanke daran, wie er auf andere wirken mochte, herzlich egal. Er hätte noch so adrett und ansprechend oder im Gegenteil struppig und verwahrlost aussehen können – sein Vater hätte ihn doch keines Blickes gewürdigt. Und die Mutter war ohnehin immerfort stolz auf ihren Sohn.

»Wie kann ein durchschnittlich intelligenter Mensch nur seine Pommesschale auf die Straße fallen lassen, wenn keine zwei Meter weiter ein Papierkorb hängt?«, fragte Ben und warf sein Taschentuch hinein. Caro brummte geistesabwesend Zustimmung. Sie holte einen Spiegel aus der Canvas-Tasche und überprüfte ihre Frisur, die sie unter einem orangefarbenen Organzatuch aufgetürmt hatte, einer farblichen Referenz an Steffis gestickte Blüten auf dem Abendkleid. Mit diesem Farbtupfer endete dann aber auch jegliche Ähnlichkeit mit dem Outfit der Freundin, denn für den Abend der Atelierseröffnung hatte Caro ihre Panzerkombi angezogen, den durchgehenden, olivfarbenen Overall mit Reißverschluss bis in den Schritt. Sie hatte die langen Ärmel ein Stück weit aufgekrempelt und den Reißverschluss bis zum Bauchnabel aufgezogen, so dass ihr orangefarbenes Trägertop leuchtete, sobald sie sich ins Licht stellte. Dazu trug sie Turnschuhe in derselben Farbe. Sie hatte sich bei Ben eingehakt, musterte ihre Silhouette in den Schaufenstern des Schanzenviertels, die sie zügigen Schrittes passierten, und war zufrieden: Trotz ihrer groben Schuhe und des sportlichen Overalls wirkte sie überhaupt nicht plump, im Gegenteil: Da sie so schmal gebaut war, konnte sie anziehen, was sie wollte – sie sah immer grazil aus, selbst in einer Panzerkombi.

Caro und Ben gingen unter einer S-Bahnbrücke hindurch und tauchten ein in die Schallwelten eines Saxophonisten, dessen melancholische Tonfolge sie noch eine Weile begleitete, bis sie endlich vor der Fensterfläche des neuen Ateliers standen. Hinter der Glasscheibe leuchtete ein Meer unruhig flackernder Lichter. Steffi musste Dutzende von Kerzen angezündet haben. Caro ging feierlich die zwei Treppenstufen des Eingangs hinauf und betrat das Atelier.

Der Duft geschmolzenen Wachses schlug ihr entgegen. Sie war mit den Räumlichkeiten vertraut, hatte Steffi an manchem Wochenende beim Renovieren geholfen. Aber die Wirkung war jetzt eine völlig andere, seit Steffi dem weiß gestrichenen verwinkelten Raum in den letzten Tagen vor der Eröffnung sein endgültiges Gesicht gegeben hatte. Den Dielenfußboden hatte sie in Mattgold lackiert, ebenso die Türen für ihre beiden Umkleidekabinen. Von der Decke des Hauptraumes funkelte ein Messingleuchter, dessen lange Kristallzapfen das Licht brachen und es auf die Stangen mit Kleidern, Jacken und Hosen aus Steffis neuer Kollektion warfen. In unregelmäßigen Abständen blitzten aus den robusten, gemauerten Klinkerregalen, die wie die Wände weiß getüncht worden waren, einige wenige mattgoldene Mauersteine heraus. Der Raum strahlte eine zugleich edle wie zwanglose Atmosphäre aus.

Ben verstand nicht, warum Caro partout als Erste hatte eintreffen wollen.

»Ist doch Ehrensache«, sagte sie, noch ganz benommen von dem warmen Licht. Sie schritt ehrfurchtsvoll an den gefüllten Kleiderstangen entlang und rief nach ihrer Freundin. Steffi antwortete aus dem hinteren Raum, den sie sich als Teeküche eingerichtet hatte, trat durch den goldenen Türrahmen und stellte sich breit grinsend vor ihre ersten Gäste.

Caro starrte Steffi an, begriff nicht gleich, suchte Vertrautes, stieß unvermittelt einen Laut der Überraschung aus. Klammheimlich, ohne ihr auch nur etwas anzudeuten, hatte Steffi sich am Nachmittag eine Glatze schneiden lassen. Hatte ihre vollen struppigen Haare, die schwarze Pracht mit der hellblauen Strähne einfach abrasieren lassen. Caro war perplex.

»Welcher Teufel hat dich denn geritten?«

»Es erschien mir plötzlich alles nicht mehr richtig«, erwiderte Steffi leise. Sie fuhr sich mit beiden Händen über die glatte Kopfhaut. »Ich brauchte eine echte Veränderung. Wollte den Beginn der neuen Ära auch körperlich erleben. Es ist ein erhebendes Gefühl, wenn du jeden Luftzug spürst.« Sie grinste zufrieden. »Und du kriegst jede Menge Aufmerksamkeit.«

Caro musste zugeben, dass die Verwandlung ihren Reiz hatte. Steffis rundes Gesicht, ihre vollen, dunkelrot geschminkten Lippen, die breite Nase zwischen ihren schwarz umrandeten Augen, die verhältnismäßig dünnen Augenbrauenbögen – ihr Gesicht enthüllte jetzt viel deutlicher als zuvor das große Maß an Warmherzigkeit, das Steffi auszeichnete.

»Und dein Abendkleid?«, fragte Caro, während sie jetzt das Dress musterte, das Steffi stattdessen für den Abend angezogen hatte, ein weißes Dirndl aus ihrer neuen Kollektion mit einem gesmokten goldenen Einsatz auf der Brust.

»Das werde ich verkaufen müssen, denn meine blau-grüne Periode betrachte ich ab sofort als abgeschlossen.« Dabei strich sie sich erneut über ihre Glatze und schüttelte übermütig den Kopf, so dass ihre Ohrringe, zwei Kristallzapfen, die sie aus dem neuen Kronleuchter genommen und umfunktioniert hatte, ihr an die Wangen schlugen.

Caro bewunderte Steffi dafür, dass sie so hemmungslos umsetzte, was ihr richtig erschien. Inmitten der flackernden Kerzen auf den Golddielen wurde Caro zum ersten Mal bewusst, wie unterschiedlich sie und Steffi in diesem Punkt waren. Denn sie selber war durchaus einmal bereit zu einem Kompromiss. Beispielsweise bei der Wahl des Wohnortes, dachte sie mit einem Anflug von Wehmut und vergewisserte sich mit einem Seitenblick auf Ben, dass auch diese Strategie zweifellos ihre Berechtigung hatte.

Bevor Caro etwas erwidern konnte, öffnete sich die Ladentür, und Steffi ging auf die Gruppe von Musikern zu, die die Gastgeberin mit einem anerkennenden »Wow, nicht übel« begrüßten, was sich auf die Ausstattung des Ateliers beziehen konnte, ebenso aber auf den rasierten Kopf, doch niemand vertiefte das Thema, und die Jungs von »Achterndeich« begannen sofort, ihre Instrumente im hinteren Teil des Ladens aufzubauen.

Unablässig öffnete und schloss sich nun die Tür und versetzte die Flammen der Kerzen in zittrige Tänze. Grüppchen, Pärchen, Singles trafen ein, begutachteten Steffis Atelier und ihre Glatze, teils lautstark, enthusiastisch, teils entgeistert, aber höflich. Steffi umarmte ihre Gäste einen nach dem anderen und schickte sie charmant an den Tisch, an dem eine Studentin Getränke ausschenkte und die Blumensträuße versorgte. Der Raum war bald erfüllt von Gesprächen. Caro und Ben ließen sich Prosecco einschenken und waren im Begriff, in Richtung der Musiker zu gehen, als sich Steffis Bruder ihnen in den Weg stellte.

»Oje, Caro, hab ich etwa die Mobilmachung verpasst?«, rief Matthias mit gespieltem Entsetzen, während er sie von oben bis unten musterte.

»Was interessiert dich das? Du bist doch ohnehin untauglich.« Caro wollte sich an Matthias vorbeidrängen, aber er ließ sie nicht durch und schnaubte:

»Ich muss schon sagen, Caro, du passt perfekt zu meiner kahlgeschorenen Schwester. Wie kann man denn ernsthaft in einer Panzerkombi hier erscheinen?«

»Matthias«, sagte Caro mit eisiger Stimme, »hattest du jemals das Gefühl, dass deine Meinung mich interessiert? Ich meine, falls ja, möchte ich den Eindruck hiermit nachdrücklich korrigieren.« Sie schob ihr Proseccoglas gefährlich nahe an Matthias’ Anzug heran, so dass er sie und Ben schließlich passieren ließ.

»Ihr mögt euch wohl nicht«, stellte Ben irritiert fest.

»Erraten.« Caro hoffte inständig, er möge jetzt keinen Versuch unternehmen, ihre ehrlich empfundene Abneigung durch verfehltes Verständnis für Matthias zu verwässern. Ben neigte dazu, lautere Motive für jede Verhaltensweise zu finden.

»Vielleicht ist er einfach überrascht«, sagte er nun tatsächlich.

Caro blieb stehen und drehte sich zu ihm um.

»Sag mal, hast du Wahrnehmungsstörungen?« Sie verspürte, während sie sich über Matthias empörte und ein wenig wohl auch über Ben, einen wachsenden Drang, sich auch körperlich Luft zu machen.

»Immerhin ist er extra aus München angereist«, überlegte Ben.

»Natürlich ist er das, allein schon um Steffi ihre Kollektion madig zu machen und allen seine ewigen Wahrheiten zu verkünden!«, schnaufte Caro und schleuderte ihr Proseccoglas auf den goldenen Dielenboden. Im nächsten Moment hielt sie beide Hände vor den Mund und schämte sich für ihre unbeherrschte Handlung. Nun war es doch wieder passiert, nun hatte die Wut sich doch wieder einen Weg gebahnt.

Ben nahm sie schnell in den Arm, und Caro war dankbar für seinen Beistand. Sie gingen gleichzeitig in die Knie, kauerten auf dem Dielenboden und sammelten die Glasscherben vorsichtig ein. Immerhin, beruhigte sie sich, die Abstände zwischen den Ausbrüchen waren erheblich länger geworden. Fast zwei Jahre waren vergangen, seit das schöne Chinabone-Service zu Bruch gegangen war, das eigentlich Jacob auf dem Gewissen hatte.

Caro wollte dem Vorgänger von Ben nicht einmal in Gedanken Zutritt gewähren zu ihrem neuen Lebensabschnitt, versuchte sein Gesicht zu verdrängen. Aber nun war es zu spät. Eigenartigerweise hatte Caro beim Anblick der Scherben vor ihren Füßen plötzlich alles wieder vor Augen: All das Warten auf Jacob. Das Tauziehen mit Jacob. Schließlich das Fluchen auf Jacob. Gleichzeitig war sie stolz darauf, dass es ihr damals gelungen war, ihn rechtzeitig in die Wüste zu schicken. So rechtzeitig, dass sie gar nicht mehr damit beginnen musste, ihren Kopf gegen die Wand zu schlagen, wie sie es früher zu tun pflegte, wenn eine Beziehung aus dem Ruder lief.

Jacob war ihr auf dem Weg zum »Atlantic« über den Weg gelaufen, wo Julia das Jubiläum der Event-Agentur ausrichten ließ, für die sie noch immer tätig war. Augenzwinkernd hatte sie Caro und Steffi die Einladungen zu diesem Abend übergeben:

»Damit ihr endlich ein paar betuchte Männer kennenlernt.«

Caro hatte damals zur Feier des Tages ihre Stiefel gegen ein Paar zierlicher Stiletto-Sandaletten ausgetauscht, ein interessanter Kontrast zu ihrer schwarzen Cargohose. Als sie nach vielen vergeblichen Runden durch St. Georg endlich einen Parkplatz gefunden hatte, stieg sie gereizt aus ihrem Auto, schlug die Wagentür zu und versuchte, die Radioantenne zusammenzuschieben, um sie vor übermütigen Jugendlichen in Sicherheit zu bringen. Die oberen Glieder der Antenne ließen sich noch leidlich einfahren, aber je tiefer sie das Teleskop versenkte, desto schwergängiger wurde es. Während sie vergeblich versuchte, das Rohr zu bewegen und ihre Fingernägel in der Abendsonne leuchteten, fühlte sie, wie eine rote Wut in ihr aufstieg. Als das Metall schließlich weder vor noch zurück zu schieben war, zitterte ihre Hand kurz, und mit einem leisen Schnaufen bog sie die Antenne um, so dass sie wie ein abgeknickter Strohhalm aus dem Wagendach ragte.

»Ihnen möchte ich aber nicht im Dunkeln begegnen«, hörte Caro damals eine Stimme hinter sich und fuhr herum, blickte in die lachenden Augen eines gar nicht einmal großen, aber sehr stattlich wirkenden Mannes, dessen dunkler Anzug einen leichten Bauchansatz verbarg, gerade noch das sympathische Anzeichen eines genießerischen Alltags.

»Das würde ich Ihnen auch nicht raten«, fauchte sie ihn an, während sie nebeneinander standen, Caro mit verschränkten Armen neben der abgeknickten Antenne, der fremde Mann mit einem riesigen Lilienstrauß unter Folie in der Hand.

»Wenn ich könnte, würde ich Ihnen diesen Strauß schenken, um Sie etwas zu besänftigen.« Er lächelte sie weiter an. »Leider muss ich ihn aber bei einem Jubiläum abliefern, sonst kann ich die Promotion für meine Firma in Zukunft vergessen. Aber kann ich vielleicht irgendetwas anderes für Sie tun?« Während der attraktive Mann mit den Lachfalten ein wenig belustigt auf Caro schaute, riss sie ihre Fahrertür auf, griff sich ihren Strauß Rosen sowie ihr Ledertäschchen und schnaubte:

»Wissen Sie was? Wenn ich eine Blumensorte auf den Tod nicht ausstehen kann, dann sind das Lilien.« Und damit knallte sie ihre Wagentür zu, bog die umgeknickte Antenne weg von der Fahrbahnseite über das Wagendach und stöckelte auf ihren Stilettos Richtung »Atlantic«. Sie bog in den Holzdamm ein und sah bereits den Hoteldiener in Livree vor dem Eingang auf und ab gehen, als sie die wohlklingende Stimme des Mannes mit dem Lilienstrauß hinter sich hörte.

»Wenn ich nun verspreche, Ihnen niemals Lilien zu schenken und heute Abend dafür zu sorgen, dass Sie immer ein gefülltes Glas Champagner in der Hand halten, würden Sie dann davon absehen, mich im Dunkeln zu verprügeln?« Caro konnte nicht umhin zu grinsen, während sie neben ihm die Stufen zum Eingang des »Atlantic« hinaufschritt.

So hatte sich Julias Feier als ausgesprochen unterhaltsam erwiesen. Jacob Conradi, der Lilienliebhaber, wich den ganzen Abend nicht von Caros Seite. Und als sie nachts aus dem strahlend weißen Hotel traten und über eine Fortsetzung des Abends verhandelten, spielte er von Anfang an mit offenen Karten, das ließ sich nicht leugnen. Natürlich war er verheiratet, natürlich wohnte er mit Frau und zwei Kindern in einem Walmdachbungalow inmitten eines Gartens voller Rhododendronbüsche. Und natürlich schaffte Caro es trotzdem nicht, ihn an diesem Abend zurück zu seiner Familie in die Elbvororte zu schicken.

Als sie ihm ein Jahr später, während er sich gerade die Schnürsenkel zuband, vorschlug, nun langsam über eine Trennung von seiner Frau nachzudenken, schüttelte er mit Befremden den Kopf. Gemeinsamer Urlaub: gern. Aber seine Familie aufgeben, das ging dann doch zu weit. Was dann folgte, bezeichnete Caro im Nachhinein als mehrmonatige Gefechtsphase, in der sie sich aller Varianten von Hinterhalt, Frontalangriff, taktischem Rückzug oder Stellungskrieg bediente, die ihr zur Verfügung standen, in deren Verlauf sie sich zu ihrer eigenen moralischen Unterstützung sogar eine SWAT-Uhr kaufte, bis sie endlich bereit war einzusehen, dass Jacobs Familie siegreich aus der Schlacht hervorgegangen war.

Zwar war Caro diejenige, die schließlich den Schlussstrich zog, aber das änderte nichts daran, dass sie in den Tagen nach dem offiziellen Ende sukzessive alle vierundzwanzig Teile ihres Kaffeegeschirrs an die Wand warf. Aber, dachte sie nicht ohne Stolz, sie hatte die Scherben zusammengekehrt und neu begonnen.

Aus alter Gewohnheit schaute sie unwillkürlich auf die SWAT-Uhr an ihrem schmalen Handgelenk. SWAT, hatte sie Ben an dem Abend am Fischmarkt, an dem sie sich kennengelernt hatten, erklären müssen, bedeutete »Special Weapons and Tactics«, und Caro fragte sich manchmal, warum sie die Uhr eigentlich immer noch trug, ohne diesen Gedanken jedoch ernsthaft weiter zu verfolgen.

Steffi, da war Caro sich sicher, hätte ihr die SWAT-Uhr schnell madig gemacht, wenn sie ihr die Gründe für den Kauf erzählt hätte, denn Steffi hielt überhaupt nichts von Taktik. Es war nur so, fand Caro, dass sich die Dinge nicht immer in der Weise entwickelten, wie man es sich vorstellte, und dann, fand sie, durfte man durchaus einmal zu einer kleinen Raffinesse greifen. Es durfte eben kein Dauerzustand werden. Man handelte aus Notwehr. Und außerdem: Steffi war hier kein Maßstab. War das etwa eine Alternative: Seit Jahren zog Steffi als Single durchs Leben. Caro kannte keinen Menschen, der so kompromisslos lebte wie ihre Freundin, so ganz und gar ohne Zugeständnisse. Aber konnte man denn so leben?

Caro löste die Augen von ihrer SWAT-Uhr, schaute Ben an und flüsterte »Entschuldigung«. Der Prosecco war in den Fugen zwischen den mattgoldenen Bohlen versickert, und sie konnte schon wieder lächeln, während sie dachte, dass Steffis Atelier damit immerhin getauft war. Umgeben von den Unterschenkeln der stehenden Gäste, beugte sie sich hinüber zu Ben, um ihn einige Sekunden lang zu küssen.

»Gibt’s hier etwa kein Hinterzimmer, in das ihr euch verdrücken könnt?«, hörte sie im selben Moment eine rauchige Stimme über sich lachen und blickte nach oben. Julia prostete ihnen zu und wippte mit den Hüften zu dem jazzigen Rhythmus, der jetzt eingesetzt hatte. Ben nahm Caro ihre Scherben ab, küsste sie noch einmal und flüsterte ihr »Bis später« zu, bevor er Julia zunickte, das zerbrochene Glas davontrug und die Frauen alleine ließ.

Caro kam aus der Hocke hoch und tauchte ein in eine Wolke aus Hibiskus und Sandelholz mit einem Hauch von Zitrusfrüchten.

»Neues Parfüm?«, fragte sie und rümpfte die Nase, während sie Reste des Proseccos an der Panzerkombi von den Händen wischte.

»Ja, heute zur Abwechslung blumig-fruchtig. Hat ein Kunde mir geschenkt, so ein ganz junger Typ, Juniorchef einer Baufirma, für die wir ein Firmenjubiläum organisiert haben.« Julia schüttelte lachend den Kopf, so dass ihr die glatten blonden Ponysträhnen in die Augen fielen, und sah sich im Raum um: »Du siehst, ich habe auch bei jüngeren Männern Chancen.«

»Und das willst du uns heute Abend wohl beweisen.«

»Warum nicht? Auf jeden Fall hat sich der Kreis potenzieller Kandidaten erweitert. Steffis Bruder zum Beispiel hat sich mächtig herausgemacht, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Sieht gut aus, hat Geld und Geschmack, ist charmant mit einer wunderbar tiefen Stimme, was will ich mehr? Findest du nicht, dass Matthias ein smartes Kerlchen geworden ist?«

»Geschmackssache.« Caro spürte, wie sie regelrecht böse wurde. Ausgerechnet Matthias. Seit sie Julia kannte, ärgerte sie sich über deren unentwegte Jagd auf Männer. Aber in der Regel bediente Julia sich in ihrem beruflichen Umfeld: Über die Arbeit in der Event-Agentur lernte sie ständig neue Kunden oder Mitarbeiter kennen und stürzte sich in diese Bekanntschaften. Doch Caro verstand nicht, wieso ihre Beziehungen so wenig stabil waren. Wie konnte es angehen, dass diese patente und humorvolle Frau, finanziell unabhängig und brillant im Organisieren, so gefangen war in ihrem Zwang zu ständig neuen Liebeleien? Caro wunderte sich immer wieder, wie das Thema Männer Julias Leben beherrschte, ohne dass ihr bisher eine echte Bindung gelungen wäre. Jedenfalls nicht seit die beiden sich kannten, seit ihrer gemeinsamen Zeit an der Hochschule für Gestaltung, die viele Jahre zurücklag.

Noch heute schüttelte Caro den Kopf darüber, dass Julia ihr Studium damals vorzeitig abgebrochen hatte, um endlich Geld zu verdienen und es in Kleidung und teure Düfte investieren zu können. Einfach alles in Julias Leben rankte sich seit Jahren um ein zentrales Thema: ihre Wirkung auf Männer. Und jetzt also Matthias, dieses drei Jahre jüngere Großmaul. Caro hatte partout keine Lust, dabei zuzusehen.

»Ich geh mir was zu trinken holen«, sagte sie und ließ die Freundin im Gedränge stehen. Verstimmt schob sie sich in Steffis Richtung, doch die stand in einer Runde mit ihren Eltern und einigen Kundinnen, und da wollte Caro nicht stören.

Mit einem neuen Glas Prosecco in der Hand plauderte Caro beiläufig mit einer Frau aus Steffis altem Ladenkollektiv, ihre Augen aber schweiften häufig ab in Richtung des Grüppchens, in dem Steffi stand. Sie registrierte, wie ihre Freundin die Schultern nach hinten drückte, während ihr Vater mit durchdringender Stimme dozierte, wie Steffi die Stirn in Falten legte, wenn ihre Mutter unter heftigem Nicken des Kopfes mit einer Kundin sprach. Und Caro bewunderte Steffi dafür, dass sie ihre Eltern dennoch gewähren ließ. Aber es lag noch etwas anderes in ihrer Miene und in der schnellen Drehung des kahlen Kopfes, die sie hin und wieder von ihrer Position aus vollzog. Caro begriff, dass Steffi den Raum in kurzen Abständen immer wieder nach Haerviu absuchte, der bislang nicht erschienen war, und sie fühlte mit ihrer Freundin mit.

Als Caro ihr Gespräch beendet hatte, hielt sie Ausschau nach Ben, aber vergeblich. Erst als sie durch die Schaufensterscheibe auf die Straße hinausblickte, sah sie ihn hinter den Spiegelbildern der flackernden Kerzen mit den Händen in den Hosentaschen auf dem Gehweg stehen. Sie beobachtete, wie sich sein kräftiger Brustkorb mehrmals dehnte und wieder in die Normalstellung zurückfiel, während er in den Abendhimmel sah.

»Ich Glückskind«, dachte Caro, während sie sich durch die Gästemenge Richtung Tür schob. Und mit den Bildern von Steffis suchenden und Julias provozierenden Blicken im Kopf sprang Caro mit einem berauschenden Maß an Erleichterung die Stufen vom Atelier hinunter auf den Fußweg und fiel Ben um den Hals.

Gegen ein Uhr saßen der harte Kern von Steffis Freundeskreis und ihr Bruder auf Klappstühlen um den Getränketisch herum. Steffi hätte froh sein können nach dem gelungenen Verlauf der Eröffnungsfeier. Alle waren sie da gewesen, Freunde, Bekannte, Verwandte, hatten das Atelier für ein paar Stunden in einen Ort heiterer Festlichkeit verwandelt. Aber Caro spürte, dass Steffi schwer mit ihrer Enttäuschung zu kämpfen hatte, da Haerviu nicht erschienen war. Zwar lachte Steffi sich über die Schilderungen des Bassisten von »Achterndeich« kaputt, der von ihrem missglückten Auftritt bei einer Hochzeitsfeier erzählte, zwar führte sie wortgewandt einen sinnlosen Streit mit ihrem Bruder über Details des Mietvertrages für ihr Atelier, doch Caro entging keineswegs, dass ihre Freundin litt, auch wenn sie es gut zu überspielen wusste.

»Jungs und Deerns«, forderte Steffi die verbliebenen zehn Personen auf, während sie sich erhob, »jetzt stoßt bitte mal mit mir an auf ...«, als sie mitten im Satz inne hielt. Caro konnte nicht sehen, was hinter ihrem Rücken geschah und starrte nur fasziniert auf die kolossale Veränderung, die sich in diesem Moment auf Steffis Gesicht abspielte. Ein schnelles Kräuseln der Stirn, bevor sie ihre ohnehin großen Augen immer weiter aufriss und sie durch ein Lächeln, das von ihrer gesamten Kopf- und Halsmuskulatur getragen wurde, zum Leuchten brachte. Gleichzeitig hörte Caro, wie sich die Tür zum Atelier öffnete, und dann blickte sie hinter sich und sah Haerviu mit seiner Fotoausrüstung auf dem Bauch den nur noch vom Kerzenlicht beschienenen Raum betreten.

»... auf einen perfekten Abend«, beendete Steffi ihren Satz, hob ihr Glas, stieß mit allen an und kippte ganz benommen vor Erleichterung ihren Wein wie ein Glas Saft hinunter, bevor sie strahlend auf Haerviu zuging und sich einige Meter entfernt von den anderen mit ihm unterhielt.

Den Rest des Abends verbrachte Caro in Mutmaßungen darüber, warum Haerviu das Atelier gleich wieder verlassen hatte. Seine Gründe mussten Steffi überzeugt haben, da sie in der Runde, die sich bis um drei Uhr morgens hartnäckig am Tisch hielt, vor Schlagfertigkeit nur so brillierte. Ben hatte die Feier schon vor Stunden verlassen, weil er am nächsten Tag Dienst hatte, aber Caro blieb im Atelier, bis die Runde sich schließlich auflöste.

»Dann lass mal hören«, sagte sie zu Steffi, nachdem alle anderen gegangen waren und die beiden angefangen hatten, die leeren Gläser und Flaschen in der Teeküche zusammenzustellen.

»Ganz einfach. Sein Auftrag hat länger gedauert als geplant, und er hatte keine Lust, in seinem nüchternen Zustand auf uns angesäuselte eingeschworene Gemeinschaft zu prallen. Dafür treffen wir uns morgen zum Essen.«

»Klingt weise. Und wie fand er deine Glatze?«

»Die hat er mit keinem Wort erwähnt.«

Caro fühlte sich wieder wacher werden. Während sie Gläser spülten, ließ sie mit Steffi den Abend noch ganz unbeschwert Revue passieren. Doch als die beiden gegen vier Uhr das Atelier schließlich in einen annehmbaren Zustand versetzt hatten und sich für einen letzten Drink auf das frisch bezogene Plüschsofa fallen ließen, wurde Caro plötzlich ganz bange ums Herz, weil sie sich bewusst wurde, dass solche Nächte künftig nicht mehr zu ihrem Alltag gehören würden. Nur der beharrliche Gedanke daran, dass sie stattdessen jeden Morgen neben Ben aufwachen würde, konnte verhindern, dass das Gefühl der Bedrückung in diesen frühen Stunden des Tages die Oberhand gewann.

Urbis oder der Tanz der Tummelfliegen

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