Читать книгу Du sollst nicht töten - Skandinavien-Krimi - Kirsten Holst - Страница 5

2.

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Winther und ihr Kollege aus dem Streifenwagen, die als Erste vor Ort angekommen waren, hatten schon einen Teil der Arbeit erledigt. Das Gebiet war weiträumig abgesperrt worden, niemand hatte auf den Feldweg fahren dürfen und der eigentliche Fundort der Leiche war nochmals abgesperrt und markiert worden. Das Ganze sieht aus wie im Lehrbuch, dachte Høyer, typisch Winther. Er war etwas skeptisch gewesen, als die ersten Frauen bei ihnen anfingen, aber er musste zugeben, dass Winther tüchtig war. Tüchtig und effektiv. Nichts wurde dem Zufall überlassen. Doch es blieb abzuwarten, ob sie genauso effektiv sein konnte, wenn sie sich einmal nicht an das Lehrbuch halten konnte. Manchmal kam sie ihm wie die brave Streberin der Klasse vor.

Er war sich durchaus bewusst, dass er ungerecht war, und sprach das auch nicht laut aus. Er war überzeugt, dass ihm sonst vorgeworfen werden würde, er sei ein alter Chauvinist. Und das wahrscheinlich nicht ganz zu Unrecht, wie er einräumen musste. Es hatte weiß Gott eine ganze Reihe junger männlicher Polizeibeamter gegeben, bei denen er dankbar gewesen wäre, wenn sie einfach nur dem Lehrbuch gefolgt wären. Von Geistesgegenwart wollte er erst gar nicht anfangen.

Sie kam zu ihnen, als sie aus dem Auto gestiegen waren, und zeigte ihnen, wohin sie gehen sollten.

»Was ist das da?«, fragte Høyer und zeigte auf eine Markierung am Straßenrand, ungefähr an der Stelle, wo die asphaltierte Straße endete.

Winther errötete ein wenig, so als hätte sie das Gefühl, etwas übereifrig gehandelt zu haben. »Es gab da ein paar Reifenspuren«, sagte sie. »Als hätte hier ein Auto auf der Straße gewendet und wäre dabei mit den Hinterrädern auf den Acker geraten. Sie können es sich anschauen.« Sie blieb stehen und zeigte. »Sie sahen ziemlich frisch aus, deshalb dachte ich, dass ...«

»Ja, sicher«, sagte Høyer. »Ausgezeichnet.«

Er war drauf und dran, ›mein Mädchen‹ hinzuzufügen, konnte sich aber noch bremsen. Das hätte Polizeibeamtin Winther sicher nicht gefallen.

Er blieb einen Moment stehen und versuchte, sich ein Bild von der Umgebung zu machen. Offensichtlich war der Feldweg eine Sackgasse, die an einem kleinen Bauernhof zwei-, dreihundert Meter vom Wald entfernt endete, und diesseits des Waldstücks lagen nur ein einzelner Hof und ein kleineres Haus. Ein abgelegener Ort, dachte er. Kein Ort, an dem man zufällig vorbeikam. Eine gottverlassene Landstraße, die nirgendwohin führte.

Therkelsen und er folgten dem Feldweg etwa fünfzig Meter weit, bis sie eine Lichtung am Waldrand erreichten, von der ein aufgeweichter Weg, eher ein Paar Reifenspuren, in den Wald führte.

Die Leute vom Erkennungsdienst waren bereits vollauf damit beschäftigt, das Areal zu durchkämmen. Hinter einem Holzstapel konnte Høyer eine kleine Gruppe von Männern erkennen und nur wenig entfernt von ihnen fiel sein Blick auf einige Kleidungsstücke, die auf dem Waldboden verstreut lagen.

Sie gingen zu dem Holzstapel und gesellten sich zu den anderen.

»Großer Gott!«, entfuhr es Høyer unwillkürlich, als er das Mädchen erblickte. Der Anblick traf ihn vollkommen unvorbereitet. Er war ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie erdrosselt worden war wie die anderen, aber das hier ...!

Er holte schnell ein paar Mal Luft, um seiner Übelkeit Herr zu werden. Therkelsen war einige Schritte zurückgetreten und studierte den grauen Himmel, während er sich mit knirschenden Zähnen sammelte.

Høyer entschuldigte sich in Gedanken bei Winther. Ein Anblick wie dieser hätte selbst ältere und abgebrühtere Polizeibeamte aus dem Konzept bringen können. Es steckte offensichtlich mehr Mumm in dem Mädchen, als er gedacht hatte.

Ein seltsamer Laut brachte Høyer dazu, sich umzudrehen und einen forschenden Blick um sich zu werfen.

»Wer ist das?«, fragte er erstaunt Larsen, der gerade zu ihm kam, und nickte in die Richtung von zwei Männern, die etwas weiter weg auf einem umgestürzten Baumstamm hockten. Der eine Mann hielt den Kopf in den Händen verborgen. Es war sein trockenes, stoßweises Weinen, das Høyer gehört hatte, und für einen kurzen, erleichterten Augenblick glaubte er, den Täter vor Augen zu haben.

»Ihr Vater«, sagte Larsen und blickte hinüber.

»Ihr Vater?«, rief Høyer und spürte, wie er wütend wurde. »Welcher Idiot hatte denn die geniale Idee, den ...?«

»Niemand«, beeilte sich Larsen einzuwerfen. »Es war schlicht und ergreifend Pech. Er war gerade auf dem Hof auf der anderen Seite des Waldstücks, als die Kinder nach Hause kamen und erzählten, dass sie draußen im Wald ein Mädchen gefunden hätten, das ›ganz krank‹ sei. Er war unterwegs, um nach seiner Tochter zu suchen, und dann fuhr er mit seinem Nachbarn natürlich hierher.«

»Großer Gott!«, sagte Høyer erneut. Ja, es war in der Tat Pech, dass sich ihr Vater ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt dort aufhielt, dann hierher kam und sie sah. »Aber warum hat man ihn denn nicht längst nach Hause gebracht?«, fragte er.

»Er will nicht«, antwortete Larsen missvergnügt. »Er ... er sagt, dass er sie nicht allein lassen will.«

Allein! Gott im Himmel! Sie war nicht allein. Sie war nie weniger allein gewesen. Es wimmelte von Menschen um sie herum, die ihren toten Körper zeichneten, fotografierten, studierten und untersuchten und nichts davon konnte noch zu ihr vordringen. Aber früher, noch vor einem halben Tag, hatte sie sich sicher wie der einsamste Mensch auf Erden gefühlt. Und doch konnte Høyer den Gedankengang des Vaters gut nachvollziehen.

»Und wer ist der andere?«, fragte Høyer. »Ist das der Nachbar?«

Larsen schaute wieder hinüber. »Ja, das ist der Mann von dem Bauernhof. Direkte Nachbarn sind sie ja nicht. Er versucht, ihn dazu zu überreden, nach Hause zu gehen.«

»Er muss nach Hause«, sagte Høyer. »Wir können ihn doch hier nicht herumsitzen lassen. Und was ist mit seiner Frau, verdammt nochmal? Weiß sie etwa noch gar nicht Bescheid?«

»Doch, der Bauer hat seine Frau rübergeschickt, als er zu Hause war, um anzurufen. Da wollte der Mann auch nicht mitkommen. Aber der Arzt hat ihm in der Zwischenzeit eine Beruhigungsspritze gegeben, so dass er jetzt vielleicht ...« Larsen sah sehr unglücklich aus. »Weißt du, Høyer, das Beschissene ist einfach, dass er es war, der von dem Mädchen verlangt hat, spätestens um zwei zu Hause zu sein, weil sie doch am nächsten Morgen zur Arbeit musste, und jetzt denkt er natürlich, das Ganze wäre seine Schuld.«

Høyer seufzte schwer. Ja, das konnte er sich vorstellen. Selbstvorwürfe und das unausweichliche ›Wenn ich doch nur‹. Vielleicht war er am Morgen zunächst sogar noch Wütend gewesen, als sie nicht nach Hause gekommen war. Dann war seine Wut zu Unruhe, Sorge, Angst geworden, zu einer Angst, die in 99,9 Prozent aller Fälle völlig unbegründet gewesen wäre.

Der Mann hatte aufgehört zu schluchzen, saß nun da und drehte ein Taschentuch in seinen großen Händen.

»Wie hieß er noch?«, fragte Høyer.

»Bjerg«, sagte Larsen. »Poul Bjerg.«

Høyer ging zu dem umgestürzten Baumstamm, neigte sich ein wenig vor und legte eine Hand auf die Schulter des Mannes.

»Sie müssen jetzt nach Hause gehen, Herr Bjerg«, sagte er.

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Sind Sie mit Ihrem Auto hierher gefahren?«, fragte Høyer den Mann, der daneben saß.

Er schüttelte den Kopf. Er war sehr blass. »Nein, mit seinem. Es stand ja draußen. Aber ich kann bestimmt damit fahren.«

»Dann sollten Sie ihn jetzt besser nach Hause fahren«, meinte Høyer.

Der Mann nickte.

»Kommen Sie«, sagte Høyer zu Bjerg und rüttelte sanft an seiner Schulter. »Sie fahren jetzt nach Hause.«

Bjerg stand langsam auf. Er sah Høyer aus blutunterlaufenen Augen an. »Es war meine Schuld«, sagte er leise. »Ich war es, der ihr gesagt hat, sie solle ...«

Høyer klopfte ihm auf die Schulter.

»Darüber lässt sich noch gar nichts sagen«, unterbrach er ihn. »Wir wissen doch gar nicht, was wirklich geschehen ist. Vielleicht wartete er einfach nur darauf, dass die eine oder andere auftauchen würde, und dann hätte er auch noch eine Stunde länger gewartet. Sie war die Einzige, die hier in der Gegend wohnte?«

Der Mann nickte. Seltsamerweise sah er ein wenig getröstet aus, auch wenn Høyer fand, dass es nur ein schwacher Trost war, den er ihm hatte spenden können.

Der Nachbar nahm ihn am Arm und sie setzten sich in Bewegung.

Høyer stoppte sie und zog den anderen Mann ein wenig auf die Seite.

»Sorgen Sie dafür, dass er seiner Frau nicht erzählt ... Sie wissen schon ...« Høyer wies mit dem Kopf in die Richtung des toten Mädchens. »Es gibt keinen Grund, warum sie erfahren sollte, wie es geschehen ist.«

Der Mann nickte.

Aber Høyer wusste insgeheim, dass es sich nicht verheimlichen lassen würde. Nicht auf Dauer. Früher oder später würde sie es erfahren. Mit allen Details. Eines Tages würde ihr eine alte Zeitung in die Hände fallen, vielleicht nicht jetzt, sondern erst in ein oder zwei Jahren, vielleicht genau dann, wenn die Wunde gerade anfing zu heilen. Oder eine Zeitung würde die Geschichte in einem anderen Zusammenhang wieder aufgreifen und dabei jede einzelne widerwärtige Einzelheit nennen.

Høyer würde nie lernen, damit zu leben. Er wusste, dass sie die Presse auch brauchten oder sogar ganz besonders brauchten in Fällen wie diesem hier, aber es musste auch anders gehen, bei ein paar Zeitungen ging es tatsächlich auch anders, aber es gab nur wenige anständige. Es war eben die Pornografie des Todes, die sich auszahlte.

Er ging wieder zu dem Holzstapel hinüber. Der Arzt und der Fotograf arbeiteten immer noch. Der Arzt kniete auf einem Bein an der Seite des Mädchens, seine Hosenbeine waren durchnässt und die Schuhe waren als solche kaum mehr zu erkennen.

»Lars Damgård, Notarzt«, sagte er, als Høyer sich ihm vorgestellt hatte. »Ich war gerade in der Nähe, aber ich hätte mir da wohl besser erst mal ein Paar Gummistiefel leihen sollen.«

Høyer nickte. Er fand, dass der Mann noch sehr jung aussah.

»Können Sie zum jetzigen Zeitpunkt schon etwas sagen?«, fragte er.

»Nicht viel«, antwortete Lars Damgård. »Aber alles deutet darauf hin, dass sie vergewaltigt wurde und ... na ja, Sie sehen ja selbst.«

Høyer nickte und trat ein wenig zur Seite, um dem Fotografen Bøjsen Platz zu machen, bevor die Leiche umgedreht wurde.

Høyer warf wieder einen Blick auf das Mädchen. Er vermied sorgfältig, das anzusehen, was einmal ein Gesicht gewesen war. Das Mädchen war fast nackt, es trug nur eine dünne Hemdbluse. Die meisten Knöpfe waren abgerissen und die Bluse bis unter die Arme hochgezogen worden. Wahrscheinlich, als sie über den Waldboden geschleift wurde, dachte Høyer, der die Schleifspuren bemerkt hatte.

Therkelsen trat zu Høyer. »Ich glaube, wir haben etwas gefunden«, sagte er.

Høyer folgte ihm zu einem Strauch etwas weiter weg. Ein paar Zweige waren geknickt und in einer Astgabel verkeilt hing ein Stück Holz, das aussah, als würde es von dem Stapel Holzscheite stammen.

Høyer nickte. »Ja, es hat ganz den Anschein, als hätten wir hier die Mordwaffe. Da sind Haare und Blut dran, wenn ich richtig sehe«, sagte er und zeigte auf das Holz. »Lass Bøjsen ein paar Bilder machen, ehe ihr den Scheit wegnehmt, er ist da drüben sicher gleich fertig. Ist sonst noch etwas gefunden worden?«

Therkelsen schüttelte den Kopf. »Noch nicht, aber es kann natürlich immer noch etwas auftauchen.«

»Was ist mit Fußspuren?«

»Nein, es sieht aus, als wäre er immer auf dem Gras geblieben. Es gibt nichts, was wir gebrauchen können. Hier jedenfalls nicht. Vielleicht draußen auf dem Feldweg.«

Der Arzt schien fertig zu sein. Er hatte sich aus seiner knienden Haltung erhoben und versuchte, seine Hose mit einem Taschentuch abzutrocknen, schüttelte dann aber plötzlich den Kopf und steckte das Taschentuch mit einer Grimasse wieder in die Tasche zurück.

Høyer ging zu ihm. »Sie sollten am besten anschließend noch zu ihrer Familie fahren, falls das kein anderer übernommen hat. Dort werden sie sicher einen Arzt brauchen.«

Der Arzt nickte, während er in seiner Hosentasche nach einer Packung Zigaretten suchte. Mit etwas Mühe fischte er eine heraus und steckte sie sich in den Mund. Høyer bemerkte, dass seine Hände stark zitterten. Er klopfte suchend seine Taschen ab, aber noch ehe er seine Streichhölzer gefunden hatte, streckte Therkelsen, der gerade zu ihnen getreten war, ihm ein brennendes Feuerzeug entgegen.

»Wenn es geht, keine Streichhölzer hier«, sagte Therkelsen.

»Ach so, nein, entschuldigen Sie«, sagte der Arzt. »Ich ... ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen. Zum Glück.«

»Wir wollen uns da drüben hinsetzen«, meinte Høyer und zeigte auf den umgestürzten Baumstamm. »Da sind wir nicht im Weg.«

Sie marschierten im Gänsemarsch zu dem umgestürzten Baumstamm hinüber und setzten sich.

»Tja«, sagte der Arzt, nachdem sie eine Weile schweigend dagesessen hatten. »Das ist weiß Gott eine grausame Geschichte, aber so etwas sind Sie wahrscheinlich gewohnt.«

Høyer schüttelte den Kopf. »Nein, beim besten Willen nicht! Und im Übrigen gewöhnt man sich nie daran.«

»Nein«, pflichtete ihm der andere Mann bei. »Wahrscheinlich nicht.«

»Außerdem kamen wir diesmal wohl mit bestimmten Erwartungen«, sagte Høyer. »Tatsächlich waren wir etwas überrumpelt. Wir hatten geglaubt, sie sei erwürgt worden.«

Der Arzt sah ihn an. »Aber das ist sie doch auch«, sagte er.

»Was?«, platzte Therkelsen ungläubig heraus. »Sie wollen doch wohl nicht sagen, dass sie sowohl erwürgt als auch ... ? Ja, aber das ist doch wahnsinnig.«

»Und doch ist es so gewesen«, erwiderte der Arzt. »Sie hatte einen Strick um den Hals und die hübscheste Würgefurche, die man sich nur denken kann. Aber der Strick hatte sich gelöst. Es war eine Laufschlinge, verstehen Sie?«

Høyer und Therkelsen sahen sich an. Es war genau wie in den vorhergegangenen Fällen. Aber ...

»Ich verstehe das einfach nicht«, meinte Høyer. »Wenn sich der Strick gelöst hat, warum hat er ihn dann nicht einfach wieder zugezogen? Warum das da?« Er nickte in die Richtung der Stelle, an der das Mädchen lag.

»Vielleicht hat es etwas gedauert, bis er es bemerkte«, schlug der Arzt vor.

»Ja, aber als er es dann bemerkte.«

Der Arzt zuckte mit den Schultern. »Was machen Sie, wenn Sie eine Katze oder einen Hund überfahren und das Tier noch nicht ganz tot ist?«, fragte er.

Høyer und Therkelsen sahen ihn verständnislos an.

»Sie nehmen einen Stein oder einen Wagenheber oder etwas Ähnliches, nicht wahr?«, sagte der Arzt. »Und erschlagen es damit. Sie überfahren es nicht noch einmal.«

»Zum Teufel, das können Sie doch nicht miteinander vergleichen ...«, begann Høyer, verstummte dann aber. Vielleicht konnte man doch, so grotesk es einem auch vorkommen mochte.

»Darf ich die Kippe hier wegwerfen«, fragte der Arzt. Er hatte seine Zigarette bereits aufgeraucht.

»Lieber nicht«, antwortete Therkelsen. »Geben Sie sie mir.«

Er fischte eine alte Tabaksdose aus seiner Tasche und legte die Kippe hinein.

»Was meinen Sie, wie lange ist sie schon tot?«, fragte Høyer. »Nur eine Schätzung.«

»Ungefähr zwölf Stunden«, antwortete der Arzt. »Aber das sage ich unter allen nur erdenklichen Vorbehalten. Sie brauchen mich hier doch nicht mehr, oder?«

»Nein«, sagte Høyer. »Sie können ruhig gehen.«

»Dann fahre ich jetzt zu den Bjergs. Sie bekommen meinen Bericht so schnell wie möglich.«

»Das ist nett«, sagte Høyer.

Sie blieben sitzen und sahen ihm hinterher, als er den Weg hinabging.

»Er sah aus, als könnte er selbst einen Arzt brauchen«, sagte Therkelsen.

»Da kannst du Gift drauf nehmen«, meinte Høyer. »Wenn er vorher nur gehört hat, dass im Wald ein krankes Mädchen liegt?«

Sie standen auf und gingen zu dem Holzstapel zurück.

»Es sieht so aus, als ob er Recht hat«, sagte Høyer. »Die Tat wurde offensichtlich da drüben begangen.« Er zeigte hinüber. »Anschließend nahm er ihre Beine und schleifte sie hinter den Holzstapel. Das passt ja auch zu den früheren Fällen, aber was dann verdammt noch mal passiert ist, weiß der Teufel.«

»Sie kam wieder zu Bewußtsein und hat sich gewehrt«, schlug Therkelsen vor. »Und dann ist er in Panik geraten.«

Høyer schüttelte langsam den Kopf. »Ich glaube nicht, dass sie sich gewehrt hat. Es sieht aus, als hätte sie ziemlich regungslos dagelegen, als sie die Schläge bekam. Deshalb glaube ich nicht, dass sie bei Bewusstsein war. Das hoffe ich jedenfalls. Vielleicht entdeckte er nur, dass sie noch atmete, falls sie das wirklich tat, es wäre ja auch möglich, dass er nur entdeckte, dass die Schnur sich gelöst hatte, wer weiß?«

»Das würde bedeuten, sie war vielleicht auf dem Wege, die Sache zu überleben«, überlegte Therkelsen. »Ich meine, falls sie noch am Leben war, nachdem er versucht hatte, sie zu erwürgen. Das macht die Sache ja fast noch schlimmer.«

»Sicher ist das aber auch nicht«, erwiderte Høyer. »Vielleicht hat sich der Knoten erst gelöst, als er sie über den Waldboden geschleift hat.« Er sah sich um. »Aber ich glaube tatsächlich, dass sie dabei war, das Bewusstsein wiederzuerlangen«, fügte er dann hinzu. »Oder dass der Kerl das zumindest geglaubt hat. Denn es deutet alles darauf hin, dass er in Panik geraten ist. Das erklärt auch, warum er ihre Kleider liegen gelassen hat, anstatt sie auch hinter dem Holzstapel zu verstecken.«

»Du meinst, dass er es vergessen hat?«, fragte Therkelsen.

»Ja, schlicht und ergreifend. Der Plan war, sowohl sie als auch ihre Kleider hinter dem Holzstapel zu verstecken, aber dann ist irgendetwas passiert.«

»Das war kein besonders gutes Versteck«, meinte Therkelsen.

»Nein, aber man hätte ohne weiteres auf dem Weg vorbeigehen können, ohne sie zu sehen, wenn sie ganz dahinter geschleppt worden wäre, und so war es wohl gedacht.«

»Er hat sich ja nie besondere Mühe gegeben, sie zu verstecken«, sagte Therkelsen.

»Wenn es wirklich der Gleiche war«, wandte Høyer ein. »Das wissen wir ja noch nicht und unabhängig davon, was wir denken oder glauben, ist das hier ein vollkommen neuer Fall, bei dem wir ohne vorgefasste Meinungen ganz von vorne anfangen müssen.«

»Bei null, meinst du.« Therkelsen zog eine Grimasse. »Ja, nichts leichter als das, denn da stehen wir ja auch im vorigen Fall.«

»Vielleicht haben wir ja diesmal mehr Glück«, meinte Høyer. »Das müssen wir verdammt noch mal auch.«

Sie blieben eine Weile stumm und sahen sich um.

Im Grunde war es hier schön.

Auf dem Waldboden wuchsen noch immer ein paar hohe Anemonen und der Waldmeister hatte begonnen zu blühen, aber Høyer und Therkelsen bemerkten es kaum. Sie standen jeder für sich in Gedanken versunken da.

Dieses Waldstück würde für lange Zeit verdorben sein, dachte Høyer. Jedenfalls für die Menschen, die normalerweise hierher kamen. Die Kinder würden Angst davor haben, hier zu spielen, die jungen Paare würden keine Lust verspüren, hier zu schmusen, dem Ort würde vielleicht für die Dauer eines Menschenalters etwas Unheimliches anhaften, auch wenn der Wald sich kein bisschen verändert hatte.

Er riss sich mit einem Ruck zusammen. »Gut, es bringt ja nichts, hier nur rumzustehen«, sagte er. »Den Rest können wir der technischen Abteilung überlassen. Ich sollte lieber zusehen, dass ich mit den Kindern rede, die sie gefunden haben, bevor sie zu viel Zeit hatten, darüber zu reden und nachzudenken. Währenddessen kannst du mit Larsen und Bach anfangen, die Leute abzuklappern. Zum einen die Leute hier in der Gegend, zum anderen die Jugendlichen, die auf dem Fest waren. Wir wollen die Hoffnung nicht aufgeben, dass es ausnahmsweise einmal jemanden gibt, der etwas gesehen hat.«

Høyer fand die drei kleinen Indianer auf dem Bauernhof auf der anderen Seite des Waldstücks, dort, wo der Feldweg endete. Drei sehr kleine und sehr nasse Indianer in leuchtend gelben Regenjacken und mit schlaffen Federn im Haar.

Als er auftauchte, sahen sie ihn halb ängstlich und halb erwartungsvoll an.

»Hallo«, sagte Høyer und ging auf sie zu. »Na, ihr spielt wohl Indianer.«

Sie nickten stumm.

»Wohnt ihr alle drei hier?«

»Nein, nur ich«, antwortete der älteste von ihnen. »Bist du Arzt?«

»Nein«, sagte Høyer. »Ich bin Polizist.«

»Warum das denn?«, fragte der Junge.

Høyer zögerte einen Moment. Dann begriff er, dass sich der Junge fragte, warum ein Polizist kam und kein Arzt.

»Birthe ist ein Unglück zugestoßen«, sagte er. »Dann muss die Polizei immer untersuchen, was passiert ist.«

Die Kinder schienen sich mit dieser Antwort zufrieden zu geben.

»Wer von euch hat sie gefunden?«, fragte Høyer.

»Wir alle«, erwiderte der große Junge. »Wir kamen angeschlichen und bums! Da lag sie. Sie war richtig krank. Sie war überall voller Kotze.«

Die beiden anderen nickten ernst.

Gott sei Dank!, dachte Høyer. Sie hatten sich offensichtlich eine Erklärung für das zurechtgelegt, was sie gesehen hatten. Sie hatten es sich nicht erklären können, aber es musste einen Namen haben, also hatte sie gebrochen. Was das war, wussten sie. Sie würden hoffentlich vergessen, was sie in Wirklichkeit im Wald gesehen hatten.

»Wir konnten aber nicht erkennen, dass es Birthe war«, sagte der Große. »Wir konnten nur sehen, dass es ein Mädchen war.«

Høyer nickte. Es schien sie nicht besonders beeindruckt zu haben, dass das Mädchen fast nackt gewesen war. Vor zwanzig, dreißig Jahren hätte sie das sicherlich noch schockiert.

»Ihr habt im Wald nicht zufällig etwas gefunden«, fragte er. »Etwas, das ihr aufgesammelt habt. Indianer finden doch andauernd was.«

Sie schüttelten den Kopf.

»Aber ich habe ein Auto gesehen«, sagte der Kleinste und betonte dabei ein. Høyer vermutete, dass er dies tat, weil jetzt so viele Autos am Waldrand standen.

»Tatsächlich«, sagte Høyer. »Wann war das?«

»Heute Nacht«, antwortete der Junge.

Høyer sah ihn skeptisch an. Wenn da mal nicht die Fantasie mit dem Jungen durchging. Er fand bestimmt, dass es an der Zeit war, ein wenig auf sich aufmerksam zu machen.

»Wann genau heute Nacht war das?«, fragte er.

Der Kleine dachte nach. »Als es ein bisschen hell und ein bisschen dunkel war«, sagte er schließlich.

»Du meinst gestern Abend, nicht wahr?«, sagte Høyer. »Als du ins Bett musstest?«

»Nein, diese Nacht«, antwortete der Junge. »Als es schon dunkel gewesen war.«

»Wie alt bist du?«, fragte Høyer.

»Sechseinhalb«, antwortete der Junge.

»Bist du nachts oft auf?«, fragte Høyer.

»Ja«, sagte der Junge und nickte mit großen, überzeugenden Augen. »Jede Nacht. Ich bin jede Nacht auf.«

Høyer lächelte. Man konnte hören, worum es ging, dachte er. Aber das Mädchen, das offensichtlich die große Schwester des Kleinen war, kam ihm zu Hilfe.

»Das stimmt schon«, sagte sie. »Das ist, weil er ilektrisch Pipi macht.«

»Was macht er?«, fragte Høyer verblüfft.

»Er macht ilektrisch Pipi«, erläuterte das Mädchen geduldig. »Weil er immer ins Bett gemacht hat, und dann hat er so ein ilektrisches Ding bekommen, riiiing, wenn nur ein Tropfen kommt, und jetzt wacht er immer auf, selbst wenn es gar nicht geklingelt hat. Jede Nacht!«, fügte sie hinzu und sah ebenso überzeugend aus wie ihr Bruder.

»Dann war es also, als du schon geschlafen hattest?«, sagte Høyer zu dem ›ilektrischen‹ Indianer.

»Ja, es war ein bisschen hell und ein bisschen dunkel«, wiederholte der Junge.

Høyer dachte nach. Doch, zeitlich konnte das gut und gerne hinkommen.

»Wo stand denn das Auto?«, fragte er.

»Da hinten«, sagte der Junge und zeigte. »Wo jetzt das Polizeiauto steht.«

»Und wo wohnt ihr?«, fragte Høyer.

Das Mädchen zeigte auf das kleine Haus auf der anderen Seite des Waldstücks. »Und das Fenster der Toilette ist da oben«, sagte sie und richtete den Finger auf ein Fenster im Giebel.

»Hast du in der Nähe des Autos jemanden gesehen?«, fragte Høyer. »Einen Mann oder ein Mädchen?«

»Nein«, antwortete der Junge. »Aber es war ein Mann im Auto.« Wieder mit Betonung auf ein, so als wolle er ganz besonders genau sein.

»Das konntest du aber doch von da hinten bestimmt nicht so genau erkennen«, wandte Høyer vorsichtig ein.

»Doch, als er unten auf der Straße vorbeifuhr. Er ist ein Stück rückwärts gefahren, hat dann gedreht und ist dann vorbeigefahren und es war ein Mann.«

»Konntest du auch erkennen, welche Farbe der Wagen hatte?«, fragte Høyer.

Der Junge nickte. »Es war ein roter Mazda.«

Høyer blieb vor Verblüffung fast die Spucke weg, aber der ilektrische Indianer schien überhaupt nicht zu bemerken, welchen Eindruck seine Enthüllung gemacht hatte.

»Bist du sicher?«, fragte Høyer. »Kennst du dich denn mit Autos aus?«

»Ja«, sagte der Junge.

»Und du bist sicher, dass es ein Mazda war?«

Der Junge nickte eifrig. »Ja, ein roter Mazda wie der von meinem Onkel, nur dass der grün ist.«

»Was für ein Auto ist das da?«, fragte Høyer und zeigte auf sein eigenes Auto.

»Ein altes«, meinte der Junge.

Høyer schmunzelte. »Ja gut, aber was für eine Marke?«

»Ein Toyota.«

Der ilektrische Indianer gab ohne zu zögern Auskunft über alle Automarken, die sie sehen konnten, und Høyer musste zugeben, dass er an einen Experten geraten war.

Therkelsen holte seinen Notizblock heraus und studierte ihn einen Moment lang.

»Dann hätten wir noch die beiden Häuser da, Bach«, sagte er. »Das weiße auf der rechten Seite übernehme ich und du kannst dann das nächste nehmen, was meinst du?«

»O.k.«, erwiderte Bach. »Meinst du, du bist in einer halben Stunde fertig?«

»Bestimmt«, sagte Therkelsen ein wenig müde. »Warum sollten sie mehr zu sagen haben als die anderen?«

»Du hast Recht, es wäre gelogen, wenn man behaupten würde, wir hätten eine Menge herausgefunden«, sagte Bach. »Aber wir haben ja noch zwei Chancen.«

Therkelsen, Larsen und Bach hatten die Gäste des Fests untereinander aufgeteilt. Angefangen hatten sie auf dem Hof, auf dem das Fest stattgefunden hatte, und dort die Namen und Adressen aller Jugendlichen bekommen, die dabei gewesen waren. Therkelsen hatte den Eindruck, dass sie alle gleich aussahen. Jeans und T-Shirts, die gleiche Frisur, die gleiche Art sich auszudrücken. Im Übrigen hätten es auch seine eigenen Kinder sein können. Er fand, dass die Jugendlichen von heute in einem verblüffenden Maße uniformiert waren.

Bach parkte den Wagen vor der Einfahrt.

»Ach, du lieber Gott!«, rief er entsetzt aus. »Nur gut, dass ich da drüben reinmuss.«

Ein riesiger Hund kam bellend auf den Wagen zugelaufen.

Therkelsen grinste. Er wusste, dass Bach alles andere als ein Held war, wenn es um Hunde ging, und er fand es ein klein wenig komisch, dass sich ein erwachsener Mann von einem kleinen Hund einschüchtern ließ. Aber hier handelte es sich in der Tat um einen ausgewachsenen Brocken, und wenn er sich nicht darauf verlassen hätte, dass Hunde ihn im Allgemeinen mochten, hätte er vielleicht auch Bedenken gehabt, sich zu ihm hinauszuwagen.

»Hol mich einfach hier ab, sobald du fertig bist«, sagte er zu Bach, während er die Tür öffnete. »Wenn du mich nicht finden kannst, bin ich bestimmt aufgefressen worden!«

Er stieg aus dem Wagen und Bachs Augen verfolgten ihn besorgt. Erst als er sah, dass Therkelsen sich bückte und den Hund streichelte, dem dies offensichtlich zu gefallen schien, ließ er den Wagen wieder an.

Therkelsen sah auf die Uhr, während er darauf wartete, dass jemand auf sein Klopfen reagierte. Halb neun. Es würde spät werden, ehe sie an diesem Tag zum Ende kommen würden.

Die Tür wurde von einem etwa sechzehn Jahre alten Mädchen mit hellen Haaren geöffnet. Die gleiche Kleidung wie bei allen anderen, mit denen er gesprochen hatte. Therkelsen seufzte innerlich. Es kam ihm vor, als würde er schon jetzt den Ausgang des Gesprächs kennen. Aber da irrte er sich.

»Ja, ich weiß nicht, ob es etwas zu bedeuten hat«, sagte das Mädchen plötzlich. »Aber ich bin jemandem begegnet, der etwas seltsam war.«

»Wann?«, fragte Therkelsen.

»Auf dem Heimweg«, erklärte sie. »Aber das war noch bevor Birthe gegangen ist. Ich muss immer schon um eins zu Hause sein. Das ist ein bisschen blöd, aber ich habe mich daran gewöhnt.«

»Folglich bist du ungefähr um zehn vor eins aufgebrochen«, sagte Therkelsen und warf einen Blick in seine Notizen.

»Ja also, wenn ich ehrlich sein soll, war es wohl schon eins, als ich losfuhr.«

»Mit dem Fahrrad?«

»Ja.«

»Und was ist dann passiert?«

»Also, als ich fast schon zu Hause war, etwa auf der Höhe der großen Pappel, wissen Sie, war da ein Auto, das neben mir anhielt, und der Fahrer beugte sich herüber, kurbelte das Fenster herunter und fragte, ob ich mitfahren wolle.«

»Demnach kam er von hinten?«

»Ja, und das Eigenartige war, dass er ganz plötzlich da war. Ich hatte weder ein Auto gesehen noch gehört, so dass ... Es kam mir irgendwie so vor, als hätte er irgendwo gestanden und gewartet.«

»Hm, hm«, sagte Therkelsen. »Konntest du ihn sehen?«

»Nein, nicht richtig. Ich glaube, er war jung. Und er sprach wie einer aus der Stadt. Ein bisschen hochtrabend, wissen Sie?«

»Wie ging es dann weiter.«

»Ich sagte, dass ich fast zu Hause sei. Aber er ist weiter langsam neben mir hergerollt, so als würde er mich mit dem Auto ein wenig bedrängen, verstehen Sie? Das hat mir absolut nicht gefallen, aber dann kam Dingo angelaufen und machte einen ziemlichen Radau und der Typ ist endlich abgehauen.«

»Dingo, ist das der Hund, dem ich draußen begegnet bin?«, fragte Therkelsen.

»Ja«, sie nickte. »Meine Eltern sperren ihn immer aus, bevor sie ins Bett gehen. Vor allem, wenn ich in der Stadt bin. Er ist ja groß und auch ein wenig bissig. Es ist ein Riesenschnauzer.«

Therkelsen nickte. »Du hast nicht zufällig darauf geachtet, was das für ein Auto war?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, mit Autos kenne ich mich nicht besonders aus. Ich erkenne nicht einmal unser eigenes Auto. Ich meine, wenn ich eines von der gleichen Marke sehe.«

»Die Farbe konntest du auch nicht erkennen?«

»Nein, es war ja dunkel und es war auf jeden Fall ein dunkles Auto, aber ich weiß nicht, welche Farbe es hatte.« Therkelsen saß da und dachte nach. Er hatte das Gefühl, dass der Hund einen riesengroßen Knochen verdient hatte.

Das Mädchen sah ihn an.

»Könnte er das gewesen sein?«, fragte sie. »Glauben Sie, dass er es war?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Therkelsen. »Aber an deiner Stelle wäre ich mächtig froh, dass es den Hund gibt.«

Pastor Villadsen löschte das Licht in der Kirche, ging in die Vorhalle und nahm seinen Regenmantel, den er hier draußen auf der Bank abgelegt hatte. Er ging zur Tür, öffnete das große Kirchenportal einen Spalt breit, um zu schauen, ob es immer noch regnete, und begann dann seufzend, sich den Regenmantel anzuziehen. Es hatte ganz den Anschein, als würde es bis in alle Ewigkeit weiterregnen.

Er knöpfte den Regenmantel sorgfältig bis zum untersten Knopf zu, löschte anschließend das Licht in der Vorhalle, ging hinaus und ließ die schwere Tür hinter sich mit einem Knall, der auf dem verlassenen Friedhof widerhallte, ins Schloss fallen. Dann drehte er den großen schmiedeeisernen Schlüssel im Schloss, zog ihn heraus und blieb einen Augenblick stehen, während sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Das ist auch so ein Gebrechen, das das Alter mit sich bringt, dachte er. Man wird immer nachtblinder. Tante Dagmar, die gute Seele, behauptete zwar steif und fest, dass es an zu viel Tabak und zu wenig Möhren läge, aber sie hatte ja immer die wüstesten Ideen. Nein, es war das Alter, und damit basta. Man hörte nicht mehr so gut, man sah nicht mehr so gut und man roch wahrscheinlich auch nicht besonders gut, dachte er mit einem säuerlichen Grinsen.

Er blieb noch einen Moment mit dem Schlüssel in der Hand stehen, so als habe er sich noch nicht ganz entschieden, was er jetzt tun sollte.

In diesem Augenblick schlug die Kirchturmuhr ein einziges Mal, halb elf, und es gab keinen Grund, noch länger zu warten. Aber die Sache war wirklich eigenartig, äußerst eigenartig. Er runzelte grübelnd die Stirn, während er ein paar Schritte zur Seite ging, sich tastend einen Weg hinter den großen Lorbeerbaum bahnte, der rechts neben der Kirchentür stand, sich mühsam bückte und den losen Stein aus der Mauer herausnestelte. Er legte den Schlüssel in den Hohlraum dahinter und setzte den Stein sorgfältig wieder an seinem Platz ein. Während er dies tat, schmunzelte er ein wenig. Nun hatte der Schlüssel bereits seit vierzig Jahren dort seinen Platz, aber das wussten außer ihm selbst letzten Endes nur eine Hand voll Menschen. Er richtete sich wieder auf und sein Gesicht nahm erneut den gleichen grübelnden, halb ärgerlichen, halb beunruhigten Ausdruck an, den es zuvor gehabt hatte. Eigenartig.

Er ging den breiten, platt gewalzten Weg zum Tor hinab, an Gräbern vorbei, an denen er schon tausendmal vorbeigekommen war. Als er Konsul Mørchs pompöses Grabmal passierte, blieb er stehen und lauschte, ein alter, fast vergessener Instinkt hatte eine vage Unruhe in ihm geweckt und er drehte sich unwillkürlich halb um.

Aber seine Reaktionen waren allzu langsam geworden. Er begriff nicht einmal mehr, dass dort jemand war, da traf ihn auch schon ein Schlag und falls er einen Laut von sich gab, so hörte er ihn jedenfalls selbst nicht mehr.

Er lag zur Hälfte auf dem Grab, sein Kopf ruhte auf einem Stein und der Regen trommelte unablässig auf seinen schwarzen Regenmantel herab.

»Aaaaaah!« Høyer gähnte lautstark, als Therkelsen und er spätabends in seinem Büro saßen und den Tag Revue passieren ließen.

Therkelsen sah ihn an und grinste. »Müde?«, fragte er.

»Nicht im Geringsten«, erwiderte Høyer. »Ich sorge bloß für eine gute Durchblutung meines Gehirns. Du solltest es auch einmal probieren, das könnte dir wahrlich nicht schaden. Übrigens ist es schon nach halb elf und ich glaube sowieso nicht, dass wir heute noch weiterkommen werden.«

Er blickte etwas verzagt auf die Berichte auf seinem Schreibtisch.

»Nein«, sagte Therkelsen. »Es war nicht gerade viel, was wir herausgefunden haben. Was machen wir jetzt?«

»Ich lasse schon nach dem roten Mazda fahnden«, sagte Høyer.

»Du hast gesagt, der Kleine war erst sieben«, wandte Therkelsen ein. »Glaubst du wirklich, dass wir uns auf ihn verlassen können?«

»Ja, davon bin ich tatsächlich überzeugt«, sagte Høyer. »Und es ist zumindest denkbar, dass es sich um das gleiche Auto handelt, das deine Freundin mit dem Hund gesehen hat. Das ist natürlich nur eine Vermutung, aber sie fühlte sich offensichtlich bedroht, und wenn es um so etwas geht, glaube ich an den sechsten Sinn der Menschen.«

»Meinst du, wir sollen Hilfe von außen anfordern?«, fragte Therkelsen.

»Auf jeden Fall«, antwortete Høyer. »Es gibt vieles, was darauf hindeutet, dass wir es wieder mit dem gleichen Mann zu tun haben. Also wäre es das Beste, die Sonderkommission von Anfang an in den Fall einzuschalten. Sie kennen die anderen Fälle und haben deshalb viel bessere Möglichkeiten, Schlüsse zu ziehen.«

»Und wenn sich doch noch herausstellt, dass es nicht der Gleiche war?«, fragte Therkelsen.

»Nun ja, das wird mich nachts auch nicht wach halten können«, meinte Høyer. »Jetzt, da die Ferien vor der Tür stehen und die da oben zu allem Überfluss auch noch wollen, dass wir unsere Überstunden abfeiern, können wir jede Hilfe brauchen, die wir bekommen können. Nein, nein, lass uns diesen Fall der Sonderkommission überlassen. Ich bin mir ganz sicher, dass es auch so schon mehr als genug Dinge für uns zu tun geben wird.«

Von Zeit zu Zeit können einen Høyers Prophezeiungen geradezu abergläubisch werden lassen, dachte Therkelsen.

Aber das dachte er erst am nächsten Tag.

Du sollst nicht töten - Skandinavien-Krimi

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