Читать книгу Die Nachsitz-Profis. Allein unter Schnappschildkröten - Kirsten John - Страница 6

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»Das ist jetzt nicht dein Ernst.« Clara starrt auf das düstere, menschenleere Gebäude, das vor ihr aufragt, seine von Efeu bewachsenen Backsteine, die blicklosen Fenster. Noch nie ist ihr die Schule so verloren vorgekommen. So einsam. Es hat die ganze Nacht über geregnet und auf den Scheiben glitzern Wasserschuppen. »Ich kann das nicht glauben!«

»Solltest du besser.« Ihre Mutter zupft sich einen unsichtbaren Fussel von der Bluse. Ihre Perlenkette klackert, als sie dagegenstößt. »Das hast du dir alles selbst zuzuschreiben.« Sie lässt den Motor des Autos laufen, um deutlich zu machen, wie eilig sie es hat. Dass sie Besseres zu tun hat, als ihre Tochter an einem Samstag zur Schule fahren zu müssen. Sie hat noch einen Termin beim Friseur, im Sportclub, ist mit Freundinnen zum Essen verabredet. Es ist klar, dass sie Clara nur absetzen wird vor dieser einsamen, schuppigen Schule und keineswegs die Absicht hat, sie hineinzubegleiten.

»Aber es regnet!«, versucht Clara es ein letztes Mal. »Man kann im Regen keinen Garten umgraben!«

»Ihr sollt keinen Garten umgraben, ihr sollt ihn gestalten.«

»Das kann man bei Regen auch nicht.«

»Das hast du dir selbst zuzuschreiben«, entgegnet ihre Mutter nur und Clara sagt: »Na toll.« Sie steigt aus dem Auto und schmeißt die Autotür so fest zu, wie sie nur kann. »Na toll!«, schreit sie dem davonbrausenden Wagen noch einmal hinterher.

Das Backsteingebäude vor ihr ist dunkel vor Nässe, das Efeu hängt an ihm wie eine Eidechsenhaut. Eine Schule an einem unterrichtsfreien Tag ist nicht einfach ein leeres Gebäude. Es ist völlig verändert. Muss nicht mehr die vielen Kinder erdulden, die wie Mäuse in seinen Gängen umherhuschen, den Schulhof verwüsten, überall Kakaobecher hinschmeißen oder die Wände bekritzeln. Muss nicht all die vielen Tritte und das Türenschlagen ertragen, das ihm den Mörtel aus den Fugen bröckeln lässt. Oh nein. Ein Schulgebäude, das freihat, ist groß und mächtig und überhaupt nicht zu Scherzen aufgelegt. Es könnte Kinder verschlucken und nie wieder auftauchen lassen, so sieht es nämlich aus.

»Na toll«, murmelt Clara ein drittes Mal, packt ihre Tasche fester, die sie sich umgehängt hat, und geht auf den höhnisch grinsenden Eingang zu.

Die Tür knarzt beim Öffnen, was Clara vorher noch nie bemerkt hat, ein Geruch von Reinigungsmitteln und Feuchtigkeit schlägt ihr entgegen. Ihre Schuhe quietschen auf dem Boden. Der dunkle Messingkopf der Schulgründerin, der in der Eingangshalle aufgestellt ist, sieht sie mit blinden Augen an.

»Ha… hallo?«, ruft Clara in das Gebäude, doch natürlich antwortet ihr niemand. Nur die Bilder, die an der Wand im Flur hängen und auf denen Umrisse von Händen zu sehen sind, rascheln leicht, als wäre irgendwo Wind. Sie eilt an der Cafeteria vorbei und den Flur entlang, während die Hände ihr winken. Claras Schuhe quietschen immer schneller und fast rennt sie auf die Tür zu, die zum Musikpavillon führt. Mit klopfendem Herzen zwingt sie sich, langsamer zu werden. Hier im Gang fällt durch die großen Fensterscheiben rechts und links mehr Licht herein, auch wenn der Ausblick auf den Betonhof deprimierend ist. Der Regen malt schräge Striche in das Grün der Bäume, auf einer großen Pfütze schwimmt ein leerer Kakaobecher. »Na toll«, murmelt Clara ein allerletztes Mal, dann atmet sie aus und drückt die Klinke der Tür zum Musiksaal herunter.


»Du kommst zu spät«, begrüßt sie die streng aussehende Frau Seifert. Das strenge Aussehen hat sie ihrer Frisur zu verdanken, in der keine Strähne am falschen Platz sitzt, sich keine noch so vorwitzige Locke krümmt. Ihre Haare türmen sich zu einer sandfarbenen, uneinnehmbaren Burg, die von einer roten Schleife gekrönt wird. Als würde ihre Erbauerin jeden Morgen eine Siegesfahne hissen.

»Es hat nicht geklingelt«, erwidert Clara als Entschuldigung und starrt zur Siegesschleife hinauf.

»Es wird auch nicht klingeln. Die Klingel hat frei. Im Gegensatz zu mir.« Die Lehrerin scheint nicht erfreut darüber. »Setz dich«, befiehlt sie und deutet auf die hölzernen Sitzreihen vor ihr, die wie in einem Kino stufenweise ansteigen.

Clara geht zu einem Platz in der ersten Reihe, klappt den Stuhl herunter und setzt sich auf seine äußerste Kante, ohne sich anzulehnen. Die Stühle, unter denen die Kaugummis von Generationen von Schülern kleben, sind mit Vorsicht zu behandeln. In die Lehnen sind Initialen und Herzen eingeritzt, und wenn man nicht aufpasst, bleibt man mit seinem T-Shirt oder seiner Bluse daran hängen. Mit steifem Rücken blickt Clara sich um.

Es ist dämmerig und stickig. Einige der senfgelben bodenlangen Vorhänge sind halb zugezogen, vielleicht, damit man den verhangenen Himmel nicht so sieht. Die Holzpaneele an den Wänden wirken heute beinahe grau und der Flügel, der in der Mitte des Raums steht, ist mit einer schwarzen Haube abgedeckt.

Überrascht stellt Clara fest, dass außer ihr noch drei Kinder im Saal sind. Ihre Mutter hat nur von zwei Mitschülern gesprochen, die wie sie zum Nachsitzen verdonnert wurden: »Einer aus deiner Bläserklasse. Und dieser Nette, dessen Familie im Argusweg wohnt, du weißt doch?«

Der aus ihrer Bläserklasse ist Felix, er trägt eine Brille und ein Sweatshirt mit drei verschiedenfarbigen Fragezeichen drauf. Er spielt Waldhorn und starrt ansonsten ständig auf sein Handy, viel mehr weiß Clara nicht über ihn.

Der Nette-dessen-Familie-im-Argusweg-wohnt ist Julian. Tatsächlich ist er nicht besonders nett, und wo er wohnt, ist Clara piepegal. Nur ihrer Mutter ist so etwas wichtig. Sie hat irgendwann einmal den Straßenplan der Stadt auswendig gelernt, mit den Grundstückspreisen verglichen und kann jetzt aus dem Namen der Straße auf das Wohngebiet und damit auf das Einkommen und den Beruf der Bewohner schließen. Und damit darauf, ob sie nett sind oder nicht. Wer in der richtigen Gegend wohnt, ist nett. Der Argusweg ist die richtige Gegend.

Zu dritt sollen Felix, Julian und sie den Schulgarten »gestalten«, was immer das bedeuten soll. Als Strafarbeit, auch wenn sie es nicht so nennen dürfen: Es ist ein »freiwilliger sozialer Beitrag zum Jubiläumsfest der Schule«, sozusagen eine AG. Genauer gesagt: eine Strafgefangenen-AG, bei der sie entweder mitmachen, oder sie werden zeitweise vom Unterricht ausgeschlossen.

Doch da ist noch eine vierte, zusammengekrümmte Gestalt, die in der hintersten Reihe ganz oben sitzt, das lange Haar hängt ihr wie ein Vorhang vor ihrem Gesicht herunter. Neugierig fragt sich Clara, was sie wohl angestellt haben mag, als das Streitgespräch zwischen Frau Seifert und Julian ihre Gedanken unterbricht und ihren Blick wieder nach vorne lenkt.

»Julian, nimm das Kopftuch ab.«

»Kopftuch? Das ist ein Bandana!«

»Was auch immer es ist: Es hat auf deinem Kopf nichts zu suchen. So. Wir sind jetzt vollzählig. Herzlich willkommen also zu eurem Beitrag zum Jubiläumsfest unserer Schule, der genauso freiwillig ist wie mein Erscheinen heute.« Die Lehrerin lehnt am abgedeckten Flügel und rümpft die Nase. »Ihr sollt den Schulgarten gestalten, der bislang nur ein Misthaufen ist und zudem noch von bissigen Schnappschildkröten bevölkert wird. Passt also auf eure Finger auf.« Der Gedanke an die Schildkröten scheint sie aufzuheitern, denn ihre Gesichtszüge entspannen sich für einen kurzen Augenblick. Dann jedoch blickt sie wieder finster. Sie hat Clara entdeckt, die sich kerzengerade und mit hochgerecktem Finger meldet.

»Es regnet«, sagt Clara, als Frau Seifert keinerlei Anstalten macht, sie aufzurufen.

Frau Seifert zieht eine Augenbraue nach oben. »Und?«

Clara starrt sie an. »Da werden wir nass.«

»Und?« Frau Seifert hebt auch die andere Augenbraue.

»Wir werden nass!«, beharrt Clara, denn damit ist ja wohl alles gesagt.

»Clara wird dann dreckig«, ertönt es hinter ihrem Rücken von Julian. »Ihre Sachen werden dreckig.«

Er klingt gar nicht nett, Argusweg hin oder her, aber wo er recht hat, hat er recht. Auch wenn er es komisch betont. Also nickt Clara und nimmt den Arm wieder runter.

Abschätzend richtet Frau Seifert ihren Blick auf Claras nagelneue Designerjeans mit den kunstvoll arrangierten Löchern. »Na, dann ist es doch nur gut, dass du deine kaputten Klamotten angezogen hast«, sagt sie und stellt damit in einem einzigen Satz ihre Unkenntnis in Sachen Mode unter Beweis.

Erschüttert sinkt Clara gegen die Rückenlehne.

»Noch irgendwelche Einwände?« Die Lehrerin reckt die Nase in die Luft und lässt den Blick über die Stuhlreihen gleiten, als säße noch ein Haufen unsichtbarer Kinder vor ihr, die sie mit Gartenarbeit beglücken könnte, und nicht nur Clara, Julian, Felix und die Gestalt mit den langen Haaren.

»Wir brauchen Schaufeln«, sagt Julian. »Und Harken und so ’n Zeugs. Ich helfe meinem Opa immer im Garten und der hat jede Menge davon. Auch Scheren. Wir brauchen unbedingt Scheren.«

»Noch etwas, Julian? Ich könnte eine Liste machen.« Frau Seifert wirkt kein bisschen so, als würde sie das ernst meinen, was Julian allerdings nicht aufzufallen scheint.

»Ein Rasenmäher wäre nicht schlecht. Und eine Motorsäge. Au ja, kriegen wir eine von diesen coolen Kettensägen?«

»Sicher«, entgegnet Frau Seifert.

»Mega«, sagt Julian, woraufhin Clara sich zu ihm umdreht und ihm einen Vogel zeigt. »Was denn?«

Frau Seifert seufzt. »Ihr bekommt natürlich keine Kettensäge und unterlass das bitte, Clara. Aber eine Schaufel sollte wohl aufzutreiben sein. Sonst noch Fragen oder Wünsche?« Es klingt gefährlich. So als hätte man besser keine.

Trotzdem meldet sich Felix. »Wir brauchen einen Plan. Wie wir den Garten anlegen, wo die Wege sind und was wir wohin pflanzen und …«

»Wunderbar«, unterbricht Frau Seifert ihn völlig desinteressiert. Sie greift nach dem Schlüsselbund, den sie auf den Flügel gelegt hatte. »Ich gehe jetzt und bespreche das mit unserem Hausmeister. Was er euch für Geräte zur Verfügung stellen kann. Ihr macht unterdessen diesen Plan, wobei ihr auf euren Plätzen bleibt, verstanden? Ich bin gleich zurück.«

Mit diesen Worten eilt sie aus dem Raum, die Tür schlägt mit einem satten Schnappen hinter ihr zu. Sofort senkt sich die Atmosphäre des Musiksaals wie eine muffige Decke auf die Kinder, Staub tanzt in der Luft, ein Stuhl knarrt. In den Ecken huschen die Wollmäuse.

Julian streift durch die Sitzreihen. Er hat sie nicht lange ausgehalten, diese ohrenbetäubende Stille, die stickige Luft und die Schatten überall. Laut gegen die Tische klopfend, schreitet er die Reihen ab, lässt Sitze quietschen, hämmert auf sie ein wie auf einer großen Tastatur, dann rennt er die Stufen nach unten. Mit gekreuzten Armen lehnt er sich gegen den Flügel und sieht zu Felix hoch. »Wir brauchen einen Plan, wir brauchen einen Plan …«, sagt er mit spöttischer Stimme. »Also ehrlich, Alter!«

»Wir sollen auf unseren Plätzen bleiben«, belehrt ihn Clara.

Julian beachtet sie nicht. »Du willst doch nicht wirklich diesen bescheuerten Garten anlegen?«, will er von Felix wissen.

»Ich finde nur, wir sollten unsere Zeit sinnvoll nutzen«, antwortet der.

»Unsere Zeit sinnvoll nutzen«, äfft Julian ihn nach. »Ich glaube, bei dir hakt es!«

Ein deutlich vernehmbares Kichern kommt von der Gestalt aus der letzten Reihe. »Harken ist gut«, sagt eine Mädchenstimme.

Julian wird rot. »Wer hat dich denn gefragt?«, bellt er zu ihr hoch.

Das Kichern verstummt.

»Also, was ist jetzt?«, fährt er fort. »Wir machen doch nicht etwa mit bei dem bescheuerten Gartendingsda?«

»Der Gestaltung«, hilft Clara ihm mit dem Wort.

»Willst du etwa auch gestalten? Es regnet, schon vergessen? Du wirst na-hass! Deine schönen, teuren Markenklamotten werden an dir herunterhängen wie … wie …«, er sucht nach dem richtigen Wort, »… wie Kotze.«

Clara wird rot.

»Kotz-Klamotten«, wiederholt Julian. Mit verschränkten Armen steht er vor dem Flügel und klopft mit dem Fuß einen Takt zu einer nicht hörbaren Melodie. Es darf nicht still sein. Julian hasst Stille.

»Ich finde nur«, sagt Felix in das Klopfen hinein, »man könnte was aus dem Garten machen.«

»Was aus ihm machen? Hast du dir das Ding mal angesehen?« Julian lacht spöttisch und deutet in Richtung Fenster.

Natürlich kennt jeder den Garten, der sich bananenförmig um den ebenfalls halbrunden Musikpavillon erstreckt. Falls man ihn denn überhaupt Garten nennen kann. Eigentlich ist es nur eine Ansammlung von Büschen und stakeligen Bäumen, in deren Mitte ein viereckiges Betonbecken eingelassen ist, das eingezäunt ist und leicht abfällt. Darin befinden sich die Schildkröten. Sie können raus- und reinklettern und es gibt eine Schildkröten-AG, die sie füttert.

»Also, ich mache mir garantiert nicht die Finger dreckig«, beschließt Julian, dreht sich um und schickt sich an, auf den Flügel zu klettern. »Aus! Lass das!«, ruft in diesem Augenblick das Mädchen aus der letzten Bank.

Julian rutscht vor Verblüffung herunter, während Clara und Felix sich umdrehen.

Das Mädchen ist aufgestanden und hebt beschwichtigend die Hände. Die Haare hängen ihr immer noch ins Gesicht, auch wenn man jetzt wenigstens ihre Nase sehen kann. »Schon gut, schon gut, er tut euch nichts. Er wollte nur mal schnuppern.«


»Wer? Julian?«, fragt Clara verdattert, doch Felix schüttelt den Kopf. Er sieht wieder nach vorne, zieht sein Handy aus der Tasche.

»Sie meint ihren Hund. Fee hat einen unsichtbaren Hund«, sagt er ausdruckslos und hält sein Handy hoch.

»Fee?«, fragt Clara nach.

»Unsichtbar?« Das kommt von Julian.

»Er ist nicht unsichtbar«, erklärt das Mädchen und setzt sich wieder.

»Aha«, macht Julian und sieht fragend zu Clara, die mit den Schultern zuckt.

Natürlich kennt sie das Mädchen, es geht in dieselbe Parallelklasse wie Felix. Sie hat lange, ungepflegte Haare und trägt selbst gestrickte Pullover. Clara und ihre Freundinnen aus der Hockeymannschaft haben schon ein-, zweimal Sprüche darüber gemacht. Vielleicht öfters. Vielleicht etwas lauter, denn einmal ist sie knallrot geworden und weggerannt. Sie ist aber auch selbst schuld – selbst gestrickte Pullover, hal-lo-hooh, geht es noch?

»Wo ist denn dein nicht-unsichtbarer Hund?« Julian tut so, als würde er ihn locken. »Hierher, Fifi, hierher!«

»Keine Chance«, sagt Fee. »Nur sensible, intelligente Menschen können ihn sehen.«

Julian stutzt und muss überlegen, ob das jetzt eine Beleidigung war.

Clara grinst. »Oh, hallo, du bist ja ein Hübscher«, sagt sie in die Luft zu ihrer Seite.

»Er ist wieder hier oben bei mir«, kommt es säuerlich zurück.

»Könnten wir jetzt mal den Plan machen?«, fragt Felix, das Handy suchend nach oben gereckt.

»Können wir nicht«, erwidert Julian bockig.

»Es regnet«, erklärt Clara noch einmal, als würde das nicht nur ihre Untätigkeit in Bezug auf Pläne, sondern sowieso alles erklären.

»Mein Hund findet Pläne doof«, gibt Fee zum Besten, worauf Felix ruhig ist. Gegen unsichtbare Hunde lässt sich nur schwer argumentieren.

Eine ganze Weile und Millionen schweigsamer Sekunden später ist Frau Seifert immer noch nicht zurück.

»Okay, okay«, gibt Julian auf, der weder Stille noch Untätigkeit besonders gut aushält, »wir machen diesen Plan.«

»Was?« Claras Kopf schnellt hoch. Sie hat gerade ihren Fingernägeln beim Wachsen zugesehen. Dass Julian seine Meinung geändert hat, trifft sie völlig unvorbereitet. »Warum denn plötzlich?«

»Weil wir uns hier sonst zu Tode langweilen.«

»Das stimmt«, sagt Felix in ihrem Rücken. »Hier ist nämlich kein Netz. Was das Leben völlig sinnlos macht.« Klingt so, als meine er das ernst.

»Wir langweilen uns doch nicht«, entgegnet Clara und schüttelt ihren Kopf so heftig, dass ihre Haare fliegen. »Wir können hier sitzen und uns unterhalten. Zum Beispiel.«

»Blödes Beispiel«, lässt sich Fee von hinten vernehmen. Sie hat den Kopf auf die Arme sinken lassen, jetzt richtet sie sich auf. »Gulliver muss auch mal.«

»Gulliver? Ist das dein …«, fragt Julian.

»Frag nicht!«, unterbricht Felix.

»… Hund?«, vollendet Julian den Satz.

»Zu spät«, murmelt Felix und dreht sich dann zu Fee um: »Niemand will deine blöden Hundegeschichten hören, Fee, niemand. Also halt die Klappe.«

Erstaunt sieht Clara von einem zum anderen, während Fee sich wieder auf ihre Arme sinken lässt. Von Felix hätte sie so eine Grobheit nicht erwartet, doch die Netzlosigkeit seines Lebens macht ihn anscheinend reizbar.

»Wenn sie erst mal angefangen hat, hört sie nie wieder auf«, erklärt er und steht auf, während er sein lebloses Handy in die Hosentasche steckt. »Also los. Lasst uns …«

Doch in diesem Augenblick geht die Tür auf und Frau Seifert kommt hereingestürmt. Ihr Gesicht hat rote Flecken, der Mund ist verkniffen. Die Flagge auf ihrer Turmfrisur signalisiert Angriff. »Felix? Sitzen bleiben, hatte ich gesagt. Das gilt erst recht für dich, Julian. Was hast du hier vorne zu suchen? Kusch!« Mit einer entsprechenden Handbewegung scheucht sie Julian zurück auf seinen Platz.

Felix und Julian setzen sich.

»Ich habe mit Herrn Kratzek gesprochen, er wird euch ein paar Geräte bereitstellen. Und euch auch bei den Arbeiten helfen, schließlich ist er ja der Hausmeister und ich, ich bin nur eine unterbezahlte Lehrkraft, die noch nicht einmal verbeamtet ist, Himmelnocheins und ich habe heute wahrlich Besseres zu tun als …« Plötzlich scheint sie sich ihrer Umgebung wieder bewusst zu werden, denn sie bricht ab und räuspert sich. »Noch Fragen?«

Ratlos sehen die Kinder sie an. Fragen wozu?

»Ihr geht jetzt in den Garten und fangt an. Ich bleibe hier und behalte euch im Auge. Mache das Fenster auf, genau. Das muss reichen. In der Zwischenzeit werde ich … Hefte korrigieren. Das werde ich. Auf geht’s. Raus mit euch!« Geradezu aufgeregt klatscht sie in die Hände, die Flecken in ihrem Gesicht werden noch dunkler, während Clara, Julian, Felix und Fee aus dem Musiksaal marschieren. Es fehlt nicht viel und die Lehrerin hätte sie aus dem Saal geschubst. Wie eine Bäuerin ihre Hennen wedelt sie die Kinder nach draußen, dann fällt die Tür hinter ihnen zu. Ein Schlüssel kratzt im Schloss. Frau Seifert hat sich eingeschlossen!

Sie hat sich eingeschlossen? Verdutzt stehen die Kinder im Halbdunkel, sehen sich an.

»Na dann«, sagt Julian. »Fangen wir eben an.« Alles ist besser, als nur so herumzustehen.


Es regnet. Was ja keine Überraschung ist. Nicht mehr so schlimm wie in der Nacht, mehr so nieselig, aber immerhin ist es feucht genug, dass sich auf Claras roter Wolljacke kleine Wasserperlen sammeln. Zum Glück ist sie imprägniert, was man von Fees Pullover sicher nicht behaupten …

»Clara! Hörst du zu oder guckst du lieber auf deinen Ärmel?«, fragt Julian.

»Ich gucke lieber auf meinen Ärmel. Ihr redet ja eh nur Blödsinn«, erwidert Clara, lässt den Arm aber sinken.

»Wir sollten die Schildkröten einfangen«, sagt Fee gerade. »Gulliver hat Angst vor ihnen.«

»Na, dann sollten wir das natürlich als Erstes tun«, sagt Clara spöttisch.

»Genau.« Fee nickt zufrieden.

»Irgendwelche Freiwilligen?«, fragt Felix.

Die Kinder stehen vor dem verwilderten Teil des Hofs, dem so genannten Schulgarten. Warum man hier überhaupt einen Garten angelegt hat, so eingequetscht zwischen Musikpavillon und Zaun, ist ein Rätsel. Auf jeden Fall sieht er hässlich aus. Nicht nur, dass er kaum mehr als Garten zu erkennen ist, er ist auch noch voller Müll und Zigarettenkippen. Kakaotüten haben sich in den Büschen verfangen, Taschentücher hängen von Zweigen. Irgendjemand hat eine Bananenschale über einen Ast drapiert, ein Bleistift stakt aus dem Erdreich hervor wie eine verkümmerte Pflanze und auf halb vergrabenem Butterbrotpapier krabbelt ein Käfer.

Der Schildkrötenauslauf in der Mitte des Müllgartens bildet die Ausnahme der allgemeinen Verwahrlosung. Anscheinend leistet die Schildkröten-AG gute Arbeit, denn das Gehege der Tiere ist sauber und zwar voller Unkraut, zumindest aber nicht zugemüllt. Im Wasserbecken schwimmt nur ein einzelnes kleines Blatt.

»Schade eigentlich«, murmelt Julian. »Ein paar Zigarettenkippen an der richtigen Stelle und wir hätten keine Probleme mehr mit den Biestern.«

»Machst du es?«, fragt Felix.

»Die Viecher einfangen? Auf keinen Fall.«

»Also, ich habe eine Allergie«, erwidert Felix. »Bleiben nur Clara und Fee.«

»Eine Allergie? Kann man allergisch gegen Schildkröten sein?«, will Clara wissen.

»Oh ja«, sagt Felix bestimmt. »Gegen alle Reptilien. Ich bekomme Albträume davon.«

»Ich könnte es«, behauptet Fee. »Aber ihr müsstet solange auf Gulliver aufpassen, weil er auch eine Allergie gegen Schildkröten hat. Und das wird schwierig, solange ihr ihn nicht seht.«

»Vergiss es.« Felix schüttelt den Kopf.

»Was denn, Alter?« Julian stößt ihn mit dem Ellenbogen in die Seite. »Lass sie doch machen«, raunt er ihm zu.

»Ich unterstütze doch nicht ihre Wahnvorstellungen!«

»Wenn sie dafür die Viecher einfängt?« Julian richtet sich auf. »Klar passen wir auf deinen Hund auf«, sagt er laut. »Nicht wahr, Clara?«

»Nein«, entgegnet die. »Ich fange mit ein. Aber zuerst brauchen wir einen Kescher oder so. Und einen Eimer.« So etwas kann man nur drinnen im Schulgebäude finden und dann wäre die Wolljacke erst einmal raus aus dem Regen und damit gerettet. Außerdem hat sie nichts gegen Schildkröten, ihre Nachbarn haben auch welche. Und auch wenn sie nicht wirklich Ahnung hat, so weiß sie immerhin, dass die hier im Gehege, anders als Frau Seifert behauptet, keine Schnappschildkröten sind. Die sind nämlich verboten. Was nicht heißt, dass normale Wasserschildkröten nicht auch beißen können, aber immerhin bleibt bei denen der Finger dran. »Also was ist, gehen wir?«


Ein Schulgebäude an einem unterrichtsfreien Tag ist unheimlich und leer, eine ausgestorbene Festung voller Gänge und hallender Schritte, in deren Ecken etwas zu lauern scheint. Etwas Altes, Wissendes. Etwas, das schon ganze Generationen von Schülern zum Frühstück verspeist hat und sicher noch Appetit auf einen Nachschlag hat.

Clara beneidet Fee um ihre Schuhe, die nicht zu hören sind. Fee läuft voraus, als würde sie schweben, während ihre eigenen Sneakers quietschende und leicht aufzuspürende Geräusche von sich geben. »Es ist unheimlich«, sagt sie und widersteht dem Drang, ständig über die Schulter zu sehen. Jetzt wäre ihr sogar die Anwesenheit der strengen Frau Seifert recht, die sicher keine Angst in einer leeren Schule hat. Obwohl: »Schon ulkig, dass sie sich eingeschlossen hat, oder?«, fragt sie und blickt sich nun doch um. Nichts, obwohl sie hätte schwören können …

»Ulkig? Frau Seifert?« Fee scheint die gefräßige Schule nicht weiter zu beunruhigen. Unverdrossen schwebt sie voran, der Pullover schlabbert um sie herum wie ein löcheriger, mottenzerfressener Umhang.

Kein Wunder, dass nichts sie fressen will: In dem Ding sieht sie auch wenig appetitlich aus, denkt Clara. »Ja klar, Frau Seifert«, antwortet sie laut. »Sie muss Angst haben. Man schließt sich nur ein, wenn man Angst vor etwas hat.« Damit kennt sie sich aus. Sie macht das auch immer, wenn ihre Eltern ausgehen und sie allein lassen. Sie sei zwar alt genug und bräuchte eigentlich keine Angst zu haben, wie ihr ihre Eltern immer versichern, doch Clara schließt ab und beobachtet so lange die Türklinke ihres Zimmers, bis ihre Eltern wieder da sind. Nur vorsichtshalber.

»Vor was sollte Frau Seifert denn Angst haben?«, fragt Fee.

»Keine Ahnung. Aber sie sah gestresst aus. Hatte überall rote Flecken.«

»Die hat sie immer«, erwidert Fee und schüttelt den Kopf. Ihre Haare fallen ihr dabei ins Gesicht und Clara muss sich beherrschen, um ihr nicht die Bürste anzubieten, die sie immer in der Tasche dabeihat.

Den Gang hinunter, gleich rechts beim Eingang, stehen wie versprochen die Gartengeräte vor dem Glaskasten des Hausmeisters. Zwei Harken, ein Eimer, in dem eine Gartenschere und zwei Schaufeln liegen, dazu noch eine Palette irgendwelcher Blumen.

Clara geht in die Hocke, um die Blumen näher in Augenschein zu nehmen. Sie hebt eines der Töpfchen hoch. »Wir sollten den Jungs Bescheid sagen, dass sie das ganze Zeug hier schon mal … oh.« Die Tür ist aufgegangen. Vor ihr ragt ein Paar lederner Hosenbeine auf. Rasch richtet sie sich auf.

»Hallo, Herr Kratzek«, begrüßt Fee den Hausmeister, der ihre Herzlichkeit nicht erwidert. Der niemandes Herzlichkeit erwidert, zumindest kann man das nicht so genau erkennen, denn er ist reichlich zugewuchert mit seinen langen dunklen Haaren und einem buschigen Vollbart. Außerdem ist er überall tätowiert. Wenn man sich in der Pause einen Kakao oder eine Brezel bei ihm kauft, wird sie einem von der zähnefletschenden Ratte auf seinem rechten Unterarm serviert. Man muss schon mutig oder sehr hungrig sein, um sich bei Herrn Kratzek etwas zu bestellen.

»Oh. Du bist es«, sagt Herr Kratzek und seine Stimme klingt nicht gerade freundlich.

»Keine Sorge«, sagt Fee unbekümmert. »Gulliver ist draußen. Ich weiß ja, dass Sie Hunde nicht so mögen.«

»Sichtbare Hunde mag ich schon«, brummt der Hausmeister und streicht sich über den Bart. »Also, was wollt ihr?«

Clara hält immer noch den Blumentopf mit beiden Händen vor der Brust umklammert. Ihre Mutter hat behauptet, Herr Kratzek hätte ganz sicher mal im Gefängnis gesessen. Wahrscheinlich hat er die Blumen gestohlen.

»Den Schlüssel«, sagt Fee. »Wir brauchen den Schlüssel zur Biologiesammlung, um die Schildkröten ins Terrarium zu bringen.«

Der Hausmeister schnaubt. »Ihr glaubt doch wohl nicht, dass ich euch einen Schlüssel überlasse?«

Nein, daran glaubt Clara nicht eine Sekunde.

Fee allerdings schon. »Wäre am bequemsten. Sie können allerdings auch mitkommen und uns aufschließen«, sagt sie. »Ooooder wir packen die Schildkröten alle in den Eimer hier und bringen sie bei Ihnen vorbei und …«

»Schon gut, schon gut.« Die Aussicht auf einen Eimer voller Schildkröten vor seinem Büro scheint Herrn Kratzek nicht zu gefallen, denn er verschwindet in seinem Glaskasten. Der ist Büro und Wachturm in einem, von hier aus hat er eine gute Sicht auf die Eingangshalle. Dahinter schließt sich seine Wohnung an, in die jedoch kein Schüler je einen Blick hat werfen können. Zumindest keiner, der danach noch davon hätte berichten können … Clara klammert sich fester an ihre Blume.

Als der Hausmeister wieder auftaucht, hält er einen Schlüssel in der riesigen Hand. »Das ist ein Generalschlüssel, Felicitas. Verstehst du das? Wenn der weg ist, bekommst du eine Menge Ärger.«

»Verstehe ich schon.« Fee nickt.

»Und wenn die Schildkröten drin sind, dann bringst du ihn mir wieder, verstanden? Heute ist Fußball.«

»Klar«, sagt Fee, die den Zusammenhang zwischen Schildkröten, Generalschlüssel und Fußball zu verstehen scheint.

Ganz im Gegensatz zu Clara. »Was sollte denn das mit dem Fußball?«, flüstert sie, kaum dass Herr Kratzek in seinem Glaskasten abgetaucht ist und die beiden auf dem Weg zur Biologiesammlung sind. Wieder muss sie sich beeilen, um mit Fees schwebenden Schritten mithalten zu können. Blöderweise hat sie auch noch vergessen, die gestohlene Blume zurückzustellen, was sie jetzt irgendwie zu Herrn Kratzeks Komplizin macht.

»Samstag wird Fußball gespielt. Herr Kratzek guckt das im Fernsehen und wettet darauf«, erklärt Fee, den Schlüssel in der Hand.

Clara wirft ihr einen Blick zu. »Woher weißt du das denn alles?« Sie ist schon ein wenig beeindruckt.

»Ich bin jeden Samstag hier«, entgegnet Fee.

»Weil …?«, fragt Clara, die ein paar Hüpfer macht, um aufzuholen.

»Weil ich ein Problemfall bin. Wegen Gulliver.« Sie sagt es ohne besondere Betonung, als sei das selbstverständlich. »Ich muss so lange kommen, wie ich Gulliver sehen kann.«

»Aha«, erwidert Clara. Mit einem Mal hat sie das starke und beunruhigende Gefühl, als sei Fee in Gefahr, was ulkig ist. Als müsse sie sie vor irgendwem oder irgendetwas beschützen. »Mach dir nichts draus«, sagt sie tröstend. »Gulliver ist eben nur für sensible Menschen zu sehen.« Und das kann ja wohl so verkehrt nicht sein.

»Genau«, erwidert Fee, ohne hochzublicken. Aber ihre Schritte werden fast unmerklich langsamer, sodass Clara zu ihr aufholen und neben ihr gehen kann.


Die Nachsitz-Profis. Allein unter Schnappschildkröten

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