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Tagebuchnotizen wozu?

Das kleine Buch „Zwischen Revolution und Aufbruch“ enthält Tagebuchaufzeichnungen von Begegnungen mit Menschen in Pakistan, Tunesien, Ägypten und Myanmar in der ersten Hälfte des Jahres 2012. Es geht um Wahrnehmungen und Impressionen, um Gesprächsausschnitte, die vermutlich ebenso subjektiv wie, inhaltlich gesehen, kurzlebig sind. Der Inhalt des Buches wird sich durch den Lauf der Dinge, durch neue, unerwartete Entwicklungen in den vier sehr unterschiedlichen Ländern schnell überleben. Über die geschilderten Konflikte und Entwicklungen hinaus werden neue Konflikte, neue Machtkämpfe, neue Fragestellungen und Entwicklungen sich zeigen. Doch enthält die Publikation auch Deutungen von Ereignissen und Erkenntnisse aus den gegenwärtigen Entwicklungen, die meine Gesprächspartner aufgezeigt haben und die noch lange zur Diskussion stehen werden. Dadurch erhalten die Tagebuchaufzeichnungen über die Tagesthemen hinaus Einsichten und Standpunkte, die vermutlich noch lange bedenkenswert sein werden.

Das Buch enthält keine wissenschaftlichen Analysen, obwohl zahlreiche Deutungen der gegenwärtigen Situation durch meine Gesprächspartner auf gründlichen Analysen beruhen. Der Schwerpunkt aber liegt auf Erfahrungen und Lebensweisheiten, die mir häufig unbekannte Menschen mitgeteilt haben. Nur wenige meiner Gesprächspartner kannte ich schon zuvor. Bedeutungsvoll waren für mich Gespräche mit Frauen und Männern auf der Straße, mit Studenten, die mir über den Weg liefen, mit Taxifahrern und Gelehrten, mit Theologen, Journalisten und Analphabeten. Nicht immer, aber häufig tun sich in derart zufälligen und spontanen Gesprächen Sinnhorizonte auf, die ich als erstaunlich empfand. Plötzlich sind Menschen sich nahe, die sich eine halbe Stunde zuvor noch fremd waren.

Zwei der vier Länder habe ich schon mehrfach besucht: Pakistan erstmals 1976, Myanmar 1979. Menschliche, freundschaftliche Beziehungen sind in diesen beiden Ländern vornehmlich mit einigen pakistanischen und myanmarischen Amtskollegen und Ordensleuten entstanden. Tunesien und Ägypten habe ich zum ersten Mal besucht. In allen vier Ländern waren es Mitglieder der Charles de Foucauld-Gemeinschaften, die meine ersten Gesprächspartner und primären Gewährsleute waren. Ob sie zu den Kleinen Schwestern Jesu oder zu den Kleinen Brüdern Jesu oder zur Priestergemeinschaft Jesus Caritas gehören – es sind Frauen und Männer, die das Alltagsleben der Menschen ihres Landes kennen, und zwar deshalb, weil sie nachbarschaftliche und freundschaftliche Beziehungen mit Menschen aus armen, benachteiligten Bevölkerungsschichten pflegen. Ihr Christsein orientiert sich nicht an kirchlichen Hierarchien oder an dogmatischen Lehrsätzen, sondern an den Alltagssorgen und Lebensfreuden der Menschen, die in ihrer Nachbarschaft leben. Menschen des Herzens begegnen sich auf derselben Höhe. Das Herz und das Kreuz sind Erkennungszeichen von Charles de Foucauld und der Mitglieder der nach ihm benannten Gemeinschaften.

Charles de Foucauld

Charles de Foucauld wurde 1858 in Straßburg geboren. Als Jugendlicher entfernte er sich von seinem Glauben. Er trat in den Militärdienst ein, der ihn u.a. nach Nordafrika führte. Doch wollte er sich später nicht mehr dem Militär zur Verfügung stellen. Er unternahm eine Erkundungsreise durch Marokko (1883–1884). Dort war er von der Frömmigkeit und Gastfreundschaft der Muslime beeindruckt. Er fand langsam, von seiner gläubigen Cousine angeregt und von einem Priester in Paris begleitet, zurück zu seinem christlichen Glauben. Nach seiner Bekehrung beschloss er, unter den muslimischen Tuareg seine Berufung, Bruder aller zu sein, zu verwirklichen und „wie Jesus von Nazaret“ zu leben. Von 1901 an ließ er sich im algerischen Béni Abbès nieder – als Einsiedler, zu dem jedoch täglich Besucher kamen, die er empfing. Er wurde als „christlicher Marabut“ Freund vieler Tuareg. Am 1. Dezember 1916 wurde er von einem Wächter erschossen. 2005 sprach ihn Papst Benedikt XVI. selig.

Aus Foucaulds Lebenszeugnis und Vision einer „anderen Kirche“ sind seither über zehn Gemeinschaften entstanden. Die bekanntesten sind: Kleine Brüder Jesu, Kleine Schwestern Jesu, Gemeinschaft Charles de Foucauld, Priestergemeinschaft Jesus Caritas, Kleine Brüder vom Evangelium, Kleine Schwestern vom Evangelium, Sodalität Charles de Foucauld, Frauengemeinschaft Charles de Foucauld, Evangelisch-Lutherische Gemeinschaft Charles de Foucauld.

Die Kleinen Schwestern Jesu

leben als Ordensgemeinschaft auf ihre Weise das, was sie durch Charles de Foucauld als ihre Berufung erkannt haben. Sie wurden 1939 von Kl. Sr. Madeleine gegründet und leben – ähnlich wie Jesus 30 Jahre lang in Nazaret gelebt hat – unbeachtet mitten unter den Menschen. Sie gehen beruflicher Arbeit nach und ziehen sich immer wieder zur schweigenden Anbetung zurück. Ihr sehnlicher Wunsch ist es, Grenzmauern zwischen Menschen und Völkern abzubauen und als „Sauerteig“ der Einheit unter den Menschen zu leben. Es gibt etwa 1300 Schwestern weltweit in über 60 Ländern. In Deutschland befinden sich sieben Gemeinschaften, vornehmlich an sozialen Brennpunkten in größeren Städten.

Doch weshalb vier Länder und vier Völker hintereinander besuchen? Weil es sich um vier Völker handelt, die ich für interessant halte und die repräsentativ sind für andere Völker, die sich in ähnlicher Weise zwischen „Revolution und Aufbruch“, zwischen unaufhaltsamen Transformationsprozessen und grundlegender Orientierungssuche befinden. Diese wiederum gehen in allen genannten Ländern Hand in Hand mit unvermeidlichen neuen Konflikten und Unsicherheiten. Sie gehen an die Wurzeln der eigenen Identitäten. In den genannten Ländern hat mich am meisten interessiert, welche Rollen die Religionen, das Militär und die Wirtschaftselite spielen in ihren Verhältnissen zum „einfachen Volk“, zu Männern und Frauen, zu Kindern und Jugendlichen der Straße, zu Studenten und arbeitenden Jugendlichen im Besonderen. Ganz besonders interessierte mich, nicht nur aus beruflichen Gründen, die Suche der Völker nach neuer religiöser Selbstbestimmung und die Wirkkraft und Gestaltungsfähigkeit, die die Religionen in ihren Ländern in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Umgestaltungsprozessen haben. Über Letzteres wird in westlichen Medien häufig nur aus politischer oder soziologischer Sicht oder auf einseitige Weise, oft aus christlicher Überlegenheits- oder auch Unterlegenheitsperspektive berichtet. Mir geht es darum, die Christen und ihre partikularen Kirchen primär als Teil ihres jeweiligen Volkes zu verstehen und erst dann das Unterscheidende und Besondere hervorzuheben.

Die Frage, ob es einen „roten Faden“ gibt, der sich durch die besuchten Länder „zwischen Revolution und Aufbruch“ durchzieht, ist schwer zu beantworten. Eher wird dem nicht so sein. Aber Entsprechungen oder Verwandtschaften hinsichtlich der Aufstände und Entwicklungen in den vergangenen 15 Monaten in diesen Ländern sind nicht von der Hand zu weisen. Einerseits sind in Pakistan, Tunesien, Ägypten und Myanmar immer noch die Spuren der Kolonialzeit deutlich erkennbar und spürbar. Andererseits sind diese Völker nach Erlangung der nationalen Unabhängigkeit, also nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs, aufs neue Opfer des Konkurrenzkampfs der Weltmächte geworden. Die weltweite wirtschaftliche Globalisierung hat die Mehrheit dieser Bevölkerungen nach und nach in neue (stärkere?) Abhängigkeiten versetzt und vor nahezu unlösbare wirtschaftliche und kulturelle Aufgaben gestellt. Dies ist wahrhaftig genug an „rotem Faden“, der sich durch diese Länder zieht, bei all ihren geografischen, geschichtlichen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Unterschieden.

Ganz verschieden waren die Anlässe, die mich in diese vier Länder in der ersten Hälfte des Jahres 2012 führten: Einladungen von Mitgliedern der Charles de Foucauld Priestergemeinschaft Jesus Caritas waren Anlass der Besuche in Pakistan und Myanmar. Nach Ägypten war ich von den Borromäerinnen (Mutterhaus in Schmallenberg) zur Ostervorbereitung und zur liturgischen Feier der Kar- und Ostertage eingeladen worden. Nach Tunesien war ich auf eigene Faust losgereist, nur mit der Adresse der Kleinen Schwestern Jesu in der Hand. Ich wollte das Ursprungsland des inzwischen bisweilen belächelten Arabischen Frühlings und seine Menschen persönlich kennen lernen und mit eigenen Ohren hören, was Tunesierinnen und Tunesier uns zu sagen haben und wie sie selbst ihre bahnbrechende Revolution wenige Monate danach einschätzen – ein gutes Jahr nach der Revolution.

Zwischen Revolution und Aufbruch

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