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2.

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Thorsen blieb unbeweglich in der Tür stehen. Weder hörte er den Schrei des Postboten noch bemerkte er, wie dieser verschwand. In seinem Kopf herrschte eine dröhnende Leere. Seine Sinne waren wie betäubt. Er hörte nichts, sah nichts, fühlte nichts. Sein Hirn streikte, schien nicht begreifen zu wollen, was seine Augen ihm mitzuteilen versuchten. Vielleicht dauerte es Minuten, vielleicht nur Sekunden, bis es langsam wieder zu funktionieren begann und sein erster klarer Gedanke, für den er sich in dem Moment, als er ihn dachte, auch schon schämte, war: »Als Rentner wäre dir das erspart geblieben.«

Er atmete tief durch und schluckte seine Kirschkerne hinunter. Das half ein bisschen, fand er. Er versuchte, sich daran zu erinnern, dass er Polizist war. Er musste etwas tun. Aber was? Das hier war ein Tatort, aber kein gewöhnlicher. Es bestand kein Zweifel, was passiert war und wer es getan hatte. Sein Blick wanderte noch einmal durch die Küche, doch diesmal prägte er sich die Details ein, fotografierte den Raum förmlich ab. Gegenüber der Tür zum Hauswirtschaftsraum stand die Tür zu einer kleinen Kammer offen. An der den Fenstern gegenüberliegenden Wand stand zwischen zwei Türen ein altmodischer Ofen. Die eine Tür war geschlossen und führte wahrscheinlich ins Wohnzimmer, die andere stand weit offen und führte in ein Schlafzimmer, das kaum größer war als die Kammer. Sein Blick fiel auf einen Brief, der auf dem Küchentisch unter dem Fenster an einer grünen Kaffeedose lehnte. An die Polizei stand da in einer großen, etwas altmodischen Handschrift.

Unwillkürlich streckte Thorsen die Hand danach aus, doch dann schüttelte er den Kopf und steckte die Hände schnell in die Taschen. Nichts anfassen. Nur nichts anfassen. Alles musste bleiben, wie es war, und er musste schnellstmöglich Hilfe holen.

Er hatte sich gerade zum Gehen gewandt, als ein Laut ihn erstarren ließ. Ein Stöhnen. Jemand stöhnte. Jemand, der in diesem Schlachthaus noch am Leben war. Der Laut kam aus dem Schlafzimmer.

Thorsen zögerte einen Augenblick. Dann ging er vorsichtig um die kleinen leblosen Gestalten auf dem Boden herum ins Schlafzimmer.

Es war die Frau, die er gehört hatte. Sie lag auf der einen Hälfte des Doppelbetts. In der Mitte, eng an sie gepresst, lag ein Baby. Die andere Hälfte des Bettes war unberührt.

Thorsen ging zum Kopfende und beugte sich zu der Frau hinunter, während er es vermied, in ihr verunstaltetes Gesicht zu sehen.

»Wer ist da?«, murmelte sie und blickte ihn mit einem halb offenen Auge an.

»Polizei«, sagte er. »Thorsen.«

»Warum?« Ihre Stimme klang verwundert und anklagend zugleich. »Was soll das? Er war es doch nicht.«

Thorsen runzelte die Augenbrauen. Was hatte sie da gesagt? Er sah sie verwirrt an.

»Wie meinen Sie das?«, fragte er unsicher. »Hat Jens Olsen nicht ...?« Er machte eine Bewegung mit der Hand.

»Doch, das hier schon«, sagte sie und griff sich langsam mit einer Hand an den Kopf. »Aber nicht das Mädchen. Mit dem Mädchen hatte er nichts zu tun.«

Thorsen biss sich auf die Lippe. Sicher wusste sie nicht, was sie sagte.

Wieder stöhnte die Frau.

»Ich rufe einen Arzt«, sagte Thorsen und berührte ihren Arm. »Gleich kommt ein Arzt.«

Sie schien ihn nicht zu hören.

Ihre Hand tastete über die Bettdecke nach dem Kind.

»Der Kleine«, sagte sie. »Er ist so kalt. Würden Sie ihn bitte zudecken!«

Erst jetzt ging Thorsen auf, dass sie wahrscheinlich keine Ahnung hatte, was passiert war.

Vorsichtig beugte er sich über die Frau und zog behutsam ein Stück der Bettdecke über den zertrümmerten Kinderschädel.

»So«, sagte er und stellte fest, dass seine Stimme belegt war. Dann richtete er sich schnell auf und verließ das Zimmer. Er hatte keine Kirschkerne mehr und jetzt überwältigte ihn die Übelkeit.

Høyer hatte gerade den Hörer aufgelegt, als Therkelsen hereinkam.

»Wie wäre es mit ein paar warmen Frikadellen zu Mittag, Høyer? Du bist doch Strohwitwer. Ich lade dich ein«, sagte er und fügte erklärend hinzu: »Ich muss heute nicht ins Gericht. Er ist krank geworden.«

»Der Richter?«, fragte Høyer leicht verwundert.

»Wenn es nur so wäre!« Therkelsen schnitt eine Grimasse. Richter Bækgaard war sein liebster Feind. »Nein, Chlorophyll-Jørgen. Er ist heute Vormittag ins Krankenhaus gekommen. Bauchspeicheldrüsenentzündung, haben sie gesagt. Es klang ziemlich ernst.«

»Das ist es auch«, sagte Høyer. »Man kann daran sterben und dann ist es ernst. Das kommt vom Suff. Kann es jedenfalls, und in seinem Fall scheint das auch ziemlich wahrscheinlich.«

»Also, was sagst du? Frikadellen?«

Høyer schüttelte den Kopf. »Nein, aber du kannst mich begleiten. Thorsen hat gerade angerufen.«

»Thorsen?«, Therkelsen sah ihn fragend an. »Etwas Besonderes?«

»Mord«, sagte Høyer lakonisch.

»Mord? Da draußen?«, Therkelsen klang ungläubig. Als wäre ein Mord in Thorsens Bezirk absolut unvorstellbar.

»Ja.« Høyer erhob sich. »Klingt nach einer hässlichen Geschichte. Die Presse würde es eine Familientragödie nennen. Der Mann ist mit einer Axt Amok gelaufen. Hat die Frau und vier Kinder umgebracht und ist anschließend ins Wasser gegangen.«

»Verdammt«, rief Therkelsen. »Da hätte ich Bækgaards One-man-Show dann doch vorgezogen.« Er klopfte seine Pfeife aus und stopfte sie in die Tasche. »Du hast Recht«, sagte er dann. »Mittwoch ist ein grauer Tag.«

Høyer und Therkelsen hatten sich in das kleine Wohnzimmer zurückgezogen, um den Technikern Platz zu machen. Direkt neben der Tür stand ein Ölofen, aber der Raum war eiskalt. Das Zimmer wurde offenbar nicht jeden Tag benutzt. Eine Weile redete keiner von ihnen. Therkelsen stand am Fenster und stopfte seine Pfeife mit ungewöhnlicher Sorgfalt, während Høyer sich auf einem der Wohnzimmerstühle niedergelassen hatte. Er ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Die Möbel hatte er schnell erfasst. Da war ein Esstisch mit sechs Stühlen aus imitiertem Nussbaumholz und ein dazu passendes Büfett, das an der hinteren Wand stand. An einer der Längswände stand ein altmodisches Sofa mit einer geblümten Sofadecke. Darüber hing ein Wandteppich, eine Art Gobelin, der zwei Hirsche vor einem Gebüsch zeigte. Über dem Büfett hing ein fotografischer Druck des leidenden Christus. Auf der Fensterbank standen kleine Topfblumen. Zimmerhopfen und Feuernelken. Høyer verzog leicht den Mund, als sein Blick sie streifte. Den Boden unter dem Esstisch bedeckte gebohnertes Linoleum mit einem verwischten persischen Teppichmuster. Das war alles.

Thorsen kam ins Wohnzimmer.

»Das ist unheimlich!«, sagte Høyer und schüttelte den Kopf. »Irgendwie unheimlich!«

»Widerlich«, stimmte Thorsen zu. »Zeit, dass ich gehe. Ich kann so etwas nicht mehr. Mit dem Alter wird man offensichtlich empfindlicher.«

»Das hat nichts mit dem Alter zu tun«, sagte Høyer. »Wir anderen können das genauso wenig. Vor ungefähr zwanzig Jahren habe ich etwas Ähnliches erlebt und da war es nicht anders. Aber das habe ich nicht gemeint. Ich meinte das Haus. Und das Wohnzimmer hier. Ich habe das Gefühl, dreißig, vierzig Jahre in der Zeit zurückversetzt worden zu sein. In eine Gesindewohnung aus den Vierzigerjahren oder meinetwegen auch aus den Fünfzigern. Mit den auf wenigen Quadratmetern zusammengepferchten Menschen, diesen Möbeln hier, ja eigentlich mit allem. Ich hätte geschworen, dass es so etwas nicht mehr gibt.«

»Hier draußen gibt es noch ein paar davon«, sagte Thorsen. »Aber natürlich nicht mit so vielen Kindern. Da wohnen alte Menschen.«

»Ja, da kann man mal sehen«, sagte Høyer.

»Wovon haben sie eigentlich gelebt?«, fragte Therkelsen. »Doch nicht von diesem winzigen Hof hier?«

»Nein«, sagte Thorsen, »das sind nur zwölf Morgen Land. Früher hat Olsen auswärts gearbeitet, aber dann hatte er einen Unfall mit dem Traktor und hat sich den Rücken verletzt. Er hat den niedrigsten Satz der Invalidenrente bezogen. Von der Unfallversicherung haben sie wohl auch etwas bekommen und außerdem war da noch das Kindergeld. Sie hatten nicht viel, das seht ihr ja, aber ich glaube nicht, dass sie finanzielle Probleme hatten. Nicht in dem Sinn.«

Høyer nickte. Er kannte solche Menschen. Nein, sie hatten bestimmt keine finanziellen Probleme. Nicht in dem Sinn, wie Thorsen sagte. Es gab keine drohenden Tilgungsraten für den Hof, kein Auto und keinen Fernseher. Für diese Menschen ging es einfach darum, etwas am Leib und das tägliche Essen auf dem Tisch zu haben. Für sie hätte das Sozialamt ebenso gut eine Stadt in Russland sein können. Nicht weil es für sie eine Frage der Ehre war, selbst zurechtzukommen, wie einige Romantiker meinten, sondern weil sie keine Ahnung von ihren Rechten hatten. Høyer schüttelte resigniert den Kopf.

»Wie war er?«, fragte er.

Thorsen dachte nach. »Ein stiller, ruhiger Mann«, sagte er dann. »Ein sehr stiller Mann.«

»Hm«, sagte Høyer.

Thorsen merkte, dass man eine etwas genauere Beschreibung von ihm erwartete. »Er hat nie etwas gesagt, zu dem er nicht stehen konnte, und auch das nur widerwillig. Wenn man ihn an einem herrlichen Sommertag draußen auf dem Feld traf und sagte: ›Schönes Wetter heute, Olsen!‹, dann sah er einen erst einmal lange an, als wollte er sichergehen, dass man auch meinte, was man sagte. Dann sah er zum Himmel und anschließend in die Landschaft, und erst wenn er wirklich überzeugt war, dass das Wetter auch schön war, sagte er: ›Ja, das sieht ganz gut aus.‹ So hatte er jedenfalls nicht zu viel gesagt. Ihr kennt den Typ, nicht?«

Høyer musste unwillkürlich lächeln. Ja, er kannte den Typ und er konnte die Situation vor sich sehen, aber dann schüttelte er wieder nachdenklich den Kopf. Ein stiller, ruhiger Mann. Ein sehr stiller Mann. Was hatte ihn plötzlich dazu getrieben, mit einer Axt Amok zu laufen?

»Du hast das eine Kind weggenommen, nicht?« In Wirklichkeit war es mehr eine Feststellung als eine Frage.

Thorsen nickte. »Ja, das musste ich. Wegen der Feuerwehrleute. Der Junge lag ja direkt ... na ja, ich habe den Umriss mit Kreide aufgezeichnet, das habt ihr ja selbst gesehen. Sie kamen mit der Trage nicht durch. Er lag ja fast in der Tür zum Schlafzimmer, ich würde sagen, er hat versucht, zu seiner Mutter zu flüchten. Und der große Junge wollte sich wohl hier im Wohnzimmer in Sicherheit bringen, aber die Tür war verschlossen. Wahrscheinlich damit die Kinder nicht raus- und reinrennen. Das Wohnzimmer wurde bestimmt nicht jeden Tag benutzt.« Er schwieg abrupt, als sähe er die Situation plötzlich vor sich.

Eine Weile war es still.

Therkelsen räusperte sich. »Wann hast du den Mann gefunden?«, fragte er.

»Um Viertel nach neun. Ich war auf dem Heimweg. Ich brauche ungefähr eine Stunde, um meine Runde zu drehen, und im Winter bin ich immer ein bisschen später dran als im Sommer. Es macht keinen Sinn zu fahren, bevor es hell ist.«

»Wie spät war es, als du hierher kamst?«, fragte Høyer.

»Das muss Viertel nach elf gewesen sein. Ich habe nicht gleich daran gedacht, auf die Uhr zu sehen, aber als ich die Feuerwehr gerufen habe, war es kurz nach zwölf. Ich habe sie gebeten, einen Arzt mitzubringen. Und direkt danach habe ich euch angerufen.«

»Was hat der Arzt gesagt?«, fragte Therkelsen.

»Nicht viel.« Thorsen zuckte mit den Schultern. »Ihm ist schlecht geworden. Wegen der Kinder. Das ist immer am schlimmsten, nicht? Aber auch als er sich wieder erholt hatte, konnte er nicht viel sagen. Die Frau musste ja so schnell wie möglich ins Krankenhaus.«

»War sie bei Bewusstsein?«, fragte Høyer.

»Nein, da nicht mehr. Aber als ich kam. So einigermaßen. Ich glaube nicht, dass ihr klar war, was passiert ist. Mit den Kindern, meine ich.«

»Das wird kein schönes Erwachen«, sagte Therkelsen. »Wenn sie überhaupt wieder aufwacht.«

»Ehrlich gesagt, glaube ich nicht daran«, sagte Thorsen und schüttelte sich leicht. Er sah Høyer und Therkelsen an. »Hört mal, wie wäre es, wenn wir zu mir nach Hause fahren und einen Kaffee und einen kleinen Schnaps trinken. Es besteht ja kein Grund, dass wir hier sitzen, und ich habe auch draußen nichts mehr zu tun.«

»Tja«, Therkelsen sah Høyer an, »das wäre vielleicht nicht schlecht.«

»Nein, das wäre sogar sehr gut«, sagte Høyer. »Ich sehe nur nochmal schnell zu den Technikern rein. Sie dürften bald fertig sein, aber wir haben wohl schon ein einigermaßen klares Bild, was passiert ist. Wir wissen nur nicht, was das Ganze ausgelöst hat.«

Asta Thorsen servierte Kaffee und selbst gebackenes Brot, ohne Fragen zu stellen oder Kommentare abzugeben. Als langjährige Ehefrau eines Landpolizisten sah sie ihre Aufgabe darin, es wie die drei Affen zu machen und darüber hinaus das Telefon zu bedienen, zu allen möglichen Zeiten Kaffee zu servieren, für Thorsens Wohlbefinden zu sorgen und ihr Haus in Ordnung zu halten. Und all das erledigte sie vorbildlich. Kinder hatten sie nie gehabt.

»Sie säumt sogar ihre Putzlappen und versieht sie mit Namen«, pflegte Rigmor Høyer mit einer Mischung aus Nachsicht und Ehrfurcht zu sagen.

Thorsen stellte die Flasche mit Kräuterschnaps und drei Gläser auf den Tisch. Für den Schnaps war er zuständig.

»Soweit wir das beurteilen können, war Jens Olsen also den größten Teil der Nacht auf«, begann Høyer, während er halb in Gedanken Thorsens Manöver mit der Flasche und den Gläsern verfolgte. »Gegen Morgen hat er dann die Axt geholt. Es hat erst gegen fünf zu schneien begonnen und seine Fußspuren zum Holzschuppen waren im Schnee zu sehen.«

Thorsen schob Høyer ein volles Glas hin.

»Danke«, sagte Høyer. »Er holt also die Axt draußen aus dem Schuppen. Bestimmt hat er damit gerechnet, sein Vorhaben ausführen zu können, ohne dass jemand wach wird. Er war schließlich kein Unmensch, nicht?« Letzteres kam ein wenig aggressiv, weil er sich die Kommentare vorstellte, die von gewissen Teilen der Presse zu erwarten waren. »Er fängt mit der Frau und dem Baby an, aber dann läuft alles schief. Vielleicht hat die Frau geschrien, jedenfalls werden die Kinder in der Kammer wach und er erwischt nur noch das kleinste der Kinder, das Mädchen, im Bett. Ob sie aufgewacht ist, wissen wir nicht. Die beiden Jungen versuchen zu fliehen und der Größte hat sich wahrscheinlich mit Händen und Füßen gewehrt. Das Ganze hat bestimmt nicht lange gedauert.« Høyer schwieg einen Moment. »Dann geht er durch den Hauswirtschaftsraum hinaus, tötet aus irgendeinem Grund auch den Hund, der dort liegt, dann nimmt er sein Fahrrad, fährt zum Schafstümpel hinunter, schiebt sich unter das Eis und ertrinkt.«

Høyers Stimme hatte völlig nüchtern geklungen, fast tonlos, während er den Tathergang rekonstruierte, und die beiden anderen hatten mit ausdruckslosen Gesichtern zugehört, aber als Høyer fertig war, stieß Thorsen einen tiefen Seufzer aus und griff nach seinem Glas.

»Also ich weiß nicht, aber ich glaube, ich brauche jetzt einen Schnaps«, stieß er hervor und führte das Glas zum Mund, ohne auf die anderen zu warten. Die Situation lud nicht zum Zuprosten ein.

»Das Problem ist, herauszubekommen, warum er das getan hat«, fuhr Høyer einen Moment später fort.

»Stand das nicht in dem Brief?«, fragte Thorsen verblüfft.

»Jedenfalls nicht direkt«, sagte Høyer. »Du kannst ihn ja selbst lesen und sehen, was du daraus schließt.«

Es war dieselbe große, altmodische Handschrift wie auf dem Briefumschlag, aber von Zeile zu Zeile wurde die Schrift krakeliger und unleserlicher.

Thorsen ließ langsam den Blick über das Papier gleiten, dann schüttelte er den Kopf und gab den Brief Høyer zurück.

»Er ist verrückt«, sagte er. »Das schließe ich daraus. Total verrückt. Oder besser gesagt war. Das Ganze hat doch weder Hand noch Fuß. Religiöser Wahnsinn, wenn ihr meine Meinung hören wollt.«

»Ja, vielleicht«, sagte Høyer und zuckte mit den Schultern. »Aber was sagst du zu der Bemerkung über das Mädchen?«

»Nichts«, sagte Thorsen. »Das hat nichts zu bedeuten.«

»Oder doch«, sagte Therkelsen.

»Wir müssen der Sache auf jeden Fall nachgehen«, meinte Høyer.

»Ihr meint den Fall Bettina?« Thorsen klang skeptisch.

»Ja«, sagte Høyer. »Denn von ihr ist doch wohl die Rede, oder? Daran besteht nicht der geringste Zweifel. Hört zu.« Er hielt das Papier ein Stück von sich weg und las laut: »Ich bin ein Sünder. Der Teufel handelt in mir und durch mich. In meinem Herzen habe ich Ehebruch begangen und die Sünden der Väter vererben sich auf die Kinder, deshalb lasst die kleinen Kinder zu Ihm kommen, denn wer sich über eines dieser Kleinen entrüstet, den möge ein Mühlstein in das tiefe Wasser ziehen. Ein Ehebrecher ist auch ein Mörder, deshalb habe ich in meinem Herzen die kleine Bettina getötet und der Sold der Sünde ist der Tod, doch wer an Ihn glaubt, geht nicht verloren, denn Er ist die Auferstehung und das Leben.«

Thorsen schüttelte den Kopf. »Man hört doch, dass der Mann total verrückt war. Das ist sonnenklar.« Plötzlich verstummte er, ihm war ein Gedanke gekommen. »Ob sie das gemeint hat?«

»Wer?«, sagte Therkelsen. »Wer hat was gemeint?«

»Seine Frau«, sagte Thorsen. »Jens Olsens Frau. Ich habe noch kurz mit ihr gesprochen und da hat sie gesagt, dass er das nicht getan hat. Zuerst hat mich das verwirrt, weil ich dachte, sie meinte das andere, das Gemetzel, aber dann hat sie gesagt, dass er nichts mit dem Mädchen zu tun hatte.«

»Mich würde interessieren, ob er mit ihr darüber gesprochen hat«, sagte Therkelsen.

»Das werden wir wohl nie erfahren«, meinte Thorsen.

»Mit wem kann er sonst gesprochen haben?«, fragte Høyer.

Thorsen zuckte mit den Schultern. »Mit niemandem, denke ich. Er war, wie gesagt, ein sehr stiller Mensch.« Er dachte kurz nach. »Es sei denn, er hat sich dem Pfarrer – oder wie sie ihn nennen – anvertraut. Dem Missionar. Sie waren ja Mitglieder irgendeiner Sekte. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass er mit ihm geredet hat. Obwohl ... der hätte ihm das doch bestimmt ausgeredet. Aber das mit Bettina ... nein, das glaube ich nicht. Nicht Jens Olsen. Das ist absolut unwahrscheinlich. Außerdem hat er kein Auto. Und sie ist doch von einem Auto mitgenommen worden, nicht?« .

»Ja«, räumte Therkelsen ein. »Aber wenn der Mann selbst schreibt, dass ... Glaubst du, er kann sich ein Auto geliehen haben?«

»Ich glaube nicht einmal, dass er einen Führerschein hatte. Oder ... doch, den hat er bestimmt gemacht, als er Soldat war. Ja, er muss einen Führerschein gehabt haben, aber ich habe ihn seit seinem Unfall nicht mehr fahren sehen.«

»Hm«, sagte Høyer. »Wo wohnt dieser Pfarrer oder Missionar oder wie auch immer er genannt wird?«

»Im letzten Haus rechts, wenn man Richtung Osten aus der Stadt fährt«, sagte Thorsen. »Ein großer, weißer Hof mit einer Scheune, die zum Weg hin liegt. Er heißt übrigens Carl Hansen.«

»Was ist er für ein Mensch?«, fragte Therkelsen.

»Tja, was ist er für ein Mensch?«, sagte Thorsen und kam mit einer seiner Kurzbeschreibungen. »Ein richtiger Supertyp.«

Therkelsen zog verblüfft die Augenbrauen hoch und Thorsen fügte hinzu: »Aber ich mag ihn nicht besonders. Scheinheilig ist er und selbstgefällig. Er glaubt, dass für ihn im Himmel ein Platz reserviert ist.«

»Glaubst du, dass er uns erzählen wird, ob Jens Olsen sich ihm anvertraut hat?«

»O ja, mehr als gerne«, meinte Thorsen. »Wenn er sich dadurch wichtig vorkommen kann.«

»Scheint ein charmanter Typ zu sein«, meinte Therkelsen. »Er heißt wohl nicht zufällig Bækgaard? Man könnte meinen, er gehört zur Familie.«

»Nein, habe ich nicht gesagt, dass er Carl Hansen heißt?«, fragte Thorsen verständnislos.

»Doch, hast du«, sagte Høyer. »Kümmer dich nicht um ihn. Auf alles, was auch nur im Entferntesten mit Bækgaard zu tun haben könnte, reagiert er absolut allergisch.«

Es war ein vierflügeliger Hof mit einem langen, niedrigen Herrenhaus rechts von der Einfahrt. Alles sah nach Wohlstand aus. Der Kontrast zu dem beengten Anwesen, von dem sie kamen, war überwältigend.

Carl Hansen öffnete ihnen selbst. Nach Thorsens Beschreibung des Mannes hätte Høyer vorbereitet sein müssen, aber er hatte trotzdem einen etwas asketischeren Menschen erwartet. An Carl Hansen war nichts Asketisches. Er war nicht nur fett, er glänzte geradezu. Als würde das Fett langsam schmelzen und durch die Haut nach außen drängen. Ein Rand sandfarbenen Haars umrahmte die blanke Glatze und verlieh ihm das Aussehen eines frivolen Mönchs. Seine Stimme war leise und salbungsvoll und passte zu dem jovialen Äußeren wie ein McCloudhorn zu einem Omnibus.

Høyer kam zu dem Schluss, dass Carl Hansen nicht sein Fall war.

Hansen führte sie ins Wohnzimmer, und sobald sie Platz genommen hatten, unterrichtete ihn Høyer so kurz wie möglich über den Stand der Dinge. Der Mann faltete stumm die Hände und saß lange mit geschlossenen Augen da. Høyer und Therkelsen wechselten einen Blick. Betete er oder war das Ganze nur Show?

Schließlich öffnete er die Augen und sah sie an. »Die Wege des Herrn sind unergründlich«, sagte er langsam. Seine Stimme schlang sich um die Worte wie eine Kuhzunge um ein Grasbüschel. »Aber warum kommen Sie zu mir?«

»Weil Jens Olsen einen Brief hinterlassen hat, dessen Bedeutung uns nicht ganz klar ist«, sagte Høyer. »Wir könnten uns vorstellen, dass er sich Ihnen anvertraut hat. Sie sind doch für Ihre Gemeinde sicher auch so eine Art Seelsorger, oder?«

Carl Hansen wirkte so altmodisch pfarrerhaft, dass Høyer einen Moment überlegt hatte, ob er ihn nicht mit ›Herr Pfarrer‹ anreden sollte, war jedoch zu dem Schluss gekommen, dass ›Herr Hansen‹ trotz allem angemessen war.

»Seelsorger ist wohl nicht das richtige Wort«, sagte Carl Hansen. »Wir sind der Auffassung, dass der Herr für unsere Seelen sorgt. Das ist nicht Sache der Menschen. Aber es stimmt, dass meine Brüder und Schwestern im Herrn sich mir hin und wieder anvertrauen, wenn sie Zweifeln und Anfechtungen ausgesetzt sind«, fügte er mit einem kleinen, selbstzufriedenen Lächeln hinzu.

Therkelsen sah zu Høyer hinüber. Hier also hatte Jens Olsen seine merkwürdige Sprache her.

»Sie könnten den Brief ja einmal lesen«, schlug Høyer vor. »Und sehen, ob er Ihnen etwas sagt.«

Er reichte den Brief Carl Hansen, der eine Brille aus der Brusttasche fischte und aufsetzte, bevor er mit kleinen murmelnden Mundbewegungen las. Er las den Brief zweimal, dann ließ er ihn sinken.

»Ach ja«, seufzte er. »Ja, das ist leider nur allzu klar.« Høyer sah ihn eindringlich an. »Was heißt das?«, fragte er.

Carl Hansen reichte ihm den Brief, lehnte sich ein wenig im Stuhl zurück und legte die Fingerspitzen gegeneinander.

»Also, Jens Olsen ist zu mir gekommen ... ja, das muss einen Monat her sein. Vielleicht auch länger. Er hatte ein Problem.« Er machte eine kleine Pause. Dann fuhr er fort: »Hier muss ich wohl hinzufügen, dass seine Frau eine Tochter aus erster Ehe hatte. Ein achtzehnjähriges Mädchen.« Er verzog den Mund, als würde er etwas Unangenehmes schmecken. »Jens Olsens Frau gehörte nicht zu unserer Gemeinde, als sie geheiratet haben. Ich habe gehört, aber das ist wohl nur Gerede, dass ihr erster Mann nicht der Vater des Mädchens sein soll. Karen Olsen war ja auch noch recht jung, als sie es bekommen hat.« Er dachte einen Moment nach und nahm dann den Faden wieder auf. »Diese Tochter war in den Weihnachtsferien zu Hause und ... na ja, sie ist ein ziemlich hübsches Mädchen, vielleicht ein wenig zu rund und ein wenig zu ..., aber sehr hübsch, wie gesagt. Und Jens Olsen hat mir anvertraut, dass sie ... Wie soll ich das ausdrücken? ... Ja, dass sie Gedanken in ihm geweckt hat, die ... na ja, kurz gesagt, unanständige Gedanken. Er stand zu ihr schließlich in loco parentis. An Vaters statt.«

»War sie schwanger?«, fragte Therkelsen.

»Schwanger!« Carl Hansen sah ihn schockiert an. »Nein, nein. Nein, davon konnte nicht die Rede sein ... nein, überhaupt nicht. Jens Olsen hat sich vielleicht seine Gedanken gemacht, aber dabei ist es bestimmt auch geblieben.«

Wer weiß!, dachte Therkelsen, unterließ es jedoch, das auszusprechen. Er war sich nicht sicher, ob es gut ankommen würde.

»Ja, aber wo lag dann das Problem?«, fragte Høyer verständnislos. »Wenn doch nichts passiert ist?«

»Er hat in seinem Herzen gesündigt«, erklärte Carl Hansen geduldig. »Ich glaube, darüber war er sich auch selbst im Klaren. Und darin konnte ich ihn nur bestätigen.«

»Was heißt das?«, fragte Høyer.

»Ich habe ihm erklärt, dass er in seinem Herzen Ehebruch begangen hat und dass das eine ebenso große Sünde ist, als wenn er es wirklich getan hätte, und dass er den Herrn bitten muss, den Dämon aus ihm zu vertreiben.«

»Haben Sie das wirklich gesagt?« Høyer sah ihn ungläubig an.

»Das habe ich, denn so ist es«, sagte Carl Hansen mit fester Stimme. »Ich habe ihm auch gesagt, dass vor dem Herrn alle Gebote gleich wichtig sind und dass er nicht besser ist als jemand, der das fünfte Gebot übertreten hat. Wie zum Beispiel der Mensch, der die kleine Bettina ermordet hat. Das war ja gerade zu der Zeit, als viel über den Fall gesprochen wurde«, fügte er erklärend hinzu.

»Das war vielleicht nicht ganz das, was zu hören er gebraucht hätte«, sagte Høyer. »Das war keine große Hilfe für ihn.«

»Ich bin, wie gesagt, kein Seelsorger«, sagte Carl Hansen gänzlich unbeeindruckt. »Ich konnte ihm nicht mehr sagen, als dass er beten und seine Sünden bereuen soll.«

Høyer musste sich beherrschen, keine Grobheit zu erwidern. Er hatte das Bedürfnis, dem Mann in sein selbstzufriedenes, glänzendes Gesicht zu schlagen. Begriff er wirklich nicht, dass er indirekt schuld an Olsens Tat war? Offenbar nicht.

Høyer atmete tief durch. »Was glauben Sie, hat er damit gemeint, dass er ›die kleine Bettina in seinem Herzen getötet hat‹?«, fragte er.

»Das bedeutet, wie er auch schreibt, dass ein Ehebrecher nicht besser ist als ein Mörder und dass er ein Ehebrecher war, weil er in seinem Herzen Ehebruch begangen hat«, erklärte Carl Hansen.

»Sie glauben nicht, dass er damit sagen wollte, dass er Bettina wirklich getötet hat?«

»Kaum.«

»Würde er sich in dem Fall auch so ausdrücken?«, fragte Høyer leicht irritiert.

»Das weiß ich nicht. Ich kann nicht in die Herzen der Menschen hineinsehen.«

Høyer gab es auf, auf diese Weise weiterzukommen.

»Wie Sie sicher wissen, ist Bettina ungefähr fünfzehn Kilometer von hier entfernt verschwunden und wir sind der Meinung, dass ein Auto sie mitgenommen hat. Jens Olsen hatte selbst kein Auto, aber es wäre denkbar, dass er sich eins geliehen hat. Wissen Sie, ob er sich manchmal ein Auto gemietet oder geliehen hat?«

»Das hat er nicht. Er brauchte keins. Aber es ist vorgekommen, dass er für andere gefahren ist. Er hat zum Beispiel meine Frau gefahren, als ich letztes Jahr im Krankenhaus lag.«

»Wann war das?«, fragte Therkelsen.

»Ja, lassen Sie mich nachdenken. Ich bin zu Heiligabend entlassen worden und habe fast vier Wochen im Krankenhaus gelegen. Ich wurde wegen eines Bruchs eingeliefert, aber es stellte sich heraus, dass ich auch Zucker habe.«

Über seine Krankheit sprach er in demselben salbungsvollen Ton.

»Und sonntags hatten Sie vermutlich Besuch?«

»Den hatte ich fast jeden Tag«, sagte er.

»Und Jens Olsen hat Ihre Frau gefahren?«

»Nicht jeden Tag. Nur samstags und sonntags, weil da kein Bus fährt. Meine Frau hat natürlich einen Führerschein, aber sie fährt nicht gerne im Winter, deshalb hat sie in der Woche den Bus genommen.«

»Aber samstags und sonntags hat Jens Olsen sie gefahren. War er da die ganze Zeit mit Ihrer Frau und Ihnen zusammen?«

»Nein, das war er nicht. Er kam immer mit rauf, um mich zu begrüßen, aber in der Regel ist er dann wieder gegangen und hat in der Vorhalle gewartet. Es kam auch vor, dass er seine Schwester besucht hat, wo er schon einmal in der Stadt war.«

»Und dazu hatte er sich Ihr Auto geliehen?«

»Ja. Aber ich kann nicht ernsthaft glauben ...«

Carl Hansen klang plötzlich ganz menschlich.

»Wann pflegte Ihre Frau wieder nach Hause zu fahren?«, fragte Høyer.

»Das war unterschiedlich. In der Regel war sie den ganzen Nachmittag bei mir, aber sie sind immer so gefahren, dass sie am Abend wieder zu Hause waren.«

»Erinnern Sie sich, wann sie am ersten Sonntag im Dezember aufgebrochen sind?«

»Nein, das kann ich nicht. Nicht aus dem Stegreif. Nein, das kann ich nicht. Ich bin aber ziemlich sicher, dass meine Frau ..., nur ist sie im Moment leider nicht zu Hause. Sie kann sich bestimmt daran erinnern. Sie hat ein phänomenales Gedächtnis.«

»Was für ein Auto fahren Sie?«, fragte Therkelsen.

»Einen Opel Rekord«, antwortete Carl Hansen. »Einen Opel Rekord, Baujahr 1955.«

»Baujahr 1955!«, rief Therkelsen ungläubig.

»Ja«, sagte Carl Hansen. »Baujahr 1955. Aber ich habe nichts davon gehört, dass ... ich meine, es war doch von keinem bestimmten Auto die Rede.«

»Nein«, sagte Høyer. »Das war es nicht. Noch nicht.«

Sie warfen einen Blick in die Scheune, bevor sie zurückfuhren. Da stand der Opel Rekord. Frisch geputzt und blank gewienert und noch mit dem Originallack. Therkelsen sah auf den Kilometerzähler.

»Knapp achtzigtausend«, sagte er. »Ich möchte darauf wetten, dass der bei Regenwetter nicht vor die Tür kommt!«

»Und wenn doch, wird er anschließend gewaschen«, sagte Høyer mit einem kleinen Lächeln.

»Was für ein widerlicher Typ«, sagte Therkelsen, als sie sich in ihr eigenes Auto setzten.

»Jedenfalls hat er das Fass zum Überlaufen gebrächt«, sagte Høyer. »Ist dir eigentlich aufgefallen, dass alle seine Formulierungen fast wortwörtlich in Jens Olsens Brief vorkommen? Nur ein bisschen abgewandelt.«

»Ja, und ob!«, sagte Therkelsen. »Was war das eigentlich für ein Ausdruck, den er da gebraucht hat? Das mit ›an Vaters statt‹?«

Høyer lachte. »In loco parentis. Ich denke, das bedeutet an Elternstelle, aber ich kann kein Latein, deshalb ist es möglich, dass er Recht hat. Auch wenn ich nicht darauf wetten würde, dass er Latein kann. Ich würde aber darauf wetten, dass er es aus Stilk und Kompanie hat. Das habe ich selbst.«

»Und was ist Stilk und Kompanie?«, fragte Therkelsen.

»Du willst doch nicht behaupten, dass es das zu deiner Zeit nicht gegeben hat. Das ist ein Jungenbuch.«

»Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern«, sagte Therkelsen.

»Dann hast du es auch nicht gelesen«, sagte Høyer. »Sonst könntest du dich daran erinnern.«

Therkelsen war in Gedanken versunken.

»Die Frage ist, ob die Stieftochter überhaupt das eigentliche Problem war. Aber ...«

»Genau«, unterbrach ihn Høyer. »Oder ob es etwas ganz anderes war. Etwas viel Ernsteres.«

»Ihm stand schließlich ein Auto zur Verfügung«, dachte Therkelsen laut. »Mehr oder weniger.«

»Ja, aber vielleicht nicht zu dem Zeitpunkt. Das wird uns Carl Hansens Frau hoffentlich morgen sagen können. Und außerdem ist es nicht ausgeschlossen, dass Karen Olsen wieder zu Bewusstsein kommt und uns das eine oder andere erzählen kann.«

»Thorsen schien nicht daran zu glauben, dass sie es schafft«, sagte Therkelsen.

»Man kann nie wissen«, sagte Høyer. »Vielleicht ist es nicht ganz so schlimm, wie es aussah. Wir können zumindest anrufen und hören, was die Arzte sagen. Wenn sie nicht schon ...«

»Und dann sollten wir uns den Fall Bettina wohl noch einmal vornehmen«, sagte Therkelsen. Er schwieg kurz, dann fuhr er fort. »In gewisser Weise wäre es gut, wenn er es war. Ich meine, dann wäre der Fall endlich abgeschlossen.«

Høyer nickte. Zweifellos wäre das gut. Dies war einer der Fälle, an die er nicht gerne dachte. Es gab zu viele lose Enden und insgeheim meinte er, dass das zum Teil an der Polizei lag.

Er seufzte leicht.

Høyer setzte einen Schlusspunkt unter das Protokoll und las es schnell noch einmal durch, dann griff er nach dem Telefonbuch und suchte die Nummer des Krankenhauses heraus.

Eine helle, leicht abgehetzte Stimme meldete sich. Die Person war nicht sonderlich mitteilsam, aber vielleicht gab es darüber hinaus, dass Karen Olsen gerade aus dem OP auf die Intensivstation gebracht worden war und möglicherweise eine Überlebenschance hatte, auch nicht viel zu sagen.

»Tja«, sagte Therkelsen, als Høyer es ihm erzählte. »Vielleicht sollte man ihr gar nicht wünschen, dass sie durchkommt.«

»Vielleicht«, sagte Høyer. »Andererseits ... es ist schon erstaunlich, was ein Mensch aushalten kann.«

»Ja, aber trotzdem«, wandte Therkelsen ein. »Vier Kinder! Da muss sie doch den Verstand verlieren!«

»Vielleicht«, sagte Høyer.

»Fährst du morgen hin?«, fragte Therkelsen.

»Ja, ich denke, ich werde morgen früh vorbeischauen. Es liegt sowieso fast auf dem Weg.« Plötzlich fiel Høyer etwas ein. »Übrigens, sag mal, diese Tochter, von der Carl Hansen gesprochen hat, man hat sie doch hoffentlich benachrichtigt?«

»Du kannst ganz beruhigt sein. Dafür hat Thorsen gesorgt. Auf ihn ist Verlass.«

»Ja, er ist okay. Weiß Gott, wen wir bekommen, wenn er geht.«

»Keinen neuen Thorsen«, sagte Therkelsen. »Dieses Modell wird nicht mehr hergestellt. Wir gehören zu den letzten.«

»Angeber!«, lachte Høyer. Er sah auf seine Uhr. Es war fast sieben.

»Nun, lassen wir es für heute gut sein«, sagte er. Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und streckte sich ausgiebig. Dann stand er auf und nahm seinen Mantel.

»Willst du nicht mit zu uns zum Essen kommen?«, fragte Therkelsen.

Einen kurzen Moment geriet Høyer in Versuchung. Der Gedanke, in ein leeres Haus zu kommen, war nicht sehr verlockend. Aber Therkelsens Kinder waren heute Abend auch nicht sein Fall. Er schüttelte den Kopf. »Nein danke. Heute nicht. Ich denke, ich nehme ein schönes warmes Bad und gehe zeitig ins Bett.«

Er ging zum Schreibtisch und griff nach Sofies Osterbrief. Einen Augenblick stand er gedankenversunken da. Sofie war ein Jahr alt. Etwa im gleichen Alter wie das Baby im Doppelbett. Unfassbar.

Er räusperte sich und steckte den Brief sorgfältig in seine Mappe. Und er hatte heute Morgen gesagt, dass das ein guter Tag werden würde.

Nein, der Mittwoch war und blieb ein grauer Tag.

Volles Haus - Skandinavien-Krimi

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