Читать книгу Geflügelte Worte aus der Antike - Klaus Bartels - Страница 13
Carpe diem!
ОглавлениеIm späten 5. Jahrhundert v. Chr. hat der Sophist Antiphon als erster dazu aufgerufen, das Leben im Heute zu leben: „Es gibt Menschen, die das gegenwärtige Leben nicht leben, sondern sich mit viel Eifer erst noch darauf vorbereiten, als ob sie irgendein anderes künftiges Leben leben sollten, nicht dieses gegenwärtige, und währenddessen geht unvermerkt die Zeit vorüber.“ In der Folge haben sich die Epikureischen Lebenskünstler den lebensfrohen Appell des alten Sophisten zu eigen gemacht, und im späten 1. Jahrhundert v. Chr. hat der Römer Horaz dem Leben im Hier und Heute die kurze, ansprechende Ode gewidmet, aus deren Schlussvers sich das geflügelte „Carpe diem“ in die höchsten Sphären des Zitatenhimmels aufgeschwungen hat:
„Tu ne quaesieris, scire nefas, quem mihi, quem tibi finem di dederint, Leuconoe, nec Babylonios temptaris numeros. Ut melius, quidquid erit, pati. Seu plures hiemes seu tribuit Iuppiter ultimam, quae nunc oppositis debilitat pumicibus mare Tyrrhenum: Sapias, vina liques, et spatio brevi spem longam reseces. Dum loquimur, fugerit invida aetas: Carpe diem quam minimum credula postero.“
Golo Mann hat das Gedicht im Versmass übersetzt:
„Niemals frage du nach, Wissen bringt Fluch, wann denn wohl mir, wohl dir
Götter den Tod bestimmt, Leuconoë, auch babylonische
Zahlen lass unversucht. Besser ist’s doch, schicksalergeben zu sein.
Ob der Winter noch viel Jupiter schenkt oder den letzten auch,
der dem Tyrrhenischen Meer rings um den Fels eben die Wasser wühlt:
Du sei weise, mein Kind, pflege den Wein, gib in der kurzen Frist
langer Hoffnung nicht Raum. Reden wir noch, flüchtet die neidische
Zeit für immer davon. Freue dich heut. Traue dem Morgen kaum.“
Dort ein unwirtliches Draussen, wo sich die anbrandenden Wogen an den ausgehöhlten Uferfelsen brechen, hier ein geborgenes Drinnen, wo Horaz bei einer – uns nicht weiter bekannten – Leuconoë zu Gast weilt. Ein knapper Hinweis deutet auf den Wein und das Sieb, ihn durchzuseihen; alles Übrige bleibt im Dunkeln. Ist da Liebe im Spiel? Wer weiss; vielleicht deutet das fein verbindende „quem mihi, quem tibi …“ am Anfang auch nur auf das gemeinsame Menschenlos. Wie der Blick der beiden aus dieser geborgenen Zweisamkeit bei einem Becher Wein auf die raue Brandung und das graue, unruhige Meer hinausgeht, so schweifen die Gedanken der Frau in eine dunkle, ungewisse Zukunft hinaus, die auch die „babylonischen Zahlen“ der Winkelastrologen nicht erhellen können.
Ihren Sorgen und Ängsten gilt das Wort des Dichters: acht asklepiadeische Langverse mit ihren jeweils drei kurzen Versgliedern. Ein entsprechend kurz angebundener Ton zieht sich da von dem brüsk einsetzenden „Tu ne quaesieris …“, „Du frage nicht …“, über ein fast unwilliges „Ut melius …“, „Wieviel besser ist’s doch …“, und ein besänftigendes „Sapias …“, „Sei doch vernünftig …“, bis zu unserem knappen, aufmunternden „Carpe diem!“, wörtlich am ehesten: „Ergreif den Tag!“, hindurch. Die Botschaft ist deutlich: die im eigentlichen Wortsinne „vorhandene“, handgreiflich gegebene Glückschance des gegenwärtigen Tages nicht an ungewisse, irrlichternde Zukunftsängste oder Zukunftsträume zu verlieren. Aber wie das übersetzen? Das lateinische carpere‚ das eigentlich das „Pflücken“ von Blüten und Früchten bezeichnet, doch öfter auch wie hier für ein entschiedenes Zugreifen gebraucht wird, verströmt noch einen Hauch von Blütenduft. Aber der ist im Deutschen nicht wohl einzufangen; ein pseudo-treues „Pflücke den Tag!“ wäre doch allzu künstlich. Der in seinen – wenigen – Horazübersetzungen sonst so wortgetreue Golo Mann nimmt sich hier die Freiheit, aus allem „Pflücken“ und „Greifen“ vollends auszubrechen, und schreibt getrost „Freue dich heut!“ Er hat es getroffen.
Ein halbes Jahrtausend nach dem Sophisten Antiphon hat der Moralist Seneca das alte Paradox des an die Zukunft verlorenen Lebens zur geschliffenen Pointe eines Briefes gemacht: „An vielen Menschen ist das Leben schon vorübergegangen, während sie noch die Ausrüstung für dieses Leben zusammensuchten. Mustere sie einzeln jeden für sich, betrachte sie alle miteinander: Da ist keiner, dessen Leben nicht aufs Morgen blickte. Was daran Übles sei, fragst du? Ein unendliches. Denn diese Menschen leben ja gar nicht, sondern haben nur erst vor zu leben. Alles schieben sie auf. Selbst wenn wir alle Kräfte anspannten, liefe das Leben uns dennoch davon; jetzt aber läuft es, während wir säumen, gleichsam wie ein fremdes an uns vorüber und wird am letzten Tag beendet, an jedem verloren – nunc vero cunctantes quasi aliena transcurrit et ultimo die finitur, omni perit.“
Vgl. „Tempora tempore tempera!“, unten Seite 130.