Читать книгу Sweet Florida Keys - Klaus Barski - Страница 6
HAFENSTADT BIRKUM
ОглавлениеDie Heringslogger kamen heim. Täglich wurden es mehr. An der Kaimauer der Birkumer Fischereigesellschaft war kaum noch Platz zum Anlegen.
«Sie bringen gute Fänge ein», erzählte man sich in der Stadt.
Im Hafenviertel und auf der Lindenstraße torkelten die besoffenen Heringsfischer, die «Loggerjungs», herum. Nach wochenlanger Schwerarbeit im rauhen Nordmeer waren sie nun zurückgekehrt und holten nach, was sie so lange entbehrt zu haben glaubten.
Die Mannschaften marschierten in Gruppen zum Seemannsbasar oder zum Kaufhaus am Hafen. Dort kauften sie erstmal neue Klamotten. Dann ging es mit dem Taxi ganz vornehm los. Zuerst eine Stadtrundfahrt, mit ’ner Buddel Korn in der Hand, dann weiter von Kneipe zu Kneipe. Sie hatten die Taschen voller Geld. Auf See gab es wochenlang keine Möglichkeit, die Heuer auf den Kopf zu hauen. Das wurde jetzt nachgeholt. Die Jungs schwankten durch die Stadt und grölten laut herum. Verachtet von den Normalbürgern.
«Ist doch das Allerletzte, auf einem Logger zu arbeiten. Da fährt nur der Abschaum mit», sagten sie. «Gleich nach Fahrtbeginn prügelt tagelang jeder auf jeden ein. Der stärkste der Mannschaft ist dann der König. Er wird das Gesetz. Pfui, welch ein Gesindel!»
Viele hatten Angst vor ihnen. Auch wir Kinder.
Vor dem italienischen Eissalon stand eine Gruppe von ihnen, laut singend, mit Bier- und Kornflaschen in den Pranken. Mein Freund Klaus Ott und ich waren auf dem Weg dahin, um eine Tüte Eis für ’nen Groschen zu kaufen. Die besoffenen Matrosen blockierten den Eingang.
Ängstlich kamen wir näher.
«Na, Macker, willst du ’nen Schluck aus der Pulle?» fragte mich einer der Männer und hielt mir seine Schnapsflasche hin.
«Nein danke, Seemann. Ich bin zu jung für Schnaps», sagte ich und drückte mich zur Tür hin.
«Was willst du mal werden, wenn du groß bist, Junge?» fragte er lallend.
«Zur See fahren», antwortete ich verängstigt.
«Große Fahrt oder auf einem Kümo an der Küste rummachen?»
«Auf einem Logger natürlich. Weil ihr immer die Taschen voller Geld habt, wenn ihr an Land seid», sagte ich Honig schmierend.
«Hier Jungs, kauft euch mal ein anständiges Eis», sagte der Fischer und schenkte uns großspurig ein Fünfmarkstück.
«Danke, Käpt’n», riefen wir beide im Chor und rannten begeistert in den Eisladen hinein. Dort bestellten wir uns zwei Kongo-Becher. Riesige Schokoladeneisberge mit Rumsoße und einem bunten Papierschirmchen.
Ja, die Loggerjungs galten als der Abschaum. Obwohl jeder wußte, daß sie für ihr gutes Geld hart arbeiteten, wurden sie oft wie Aussätzige behandelt. Besonders wenn sie betrunken waren. Wenn sie in halber Mannschaftsstärke anrückten, schien es gefährlich, sich in ihrer Nähe zu bewegen. In den Bars und Kneipen des Hafenviertels gehörten ihre brutalen, hemmungslosen Schlägereien, wo viel Blut floß, zur Tagesordnung. Oft mußte die Polizei eingreifen. So galt ihr ehrlicher Beruf für viele als Makel und wurde als Drohung für uns Kinder benutzt.
«Wenn deine Leistungen in der Schule so schwach bleiben, endest du bestimmt auf einem Logger!» schimpften viele Eltern.
Mein Vater war Amerikaner. Früher Kunstlehrer. Im Krieg und kurz danach Besatzungssoldat. Zuletzt als Sergeant in der US-Army. Nachdem er und meine Mutter geschieden waren, kehrte er in seine Heimat zurück. Ab und zu schickte er mir ein Päckchen zum Geburtstag oder zu Weihnachten. Dann, als ich acht Jahre alt war, kam nichts mehr.
«Vater ist tot», sagte meine Mutter.
Das traf mich nicht. Ich hatte ihn ohnehin fast vergessen. Nur mein englischer Name, Peter Reynolds, erinnerte mich manchmal an ihn.
Damals arbeitete meine Mutter lange Stunden als Kontoristin in einem Warenhaus. Wir wohnten in der Birkumstraße, in einer Zwei-Zimmer-Dachwohnung ohne Bad, für neunzig Mark Monatsmiete. Der uralte Spülstein in der Küche diente auch als Waschzuber und Bad. Wenn ich allein zu Hause war und das Wetter war schlecht oder es war sehr spät, dann pißte ich dort auch rein. Denn das unangenehme Plumpsklo war fünfzig Meter entfernt, im Garten.
Unsere Straße war der Eiserne Vorhang zwischen Wohlstand und Armut. Die Leute, die hier wohnten, galten als «arme Leute», hauptsächlich Arbeiter bei Birkums größtem Arbeitgeber, der Rottau-Schiffswerft.
Schräg gegenüber von unserem schäbigen Mietshaus war der Aue-Fluß. An dessen Ufern standen die vornehmen Häuser der erfolgreichen Leute von Birkum.
«Die von der Aue-Allee», nannten wir sie.
Sie waren die «besseren Leute»: mittelständische Unternehmer, Ärzte, Gewerbetreibende und höhere Angestellte.
Am Sonntag zogen meine Mutter und ich oft unsere guten Sachen an. Als Sonntagsspaziergang schlenderten wir die Aue-Allee entlang und schauten uns die Häuser und Villen der Wohlhabenden an.
«Eines Tages kaufe ich hier mein Haus», versprach ich Mutter. «Wenn ich groß hin, werde ich so reich sein, daß ich hier wohnen werde. Und einen schwarzen Mercedes kaufe ich auch!»
Mutter freute das.
«Vergiß nicht, dein Vater war Akademiker. Da sind wir auch was Besseres», sagte sie.
Wenn wir dann nach Hause zurückkamen, verwöhnte sie mich oft mit meinem Lieblingsabendbrot: Spiegelei auf Brot.
Das aß ich immer mit Messer und Gabel. Ich schnitt Stück für Stück genießerisch ab. Immer um den Dotter herum, bis er nur noch ganz allein auf der kleinen Insel stand. Dann schob ich ihn vorsichtig auf die Gabel und verschlang ihn. Den ganzen, heilen, warmen, leuchtend-gelben, wohlschmeckenden Dotter. Mensch, war das ein Genuß!
Mutter lächelte dann zufrieden und sagte:
«Das mit dem Dotter, Junge, ist genauso wie im Leben: Sauber und akkurat vorgehen, Stück für Stück, in zäher Kleinarbeit. Danach kommt dann immer die Belohnung! Ohne Fleiß kein Preis.»
Ein bildhübsches Mädchen. Zierlich, schlank, runder Apfelhintern und prächtige kleine Brüste. Meta war sechzehn, als sie in unsere Klasse kam.
«Das ist Meta Wertheim, eure neue Klassenkameradin. Ihr Vater, Dr. Wertheim, arbeitet als leitender Manager in unserer Rottau-Werft», stellte sie uns unser Lehrer vor. «Neue haben es immer schwer. Da können alle mithelfen, es ihr leichter zu machen.»
«Bei der mach’ ich das gerne», flüsterte mir Willy Krawitz zu und pfiff anerkennend durch die Zähne.
«Wenn du da anfängst zu spielen, kommst du aus dem Spiel nicht mehr raus», meinte Ott leise und grinste schmierig.
Ihr hellblondes Haar, die blauen Augen und das süße Puppengesicht … Sie war das Mädchen meiner wildesten Träume!
Ich war hin- und hergerissen. Natürlich war ich nicht der einzige, der sie begehrte. Das war mir sofort klar. Mitbewerber würde es jede Menge gehen. So verschlang ich sie mit den Blicken und überlegte, mit welcher Taktik ich sie anmachen könnte.
Meta räumte ihre Sachen ein und bekam einen Platz zugewiesen. Sie ging ganz nah an mir vorbei. In ihrem adretten blauen Schulkleid.
Ich lächelte sie an, und sie erwiderte mein Lächeln.
Das hat nichts zu bedeuten, sagte ich mir realistisch. Die ersten Tage wird sie zu allen nett sein, bis sie sich sicherer fühlt. In der großen Pause gesellte sich Meta zu den anderen Mädchen.
Ich traf mich mit den anderen Jungen hinter der alten Turnhalle. Dort, in den Büschen, rauchten wir heimlich Zigaretten und sprachen paffend nur über ein Thema: Mädchen. Natürlich auch über Meta Wertheim.
«Ihr Alter ist der neue Leiter der Rechtsabteilung von Rottau. Er hat ein Haus in der Aue-Allee, drei Häuser hinter uns», sagte Krawitz, der Sohn von Birkums größtem Einrichtungshaus, Möbelhaus Krawitz.
«Du Glückspilz, da hast du den gleichen Nachhauseweg wie sie», sagte Ott, dessen Vater Zahnarzt war. «Leider wohne ich am anderen Ende der Straße.»
«Ich finde, sie ist noch hübscher als Marianne», bemerkte ich und verglich sie in Gedanken mit der bisherigen Schönheitskönigin der Schule.
«Ja, der Meinung bin ich auch», stimmte Krawitz zu. Dann sprachen wir übers Kino.
«Jetzt im Sommer, vor der Abendvorstellung, ist eine Bullenhitze drin. Sie reißen vorher alle Türen weit auf, um frische Luft reinzulassen», erklärte uns Krawitz. «Du kannst hinten reingehen und dich im Klo verstecken. Bei Beginn der Wochenschau wird der Zuschauerraum dann wieder geschlossen und abgedunkelt. Kein Mensch sieht dich, wenn du dich da reinschummelst.»
Kino zum Nulltarif! Das hatte der clevere Krawitz ausgeknobelt. Kino war für mich das Größte. Leider konnte ich mit meinem bescheidenen Taschengeld nur alle vierzehn Tage hin. Auf sowas wäre ich nie gekommen, erstens die Idee und zweitens der Mut. Typisch. Krawitz war der geborene Gewinner von der Aue-Allee.
Ich verabredete mich mit Krawitz für den Abend. Kurz vor acht Uhr standen wir hinter dem Kino. Die Türen gingen auf, und die Besucher kamen herausgeströmt. Als die letzten außer Sicht waren, meinte Krawitz:
«Peter, jetzt müssen wir rein. Komm, das muß schnell gehen.»
Wir rannten zum ersten Ausgang. Die Innenvorhänge flatterten im Durchzug der geöffneten Türen. Krawitz linste in den Zuschauerraum.
«Luft ist rein. Jetzt, ins Klo!»
Geduckt lief ich hinter Krawitz her, zur Bühne und dann in das Herrenklo rein. Gott, hatte ich Angst! Das Herz klopfte mir bis zum Hals. Als wir uns in den engen Raum zwängten, bereute ich bereits, daß ich mitmachte. Gerne hätte ich auf alle Filme der Welt verzichtet, wenn ich eine Chance gehabt hätte, es rückgängig zu machen.
Auf einmal klopfte jemand an die Tür.
«Kommt raus, ihr Lümmel!» schrie eine Männerstimme. «Hab’ ich euch endlich, ihr Betrüger! Ich werde euch der Polizei übergeben.»
Krawitz hatte natürlich eiserne Nerven. Er grinste mich an und sagte: «Pech gehabt. Aber das schmeißt einen alten Seemann noch lange nicht um.»
Er riß die Tür auf, sprang raus, schubste den alten Platzanweiser zur Seite und rannte wie ein geölter Blitz davon.
Mich aber schnappte der Mann und drehte mir den Arm auf den Rücken.
«Einen von euch Tagedieben habe ich. Das wird ein teurer Spaß für dich! Einen Mordsärger wirst du bekommen», sagte der Alte mit finsterer Miene.
«Bitte, bitte … Lassen Sie mich gehen», bettelte ich. «Zu spät, du kleiner Dieb. Dich bring’ ich zum Chef!» Er zerrte mich an den neugierig gaffenden Besuchern, die vor der Absperrung standen, vorbei, quer durch den Zuschauerraum zum Chefbüro.
Der Geschäftsführer des Lichtspieltheaters war ein kugelrunder Mann mit wenig Haaren auf dem Kopf. Er schmunzelte vergnügt, als mich der Platzanweiser triumphierend vorführte.
«Wieder ein blinder Passagier, Chef», sagte er stolz.
«Sehr tüchtig», lobte ihn der Chef. «Na, mein junger Freund. Der Spaß kostet hundert Mark, und wir benachrichtigen die Polizei nicht.» Dabei weidete er sich an meinem entsetzten Gesichtsausdruck.
«Warum so viel Geld?»
«Wir nehmen an, wir erwischen nur jeden zwanzigsten Blinden. So kriegen wir unsere Verluste wieder rein.»
«Meine Mutter kann nicht so viel Geld auftreiben», jammerte ich. «Bitte lassen Sie mich laufen. Das war mein erstes Mal. Ich schwöre, ich mach’s nie wieder.»
«Nee, Freundchen! Bist erwischt worden. Gib mir die Telefonnummer deiner Eltern.»
Mutter kam später mit ihrem Fahrrad rüber. Mit Tränen in den Augen zahlte sie die hundert Mark. Sie entschuldigte sich unentwegt: «Wissen Sie, der Vater ist tot. Da fehlt dem Jungen die strenge Hand.»
Der Chef steckte den Hunderter lässig in die Hosentasche und sagte: «Das ist eine verlockende Welt, in der wir leben. Manch hoffnungsvoller Bursche kommt schnell auf die schiefe Bahn. Reynolds junior! Laß es dir eine Lehre sein.»
Mutter und ich dankten untertänig für seine Milde.
Auf der Straße sagte Mutter nichts. Als ich das Fahrrad neben ihr herschob, wäre ich vor Scham und Reue am liebsten im Erdboden versunken.
Mitte der Woche, in der Schule, wurde ich zum Rektor gerufen.
«Ist es wahr, Reynolds? Hat man dich beim Eintrittsgeld-Betrug erwischt?», fragte er mit strenger Miene.
Ich stotterte etwas wie «ein Versehen, schon längst ordnungsgemäß bezahlt» und daß es mir leid tue.
Da explodierte er.
«Unsere Lehranstalt ist die angesehenste in Birkum, Reynolds. Alle Schüler habe die Pflicht, sich draußen in angemessener Weise zu verhalten. Was du da verbrochen hast, ist Pflichtverletzung gröbster Art. Wär’ die Polizei dabei mit reingezogen, würdest du von der Schule fliegen. Aber du hast Glück gehabt, es gibt diesmal nur den schärfsten Verweis. Und jetzt raus!»
Mein Herz klopfte, und ich stammelte eine letzte Entschuldigung. Dann rannte ich hinaus. Mein einziger Trost war, daß meine Mutter von diesem Verweis nichts erfahren würde.
Jeder Mieter hatte seinen eigenen, abgeteilten Verschlag auf dem Dachboden des Mietshauses. Oft ging ich nach Schulschluß in unseren und stöberte in den alten Sachen herum. Eines Tages fand ich hinter einer altmodischen Wäschekommode eine tarnfarbene, unverschlossene Holzkiste, die ich sofort neugierig öffnete.
Sie war bis zum Rand mit Büchern, hauptsächlich Kunstbüchern gefüllt … mit Museumskatalogen vom Louvre bis zur Alten Pinakothek, Nachschlagewerken von Benezit und Thieme-Becker sowie deutschen und amerikanischen Auktionskatalogen. Dominierend waren Bildbände über Barock- und Renaissancemaler. Hauptsächlich über Lucas Cranach dem Älteren.
Ich war überrascht. Zum ersten Mal wurde ich mit ein paar Fragmenten aus dem Leben meines Vaters konfrontiert. Sein Name stand auf dem Deckel der Kiste, und die Bücher waren wohl seine. Mir fiel auf, daß sich in unserer Wohnung keine Erinnerungen an ihn befanden. Mutter hatte nach der Scheidung alle vernichtet.
Der rote Leineneinband mit dem Titel «Lucas Cranach/ Des Meisters Gemälde» fiel mir sofort auf, weil ein mit einem Gummiband zusammengehaltenes Fotobündel drin steckte.
Ich schaute die schwarzweiße Fotoserie durch. Sie zeigte nur ein Motiv: das mit einem geschnitzten Rahmen versehene Ölgemälde eines Sünders in der Hölle. Er wurde im Feuer stehend von Schlangen gefressen. Die Photos waren aus verschiedenen Perspektiven mit veränderten Belichtungszeiten aufgenommen worden. Das optimalste Foto steckte ich in die Hosentasche.
Als ich die anderen in die aufgeschlagenen Buchseiten zurücklegte, bemerkte ich etwas Interessantes. Auf Seite 142 war ein dreiteiliger Flügelaltar von Cranach abgebildet.
Der linke Flügel war mit Vaters Foto identisch. Eine Gruppe fliegender Engel über dem «Sünder» setzte sich im Mittelteil, einer Kreuzigungsdarstellung, bis hinein in den rechten Altarflügel fort. Im rechten Flügel dominierte eine von einem Schleier bedeckte, zierliche nackte Sünderin, ebenfalls von Schlangen gemartert. Darunter stand: «Jesus, vergib uns Sündern», Um 1520. Wien, Galerie Schonborn.
In den nächsten Seiten verklemmt entdeckte ich eine vergilbte Abbildung aus einem Auktionskatalog der Galerie. In der Winter-1912-Ausgabe wurde der komplette Altar zur Auktion angeboten.
Ich legte das Buch zurück und verschloß die Kiste sorgfältig. Das rote Buch mit den Fotos ging mir nicht mehr aus dem Sinn.
An einem freien Samstag ging ich mit einem alten Zinkkessel und einer Blechdose Stichlinge fangen. Aufgrund des trockenen Wetters war die Aue kein Fluß mehr, sondern eine lange Addition einzelner Wasserpfützen. Darin schwammen silbrige, fingergroße Stichlinge mit hübschen blaugrauen Rücken.
Ich krempelte meine Ärmel auf, ging in die Knie und versuchte die Stichlinge mit der Dose in meinen Eimer zu schaufeln. Im Nu fing ich ein rundes Dutzend und gab ihnen reichlich Frischwasser nach.
Auf einmal hörte ich ein Geräusch hinter mir und spürte etwas Feuchtes, lebendig Warmes an meinem Unterschenkel. Vor Schreck ließ ich die Dose fallen und drehte mich um.
Hinter mir stand Meta Wertheim. An einer Leine hielt sie einen dunkelbraunen Dackel, der mich mit seiner feuchten Schnauze beschnupperte. Sie lachte mich aus.
«He, Peter! Du bist aber schreckhaft», sagte sie.
Ich schaute von unten zu ihr hoch. Ihre wunderschönen Beine entlang, über die Knie, die Oberschenkel. So prall, so weich … Dann kam das kurze gelbe Sommerkleidchen. Die vollen Rundungen ihres Pos, die schlanke Taille und die kleinen runden Brüste. Auf ihren glatten Schultern saßen lustige Schleifen, die das Kleid festhielten. Ihre blonden Haare waren zu einem kunstvollen Knoten zusammengesteckt. Und ihre blauen Augen mit den langen Wimpern blitzten.
Sie lächelte mich an. Das gab süße Grübchen in ihren Wangen.
Ich stammelte «Kein Wunder … Bei diesen tollen Aussichten» und stand auf.
«Wozu fängst du die kleinen Fische? Die kann man doch nicht essen», sagte sie und schaute interessiert in meinen Eimer hinein.
«Zu Hause hab’ ich ein Aquarium, und da machen sie sich ganz gut. Allerdings sterben sie ziemlich schnell weg. Deswegen muß ich immer frischen Nachschub holen», sagte ich und streichelte ihren Dackel, der freundlich mit dem Schwanz wedelte und mir die Hand leckte.
«Ich bin gerne hier am Fluß», sagte Meta. Sie wies auf eine Gruppe alter Eichen, die mit ihren nackten Wurzeln nahe am Uferrand standen, und fuhr fort: «Die Bäume und diesen Teil der Aue kann ich von meinem Zimmer sehen. Eine sehr schöne Aussicht.»
«Du hast recht, die Aue-Allee ist traumhaft. Das kann man von der Birkumstraße nicht gerade sagen.»
«Die Birkumstraße hat aber auch Vorteile. Der Edeka-Markt ist nahe, und dein Schulweg ist nur halb so weit wie meiner», sagte sie freundlich.
«Gehst du oft hier spazieren?»
«Jeden Nachmittag. Wenn das Wetter gut ist. Mein Dackel Bruno braucht seinen Auslauf. Ich gehe immer am rechten Ufer lang. Bis zur alten Scheune am Waldrand. Hast du Lust, mitzukommen?»
Und wie gerne ich wollte! Ich versteckte meinen Eimer im Gebüsch und folgte ihr. Fieberhaft überlegte ich, was ich Starkes sagen könnte, um ihre Interesse zu gewinnen. Es war eine einmalige Chance. Ich durfte keine Fehler machen. Auf die nächste halbe Stunde kam es an.
Meta summte bekannte Schlager, als sie unten im ausgetrockneten Bach von Stein zu Stein hüpfte.
«Kennst du diese Melodie?» fragte sie plötzlich.
Ich schüttelte den Kopf.
«Das ist mein Lieblingslied: ‹Du schwarzer Zigeuner›, von Vico Torriani. Ich mag alles von Vico.» Sie nahm Bruno die Leine ab.
Ich haßte Vico-Torriani-Lieder und Schlager überhaupt. Damals stand ich nur auf Jazz. Trotzdem nickte ich ihr zu und sagte: «Torriani hat eine gute Stimme.»
«Ich schmelze dahin, wenn ich ihn singen höre», schwärmte sie und schloß verzückt die Augen.
«Wie findest du seine Texte?» fragte ich. «Sind sie nicht ein bißchen kitschig?»
«Ja. Aber sie gehen mir unter die Haut.»
«Das trifft sich gut. Ich schreibe Gedichte. Vielleicht schreibe ich dir ein Liebesgedicht?»
Sie zog ein Schmollgesicht. «Vielleicht möchte ich kein Liebesgedicht von dir.»
«Du würdest etwas verpassen. Meine Gedichte strotzen nur so vor Leidenschaft und Liebesschwüren.»
«Bisher hat mir keiner ein Gedicht geschrieben», sagte sie und summte ihr «Du schwarzer Zigeuner».
Am Waldrand angekommen, setzten wir uns ins Böschungsgras. Ihr Kleid schob sich dabei so weit hoch, daß ich die weißen, verlockenden Innenseiten ihrer Oberschenkel sehen konnte. Mir wurde ganz warm.
«Willst du mit mir gehen?» fragte ich ohne Umschweife.
Sie errötete, guckte verlegen zu Boden, nahm einen Grashalm in ihren schnuckeligen Mund und stammelte: «Vielleicht … Ja, doch.»
«Dann mußt du mich küssen», sagte ich und legte meinen Arm auf ihre Schulter.
«Küssen?» sagte sie überrascht und schob meinen Arm sanft beiseite. «Ich habe noch nie einen Mann geküßt.»
Sie stand auf, rief ihren Hund und lief ganz schnell hinunter zur Aue-Schleife. Ich war von ihrer Reaktion überrumpelt worden und brauchte einen Moment, bis ich sie verfolgte und dann einholte. Da blieb sie plötzlich abrupt stehen und küßte mich blitzschnell auf die rechte Wange … Lachte hell auf und lief weiter.
«Ich muß pünktlich zu Hause sein. Auf Wiedersehen, Peter!» rief sie und war verschwunden.
Ich rief ihr entrückt nach: «Ich liebe dich!»
Als ich meinen Eimer holte und nach Hause ging, jubelte alles in mir. Ich war wie von Sinnen. Zu Hause setzte ich mich aufs Sofa, holte Papier und Bleistift und fing an zu dichten.
Gegenüber von uns auf der Birkumstraße stand das Möbelhaus Krawitz. Ein langgestrecktes, eingeschoßiges Gebäude mit vier Schaufenstern. Über jedem Fenster stand mit blauer Schreibschrift «Möbelhaus Krawitz». Also viermal. Das machte Eindruck. Der Krawitz war wer in Birkum.
Jeden Nachmittag gegen vier Uhr fuhr Krawitz’ Geselle den vorher sorgfältig gewaschenen, auf Hochglanz polierten schwarzen 180er-Mercedes vor das Haus. Der alte Krawitz und seine Frau Emmi traten feierlich auf die Straße. Er in einem grauen Maßanzug und sie im eleganten Kostüm. Bei diesem Abfahrtsritual stellte sich das erfolgreiche, satt aussehende Paar vor das Gebäude und musterte befriedigt die Schaufenster.
Dann ging der alte Krawitz zum Mercedes und öffnete seiner Frau die rechte Tür. Sie stieg kokett ein, und er schloß sorgfältig zu. Dann er, umständlich, auf der Fahrerseite. Der Motor wurde gestartet, und sie fuhren ab, zum Strandcafé. Dort war der beste Tisch, mit Aussicht zur Wesermündung, für sie reserviert. Für eine kleine Kaffee-und-Kuchen-Orgie.
Am Wochenende, wenn Mutti zu Hause war, beobachtete sie, hinter der Gardine versteckt, die Krawitz-Abfahrt. Jedesmal sagte sie überwältigt: «Der Krawitz, der stellt was dar. Das sieht man solchen Leuten schon im Gesicht an, daß sie wer sind!»
Der junge Krawitz war ein Großmaul und Angeber. Als verhätscheltes Kind vermögender Eltern kannte er den Mangel an Kleingeld nicht. Er besaß alles, wovon ich nur träumte: Fahrrad, Fernlenkauto, Filmprojektor, Mikroskop, eine Voigtländer-Kamera und sogar eine Sammlung richtiger St. Pauli-Fickfotos. Die hatte er einem Schiffszimmermann abgekauft, und gegen entsprechendes Honorar verlieh er sie an uns junge, sexhungrige Kerle. Oftmals nahm er mich gönnerhaft mit in die Wohnung der Eltern. Ich durfte für ein paar Stunden an seinem Besitz teilhaben. Davon träumte ich tagelang und kroch ihm dafür ganz schön in den Arsch.
Familie Krawitz hatte sogar ein Dienstmädchen. Wie die reichen Leute im Kino. Das Dienstmädchen trug eine Spitzenhaube und eine weiße Schürze mit Rüschen. Sie nannte Frau Krawitz respektvoll «Chefin».
Der junge Krawitz hielt sich auch schon für ’nen Chef und kommandierte ständig die anderen herum. Alle mußten nach seiner Pfeife tanzen. Das stand ihm einfach zu.
«Peter», sagte er oft zu mir, «auf der Welt gibt es nur zwei Typen: die Macher und die Arschlöcher. Schade, du wirst wohl zur zweiten Gruppe gehören.»
Ich sagte nichts dagegen. Daß er ein Großmaul war, war für mich nur eine Art Krankheit. Im stillen wußte ich: Irgendwann werde ich es schaffen und es allen in Birkum zeigen!
In meinen Träumen war ich bereits Bewohner der Aue-Allee. Mein Umzug war lediglich eine Frage der Zeit.
Mit feurigem Herzen schrieb ich mein Gedicht «Liebesschwur für eine Göttin!» fertig. Es gefiel mir gut. Aber wie würde sie es finden?
Ich kaufte im Schreibwarenladen ein teures Blatt «Elefantenhaut». Sorgfältig schrieb ich die sechzehn Zeilen in Schönschrift drauf. Der letzte Satz lautete:
Und lieb dich voller Leidenschaft –
Bis hin zur letzten, ew’gen Nacht!
Ich steckte das Gedicht in einen Umschlag und nahm es am nächsten Tag mit zur Schule. Vorne am Tor wartete ich mit klopfendem Herzen auf Sie.
Dann kam Meta, die «blonde Göttin», kichernd angeschlendert, Arm in Arm mit ihrer besten Freundin, der dicken, lustigen Veronika.
Ich drückte ihr den Umschlag mit den hastigen Worten «Für dich, Geliebte!» in die Hand und rannte wie ein Besessener in das Schulgebäude.
Vom Klassenfenster aus beobachtete ich dann heimlich die beiden. Sie verzogen sich in eine Ecke des Schulhofs und öffneten neugierig den Umschlag. Meta las Veronika mein Gedicht vor, und beide kicherten aufgeregt. Meta faltete das Blatt sorgfältig zusammen und steckte es in ihre Schultasche.
Es hat ihr gefallen, sagte ich mir. Ich merkte, daß ich mich regelrecht nach ihr verzehrte. Das mußte wahre Liebe sein …
Ein paar Minuten vor Unterrichtsbeginn kam Meta in die Klasse. Ich saß hinten in der letzten Bank. Sie vorne in der zweiten. Gott, sah sie wieder schön aus!
Sie lächelte und nickte mir unauffällig zu.
Himmel, sie nahm meine Liebe an! Meta … Süßes!
Aus Mutters Blumenvase klaute ich eine Rose, und am Nachmittag saß ich auf der Böschung der Aue-Schleife. Dort wartete ich mit der Rose in der Hand und träumte von Metas blauen Augen, ihrem goldenen Haar, ihrem Schmollmund, ihrem …
Und dann stand sie auf einmal vor mir, glücklich lächelnd, wie ein Engel. In weißer Bluse und weißem Rock.
Ich reichte ihr die Rose. Sie nahm sie und legte die Blüte an ihre Lippen. Dabei summte sie «Du schwarzer Zigeuner». Ich fand das Lied gar nicht mehr so beschissen …
Dann balancierte sie langsam über die blanken Steine des fast ausgetrockneten Flusses.
«Wozu die Rose?» fragte sie mich mit unschuldigem Augenaufschlag.
«Ein Zeichen meiner Liebe», sagte ich und balancierte hinterher.
Als ich sie am anderen Ufer erreichte, hielt ich sie fest, drehte sie zu mir und küßte sie. Meine Zunge drang in ihren Mund ein. O köstliches, berauschendes Spiel … Ich faßte ihr behutsam unter die Bluse und streichelte zärtlich ihre Brust. Sie ließ es geschehen. Wir spürten unsere Wärme und hämmernden Herzen. Ich drückte sie vorsichtig in das hohe Böschungsgras, um noch mehr, noch leidenschaftlicher von ihr zu kosten. Glück, trunkene, süße Illusion, Moment der höchsten Glückseligkeit, bleib doch für immer!
Danach verbrachten wir jede freie Minute zusammen. Immer häufiger ging ich nach der Schule zu Meta nach Hause, um gemeinsam mit ihr Schularbeiten zu machen.
Ihre Mutter sah genauso aus wie Meta, nur zwanzig Jahre älter. Sie war von meinem Erscheinen amüsiert. Wahrscheinlich, weil sie zwei Töchter im Haus hatte, und ein junger Kerl darum etwas ganz anderes, besonderes war.
«Was willst du machen, wenn du mit dem Abi fertig bist?» fragte sie mich.
Meta sah neugierig zu mir rüber.
«Journalist will ich werden. Ich fange als Volontär beim Bremerhavener Tageblatt an», erwiderte ich, überzeugt, dort Karriere zu machen. «Als Hobby schreibe ich schon jetzt … Gedichte.»
«Journalist bei einer bekannten Tageszeitung. Das ist ein interessantes Berufsziel», sagte Frau Wertheim und nickte wohlwohlend. Und Meta stimmte ihr schwärmerisch zu.
Frau Wertheim war lieb. Sie steckte die Kerze auf dem Eßzimmertisch an und schenkte uns ein Glas Moselwein ein. Wie bei Erwachsenen. Dann prostete sie uns zu:
«Kinder … Genießt die Zeit der unbeschwerten Jugend. Die ja so schnell verfliegt.»
Wir hoben die Kristallkelche, sahen uns dabei beide tief in die Augen, kurz zu Frau Wertheim rüber und tippten unsere Gläser kurz an.
«Ping!» ein kleiner heller Glockenklang.
«Auf unsere Zukunft!»
Mutter machte Wäsche und war beim Durchsehen der Kleidung.
«Peter, woher kommt dieses Bild?» rief sie mich und zeigte mir, als sie meine Hose in den Wäschekorb legte, entsetzt das Gemäldefoto vom Dachboden.
«Sie stammt vom Speicher … aus Vaters Bücherkiste.»
Entgeistert starrte sie auf das Foto und sagte: «Ich dachte, die Kiste wäre mit auf den Müll gewandert. O Gott, das ist ein Gemälde aus seiner Sammlung. Das hat er doch im ausgebombten Haus in Bremen gefunden. Während der Besatzungszeit.»
«Hat er die Sammlung mit nach Amerika genommen?» fragte ich interessiert.
«Ja, dieses Bild … und noch etwa zehn andere. Davon verstand er ja was. Die wären heutzutage wohl ein Vermögen wert.» Sie reichte mir das Foto und sagte kopfschüttelnd:« Er soll ja arm gestorben sein. Da wird er sie wohl über die Jahre alle verkauft haben.» Sie nahm den Korb in den Arm und verließ den Raum.
Die nächsten Tage ging ich immer wieder auf den Dachboden. Holte mir nach und nach alle Bücher runter.
Sie waren die Ursache für meine leidenschaftliche Liebe zu alten Gemälden und generell zur Malerei.
Meta war meine erste große Liebe und ich ihre. Wir probierten gemeinsam alles aus. Das fing ganz harmlos an mit Küssen und ging dann über Petting weiter zum ersten gewagten Verkehr. Wir schworen uns ewige Liebe und glaubten fest daran.
Während ich nur vage Träume von meiner Zukunft hatte, erklärte mir Meta mit gläubigen Kinderaugen ihre festen Vorstellungen von ihrer: «Ein Haus mit Garten, viele Blumen … Zwei Kinder, Junge und ein Mädchen … Ein tolles Auto… Und viel, viel Urlaub am Mittelmeer.»
«Ich werde dir die Welt zu Füßen legen, mein Schatz», sagte ich und versprach ihr alles: Spaß, Reichtum, Glück und vor allem, daß wir zusammen die Welt bereisen würden.
«Nach meinem Studium suche ich mir einen Traumjob als Volontär einer großen Tageszeitung. Nebenbei werde ich viel schreiben. Kurzgeschichten, Gedichte und Romane. Damit mache ich das Geld, das ich als Reiseschriftsteller brauche. Dann kaufen wir uns eine Segelyacht und fahren rund um die Welt. Solange es uns Spaß macht.»
Das hörte sie immer wieder gern. Sie schloß dann schwärmerisch die Augen und hielt mir ihren geöffneten süßen Mund hin. Und ich küßte sie leidenschaftlich.
Das gefiel ihr. Und mir.
Willy Krawitz stellte Meta nach, wo er nur konnte. Sie ließ sich gerne umschwärmen. Aus erzieherischen Gründen wurde sie knapp mit Taschengeld gehalten. Auch für sie war Kino das Größte. Ihr Geld langte nur für seltene Besuche. Und bei mir war da nichts drin.
Eines Tages lud Krawitz sie ins Kino ein. Mit anschließendem Besuch des Birkumer Eissalons. Mir erzählte sie, daß sie ihre Oma besuchte.
Die beiden wurden von Klaus Ott gesehen.
«Der Krawitz spannt dir deine Alte aus», meinte er hämisch, «zuerst Kino, dann Eiscafé. Sie ist auch auf seinem Mofa mitgefahren. Wer weiß, was danach noch gelaufen ist.»
Ich ärgerte mich krank. Als wir uns am Nachmittag an unserer Aue-Schleife trafen, stellte ich sie zur Rede.
«Nicht nur, daß du mich mit ihm betrügst. Nein! Du machst mich außerdem noch in ganz Birkum lächerlich», schimpfte ich.
Sie lachte mich aus und fand mein Eifersuchtsgehabe blöd.
«Der Krawitz hat bei mir keine Chance. Ich brauchte halt jemand, der mir das Kino bezahlt. Ein Film mit Vico Torriani. Den wollte ich nicht einfach sausen lassen.» Sie küßte mich und bat, ihr noch einmal zu verzeihen.
Ja, sie konnte mich um den Finger wickeln. Natürlich verzieh ich ihr und schwor ihr schon eine Stunde später ewige Liebe.
Am Birkumer Fischereidock ging ich angeln. Da wurden die schmutzigen Abwässer ungereinigt in die Weser geleitet und es gab viele Fische. An den schönen Sommertagen war das Fischen ein Vergnügen, weil man auch die Birkumer Yachten anschauen konnte. Die gehörten den vermögenden Mitgliedern des Yachtclubs, dessen Liegeplätze und Bootshäuser hinter dem Dock lagen. Es waren viele Traumboote dabei. Wenn sie ausfuhren, kamen alle am Loggerdock vorbei. Eine nach der anderen. In einer wunderschönen Parade. Nach den großen verzehrte ich mich regelrecht. Ich konnte mich nie genug an Linien, Bewegung und Fahrt der schlanken Luxusboote sattsehen.
Kurz hinter dem Dock flossen Aue und Weser zusammen. Da war viel Platz für die ersten Manöver. Die Freizeitkapitäne, die flußabwärts zur Nordsee fuhren, tuckerten mit dem Motor heran und setzten direkt in der Gabelung ihre Stützsegel. Himmel, war das ein Augenschmaus! Wie gerne wäre ich da mitgefahren. Leider kannte ich keinen Bootsbesitzer. So nahm ich mir für die Zukunft vor: Wenn ich einmal Geld habe, kaufe ich mir eine große Segelyacht. Mindestens fünfzehn Meter lang.
In meinen Träumen war ich nie kleinlich.
«Unser Boot muß viel Lebensraum für die Weltreise haben. Du und ich, irgendwo in der Südsee. Verschollen … auf unserer ewigen Hochzeitsreise. Das nenne ich ein Ziel», sagte ich zu Meta.
Sie stimmte mir begeistert zu. Oft holte sie mich vom Angeln ab und teilte meine von der Yachtparade angeheizten Phantasien.
Der Traum von der großen Segelyacht wurde eine Manie bei mir. Ich spann ihn bis in das letzte unwichtige Detail. Dazu kaufte ich mir die führenden Yachtzeitschriften, ging zu Bootsausstellungen und lungerte tagelang an den Liegeplätzen des Clubs herum, um die verschiedenen Bootstypen miteinander zu vergleichen und Meinungen von Fachleuten zu hören.
In der Städtischen Bücherei fiel mir dann ein Buch über Katamarane in die Hände. Ich lieh es mir aus und verschlang es. Heimlich arbeitete ich bereits an der Realisierung meines Traumes: Woche für Woche spielte ich Lotto. Wie Millionen andere Narren. Im Irrglauben der Habenichtse an das eventuelle große Glück.
Eines Tages las ich in einer Yachtzeitschrift von einem Stuttgarter Koch. Er hatte sich in achtjähriger Arbeit im Garten einen hochseetüchtige Katamaran gebaut. Toll! Ein Beweis, daß es jeder schaffen konnte. Allerdings hielt ich nicht viel von meinen handwerklichen Fähigkeiten.
In der Zeitschrift wurden Gebrauchtboote angeboten. Viele mit Fotos. Wenn die neue Ausgabe herauskam, war ich immer heiß auf diese günstigen Angebote.
Ich konnte nicht schnell genug nach Hause kommen. Dort legte ich mich auf das Wohnzimmersofa und las mich gierig durch den Bootemarkt. Seite für Seite, Zeile für Zeile. Das war Unsinn, weil ich kaum genug Geld hatte, um mir die Zeitschrift zu kaufen. Aber spielte ich nicht jede Woche im Lotto?
Meine Idealyacht kostete rund achtzigtausend Mark, gebraucht. Neu fast das Doppelte.
Meta träumte mit mir. Tagelang saßen wir an der Aue und planten unsere Reiseroute. Rund um die Welt Richtung Westen. Die Stationen waren klar: Südfrankreich, Italien, Griechenland. Dann Türkei, Afrika und Südspanien … Rüber zur Karibik, um Florida herum, nach Mexiko und Südamerika … Es folgten Australien, Indien und wieder Afrika.
«Da sind wir bestimmt fünf Jahre unterwegs», sagte Meta begeistert.
«Deinen Bruno nehmen wir als Bordhund mit», meinte ich scherzhaft, und Meta stimmte mir ernst zu.
Dann kam dieser schlimme Donnerstag. Er brachte mir die schmerzhafte Erfahrung, daß das Leben irrsinnige Ungerechtigkeiten bringen kann. Daß die unerforschliche Laune des Schicksals jederzeit zuschlagen kann. Dieser Tag sollte mein ganzes Leben bestimmen.
In der großen Pause, kurz vor Beginn des Kunstunterrichts, ging ich rasch, weil etwas verspätet, durch den langen, düsteren Flur des altehrwürdigen Schulgebäudes. Da sah ich einen zusammengefalteten Zwanzigmarkschein auf dem Boden liegen. Einen richtigen, echten Zwanziger!
Ich wollte ihn im Lehrerzimmer abgeben. Aber es klingelte bereits zur nächsten Stunde. Also steckte ich ihn in die Hosentasche und nahm mir vor, ihn nach der Stunde abzuliefern.
Kurz bevor der Lehrer ins Klassenzimmer kam, erreichte ich meinen Platz und packte Skizzenblock und Bleistifte aus. Wir bekamen die Aufgabe, unseren Schuh zu zeichnen. Jeder zog also einen aus, legte ihn auf den Tisch und fing mit dem Skizzieren an.
Ich bemerkte nicht sofort, da ganz in meiner Arbeit versunken, daß Krawitz nach vorne zum Lehrer ging. Beide aufgeregt tuschelten. Daß die Tür geöffnet wurde und sie draußen verschwanden, kriegte ich gerade noch mit.
Kurz darauf kam der Schlag!
Es öffnete sich die Tür. Rektor, Lehrer und Krawitz traten ein.
«Alles aufstehen!» brüllte der Lehrer.
Neugierig standen wir auf und schauten uns fragend an. Der Rektor stellte sich ans Pult.
«In dieser Klasse gibt es einen miesen hinterlistigen Dieb! Gerade eben ist einem Mitschüler Geld gestohlen worden. Zwanzig Mark! Das ist nicht das erste Mal. Wenn der Dieb sich nicht in den nächsten Minuten freiwillig meldet, rufe ich die Kripo an. Also, ich frage zum ersten und zum letzten Mal: Wer hat dem Schüler Krawitz zwanzig Mark aus dem Schulranzen gestohlen?»
Alle Schüler sahen sich um.
Ich kriegte einen furchtbaren Schreck! Nervös faßte ich in meine Hosentasche … Er war natürlich noch da, der Zwanziger.
«Alle Schüler leeren sofort ihre Hosentaschen und legen den Inhalt vor sich auf den Tisch. Hinterher die Innentaschen herausziehen“, schrie der Rektor.
Ich war total durcheinander. Hielt den Geldschein in die Höhe und rief: „Da ist er! Ich habe ihn in der Pause, Minuten vor dem Unterricht, gefunden. Da war keine Zeit mehr, ihn abzuliefern.»
Als ich das sagte, spürte ich, daß es wie eine lausige, dumme Lüge klang. Ich hätte es selber nicht geglaubt.
Alle sahen mich an. Es war sehr still im Raum.
«Ich habe ihn gerade gefunden. So glauben Sie mir doch!»
«Dieb», flüsterte jemand hinter mir. «Schwein», jemand vor mir.
Der Rektor faßte mich am rechten Ohr und zerrte mich durch die Klasse zum Ausgang hin.
Alle sahen mich sensationslüstern an.
Als ich an ihr vorbeikam, schaute sie mich zuerst entsetzt an und guckte dann zu Boden. Sie schämte sich für mich.
Metas Reaktion gab mir den Rest. Hätte sie mich doch vertrauensvoll angeschaut, um mir Mut zu machen. Aber nein …
Sie ist für mich gestorben, für immer und ewig, sagte ich mir.
Der Rektor zog mich durch den Flur. Reynolds, der Dieb! So humpelte ich, nur mit einem Schuh bekleidet, gefolgt vom Lehrer, bis zum Konferenzzimmer.
«Erst der Betrug im Kino und nun dieser Diebstahl. Reynolds, das ist genug. Sie fliegen raus!» brüllte der Rektor und gab mir keine Chance mehr, mich zu verteidigen.
Ich flehte ihn immer wieder an. Aber er wollte nichts hören. Ich war ein Dieb.
«Deine Mutter kriegt morgen den Brief mit der Post. Du kannst sie schon vorbereiten», sagte er und entließ mich.
Dann durfte ich einfach so nach Hause gehen. Ich holte meine Sachen und zog den anderen Schuh an. Die Schultasche unterm Arm, kroch ich durch den langen, langen Flur bis zum Portal. Dann die ausgetretenen Marmorstufen runter, zum Schulhof.
Der Lärm verstummte schlagartig, als ich ihn betrat. Alle sahen mich an und tuschelten. Manche grinsten sogar schadenfroh. Ich spürte, was sie alle dachten: Reynolds ist ein kleiner mieser Dieb!
Langsam setzte ich Fuß vor Fuß und wünschte, die Erde würde sich auftun, um mich zu verschlingen. Aber nichts geschah. Endlich erreichte ich Tor und Straße.
Birkum war ein kleines Nest. Da kannte jeder jeden.
Ich kann mich hier nirgends mehr blicken lassen, dachte ich verzweifelt, als ich nach Hause hastete.
Dort schmiß ich zornig die Schultasche in eine Ecke, mich aufs Sofa und weinte bitterlich. Ich hatte keine Vorstellung, wie nun alles weitergehen sollte.
Plötzlich hatte ich eine Idee: In Birkum ist alles für mich gelaufen. Aber ich bin doch unschuldig! Ich kann woanders ganz neu anfangen.
Das richtete mich wieder etwas auf. Meine einzige Sorge war, wie Mutter reagieren würde. Ich schrieb ihr einen Brief, in dem ich ihr meine Unschuld beteuerte und mitteilte, daß ich auf Trampfahrt gehen wollte.
«Sei bitte nicht verzweifelt. Ich schreibe Dir von unterwegs», endete ich.
Dann packte ich meine wichtigsten Sachen in einen Koffer und holte meine Sparbüchse hervor. Da waren noch achtzehn Mark und in Mutters Zuckertopf weitere elf Mark. Das muß erstmal reichen, dachte ich.
Ich nahm meinen Jugendherbergsausweis, zog meine Windjacke an, schmierte mir ein paar Stullen als Proviant und verließ das Haus. Auf der B1, hinter der Aue, stellte ich mich auf. Mit dem Daumen nach oben.
Nach kurzer Zeit hielt ein verrosteter Uralt-Opel. «Wohin soll die Reise gehen?» fragte mich der Fahrer. «Nach Hamburg und dann weiter Richtung Sylt.» «Steig ein. In Hamburg laß ich dich günstig raus, wo du gut nach Norden weiterkommst.»
Dann fuhren wir los. Weg von Birkum und meiner Schande.
Vier Autos und danach die Eisenbahn von Niebüll, dann war ich auf Sylt. Ich hatte viel gehört und gelesen von diesem Tummelplatz der Reichen und Berühmten: Playboys, Gogärtchen, Krupp, Pony, Sachs, Springer und Regenbogenpresse.
Ich war ziemlich pleite, als ich in der Jugendherberge, im Norden der Insel bei List, ankam. Ich hatte gerade Geld für zwei Übernachtungen. Also verkaufte ich einem amerikanischen Studenten meinen neuen Strickpullover für zwanzig Mark. Das war genug Geld, um die nächsten Tage zu überleben.
Nach dem Einchecken bummelte ich durch List. Es war Hauptsaison, und da wurden bestimmt ein paar Hilfskräfte gebraucht. In verschiedenen Gaststätten und Pensionen fragte ich nach einem Ferienjob.
«Wir suchen eine Backstubenhilfe. Es gibt freie Verpflegung und Unterkunft», sagte mir der Geschäftsführer der «Helgoland»-Bäckerei. Er schickte mich zum Meister, und ich war sofort eingestellt.
Am Montag fing ich an zu arbeiten, um vier Uhr morgens. Furchtbar. Das war einfach zu früh. Ich kam jeden Morgen halbtot dort an. Als erstes mußte ich die fehlerhaften Brötchen des vollautomatischen Formers nachrollen. In jeder Hand eine Teigkugel, die dann auf die frisch gefetteten Backbleche gesetzt wurden. Jede Nacht buken wir zuerst siebentausend, später zehntausend Brötchen. Um diese Arbeit zu schaffen, wurde der Arbeitsbeginn auf drei Uhr früh verlegt. Es war grausam. Immer wieder fiel ich vor Müdigkeit in den Teig. Backstuben-Chef Robert, ein ehemaliger Schiffskoch, schnappte mich dann und kippte mir einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf.
«Haben wir auf See gemacht. Das ist der Muntermacher», sagte er und lachte sich schief.
Er hatte recht. Das wirkte. Danach war ich hellwach. Allerdings auch naß bis auf die Knochen. Was aber in der warmen Backstube nicht so schlimm war. Trotzdem, die Sitten waren mir zu rauh.
Ich kündigte am Monatsende und fand einen besseren Job in Westerland. Als Tellerwäscher im Hotel Atlantik. Auch hier gab es freie Kost und Logis. Zu viert schliefen wir auf einer Bude: ein Kellner, der Büfettier und wir zwei Tellerwäscher. Als jüngster der beiden Tellerwäscher mußte ich früher aufstehen, alle Schuhe einsammeln und putzen. Auch Hausboy war ich ab und zu … Gut war hier die Kofferschlepperei. Da fiel gutes Trinkgeld ab. Ich bekam pro Tag zehn Mark Lohn. Hinzu kamen rund fünfzehn Mark Trinkgelder.
Das Essen liebte ich. Der Koch mochte mich und schob mir immer die köstlichsten Speisen zu. Spezialität des Hauses waren Fischgerichte und die berühmte Helgoländer Hummersuppe. Zeitweilig lebte ich nur von Hummer. Kaum war ich allein in der Küche, langte ich in den Hummertopf und stopfte mich mit dem wohlschmeckenden Fleisch voll. Ein köstlicher Genuß.
Ich arbeitete zwar lange, harte Stunden, aber das lockere Inselleben und das Meer versüßten mir die Härten. In meiner Freizeit ging ich täglich zum Strand. Meistens rüber zum FKK-Gelände, um mir die nackten Frauen anzusehen.
Leider kam ich nie mit meinem Geld aus. Trotz der Trinkgelder war ich ständig pleite, weil das Leben auf Sylt sehr kostspielig war. Nach Kleidung, Zigaretten, Wäscherei und dem abendlichen Kneipen hier war nicht viel übrig. Mal die große Sause machen und ein Mädchen einladen war selten drin.
Nach Meta war ich ohnehin von den Weibern kuriert. Die faß ich nur noch mit der Feuerzange an, sagte ich mir.
Wenn ich nach Feierabend braungebrannt, mit weißer Hose, gepflegtem Sporthemd und Sonnenbrille und mit einer dekorativen FAZ unterm Arm (fand ich damals geil) auf der Louisenstraße langschlenderte, fühlte ich mich wie der Größte. Es war fast so, als wäre ich einer der reichen Sylt-Urlauber. Mit der Zeit kam mein Selbstbewußtsein zurück, und das Birkumer Drama war fast vergessen. Dann wurde es Spätsommer und die Saison näherte sich ihrem Ende. Ich wußte, meine Tage als Tellerwäscher waren gezählt.
Meiner Mutter schrieb ich beruhigende Briefe. Ich lobte mein neues Leben in höchsten Tönen und teilte ihr mit, daß ich vorhatte, für immer auf Sylt zu bleiben.
Postlagernd antwortete sie mir: «Junge, Du kannst zurückkommen. Die Schulkommission hat entschieden, daß Du wieder aufgenommen wirst, weil es dem Schulverweis an Beweiskraft fehlt. Der Rektor war zu voreilig.»
Aber dafür war ich zu stolz. Für die in Birkum war ich doch für immer als kleiner, mieser Dieb abgestempelt.
Nach langer, reiflicher Überlegung beschloß ich, mich nach Bremerhaven zurückzuziehen, um dort eine kaufmännische Lehre zu absolvieren.
OK, ich hatte das Abi nicht geschafft, aber immerhin die Mittlere Reife. Und so konnte ich noch etwas aus meinem zukünftigen Leben machen.
Nach Saisonschluß fuhr ich direkt nach Hause.
Meine Lehrzeit war eine Katastrophe. Die ganze Firma schien nur aus perversen Folterern zu bestehen, die ein gemeinsames Hobby hatten: Lehrlinge schikanieren!
Mein erster Arbeitstag bescherte mir bereits das erste unangenehme Erlebnis. Mutter kratzte die Wochen davor ihre Spargroschen zusammen und kaufte mir gute Arbeitskleidung. Weiße, bügelfreie Nyltex-Oberhemden, schwarze Hose, ein graues Jackett und schwarze Lederschuhe. Als ich um neun Uhr früh in das Verlagsgebäude kam, klopfte mir das Herz vor Aufregung bis zum Halse. Mutter kam mit mir bis zur Tür.
«Siehst gut aus, mein Junge», sagte sie überzeugt. «Toi, toi, toi!»
Dann ging ich rein, zum Personalbüro. Im Vorzimmer traf ich den anderen neuen kaufmännischen Lehrling, ein hübsches Mädchen, das Anna hieß. Sie war nicht die Spur nervös.
Der Personalchef ging mit uns durch alle Abteilungen: Auftragsannahme, Kasse, Vertrieb, Sekretariat, Werbung und Buchhaltung. In jeder Abteilung wurden wir den Mitarbeitern vorgestellt, und er erklärte uns deren Aufgaben. Als wir nach zwei Stunden durch waren, hatte ich alles wieder vergessen. Da waren einfach zu viele Gesichter, Namen und Fachwörter.
Mich steckten sie in die Buchhaltung … Buchhaltung! Schon der Name klang langweilig.
Ein blasser, gebückter Angestellter gab mir meine Arbeit: Zahlenkolonnen von Rechnungsbeträgen auf Richtigkeit vergleichen. Ein unangenehmer, nie-endender Job. Immer wieder schaute ich auf die Uhr. Die Zeiger waren wie festgeschweißt. Die Zeit ging und ging nicht rum. Dann … endlich! … war es ein Uhr und Mittagspause. Ich rannte hinaus und war erschüttert.
Das kann nicht das Leben sein! Es bis ans Ende meiner Tage in verstaubten Büros verbringen. Was für ein gruseliger Gedanke! dachte ich verzweifelt. Hätte ich bloß mein Abi gemacht und wäre Journalist geworden.
Hinter dem Verlagsgebäude war ein Ententeich. Dort setzte ich mich ins Gras und aß mein Butterbrot. Ich träumte vom Meer …
Auf den schäumenden Wogen tanzte ein Katamaran, in der fernen Südsee. Am Ruder stand ich, mit Prinz-Heinrich-Mütze und blauem Blazer, als Kapitän und Eigner. Die Salontür, die mit geschliffenen Fenstern versehen war, öffnete sich. Heraus kam eine blonde Bikinischönheit, mit blauen, blitzenden Augen: Meta, mein einziger Passagier. Braungebrannt, mit Blumen im Haar, legte sie sich auf die gepolsterte Bank des Ruderdecks. Das Segeltuch an den Masten knatterte. Die deutsche Flagge knallte im böigen Wind. Ein paar Möwen begleiteten das schwankende Schiff. Ein schöner Traum! Ich werde ihn realisieren. Aber Meta? Daraus wird wohl nichts, dachte ich verbittert und verdrängte alle Gedanken an sie. Dann war die Mittagspause vorbei. Das Menschenmaterial kehrt in die Maschinerie zurück, stöhnte ich und ging zurück ins «Grab». Mein Name für die Buchhaltung, die ich so scheußlich fand.
Im Vorraum saßen ein paar ältere Angestellte, aßen ihre Mittagsbrote und versperrten mir den Weg.
«Stift! Wurm! Auf den Boden mit dir», rief der großmäulige Verkaufsleiter.
Alle lachten. Sie hätten einfach ein bißchen zur Seite rücken können. Obwohl ich sie höflich drum bat, machten sie’s aber nicht.
«Kriech schön auf dem Bauch. Hinter den Stühlen durch. Damit trainierst du die Nr.-Eins-Übung beim Tageblatt. Nur so wird man was in diesem Laden. Los, Wurm! Kriech!»
Die anderen hielten sich die Bäuche vor Lachen.
Ich ging zu Boden und kroch in meiner neuen Kleidung auf dem staubigen Fußboden zu meinem Arbeitsplatz. Was blieb mir anderes übrig? Mit meinem bißchen Lebenserfahrung konnte ich nicht lässig kontern. Ich kroch also und ärgerte mich schwarz.
Nur fünfzehn Busminuten von Birkum entfernt mietete Mutter ein Zwei-Zimmer-Apartment. Mit modernem Bad und Küche. Wir waren froh, endlich eine ordentliche, angenehme Wohnung zu haben.
Fünf Monate später bekam ich die Portokasse mit dem verdammten Freistempler zu meinen Aufgaben dazu.
Das war schlimm, weil ich nun den letzten Rest an Freizeit verlor. Wenn die anderen nach Hause gingen, brachten sie mir noch ihre Briefe. Oftmals kamen erst eine ganze Stunde nach Betriebsschluß noch Berge von Post. Die mußte ich dann falten, kuvertieren, frankieren und ins Portobuch eintragen.
Dann holte ich die Schubkarre, füllte sie mit den Postsäcken und schob sie durch die Hintergassen zum Postamt. Ich genierte mich, auf der Hauptstraße, dem direkten Weg, zu gehen. Es hätten mich vielleicht Bekannte sehen können. In meinen Augen sah ich mit der blöden Karre wie ein Hilfsarbeiter aus. Als das einer der Angestellten spitz kriegte, lachte mich die halbe Firma aus. War mir aber egal.
Jeden Morgen mußte ich der eingebildeten Chefsekretärin Freistempler und Portobuch mit Endaddition vorlegen. Für mich die reinste Hölle! Denn die stimmte bei mir nie. Trotzdem arbeitete ich Abend für Abend hochkonzentriert, um keine Fehler zu machen. Immer ging ich mit angekratzten Nerven nach Haus. Ich tat mein Bestes, aber es half nichts. Am nächsten Morgen mußte ich mir erneut das Gekeife von Fräulein Sommer anhören.
«Du bist eine Niete, wie wir sie noch nie hatten!» schimpfte sie. «Fehlbetrag von fünfundsechzig Pfennig», trug sie zum Ausgleich ins Portobuch ein und schüttelte angewidert den Kopf.
Das färbte auf die anderen Angestellten ab. Für die war ich bald eine Pflaume.
In der Berufsschule ging auch alles schief. Mein erstes Zeugnis war schlimm. Der Chef, der es unterschreiben mußte, war verärgert.
«So etwas fällt auf den Lehrherrn zurück. Es wäre besser, du wärst gleich Hilfsarbeiter bei der Schiffswerft geworden!» schrie er zornig.
Ja, meine Lehrzeit stand von Anfang an unter einem schlechten Stern. Ich bekam eine Negativeinstellung zu allem, was mit der Lehre zusammenhing, und haßte allmählich die Arbeit und den Verlag.
Es kam wieder ein Morgen und ein neuer Fehlbetrag von dreizehn Pfennig. Zerknirscht schlich ich in den ersten Stock. Am Fahrstuhl traf ich Anna, das Musterbeispiel eines erfolgreichen Lehrlings. Sie bemerkte das Portobuch.
«Fehlbetrag von dreizehn Pfennig», sagte ich und zog eine Grimasse.
Sie lächelte überheblich. «Fehlbeträge haben nur Idioten», sagte sie nicht gerade freundlich. Aber sie gab mir den entscheidenden Tip: «In dem Fall mußt du sieben Pfennig in die Luft frankieren und einen Brief an W. Schmidt mit 20 Pfennig eintragen. Schon stimmt dein Portobuch.“
«Einfach in die Luft frankieren?»
Na klar! Sonst stimmt das Scheißportobuch nie. Die vergammelte Mechanik des Frankierers addiert schon seit Jahren falsch.»
Obwohl ich Anna sonst nicht ausstehen konnte, rechnete ich ihr diesen Rat hoch an und nahm mir vor, netter zu ihr zu sein.
«Du bist ein guter Kumpel. Danke», sagte ich.
Sie zuckte die Achseln.
Dann ging ich an meinen Arbeitsplatz und tat, was sie mir geraten hatte. Zum ersten Mal stimmte das Portobuch mit der Maschine überein. Glücklich rannte ich zum Chefsekretariat.
Fräulein Sommer wartete schon auf mich. Sie verglich stirnrunzelnd die Zahlen und schaute dann erstaunt hoch. «Der Kerl hat heute großes Glück gehabt», sagte sie kopfschüttelnd und zeichnete den Stand ab.
Von da an stimmte mein Portobuch immer.
Aber ich hatte andere Schwierigkeiten. Die verschiedenen Abteilungsleiter schoben mich einer nach dem anderen ab. Keiner hatte Verwendung für mich. Ich war einfach zu schlecht. Auch die Schule packte ich nicht, obwohl ich mich verzweifelt bemühte. Erst zwanzig Monate waren um, als mein Lehrvertrag platzte. Die Schule teilte meinem Chef mit, daß meine Chancen für einen erfolgreichen Abschluß mit Gehilfenbrief gleich Null waren.
Er ließ mich zu sich rufen.
«Du bist der faulste Stift, der je in dieser Firma lernte! Du schaffst es nicht», sagte er barsch. «Sag deiner Mutter, ich muß mit ihr reden.»
Ich war am Boden zerstört. Das war zuviel für mich. Da flippte ich aus! Ich schnappte mir den Papierkorb und kippte ihm den Inhalt auf seinen eleganten Eichenschreibtisch. Dann schrie ich: «Sie bösartige Krabbe!»
Verärgert stand er auf, ein fetter, würdig aussehender Graukopf, mit einer Zornfalte auf der Stirn. «Du elender Wicht. Raus mit dir, für immer!» brüllte er mit rotem Kopf.
Die Tür ging auf, und die Chefsekretärin, vom Lärm angelockt, kam herein. Ich rannte durch die offene Tür und schubste sie gegen den Türrahmen. Sie schrie auf. «Mein Kopf … Aua!»
Ich packte meine Sachen zusammen und verließ das Verlagsgebäude für immer. Der furchtbare Druck wich. Ich fühlte mich auf einmal frei.
Aber wie sollte ich das Mutter beibringen?
War eine lausige Situation. Ich war fast neunzehn Jahre alt, arbeitslos. Und kein erlernter Beruf. Mutter weinte das ganze Wochenende. Einen erwachsenen Sohn mit ihrem bescheidenen Gehalt durchfüttern. Das war hart!
Ich jobbte hier und da: Prospekte verteilen, Gartenarbeit, Hilfsarbeiter im Hafen und in der Autowaschanlage. Nichts war mir zu schlecht. Ich nahm jede Arbeit an.
In meiner freien Zeit lebte ich für meine Kunstbücher, studierte sie immer intensiver und eignete mir von Buch zu Buch immer mehr Wissen an. Ich träumte von Vaters Gemälden.
Was wohl aus dem Cranach geworden ist? dachte ich oft.
Abends ging ich in die Kneipen im Hafenviertel. Meistens ins Bermuda-Dreieck. Zum Biersaufen und Automatenspielen.
Die Spielautomaten wurden meine große Leidenschaft. Stundenlang stand ich am Automaten und steckte Groschen rein. Obendrauf standen mein Bierglas und ein Aschenbecher mit meinem Glimmstengel. Die Musikbox plärrte Rock ’n’ Roll. Die Kneipe war brechend voll. Vor lauter Zigarettenqualm konnte man kaum die andere Wand erkennen. Dieses Milieu machte mich immer an. Nach zwei Steinhägern und einem Bier war ich in Topform.
Die bunten Räder des Spielautomaten drehten sich unentwegt. Mein Glück waren die drei goldenen Glocken. Wenn sie im mittleren Feld auftauchten, wurde es spannend. Links eine Glocke … in der Mitte eine Glocke. O Gott, bitte auch rechts!
Ich deckte das rechte Fensterchen mit der Hand ab, um den Spannungsmoment zu verlängern. Das Rad stoppte. Vorsichtig lüftete ich die Hand, um aufgeregt in das letzte Fensterchen zu schauen Hurra, noch eine goldene Glocke!
Bei drei Glocken in einer Linie spielte der Automat eine markante Glockenmelodie. Dann wußte die ganze Kneipe, daß man den Haupttreffer erzielt hatte. Dieser, zehn weitere Spiele, in denen sich jeder Gewinn auf volle zehn Mark aufrundete, war toll. Da spielte man dann clever auf die Vierzig-Pfennig-Chancen, die fast jedes zweite Mal kamen, mit einem Hauptgewinn von zehn Mark. Das war ein mordsgeiler Moment. Da fuhr ich voll drauf ab und war richtig glücklich … Glücklich? Ach ja, doch.
Im Bermuda-Dreieck kannten mich alle. Groschen-Peter nannten sie mich. Wegen der Dauerspielerei am Automaten. War schon OK. Der Name paßte zu mir. Dort war ich wer: ein richtiger anerkannter Stammgast. In der Kneipe galt mein Wort was.
Wir führten nächtelang nie endende Diskussionen über Politik, Fußball, Arbeit und natürlich Sex und Weiber. Wir hatten große Sprüche drauf und kannten uns in der Welt aus. Und merkten nicht, daß wir nur ein paar dumme junge Säufer waren: in der Kneipe die «Kings» und im richtigen Leben die Versager.
Jeder Stammgast hatte sein Konto. Edwin, der Wirt, führte genau Buch. Auch wenn du kein Geld hattest, konntest du als Stammgast auf Anschreiben saufen. Es war prima. Bloß wenn gelohnt wurde, war’s schlimm. Ein mittlerer Stammgast gab so im Monat seine vierhundert Mark aus. Das war viel Geld, wenn du nur neunhundert Mäuse im Monat machst.
Aber etwas muß der Mensch doch vom Leben haben.
An einem Sonntag, als ich zum Frühschoppen ins Bermuda-Dreieck ging und an der Barockkirche der St. Bonifatius-Gemeinde vorbei kam, strömten gerade die Kirchenbesucher heraus. Jemand drückte mir einen Zettel in die Hand. Ich steckte ihn ungelesen in meine Manteltasche.
Edwin schloß gerade auf, und ich war der erste Gast. Fröstelnd stellte ich mich an die Theke. Es herrschte typisches Bremerhavener Mistwetter. Die Fenster und Türen waren weit geöffnet, um den Mief der letzten Nacht rauszulassen. Zum Aufwärmen knallte ich mir einen Doornkaat rein. Dann ein Helles zum Nachspülen. In der Musikbox lief «I Can’t Get No Satisfaction» von den Rolling Stones.
Da raschelte das Papier in meiner Manteltasche. Ich zog das Blatt heraus. In schlecht lesbarem Schreibmaschinensatz stand oben drauf: «St. Bonifatius Nachrichten». Darunter waren ein paar Worte des Pfarrers, an die Gemeinde gerichtet, gedruckt sowie eine Auflistung der monatlichen Kirchentermine: Wochentage und Uhrzeiten der Gottesdienste, Kommunionsstunden, Pfarrclub-Nachrichten, Beerdigungen und sonstige Gemeindedaten. Unten am Fuß stand eine Anzeige: «Betten kauft man bei Betten-Breiter».
Die Rückseite sah auch so aus. Da waren jede Menge Termine und darunter eine Anzeige: «Kauf deine Brille bei Brillen-Wille!»
Ich las es aus purer Langeweile. Dann knüllte ich den scheußlich gedruckten Zettel zusammen und warf ihn über die Theke in den Abfalleimer.
Ich bestellte ein frisches Bier, stellte es auf den Automaten, steckte mir eine Zigarette in den Mund und warf die ersten Münzen ein. Ich nahm mir vor, nicht zuviel zu verspielen, denn die Verdienstmöglichkeiten in den nächsten Wochen sahen schlecht aus.
Nach dem ersten guten Gewinn wollte ich eigentlich aufhören. Aber ich war schwach drauf, und der Automat schluckte mein Geld im Nu weg. Zweimal warf ich ein Fünfmarkstück rein. Danach zwei Zweier. Dann war ich pleite. Scheiße!
Ich ging zu Edwin an die Theke und bestellte noch ein Bier.
«Aufs Konto, Edwin», sagte ich lässig.
Der schrieb es ins Buch und sagte ernst: «Stehst ganz schön hoch in der Kreide, Peter. Das ist dein letztes Bier auf Anschreiben. Du mußt erstmal eine Zahlung leisten. Dann hast du wieder Kredit … OK?»
Ich nickte und langte mir mein kühles Bier.
Das Leben ist doch ein Mordsbeschiß, dachte ich.
Dann hielt ich mich an dem Glas noch eine Stunde fest. Ein paar Stammgäste kamen und gingen, aber keiner, den ich ein bißchen besser kannte. Noch länger am Glas festhalten konnte ich mich dann nicht mehr.
«Edwin, mach’s gut», sagte ich, knöpfte den Mantel zu und verließ das Lokal. Draußen pfiff mir ein eiskalter Wind ins Gesicht.
Als ich an der Kirche vorbeikam, fiel mir das Mitteilungsblatt wieder ein.
Das könnte man viel besser machen. Da müßten noch ein paar Anzeigen mehr rein, dachte ich.
Als ich zu Hause ankam, nahm ich mir Papier, Bleistift, eine Tageszeitung und Klebstoff. Damit bastelte ich ein schlankes, westentaschengerechtes, sechsseitiges Kirchenblatt. Ein wickelfalzgefaltetes Din-A-4-Blatt mit richtigem Druckereisatz. Auf jeder Innenseite meines Entwurfes waren zwei Anzeigen. Das ergab insgesamt zehn. Nehmen wir an, jede Anzeige kostet fünfundvierzig Mark. Dann bringt jede Ausgabe vierhundertfünfzig Mark Anzeigenerlös, rechnete ich in Gedanken. Dann hatte ich die Idee …
Idiotisch, gerade mit der Kirche Geld verdienen zu wollen. Aber ich probiere es, dachte ich und legte das Blatt beiseite.