Читать книгу Der Tod steht auf der Schwelle - Skandinavien-Krimi - Kirsten Holst - Страница 5

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Høyer sah kaum von den Papieren auf, als Therkelsen in sein Büro trat. Er begnügte sich damit, die Hand zum Gruß zu heben, was einer Einladung sich zu setzen gleichkam.

So fasste es Therkelsen zumindest auf.

Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, streckte die langen Beine aus und begann seine Pfeife zu stopfen.

»Ich sage dir, das wird ein heißer Tag«, sagte er. »Ich bin schon ganz durchgeschwitzt.«

»Ich will keine Klagen über die Wärme hören«, sagte Høyer. »Seit Wochen meckern und lamentieren wir, dass der Sommer uns an der Nase herumführt. Da können wir es uns wirklich nicht erlauben zu klagen, wenn er sich endlich von seiner besten Seite zeigt.«

»Von seiner besten Seite?«, sagte Therkelsen gereizt. »Ich finde, er könnte sich für einen Mittelweg entscheiden. Wir haben schon über zwanzig Grad. So warm war es in meinem Urlaub an keinem einzigen Tag.«

»Ha!«, rief Høyer. »Sieh mal einer an! Was glaubst du, wen wir hier haben?«

»Lass mich bitte erst richtig zur Tür reinkommen, bevor wir mit diesen Ratespielchen beginnen«, sagte Therkelsen und zündete seine Pfeife an. »Ist der Kaffee frisch?«

»Ja«, sagte Høyer und schob ihm die Thermoskanne hin. »Meiner Uhr zufolge, die die dänische Normalzeit anzeigt, ist es einundzwanzig nach neun und ich habe schon Kaffee geholt und die Post aufgemacht und bin gerade dabei, mir das Dienstprotokoll von heute Nacht anzusehen. Wenn der Herr Direktor also fertig sind, können wir vielleicht ...«

»Ach, sei doch still«, lachte Therkelsen.

»Ja, aber ich bin doch dankbar, dass du überhaupt auftauchst«, sagte Høyer ironisch. »Ich hatte schon gedacht, du wolltest das schöne Wetter im Garten genießen.«

»Nein, Gott steh mir bei!«, Therkelsen schauderte. »Die Kinder haben Ferien und werden vermutlich den Tag mit Bier, Freunden und irgendwelcher auf volle Lautstärke aufgedrehten Musik verbringen. Wenn sie denn endlich aus den Federn gekommen sind und festgestellt haben, dass es Sommer geworden ist.«

»Was sagen die Nachbarn dazu?«, fragte Høyer. »Beschweren die sich nicht?«

Therkelsen schüttelte in komischer Verzweiflung den Kopf. »Nein, was denkst du denn? Die Freunde sind schließlich ihre Kinder und verbringen den Tag ebenfalls mit Bier, Freunden und Discomusik im Garten. Und wir fügen uns alle widerstandslos in unser Schicksal. Aber ich erwäge, ihnen vorzuschlagen, uns gegenseitig über unsere Kinder zu beschweren. Dann können wir das als Druckmittel einsetzen. Steht dazu eigentlich nichts in der Polizeiordnung?«

»Du kannst ja mal versuchen, die 110 zu wählen«, lächelte Høyer. »Aber reg dich nicht auf. In ein paar Jahren sind sie alle weg und ihr sitzt in eurem stillen, traurigen Silberhochzeitsviertel und erinnert euch an die good old days.«

Therkelsen schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendwann einmal ruhig wird. Niemand von ihnen scheint darauf erpicht, zu Hause auszuziehen – offenbar ist das nicht mehr modern. Oder sie ziehen zwischendurch wieder ein, wenn Ebbe in der Kasse ist. Es ist übrigens auch ihre Schuld, dass ich mich verspätet habe. Sie haben sich gestern Abend das Auto geliehen, um bei dem guten Wetter eine Runde zu drehen, und dabei den Tank nahezu leer gefahren. Ich bin mitten im Niemandsland kilometerweit von allen Tankstellen entfernt liegen geblieben.«

»Du solltest dir angewöhnen, einen Blick auf die Tankanzeige zu werfen, bevor du losfährst«, dozierte Høyer.

»Das dürfte kaum helfen. Die stand das ganze letzte halbe Jahr auf null«, sagte Therkelsen mit einem resignierten Lachen.

»Das gibt’s doch nicht!«, rief Høyer ungläubig.

»Och, eigentlich geht das ganz gut, ich habe immer einen Reservekanister im Kofferraum. Aber den haben die verdammten Gören diesmal natürlich auch leer gemacht.«

»Du hast aber auch Probleme!« Høyer klang nicht sonderlich teilnahmsvoll. »Ich hatte gleich den Eindruck, dass du etwas gestresst aussahst, als du kamst. Trotz des schönen Wetters.«

»Das bringt uns nur eine Menge Ärger ein, das weißt du doch«, brummte Therkelsen. »Badeunfälle, Vergewaltigungen, Autodiebstähle, die ganze Palette. Was hast du übrigens gemeint?«

Er zeigte auf die Papiere, vor denen Høyer saß.

»Das errätst du nie«, sagte Høyer. »Hier haben wir den Indianer!«

»Den Indianer!« Therkelsen nahm verblüfft die Pfeife aus dem Mund. »Aber ich dachte, dass er ... Ich weiß auch nicht, was ich dachte. Es ist immerhin einige Jahre her, dass wir das letzte Mal von ihm gehört haben. Gab es nicht irgendwelche Gerüchte, dass er ins Ausland gegangen ist?«

»Das habe ich auch gehört. Aber jetzt ist er wieder da. Warte mal, das muss fünf, sechs Jahre her sein, dass wir mit ihm zu tun hatten.«

»Ja, das könnte passen. Damals hat er drei Jahre bekommen. Demnach hat er sich einige Jahre nichts zu Schulden kommen lassen«, sagte Therkelsen. »Ich habe, ehrlich gesagt, geglaubt, dass der Typ schlauer geworden ist. Er hat schließlich genug Geld.«

»Hatte«, sagte Høyer. »Denn das dürfte verbraucht sein. Jedenfalls hat man ihn gestern Abend festgenommen, als er aus einem Haus kam, in dem er nichts verloren hatte. Nichts Erlaubtes jedenfalls.«

Therkelsen stieß einen Pfiff aus. »Sieh mal einer an.«

»Er hatte natürlich eine nette, kleine Erklärung, dass er ein Freund der Dame sei, der die Wohnung gehört, und sie ihm erlaubt hat zu kommen, wann immer er will«, fuhr Høyer fort. »Aber es ist schon ein wenig seltsam, dass er sich gerade dann zu einem Besuch entschließt, wenn sie in Urlaub ist.«

»Es wundert mich trotzdem, dass man ihn bei einem ganz gewöhnlichen Einbruch erwischt hat«, sagte Therkelsen. »Er muss aus der Übung sein.«

»Ja, scheint so«, sagte Høyer. »Es handelt sich um ein Zweifamilienhaus und die Vermieterin, die in der unteren Wohnung wohnt, hat ihn gehört und die Polizei angerufen.«

»Ihn gehört!« Therkelsen schüttelte den Kopf. »Dann muss er wirklich aus der Übung sein. Er konnte den Leuten das Silberbesteck aus der Hand stehlen, ohne dass sie etwas merkten.«

»Die Vermieterin ist blind«, erklärte Høyer fast entschuldigend. »Er hat bestimmt geglaubt, dass niemand zu Hause ist. Sie hatte kein Licht an. Außerdem hat sie einen Hund.«

»Der nicht gebellt hat«, stellte Therkelsen fest.

»Nein, das hat er nicht. Aber sie hat ihn, wie gesagt, gehört und sie behauptet, ihn vorher noch nie gesehen zu haben.«

»Das versteht sich wohl von selbst, wenn die Dame blind ist.«

»Ach«, meinte Høyer gereizt. »Du weißt genau, wie ich das meine. Gesehen oder getroffen. Deshalb konnte sie sich nicht vorstellen, dass er ein enger Freund ihrer Mieterin sein sollte. Außerdem ist dem Streifenpolizisten aufgefallen, dass in der Wohnung kein Licht war, was zweifellos auch ein wenig verdächtig ist.«

»Dann haben die Plattfußindianer ausnahmsweise einmal von ihren Gehirnzellen Gebrauch gemacht, was? Kein Licht in der Wohnung.«

»Ich habe nie verstanden, warum du daran festhältst, unsere lieben Kollegen von der Schutzpolizei als Plattfußindianer zu bezeichnen«, sagte Høyer vorwurfsvoll. »Zum einen ist das nicht sehr nett und zum anderen stimmt es nicht. Heutzutage laufen sie schließlich nicht mehr durch die Gegend. Ich bin sogar versucht zu glauben, dass wir über die Jahre gesehen mehr zu Fuß gehen.«

»Okay, dann eben Platthintern«, lachte Therkelsen. »Was ist mit dem Indianer? Kümmerst du dich um ihn? Er ist ja immer dein spezieller Liebling gewesen.«

»Mein spezieller Liebling! Was soll das denn heißen!«, sagte Høyer entrüstet. »Aber ich gebe zu, dass er mich interessiert. Vermutlich weil ich ihn nicht verstehe.« Er rieb sich zerstreut das Ohrläppchen. »Warum zum Teufel macht er das?«

»Weil er nicht ganz richtig im Kopf ist, er ist ein Psychopath«, antwortete Therkelsen. »So einfach ist das.«

»Psychopath, das ist doch nur ein leerer Begriff«, wandte Høyer ein. »So einfach ist das nicht. Aber ich könnte natürlich auch fragen, warum er ein Psychopath ist.«

»Lass es lieber«, riet Therkelsen. »Darauf kann dir sowieso niemand eine vernünftige Antwort geben.« Er stand auf. »Okay, ich sollte sehen, dass ich in die Gänge komme. Möglicherweise fahre ich später am Vormittag raus, um mit dem Mädchen in der Vergewaltigungssache zu reden.«

Høyer sah verblüfft auf. »Warum? Ich habe das so verstanden, dass der Norweger gestanden hat.«

»Hat er auch«, sagte Therkelsen. »Das ist nicht das Problem. Das Problem ist das Mädchen. Und ihre Eltern. Sie hat die Anzeige zurückgezogen.« Er zuckte mit den Schultern. »Du siehst also selbst, dass die Sache ein bisschen heikel ist.«

»Tja«, sagte Høyer. »Im Grunde ist es nur zu verständlich. Ich wollte meine Tochter auch nicht in so einen Fall verwickelt sehen.«

»Sicher«, sagte Therkelsen. »Wer will das schon? Aber trotzdem.«

»Aber trotzdem«, nickte Høyer. »Tu, was du kannst. Nimm Winther mit. Sie kann vielleicht besser mit dem Mädchen reden«, kam ihm plötzlich der Gedanke. »Dann kannst du dich auf die Eltern konzentrieren.«

»Das ist vielleicht gar keine so schlechte Idee«, nickte Therkelsen. »Das mache ich.«

Er hob die Hand zum Gruß und verschwand in sein eigenes Büro, während Høyer sich wieder den Papieren auf seinem Schreibtisch zuwandte.

Er hatte jeden Gedanken an den Indianer so nachdrücklich in den Hintergrund seines Bewusstseins verbannt, dass er ihn zuerst gar nicht erkannte, als er zu der vereinbarten Zeit in sein Büro geführt wurde. Er hatte sich aber auch verändert. Er war kräftiger geworden, rundlicher. Er musste mindestens zehn Kilo zugenommen haben, schätzte Høyer; und das dunkelbraune Haar war grau geworden.

»Ist die echt?«, fragte Høyer, als ihm klar wurde, mit wem er es zu tun hatte. »Die Haarfarbe?«

»Die Haarfarbe ist echt.« Der Indianer lächelte und entblößte eine Reihe weißer, regelmäßiger Zähne und Høyer spürte zu seiner Verblüffung das altbekannte Ziehen im Bauch, das er von früheren Zusammenkünften mit dem Indianer kannte.

»Er ist der einzige Mann, der mich jemals zu der Überlegung veranlasst hat, ob eine minimale Veranlagung zur Homosexualität in mir steckt«, hatte er einmal zu seiner Frau gesagt. »Das ist schon sonderbar.«

»Und zu welchem Resultat bist du gekommen?«, fragte sie neugierig, halb lächelnd, halb ernst.

»Dass dem nicht so ist«, sagte Høyer. Im Gegensatz zu seiner Frau war er vollkommen ernst. »Er hat nur eine so verblüffende Ausstrahlung. Ich denke, Sexappeal ist nicht das richtige Wort, denn ich glaube, dass er auf beide Geschlechter wirkt. Aber Charme trifft es auch nicht, das ist zu wenig. Er ist etwas Besonderes und sieht unbestreitbar gut aus. Aber er hat viel von einem Blender. Er hatte auch immer nur in den ersten Minuten unserer Begegnungen diese Wirkung auf mich.«

Und jetzt erlebte er es wieder.

Der Indianer nahm ungeniert Platz. Der Beamte, der ihn hereingeführt hatte, sah verstohlen zu Høyer hin, doch als keine Reaktion von ihm kam, zog er sich auf einen Stuhl im hinteren Teil des Raumes zurück.

»Darf ich rauchen?«, fragte der Indianer höflich, aber doch in einem Ton, der ahnen ließ, dass er keine negative Antwort erwartete. Er führte sich fast wie ein gut situierter Playboy auf, der dem Familienanwalt einen Besuch abstattete.

»Ja bitte«, sagte Høyer und sah ihn an, während der Indianer eine Packung Zigaretten aus der Brusttasche seines schwarzen Hemdes holte.

Schwarzes Hemd und schwarze Hose, stellte Høyer fest. Der Indianer trug zumindest Arbeitskleidung. Auch wenn über der Brusttasche diskret ein kleines Lacostekrokodil prangte.

»Bei Høyer höchstpersönlich zu landen, das muss man sich einmal vorstellen«, sagte der Indianer. »Das hatte ich nicht erwartet. Nicht wegen so einer Bagatelle. Dann leben Sie also noch?«

»Wie man sieht«, antwortete Høyer. So alt war er nun auch wieder nicht. »Genau wie Sie«, fuhr er fort. »Und wie ich sehe, sind Sie immer noch in Ihrem alten Metier tätig.« Høyer schüttelte resigniert den Kopf. »Ehrlich gesagt, hatte ich geglaubt, dass Sie klüger geworden sind. Wie alt sind Sie jetzt? Dreißig? Einunddreißig? Also fast erwachsen.«

»Ja, aber Høyer, ich versichere Ihnen, dass das Ganze ein Missverständnis ist. Es war mein gutes Recht, mich in der Wohnung aufzuhalten. Eine Freundin von mir wohnt dort. Verdammt, ich hatte einen Schlüssel und alles.«

Høyer lächelte schief. »Ich weiß nicht, was ›und alles‹ ist, aber das ist nicht das erste Mal, dass Sie im Besitz eines Schlüssels zu einer Wohnung sind, in der Sie nichts verloren haben.«

Der Indianer hatte schon immer die Fähigkeit besessen, überzeugend zu klingen, dachte Høyer. Deswegen war er anfangs auch freigesprochen worden. Unter anderem deswegen, berichtigte er sich. Wahrscheinlich hatte es auch eine Rolle gespielt, dass niemand sich hatte vorstellen können, dass ein friedfertiger, begabter und sehr wohlhabender Gymnasiast sich als geschickter Einbrecher betätigte.

»Hören Sie ...«, begann der andere.

»Ich höre«, sagte Høyer. »Ich bin ganz Ohr. Ich warte darauf, etwas zu hören, was mich davon überzeugen kann, dass Sie ein Recht hatten, in der Wohnung zu sein. Aber ein Schlüssel reicht mir nicht«, schloss er und wedelte dem Indianer mit dem Zeigefinger vor dem Gesicht herum. »Sie müssen sich schon etwas Besseres einfallen lassen.«

»Ich habe etwas Besseres. Ich habe diese Schwachköpfe – entschuldigen Sie den Ausdruck, Høyer, aber mal ganz ehrlich –, ich habe sie also gebeten, in meine Wohnung zu fahren und in den Briefkasten zu schauen, der an der Haustür angebracht ist. Da dürften Sie höchstwahrscheinlich einen Brief oder eine Karte von Grete Krag finden, die schwarz auf weiß beweist, dass sie mich erwartet hat.«

»Sie erwartet?«, fragte Høyer. »Das klingt seltsam, da sie allem Anschein nach in Urlaub ist.«

Der Indianer lächelte entwaffnend. »Ich habe mich offenbar schlecht ausgedrückt. Die Sache war so: Ich habe sie vor einiger Zeit angerufen und erzählt, dass ich möglicherweise ins Land käme und bei ihr vorbeischauen werde. Sie hat gesagt, dass sie sich über meinen Besuch freuen würde, sie dann aber vielleicht gerade im Urlaub sei. Sie wollte mit dem Auto nach Frankreich, wusste aber noch nicht genau, wann. Doch falls sie verreist sei, würde sie mir eine Nachricht in den Briefkasten werfen.«

»Hm«, sagte Høyer und sah zu dem Polizisten hinüber, der bestätigend nickte. Ja, sie hatten einen Mann zu der Wohnung geschickt, um das zu überprüfen.

Høyer griff nach dem Pass des Indianers, der vor ihm auf dem Tisch lag.

»Wo kommen Sie jetzt her?«, fragte er.

»Aus der Schweiz«, sagte der Indianer und sah Høyer leicht nervös an. »Ich lebe jetzt in der Schweiz.«

»Sie reisen viel«, stellte Høyer fest, während er in dem Pass blätterte.

»Natürlich. Dazu bin ich gezwungen. Geschäftsreisen.«

»So, so, dann sind Sie also Geschäftsmann geworden. Das klingt gut, wenn es wahr ist.«

»Das ist es. Schließlich habe ich eine Agentur geerbt. Das war der Brocken, den man mir hingeworfen hat, als die ganze Herrlichkeit aufgeteilt wurde. Vermutlich wollten sie mich aus dem Weg haben. Die Agentur ist in der Schweiz.«

»Was verkaufen Sie?«, fragte Høyer. »Holland, Südafrika, Osteuropa, wie es aussieht, kommen Sie viel herum.«

»Ich verkaufe Nähmaschinen«, sagte der Indianer und schnitt eine Grimasse. »Nähmaschinen, Elektronik und Lochmaschinen.«

»Lochmaschinen?«, Høyer sah ihn fragend an.

Der Indianer lachte. »Ja, Lochmaschinen.« Er schlug mit der flachen Hand auf den Locher, der auf dem Schreibtisch stand. »Die kommen ja schließlich auch irgendwoher, oder?«

»Und die verkaufen Sie unter anderem nach Südafrika?«

»Ja, vor allem Lochmaschinen«, erklärte der Indianer. »Aber mit denen kann man nicht handeln. Die wollen immer in Kohle bezahlen. Doch was zum Teufel soll ich mit einer Ladung Kohle? Können Sie sich mich als Kohlenhändler vorstellen? Das ist nicht unbedingt mein Stil.«

Der Indianer lachte herzlich und Høyer musste unwillkürlich lächeln. Dann riss er sich zusammen.

»Na schön, aber ich möchte jetzt diese kleine Sache hier aufgeklärt haben. Warum in aller Welt sind Sie nicht nach Hause in Ihre eigene Wohnung gefahren, bevor sie zu Grete Krag gefahren sind?«

»Ich habe eigentlich damit gerechnet, dass sie zu Hause ist, und Sie wissen ja, wie das ist, in eine Wohnung nach Hause zu kommen, die mehrere Monate leer gestanden hat. Kalt, schmutzig, stickig und ein leerer Kühlschrank. Dazu hatte ich keine Lust, deshalb bin ich direkt zu Grete gefahren.«

»Wie sind Sie in die Stadt gekommen?«

»Mit dem Flugzeug«, sagte der Indianer und warf Høyer einen verwunderten Blick zu, als verstünde er die Frage nicht ganz.

»Und wann sind Sie angekommen?«

»Soweit ich mich erinnere, sind wir kurz nach sieben gelandet. Neunzehn Uhr zwanzig, glaube ich.«

»Tststs«, sagte Høyer kopfschüttelnd. »Sie waren einmal besser, mein Junge. Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie seit kurz nach sieben in der Stadt waren und erst gegen Mitternacht bei Ihrer Freundin aufgekreuzt sind.«

»Nein, natürlich nicht.« Der Indianer sah Høyer mit aufrichtiger Verblüffung an. »Ich bin direkt zu Grete gefahren.«

»Was Sie nicht sagen! Sie müssen sehr leise gewesen sein. Die alte Dame hat vor zwölf nichts von Ihnen gehört.«

»Ich bin sehr leise. Immer. Dafür bin ich unter anderem berühmt«, lachte er. »Wenn ich ganz ehrlich sein soll – und das soll ich wohl –, ich habe geschlafen. Ich war müde, ich war an dem Tag lange unterwegs gewesen und rechnete damit, dass Grete schon noch aufkreuzen würde, deshalb habe ich mich aufs Sofa gelegt und bin sofort eingeschlafen. Kurz vor zwölf bin ich aufgewacht, und als sie noch immer nicht da war, dämmerte es mir, dass sie wohl wirklich in Urlaub ist. Ich beschloss, das Etablissement zu verlassen. Ganz leise und ruhig, genau wie ich gekommen bin. Und dann hatte ich das verdammte Pech, den beiden – ich will ja nicht grob werden, aber sie haben sich aufgeführt, als hätte ich die Kronjuwelen gestohlen – direkt in die Arme zu laufen.«

»Und Sie hatten natürlich nichts bei sich«, sagte Høyer. »Aber das versteht sich von selbst, denn sobald Ihnen klar wurde, dass die Polizei auf dem Weg war, haben Sie alles zurückgelegt. Ganz dumm sind Sie schließlich nicht.«

»Høyer, bei meiner Ehre, mein Gewissen ist so rein wie frisch gefallener Schnee.«

»Das wäre das erste Mal, dass ich das erlebe«, stellte Høyer fest.

»Es ist sechs Jahre her, dass ich etwas Ungesetzliches getan habe. Das können Sie mir doch nicht länger unter die Nase reiben.«

»Okay«, sagte Høyer. »Diese Grete Krag, die Sie, wie Sie sagen, so gut kennen, dass sie Ihnen den Schlüssel zu ihrer Wohnung überlassen hat, ist das Ihre Geliebte?«

»Grete!« Er lachte. »Sie würde sieben Kreuze schlagen, wenn sie Sie hören könnte. Nein, wir sind nur befreundet. Sehr gut befreundet. In Wirklichkeit ist sie die einzige Freundin, die ich habe.« Er zögerte einen Augenblick. »Sie ist süß, liebenswürdig, nett und hilfsbereit und man kann sich auf sie verlassen. Außerdem ist sie Juristin. Assessorin am Nachlassgericht. Ledig. Und in ihrer Wohnung gibt es nichts, das es wert wäre, gestohlen zu werden.«

Høyer sah ihn stumm an.

»Ich wünschte, ich könnte Ihnen glauben«, sagte er schließlich und meinte es auch so. Dieser Typ rührte an etwas in ihm, auch wenn er ein Psychopath oder ein Ganove war. An etwas, was er nicht benennen konnte, was er nicht verstand. Er hatte so ein Gefühl, dass er sich selbst ein bisschen besser verstehen könnte, wenn es ihm gelingen würde, den Indianer zu verstehen.

»Ich wünschte, ich könnte Ihnen glauben«, wiederholte er. »Aber Sie überzeugen mich nicht. Ich gebe gerne zu, dass ich gehofft habe, Sie vor sechs Jahren zum letzten Mal hier gesehen zu haben. Dass Sie erwachsen werden würden, oder wie man das nennen soll. Nicht nur Ihretwegen und noch weniger meinetwegen, aber ich denke, dass es ..., dass es eine Verschwendung von Fähigkeiten und Möglichkeiten ist, eine Verschwendung von Ressourcen, um es mit einem Modewort auszudrücken, dass Sie in diesem Metier gelandet sind. Sie sind begabt, Sie sind auf dem Gymnasium hervorragend zurechtgekommen – auch wenn Sie schon damals Ihre Nummern abgezogen haben – und Sie haben ein gutes Abitur gemacht. Warum also? Sie kommen aus einer guten Familie, einer wohlhabenden zudem, Sie konnten zwischen allen erdenklichen Ausbildungen wählen. Sie hatten alles, und dann entschließen Sie sich, Gott steh mir bei, ein Einbrecher zu werden. Nicht einmal ein besonders hervorragender Einbrecher.«

»Das stimmt nicht«, sagte der Indianer verletzt. »Ich war ein hervorragender Einbrecher.«

Høyer lachte. »Ach, habe ich Sie in Ihrer Eitelkeit gekränkt? Aber wie gesagt, ich verstehe Sie nicht. Alle Möglichkeiten standen Ihnen offen.«

»Ich dachte mir schon, dass wir wieder da enden würden«, sagte der Indianer mit einem resignierten Seufzer. »Sie können es einfach nicht lassen, mir ins Gewissen zu reden, nicht wahr, Høyer? Sie müssen mir jedes Mal eine Moralpredigt halten.«

»Nein, diesmal nicht«, sagte Høyer. »Das ist nicht meine Absicht. Das hier ist keine Moralpredigt, das ist eine Frage. Warum?«

Der Indianer nahm eine neue Zigarette aus der Packung und betrachtete sie einen Moment, ohne etwas zu sagen. Er hob fragend die Augenbrauen, und als Høyer nickte, zündete er die Zigarette an.

»Okay«, sagte er und blies eine Rauchwolke in die Luft. »Ich werde versuchen, Ihnen zu antworten. Aber zuerst möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass dieses Stadium überwunden ist. Das werden Sie früher oder später auch herausfinden.« Er zog an der Zigarette. »Ich habe mir die Frage übrigens auch hin und wieder gestellt«, sagte er mit einem schiefen Lächeln. »Warum? Ich glaube, die Antwort heißt Freiheit.«

»Freiheit!«, Høyer schrie fast. »Nein, ich denke ...«

»Doch«, unterbrach ihn der Indianer. »Eine Form von Freiheit zumindest. Zum einen war es meine eigene Wahl. In jeder Beziehung. Und zum anderen hatte ich niemanden über und niemanden unter mir. Ich war souverän. Bestimmte selbst, wann und wie. Ich habe immer alleine gearbeitet, wissen Sie.«

»Und alleine gesessen«, sagte Høyer brutal.

Der Indianer zuckte mit den Schultern. »Jeder Job hat sein Risiko. Es gibt Maurer, die vom Gerüst fallen und für sehr viel längere Zeit und einen sehr viel geringeren Lohn zu Invaliden werden.« Er schwieg kurz, während er nachdachte. »Ja, es hatte mit Freiheit zu tun. Und vor allem mit Spannung. Die meisten Menschen brauchen Spannung in der einen oder anderen Form. Manche werden zu Einbrechern, andere zu ...«, er zuckte mit den Schulter, »... Geschäftsleuten und wieder andere zu Politikern. Wir zwei, Høyer, sind in Wirklichkeit zwei Seiten derselben Medaille.«

»Unsinn«, sagte Høyer.

»Nein, das geben Sie natürlich nicht zu. Nicht hier und nicht jetzt. Und Sie haben im Nachhinein natürlich auch eine vernünftige Begründung gefunden und glauben, dass Sie Polizist geworden sind, um Schurken wie mich unschädlich zu machen. Aber ich bin nicht sonderlich schädlich und ich bin überzeugt, dass Sie sich vor zwanzig, dreißig Jahren entschlossen haben, Polizist zu werden, weil die Spannung Sie gelockt hat. Sie wollten keinen langweiligen Achtstundenjob oder Bauer oder Maurer oder Zimmermann oder Lehrer werden, nein, Sie wollten Spannung. Habe ich Recht?«

Er lächelte Høyer unschuldig an. Unschuldig und triumphierend.

»Hmm«, brummte Høyer.

»Sie sagen, mir hätten alle Möglichkeiten offen gestanden, aber was hätte ich werden können, was genauso spannend gewesen wäre? Geschäftsmann? Das sagte mir damals nichts. Arzt, Zahnarzt, Jurist, Ingenieur? War das spannend? Vielleicht, aber zuerst erwartete einen eine jahrelange Wüstenwanderung durch die eine oder andere Lehranstalt. Allein der Gedanke war tödlich.« Plötzlich lachte er. »Wissen Sie, was ich überlegt hatte zu werden? Akrobat! Sie wissen schon, jemand, der von einem Mast in ein winziges Bassin mit brennender Oberfläche springt. Als Junge fand ich das ungeheuer spannend. Aber später habe ich so einen Typen einmal von Nahem gesehen. Ein müder, alter Mann. Ein kleiner, ängstlicher Mann mit einer elastischen Binde um den Oberschenkel, den er sich am Bassinrand verletzt hatte. Ein paar Monate später habe ich gelesen, dass er ums Leben gekommen ist. Vielleicht absichtlich. Jedenfalls hat mir das die Lust genommen, Akrobat zu werden. Ich war nicht die Spur waghalsig. Nicht einmal mutig. Es gehört nicht viel Mut dazu einzubrechen, aber es ist spannend. Eine billige Spannung.«

»Und jetzt wollten Sie diese Spannung noch einmal erleben?«

»Ganz und gar nicht. Ich bin dem entwachsen, Høyer. Die Meisten entwachsen dem. Vielleicht ist es irgendwann auch nicht mehr spannend. Oder es gibt andere Dinge, die noch spannender sind. Sie finden es bestimmt auch nicht immer aufregend, Polizist zu sein. Heute liegt die Spannung in anderen Dingen als in Ihrer Jugend, habe ich Recht?«

»Aber Sie konnten nicht einfach einen Schlussstrich ziehen. Man bleibt dem Milieu verhaftet. Das sehen wir immer wieder.«

»Ich nicht«, sagte der Indianer. »Ich habe im Grunde genommen nie zum Milieu gehört. Nicht wirklich. Okay, ich habe die Male, die ich gesessen habe, einige Leute kennen gelernt, aber zu denen habe ich keinen Kontakt mehr. Wir hatten nichts miteinander zu tun. Wir waren nicht von der gleichen Art. Und ich habe immer allein gearbeitet. Ich bin ein lone ranger, Høyer, das bin ich immer gewesen. Überall. Ich habe weder Freunde noch Feinde. Mein einziger Feind war die Gesellschaft. Sie hat sich gerächt, ich habe bezahlt und ich gehe davon aus, dass wir quitt sind. Ich war vielleicht ein Dieb, aber ich war ein ehrlicher Dieb. Ich habe nie einen Armen bestohlen, kein einziges Mal.«

»Robin Hood!«, sagte Høyer ironisch.

»Nein, ich habe schließlich nichts an die Armen ausgeteilt. Aber ich war verhältnismäßig unschädlich. Ich hatte nie etwas mit Gewalt, Drogen oder dergleichen zu tun. Nur Diebstahl. Und deswegen kann ich kein schlechtes Gewissen heucheln, Høyer. Wenn ich in irgendeine Villa einbrechen und im Laufe von einer viertel oder einer halben Stunde für hunderttausend Kronen Schmuck stehlen konnte, haben Sie sich da nie gefragt, wo die Leute den herhatten? Wie sie so wohlhabend geworden sind? Doch, natürlich haben Sie das, Høyer. Sie sind schließlich kein Idiot.«

»Danke.«

»Ich meine das ernst. Glauben Sie, mein Vater war ein Unschuldslamm?«

»Ich glaube in der Tat, dass Ihr Vater ein ehrenhafter Mann war, ja.«

Der Indianer lachte auf. »For Brutus was an honourable man.«

»Shakespeare«, murmelte Høyer. »Und Brutus und Ihr Vater haben nicht viel miteinander gemein.«

»Dann lassen wir meinen Vater außen vor. Nehmen wir meinen Bruder. Ein netter Mann, ein ehrenhafter Mann, es fiele ihm nicht im Traum ein, etwas Illegales zu tun. Aber unter vielem anderen hatte er die Finger auch in einer kleinen Baufirma. Einer selbstständigen Gesellschaft natürlich. Sie geben ein Gebot für ein Bauvorhaben ab, drücken den Preis und bekommen den Auftrag. Die Gesellschaft nimmt einen Kredit auf, für den mein Bruder natürlich mit Haus und Hof und Haut und Haar haftet, die Banken sind schließlich keine Philanthropen. Das Bauvorhaben wird zu Ende geführt, mein Bruder bekommt sein Geld, tilgt den Kredit und dann – nein, wie ärgerlich, die Gesellschaft macht Pleite. Zahlungseinstellung, so etwas kann passieren. Und er streicht ein paar hunderttausend an unbezahlten Steuern ein. Suuuper! Nicht? Und absolut legal.«

»Genau«, sagte Høyer. »Absolut legal. Hätte Ihr Bruder das gemacht, wenn es illegal wäre?«

»Nein, sind Sie verrückt?«

»Dann weiß ich nicht, was Sie mir beweisen wollen. Dass das Gesetz falsch ist? Dann muss das Gesetz geändert werden. Aber das gibt Ihnen nicht das Recht, bei den Leuten einzubrechen.«

»Ich will damit nur sagen, dass mein Bruder genauso unmoralisch ist wie ich. Und jetzt bin ich selbst Geschäftsmann. Was für eine Ironie des Schicksals. Und ich habe entdeckt, dass das eigentlich auch ganz spannend ist. Auf eine andere Art, eine weniger elementare Art, aber spannend ist es. Vielleicht ist mein Bruder also auch nur auf Spannung aus. Früher habe ich geglaubt, dass das Geld die Triebkraft ist. Das glaube ich nicht mehr. Es ist die Spannung.«

Høyer sah ihn nachdenklich an.

Es war keine neue Erfahrung für ihn, dass in der Regel irgendetwas auftauchte, wenn man die Leute reden ließ. Etwas, das von Nutzen sein konnte. Wenn man zwischen den Zeilen las sozusagen.

Und wie viel von dem soll ich glauben, dachte Høyer. Und warum erzählen Sie mir das alles? Was wollen Sie, dass ich glaube? Dass Sie ein ehrlicher Dieb sind. Dass Sie immer allein gearbeitet haben, was Sie nicht müde werden zu betonen. Dass Sie nie mit Drogen zu tun hatten. Nein, Sie waren nur ein netter kleiner Einbrecher und jetzt sind Sie ein netter Geschäftsmann. Vielleicht moralisch nicht ganz unangreifbar, aber ... Warum erzählen Sie mir das alles?

Er sah auf seinen Block, auf dem er sich ein paar Schlüsselworte notiert hatte.

Nachdenklich unterstrich er drei davon. Allein, Drogen, Geschäftsmann.

Høyer hatte noch kein Wort gesagt, als ein Polizist das Büro betrat.

»Es lag wirklich ein Brief in seinem Briefkasten«, sagte er, indem er zum Schreibtisch kam. »Bitte.« Er reichte Høyer den Brief und verließ das Büro.

Høyer öffnete ihn.

Der Indianer beobachtete ihn gespannt, während er las.

»Und?«, fragte er, als Høyer das Papier sinken ließ. »Kann ich jetzt gehen?«

Høyer spitzte den Mund und schüttelte langsam den Kopf.

»Ich denke, nein«, sagte er.

»Warum nicht? Was steht denn da?«

»Nicht genug«, sagte Høyer. »Außerdem ist der Brief mit der Maschine geschrieben. Mit Ausnahme der Unterschrift.«

»Ja, aber was steht drin?« Der Indianer klang ein wenig ungeduldig.

»Hier steht: Fahre heute nach la belle France. Wenn du vor mir ankommst, kannst du gerne vorbeischauen. Nimm dir einen Whisky on the rocks, du weißt schon! Wir sehen uns. Ich bin am 22. zurück. Grete.«

Høyer sah den Indianer an, der langsam nickte, als wäre ihm gerade ein Licht aufgegangen. Dann warf er Høyer einen schnellen Blick zu. »Ist das nicht klar genug?«, fragte er.

»Sehr klar«, sagte Høyer. »Sehr klar. Aber woher soll ich wissen, dass Sie den nicht selbst geschrieben und in den Briefkasten geworfen haben?«

Der Indianer zuckte mit den Schultern. »Das können Sie nicht wissen«, räumte er ein. Er zögerte kurz. »Und was jetzt?«, fügte er hinzu.

»Tja«, sagte Høyer. »Sie kennen das Procedere. Wir müssen Sie dem Haftrichter vorführen und ich werde beantragen, die U-Haft um drei mal vierundzwanzig Stunden zu verlängern. In der Zeit dürfte es uns gelingen, mit der Dame zu reden und eine Bestätigung zu bekommen – oder das Gegenteil.«

Der Indianer zögerte kurz. Dann lächelte er. »In Ordnung«, sagte er.

Høyer warf ihm einen überraschten Blick zu. Er hatte Protest erwartet.

»Aber«, sagte er, »wenn Ihr Anwalt Widerspruch einlegt, wäre es möglich ...«

»Ich habe keinen Anwalt.«

»Warum nicht, Sie wissen doch, dass ... Haben Sie nicht um einen Anwalt gebeten?«

»Man hat es mir angeboten, Høyer. Die Menschen sind nett in diesem Land. Aber ich habe kein Interesse. Ich will nicht, dass die Familie hineingezogen wird.«

»Das wird sie auch nicht.«

»Trotzdem. Ich will keinen Anwalt. Das ist in Ordnung mit den drei Tagen, das sagte ich doch.«

Høyer kratzte sich am Kopf. Was sollte das?

»Man kann mich doch nicht zwingen, einen Anwalt zu nehmen.«

»Tja ...«, begann Høyer.

»Na schön, dann finden Sie einen. Das ist schließlich eine reine Formsache. Ich laufe Ihnen nicht weg. Ich wäre ohnehin hier geblieben, bis ich Grete getroffen habe, und ein Hotel ist so gut wie das andere.«

Høyer saß noch immer nachdenklich da und blickte auf die drei Worte, die er sich aufgeschrieben hatte, als Therkelsen hereinkam.

»Wer war das gerade?«, fragte Therkelsen.

»Martin Nielsen«, sagte Høyer und lachte ansatzweise. »Alias Hans Martin Schrøder, alias der Indianer. Er hat den Mädchennamen seiner Mutter angenommen, als man ihn das letzte Mal auf freien Fuß gesetzt hat, wahrscheinlich aus Rücksicht auf die Familie. Und jetzt ist er Geschäftsmann in der Schweiz, sagt er.«

»Aber du glaubst ihm nicht«, stellte Therkelsen fest.

»Ich habe dem Indianer nie geglaubt«, sagte Høyer. »Und ich bin auch nicht geneigt, Martin Nielsen zu glauben. Was ist schon ein Name?«

»Er hat zugenommen, nicht?«, fragte Therkelsen. »Ich habe ihn gar nicht erkannt, aber ich habe ihn auch nur von hinten gesehen. Ich dachte schon, du wärst das.«

»Ich fühle mich geschmeichelt«, sagte Høyer. »Er hat zugenommen, aber er wiegt mindestens zehn Kilo weniger als ich. Es muss an den Haaren liegen. Sie sind grau geworden. Und an dem Hemd.« Er sah an sich hinunter.

Therkelsen sah ihn missbilligend an. »Wie bist du nur auf die Idee gekommen, dir ein schwarzes Hemd zu kaufen?«

»Es war im Angebot und meine Tochter fand es schick, deshalb nehme ich deine Kritik leicht. Sie ist zwanzig Jahre jünger als du.«

Therkelsen hob den Arm zum Faschistengruß. »Schwarzhemden aller Länder vereinigt euch«, rief er.

»Ach, halt doch die Klappe«, sagte Høyer.

Die Vorführung vor dem Haftrichter war vorbei, noch bevor sie richtig angefangen hatte. Der Richter gab Høyers Antrag auf Verlängerung der U-Haft um drei mal vierundzwanzig Stunden statt. Sowohl er als auch der Anwalt machten einen leicht gereizten und abgehetzten Eindruck. Sie waren nur daran interessiert, die Angelegenheit hinter sich zu bringen. Es musste an der Wärme liegen, dachte Høyer. Selbst im Gerichtssaal war die Luft stickig und drückend.

Er blieb einen Augenblick in der Tür zur Straße stehen. Das Licht blendete, wenn man aus den dunklen Gängen kam.

Er zögerte lange genug, um festzustellen, dass er seine Aktenmappe vergessen hatte. Er machte schnell kehrt und ging wieder hinein, um sie zu holen, doch schon in der Vorhalle kam ihm ein Beamter mit der Mappe entgegen.

»Ach, Sie haben es selbst schon gemerkt«, sagte er zu Høyer.

Høyer nickte. »Ja, ich fühlte mich plötzlich so nackt.«

»Ach, das würde niemandem auffallen«, meinte der andere. »Nackt herumzulaufen. Es ist schließlich Sommer geworden.«

»Ja, das kann man wohl sagen.«

Høyer saß in Gedanken bereits mit der Zeitung und einem Glas Weißwein auf seiner Terrasse. Der Sommer ist nicht das Schlechteste, dachte er, während er sich umdrehte und Richtung Tür ging.

Im selben Moment tauchte der Indianer in Begleitung eines Beamten auf. Høyer öffnete die Tür und trat zur Seite, um sie passieren zu lassen.

»Dann bilde ich die Nachhut«, sagte er, als der Indianer an ihm vorbeiging und auf die Treppe trat.

Der Indianer drehte sich halb zu ihm um, um eine Bemerkung zu machen, aber Høyer hörte sie nicht. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt. War es ein Laut, eine Bewegung oder vielleicht nur der Instinkt, der ihn zu dem gegenüberliegenden Haus aufsehen ließ? Die niedrig stehende Sonne spiegelte sich hoch oben in einer Scheibe. In einer Scheibe oder einem Stück Metall.

Høyer richtete den Blick wieder auf den Indianer.

Später wusste er nicht, ob er wirklich gesehen hatte, woran er sich zu erinnern glaubte, oder ob seine Fantasie ihm einen Streich spielte.

In dem Moment, in dem Høyer den Blick senkte und ihn ansah, passierte etwas mit dem einen Auge des Indianers. Es wuchs und wuchs, schwoll an, veränderte die Farbe und ging auf wie ein Ballon, um schließlich in einer blutroten Explosion zu platzen.

Lautlos sank der Indianer auf der Treppe vor dem Gericht zu Boden.

Der Tod steht auf der Schwelle - Skandinavien-Krimi

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