Читать книгу Träume nicht dein Leben - lebe deinen Traum! - Klaus D. Schulz-Vobach - Страница 3
Neue Horizonte
ОглавлениеMit meinem Geist kann ich die Welt bewegen
Der Vollmond leuchtet so hell, dass die Mönche die Scheinwerfer abgeschaltet haben. Der große Buddha auf dem Berg schimmert jetzt bläulich. Sein Lächeln wirkt ein wenig spöttisch. Aber das muss wohl eine Täuschung sein. Denn der Erleuchtete kennt nur Weisheit und Güte.
Die winzigen Wellen, die sich auf dem See kräuseln, vom letzten Regenguss noch feuchte Blätter, der löchrige Asphalt mit den vielen welken Blüten, die von den Bäumen gefallen sind – alles glänzt und glitzert im Mondschein.
Das fahle Licht fällt auch durch das winzige Fenster eines Badezimmers in einem Vorort der kleinen Stadt. Vor dem fleckigen, alten Spiegel über dem Waschbecken steht Rivikamantha Sri Karunarathne und sieht sich in die Augen.
‚Hässlich’, denkt er. ‚Warum bin ich so hässlich – selbst in der Nacht?’ Aber in seinen großen, dunklen Augen brennt Energie. ‚Der Geist ist alles,’ glaubt er. Und laut sagt er zu sich selbst:
"Mit meinem Geist kann ich die Welt bewegen!"
Er starrt und starrt, sein rundes, plumpes Gesicht verschwimmt, das viel zu harte, dichte Haar, die große Nase mit den breiten Flügeln, die wulstigen Lippen, die nicht lächeln können, erscheinen konturenlos. Nur die Augen unter den buschigen Brauen leuchten stechend scharf. Die Augen sehen sich im Spiegel in die Augen.
Es kostet so viel Energie! Schweiß perlt über seine Schläfen, und im Nacken sträuben sich kleine Härchen. Die Hände zittern, ballen sich zu Fäusten. Ein Ruck geht durch den ganzen Körper. Und dann ist es geschafft. Mit einem leisen Klirren springt der alte Spiegel entzwei. Die Scherben fallen ins Waschbecken. Auf Karunarathnes Handrücken rollen sich winzige Blutstropfen zusammen. Er stöhnt – halb vor Erschöpfung, halb vor Erleichterung. Seine alten Kräfte hat er nicht verloren. Er wird sie brauchen. Sehr bald schon.
Verdienste fürs spätere Leben
Der summende Sprechgesang der Mönche im nahen Tempel verkündet den neuen Tag. Dharmasari Wickremasinghe gähnt verschlafen. „Musst du jetzt gehen?“, fragt Mahessika träge und zieht sich das Laken hoch über die Schulter. Der Mann antwortet nicht, als er sich aus dem Bett rollt und im Halbdunkel nach der Hose und den krokodilledernen Schuhen tastet. Er will jetzt raus aus dem traurigen kleinen Zimmer hinter seiner Kanzlei.
Als der Sprechchor der Mönche die Reinheit und die Tugenden des Erleuchteten preist, streichelt er noch einmal sanft die Wange seiner Geliebten.
"Deine Haut ist so zart und warm...und lebendig...", flüstert er in einem Anflug von ungewohnter Zärtlichkeit. Dann schließt er leise die kleine, braun gestrichene Holztür.
Noch sind Strassen und Plätze menschenleer. Wickremasinghe muss jetzt niemandem erklären, warum er zu so früher Stunde unterwegs ist – und dazu noch zu Fuß.
In Kandy kennt jeder den silbergrauen Jaguar des Rechtsanwalts. Wenn sein Fahrer den Wagen mitten auf den Bürgersteig vor der Kanzlei lenkt und ihm devot die Beifahrertür öffnet, dann wird er von vielen Augenpaaren beobachtet. Oft verneigen sich Frauen und Männer ehrfürchtig.
Wickremasinghe gilt als erfolgreicher Sohn der alten Königsstadt im Hochland der Tropeninsel. Seine Familie hat Spuren in der Geschichte von Stadt und Staat hinterlassen. Mit den oberen paar Hundert ist er, so sagen die Leute, auf du und du. Seine Kanzleien in Kandy und Colombo seien mächtiger als ein Ministerium. Und sagenhaft reich soll er sein.
Auch an diesem Morgen hat der hagere, kleine Mann seine Augen hinter der schweren Sonnenbrille versteckt. Ihn quälen ernste Sorgen. 'Erst mal richtig ausschlafen', denkt er. 'So ein junges Kätzchen ist ganz schön anstrengend in meinem Alter. Vielleicht sollten wir mal ein paar Tage ans Meer...wenn erst mal die Schulden vom Tisch sind.'
Auf dem Weg zu seiner Villa oben am Berg stolpert Wickremasinghe über ein Paar Füße. Aus zerlumpten Fetzen hebt sich ein Arm, die Hand zur Bettelgeste ausgestreckt.
"Ein kleines Almosen, Herr, für gutes Kama. Wir ernten, was wir säen, Herr."
Mechanisch wirft der Anwalt ein paar Rupies in den Staub. Dann überlegt er es sich anders.
'Die Absicht zählt! Wir müssen aus vollem Herzen geben! Mit beiden Händen! Verdienste für spätere Leben.'
Er hebt die Münzen wieder auf und legt sie dem Bettler achtsam in die Hand.
"Sei gesegnet, Herr! Mögen dir deine guten Taten belohnt werden!"
Der Weg zu Wickremasinghes Haus führt jetzt so steil bergauf, dass der Anwalt trotz der Kühle des Morgens ins Schwitzen kommt. Er war immer sehr stolz auf seine Kondition gewesen. Aber heute muss er sich eingestehen, dass ihn die letzten Wochen erschöpft haben. Er sollte auf seinen Arzt hören und kürzer treten.
Wickremasinghe verlangsamt den Schritt, bleibt stehen und schaut hinunter auf die kleine Stadt mit ihren freundlichen, gelben Lichtern. Der Vollmond ist weiter nach Westen gezogen. Der große, lächelnde Buddha erscheint ihm jetzt grau und seltsam düster. Noch schlägt kein Hund an. Nur die Krähenschwärme beginnen ihr ohrenbetäubendes Morgenspektakel.
Mit einem bitteren Lächeln auf den schmalen Lippen öffnet der Anwalt die quietschende Gartentür und schleicht sich zum Hintereingang seines eigenen Hauses. ‚Wie ein Dienstbote’, schämt er sich.
Soviel Rücksicht auf einmal
In einer Villa auf der anderen Seite des Sees hat der monotone Sprechgesang der Mönche Maximilian sanft aus seinen Träumen geholt. Alle Versuche, die Tempel-Töne zu überhören, misslingen.
Er wälzt sich noch eine Zeitlang von einer Seite zur anderen. Aber er möchte Messalina nicht wecken. So steht er auf und macht sein Frühstück. Die Morgendämmerung dauert nicht länger als das Eingießen des Kaffees.
Als der Sprechchor verhallt ist, sitzt Max schon an seinem Mahagoni-Schreibtisch. Er blättert noch einmal durch die Papiere, bereitet sich vor auf wichtige Gespräche, die Messalinas und sein Leben so entscheidend verändern sollen.
Max duscht lange und kalt, schlüpft in den blauen Anzug, der normalerweise in die allerhinterste Schrankecke verbannt ist, poliert noch einmal seine Schuhe, rückt vor dem Spiegel seinen Schlips zurecht und schüttelt dann energisch den Kopf. ‚So ein Blödsinn,’ denkt er. ‚Drei Stunden Busfahrt in der Hitze – da brauch’ ich keinen Binder und kein Sakko aus Hamburg.' Er reißt die Krawatte wieder ab, öffnet den Kragenknopf und fühlt sich fast wieder wie er selbst. Die Jacke nimmt er über den Arm und schleicht die Marmortreppe hinauf ins Schlafzimmer.
Messalina hat sich nicht gerührt. ‚Wie harmlos sie aussieht, wenn sie schläft,’ denkt Max. Dann küsst er sie zärtlich auf den Mund – ganz vorsichtig, um sie nicht zu wecken. Ebenso lautlos wie er gekommen ist, verlässt er den Raum mit dem großen Doppelbett, über dessen Kopfende zwei sich Liebende in Batik von der Wand herablächeln.
Max eilt die kurvige Strasse entlang hinunter zum See. Sein Aktenköfferchen schwingt unternehmungslustig. Die sonst so ruhige Wohngegend zwischen dem Urwald und der Stadt, erfüllt vom Duft der Frangipani-Blüten, Bugeinvilla, Hibiskus und Oleander, hat sich in ein lärmendes, stinkendes Chaos verwandelt. In scheinbar endloser Schlange schieben sich, Stoßstange an Stoßstange, Minibusse die Strasse entlang, jeder Wagen vollbesetzt mit artigen Mädchen in gestärkten, weißen Blusen und blauen Röcken - auf dem Weg zur Schule. Als Max nach ein paar hundert Metern durch die Blechlawine zur Hauptstrasse kommt, löst sich ein Tuk-Tuk aus dem Knäuel der wartenden Dreirad-Taxis.
"Waisworscht and Sourkrauts!", ruft der Fahrer zuversichtlich, dass ihm am frühen Morgen ein gutes Trinkgeld sicher ist. Er kennt seine Kunden. Dass Messalina und Max, die Deutschen, die weder singhalesisch noch Tamil sprechen, im neugebauten, hübschen Haus am Hang wohnen, und dass die Fremden kein Auto haben, das hat sich schnell herumgesprochen.
Das winzige Taxi wuselt im dichten Verkehr durch jeden freien Spalt, auf die falsche Fahrbahnseite und manchmal auch auf den schmalen Fußweg. In nur ein paar Minuten ist das Tuk-Tuk an der Markthalle, wo in den frühen Morgenstunden die Überlandbusse in alle Himmelsrichtungen aufbrechen. Das buntgemischte Gewühl quirlt wie Armeisen dicht auf dicht und querfeldein, zur Arbeit, zum Einkaufen. Mit selbstgebastelten Rollkisten voller Obst, Gemüse und Haushaltswaren strömen die Fliegenden Händler zum Markt. Auf beiden Seiten der vollgestopften Strasse wetteifern die Krämer in ihren Wellblech-Kiosken um Kunden.
Lauter noch als das Marketing der Obst- und Gemüsebranche ist das Geschrei der mageren, kleinen Busschaffner, die ihre zerbeulten, vierrädrigen Sardinen-Büchsen füllen möchten.
Möglichst überrandvoll, bevor sie in haarsträubender Jagd von einem Schlagloch ins nächste ihr Ziel ansteuern. Mit etwas Glück lässt sich die Strecke heute wieder dreimal fahren. Anstelle von zwei Touren. Das bringt einen Extrabonus für Fahrer und Schaffner.
Als Max an der Haltestelle ankommt, sieht er gerade noch ein verrostetes Busende lautstark hupend in einem Knäuel von Ochsenkarren, Fahrrädern und bunten Saris in Richtung Colombo entschwinden. „Der nächste kommt gleich,“ sagt ein Singhalese, der sich auskennt. Stilvoll wie im alten England hat sich eine Schlange gebildet. Max reiht sich ein unter den Wartenden.
Es dauert nicht lange, bis der nächste „Intercity“ startklar ist. Im Nu hat der Wagen die wartende Menschenfracht geschluckt - und mit dem unablässigen, melodisch schrillen Hupen der ersten vier Töne von Beethovens „Fünfter“ bewegt sich das schiefe Gefährt gewichtig heraus aus dem entnervenden Stadtgewühl. Vorne, über dem Kopf des jungen Fahrers, hängt zwischen frischen, süß duftenden Blumenketten ein Bild vom elefantenköpfigen Hindu-Gott Ganescha, dem Helfer bei der Überwindung von Hindernissen. Der billige Farbdruck ist von kleinen Glühbirnen eingerahmt, die immer dann blutrot aufleuchten, wenn der Fahrer auf die Bremse tritt. Auf dem Armaturenbrett sitzt zwischen wüsten Stapeln von Rockmusik-Kassetten ein in sich ruhender Buddha aus Gips, und an einem der dröhnenden Lautsprecher klebt ein kleiner Spiegel mit abgewetzten arabischen Schriftzügen. Die wacklige, hintere Stoßstange scheint von einem riesigen, vergilbten Aufkleber mit der Inschrift „Jesus, bete für uns!“ gehalten zu werden. Sicher ist sicher!
Max ist ein Neuling beim „Abenteuer Überlandfahrt.“ Er hatte damit spekuliert, auf seiner ersten Busreise auf der Insel einen Fensterplatz zu bekommen. Aber er konnte froh sein, dass er überhaupt einen Sitzplatz ergatterte. Die Busse fahren ab, wenn sie voll sind. Und voll heißt, dass auch der allerletzte Notsitz, quer über den Gang geklappt, besetzt ist. Keine Chance für Max, bequem zu reisen. Die Plätze sind auf einheimische Fahrgäste zugeschnitten. Und die sind hier eher zierlich.
Die ältere Frau im braun-goldenen Sari am Fenster neben ihm wühlt schon nach wenigen Minuten in ihrer riesigen Strohtasche und holt aus ihrem Blechbehälter den Reiseproviant, den sie Max mit strahlendem Lächeln direkt vor die Nase hält.
"Aah, Samosas", begeistert sich der ältere Mann auf dem Notsitz neben Max. "Hausgemachte Samosas. Sollten Sie unbedingt probieren!"
Die Samosa-Köchin, die gar kein Englisch versteht, nickt bekräftigend, und die Samosas rücken noch ein bisschen näher.
"Ja, langen Sie zu! Sie können's wirklich gebrauchen. Sie sind so blass!," sagt ein kaffeebrauner junger Mann , der sich über die Lehne des Vordersitzes beugt.
"Und so dünn!", ergänzt ein kräftiger Bass herüber vom anderen Fenster.
"Die Fremden essen alle viel zu wenig", beklagt ein dürres, altes Weiblein aus einer anderen Ecke.
"Bei denen zu Hause gibt's wahrscheinlich nichts Gutes," lacht ein Passagier.
'Weißwurst und Sauerkraut', denkt Max.
Unzählige Augenpaare verfolgen nun aufmerksam jede Kau-Bewegung. Max kann vor lauter Befangenheit kaum schlucken. Aber nach dem dritten scharf gewürzten Blätterteig-Täschchen richtet sich das allgemeine Interesse dann – endlich - dem Bus-Schaffner zu, der Anstalten macht, über die Fahrgäste im Gang zu klettern. Fast jeder im Bus kramt in Hosentaschen und Portemonnaie. 'Das Fahrgeld,' denkt Max. Und auch er versucht, an seine Geldbörse heranzukommen – was in der Enge gar nicht so einfach ist. Die Reisenden im hinteren Teil des Wagen bemühen sich, dem gegen Schaukeln und Bremsstöße ankämpfenden Schaffner zu helfen. Sie sammeln Münzen ein und geben sie nach vorne weiter. Ehe Max seine Rupie-Scheine bereit hat, hält der Bus quietschend an. Der Schaffner ist mit der Hand voll gesammelter Münzen herausgesprungen. Max registriert, dass er das Geld durch eine unscheinbare Öffnung in einer Mauer wirft. Fast alle Fahrgäste haben wie Betende die Hände vorm Gesicht aneinandergelegt und verbeugen sich kurz. In Sekundenschnelle ist der Schaffner wieder zurück.
Als der Bus anfährt und die Reisenden unsanft in die harten Sitze drückt, erkennt Max den Buddhistischen Tempel beim Botanischen Garten. ‚So viel Rückversicherung auf einmal,’ denkt er, ‚da kann ja nichts schief gehen auf dieser Fahrt.’ Über den von Tropen-Unwettern aufgerissenen Asphalt jagt der Bus nun auf der engen, kurvigen Strecke ins Tal. Jetzt ist es an Ganescha zu helfen. Denn bei der waghalsigen Fahrt gilt jeder Fußgänger, jedes Fahrrad, jedes Moped, jeder Lastwagen, Huhn oder Hund, Kind oder Kuh als unliebsames Hindernis, das sich besser schnell aus dem Wege macht.
Rivikamantha Karunarathne macht sich nichts daraus, dass er ganz hinten im Bus sitzt, wo es am meisten rüttelt. Er ist in seine Meditation versunken. Die Augen hält er fest geschlossen. Sein Atem ist fast zum Stillstand gekommen. Die Gedanken hat er ausgeschaltet. Nur Energie bündelt er im Hirn – Energie, die auf einen Punkt gerichtet ist. Zunächst hat Karunarathne jeden Atemzug mit ernsthaftem, ausschließlichem Interesse verfolgt. Als sich dann diese unglaubliche Ruhe über seinen Geist senkte, ging er über auf den weißen Punkt. Wie ein Vollmond, der überdeutlich, überklar in seinem Geist leuchtet. Nichts als der weiße Mond erfüllt seine Wahrnehmung. So hat er den Willen zur Macht entwickelt und gestärkt. Und dieser Wille ist zu einer eigenständigen Kraft geworden, die ihn treibt. Das beharrliche Training hat seine Konzentrationsfähigkeit so gesteigert, dass er – wie ein Computer – Nebensächliches beiseiteschieben und später bei Bedarf abrufen kann. Auch das Gespür für Stimmungen und die Wahrnehmung unterschwelliger Spannungen sind durch sein Training verschärft und verfeinert.
Maximilian, der ein paar Sardinen-Reihen weiter vorne sitzt, hat auch die Augen geschlossen. Sein untrainierter Geist hat sich in Tagträume verloren. Die Sonne steht jetzt so hoch am Himmel, sodass die Fahrgäste die braunen, schmuddeligen Gardinen zugezogen haben. Maximilian sieht nichts vom Leben am Straßenrand, von den jungen Müttern, die ihre Kinder in bunten Plastikschüsseln baden, von zähneputzenden Landarbeitern an Wasserfällen, von den ärmlichen und doch so sauberen Holzhütten, die – eingeklemmt zwischen Eisenbahn und Strasse – zu Siedlungen zusammenwachsen und unter den Slums dieser Welt eine gewisse Ausnahme sind. Denn es kann manchmal den Anschein erwecken, als ob in diesen Hütten geordnetere Verhältnisse herrschten, und dass entwickelte Menschenwürde und ein Sinn für Schönheit die Armut - vielleicht - bezwingen könnten.
Eine Haarnadelkurve, die der Chauffeur unter dem Ganescha-Bild mit überhöhtem Tempo angeht – die ihn zwingt, die Bremsklötze zum Glühen zu bringen – schreckt alle Fahrgäste im Bus auf. Selbst Karunarathne muß sich entschliessen, erst dann in seiner Meditation fortzufahren, wenn sich die Verkehrsverhältnisse etwas beruhigt haben. Neben Karunarathne versucht ein weißbärtiger alter Mann, einen Korb zwischen seinen Füssen gegen die Schaukelei zu sichern. ‚Diese Busse heutzutage!’, denkt er. ‚Wirklich verrückt, die Fahrerei auf den Straßen! Früher, mit den Ochsenkarren im Sand war das Leben so viel angenehmer!’
Die wilde Raserei geht Max nun auf die Nerven. Es war seine unbezwingbare Neugier, die ihn veranlasst hat, den Bus nach Colombo zu nehmen anstatt ein Taxi. Obwohl Messi nicht ausschloss, dass seine zweite, hervorragende Charakteristik eine nicht unwesentliche Triebfeder sei: „Ein Millionenprojekt willst du hier aufziehen! Tolles Risiko! Aus lauter Geiz tust du dir so was an! Fährst im Bus. Wie ein Tagelöhner!“ Damit sich Max nicht eingestehen muss, dass der interessierte Gleichmut, den er sich verordnet hat, schon aufgebraucht ist, bittet er seine Nachbarin, die braunen Scheibengardinen etwas zurückzuschieben, damit der Blick nach draußen wieder frei wird. Die einzig mögliche Ablenkung. Denn Lesen ist im Rüttelbus unmöglich.
Kaum fällt das grelle Sonnenlicht in die Sardinen-Enge, da versucht der Mann unter dem Elefantenkopf ein Bravourstück, das alle Anzeichen von Todesmut in sich trägt. Gelingt das Manöver, dann sind alle vielleicht zwei Minuten eher in Colombo. Misslingt es, werden wohl in den Abendnachrichten mal wieder ein paar Dutzend Unfalltote zu beklagen sein.
Wieder werden die Fahrgäste und ihr Gepäck durcheinandergewirbelt, so unsanft, dass Entschuldigungen von rechts nach links, von hinten nach vorne gemurmelt werden.
Plötzlich spürt Karunarathne Unheil. Er kann es nicht sehen. Aber die kleinen Nackenhärchen, die sich aufbäumen, signalisieren ihm, dass etwas nicht stimmt. Ganz langsam, - fast unmerklich – so als müsste er bewegungslos verharren wie ein gejagtes Wild, auf das nur dann geschossen wird, wenn es sich rührt in seinem Versteck – wendet er den Blick ab von dem schrill krächzenden Lautsprecher an der Decke, sucht zwischen den Köpfen, den Schultern vor ihm, tastet sich mit den Augen an den Holmen der Rückenlehne seines Vordermannes hinunter auf den vibrierenden Boden. Eingeklemmt zwischen den Füssen des Weißbarts registriert er das karierte Wickelbündel, das wie die gesamte Fracht im Bus den Gesetzen der Schwerkraft folgt. Linkskurve – und das Bündel kippt nach rechts. Rechtskurve – Kippe nach links. Und da sieht Karunarathne beides zugleich: den Rand eines Flechtkorbes unterhalb der blau-weißen Hülle und die – Kobra.
Zwischen zwei Kurven-Ruckeln ist das Tier aus dem Korb gerutscht und, Schutz suchend, unter den Sitz des Vordermannes geglitten. Auf einem kleinen Fleckchen zwischen den Füssen der Reisenden hat es sich zusammengerollt und fixiert von dort den Korb-Käfig unter dem losen blau-weißen Tuch. Ihren prächtigen Nacken hält die Schlange hoch aufgerichtet. Außer Karunarathne hat noch niemand im Bus etwas bemerkt – weder der weißbärtige Schlangenbeschwörer vor ihm noch die anderen Passagiere, die ahnungslos über die Landstrasse brausen.
Karunarathne sucht den Augenkontakt mit der Kobra im Halbdunkel unter dem Sitz. Unter seinen buschigen Brauen leuchten die dunklen Augen. Die Hände auf den Knien verkrampfen sich, ballen sich zu Fäusten. Energie wird gebündelt. Als ob ein Laserstrahl die Schlange trifft und sie gehorchen lässt, wendet das Tier nun den Kopf zu den dunklen, sprühenden Menschenaugen. Sekundenlang halten Mensch und Tier stumme Zwiesprache. Als dann der Blick der Schlange bricht, greift Karunarathne behutsam nach vorne unter den Sitz, berührt den geschmeidigen Hals und hebt das Tier sanft an, prüfend, ob es seinem Willen folgt. Die Schlange ist zahm wie ein Hamster.
Der Schlangenbeschwörer schreckt auf, als der geschmeidige Körper des Tieres seinen Fuß berührt. Auch der Nebenmann, mit dem Karunarathne wie ein siamesischer Zwilling Schulter-an-Schulter klebt, registriert angsterfüllt, dass eine Riesen-Schlange zu seinen Füßen liegt. Sein Angstschrei löst ein kleines Inferno aus. Panisch sucht der Schlangenbeschwörer nach seiner Flöte.
"Hilfe, Hilfe," schreit es durch die laute Rockmusik.
„Hilfe, eine Schlange!“, kreischt ein anderer Fahrgast am Fenster. Sein Angstgeschrei geht unter in den Rufen anderer Passagiere.
In wenigen Sekunden wächst das unkontrollierte Angstgejohle zu einem unglaublichen Geschrei heran. Es breitet sich von hinten im Bus nach vorne aus, konkurriert ernsthaft mit den Lautsprechern.
"Hilfe, eine Kobra," gellt es durch den Bus. Mehrere Fahrgäste versuchen, auf die Sitze zu klettern, werden herumgeschleudert, kommen zu Fall, landen hart auf ihren Nachbarn.
„Eine Viper!“,schallt es aus dem Mittelbus.
„Eine Python!“, ängstigt sich eine Frau weiter vorne.
„Hilfe! Schlangen!“, gellt es nun hysterisch in der zweiten Reihe.
Maximilian ist verunsichert. Wirklich ernst nimmt er das ganze erst, als sich die freundliche alte Frau neben ihm schluchzend an seine Schulter wirft. Was die Leute da ängstlich herumschreien, versteht er nicht. Nur Karunarathne hat sich von dem entfesselten Sturm der Angst nicht aus dem Gleichgewicht bringen lassen.
'Die Kobra muss zurück in den Korb. So schnell wie möglich!’, erkennt er.
Unterdessen hat der Weißbart seine Flöte an den Mund gesetzt. Mit dem kurzen, löchrigen Ding vollführt er merkwürdige Bewegungen. Mit den Fingerspitzen tanzt er über den Luftauslässen. Er schaukelt das Holz, wiegt es unablässig von rechts nach links, hin und her. Doch das Tier nimmt davon keine Notiz. Karunarathnes feuriger Blick ist wirksamer. Karunarathne schnalzt mit der Zunge –und als die Kobra weiter bewegungslos verharrt, greift er langsam nach dem Reptil. Seine Augen funkeln wie Blitze. Nun hebt Karunarathne sanft die Kobra hoch, bugsiert sie herüber zum Korb zwischen den Füßen des Schlangenbeschwörers. Im Nu hat er den Korb verschlossen. Und das blau-weiß karierte Tuch ist fest verknotet.
Das Geschrei ist nun endlich auch zum Fahrer vorgedrungen. Im Rückspiegel sieht er, dass einige seiner Fahrgäste auf den Sitzen stehen. Seine Vollbremsung vollendet das Chaos. Noch bevor die Tür aufgeht, drängelt - wer sich überhaupt irgendwie bewegen kann - nach vorne. Und erst jetzt kommt Maximilian der Grund für die Aufregung voll ins Bewusstsein: Kobra kann er verstehen. Und von einem Mann im weißen Hemd und Krawatte hört er „snake“, das englische Wort für Schlange. Nun wird es auch Max ungewohnt mulmig in der Magengegend. Und er schwört sich, ein paar Worte singhalesisch und auch tamil zu lernen – am besten beides – auf jeden Fall die Worte für „Hilfe“ und für „Schlange“.
Die Fahrgäste stolpern ins Freie. Jeder will als erster draußen sein. Als Max endlich auch an der Fahrertür ist, kommt ihm im Gedränge ein aufgebrachter Mann entgegen, die Fäuste über dem Kopf schüttelnd. Offenbar hat er es auf den Übeltäter abgesehen, der den ganzen Bus in Aufruhr versetzt hat. Denn keine Fahrgastverordnung der Welt sieht vor, dass in öffentlichen Verkehrmitteln Schlangen frei herumschleichen sollen.
Der wütende Mann will durch den Gang im Bus.
„Wo sind die Schlangen?“, herrscht er Karunarathne an. Der versperrt ihm den Weg.
„Nicht die Schlangen, sondern eine Schlange,“ entgegnet Karunarathne souverän.
„Die Schlange ist dort, wo sie hingehört. In ihrem Korb. Alles wieder in Ordnung.“
Doch das will der aufgebrachte Mann nicht glauben. Er versucht, sich an Karunarathne vorbeizuschieben, ihn beiseite zu stoßen. Aber der greift energisch nach seinem Arm und dirigiert ihn sanft aber bestimmt zurück zum Ausgang. „Raus aus dem Bus. Zum Streiten ist draußen mehr Platz!"
Am Straßenrand, in sicherer Entfernung zu dem Intercity-Raser, der ganz unvorschriftsmäßig schief – halb im Graben und halb auf der Fahrbahn – abgestellt wurde, stehen, sitzen, liegen nun die Fahrgäste herum, noch immer erregt diskutierend. Denn alle wollen die Riesen-Schlangen gesehen haben – vor allem die „acht - nein - zehn Meter langen, die sich einer Frau ganz hinten im Bus um den Hals schlingen wollten.“ Viele Passagiere halten die ineinander gepressten Hände vor ihre geneigten Köpfe, andere zupfen an ihren Amuletten. Ein Mann mit schwarzem Bart und weißer Kappe kniet mit Blickrichtung Nord-West - nach Mekka. Der Fahrer stellt fest, dass niemand verletzt wurde. Dann sagt er allen, die es hören wollen, es ginge gleich weiter. Denn drinnen im Bus würden die Giftschlangen jetzt eingefangen.
Um das abgestellte Vehikel, die Fahrgäste und einen Haufen Neugieriger hat sich im Nu ein neues Verkehrsgewühl gebildet. Überladene Lastwagen, Busse, Ochsenkarren und Tuk-Tuks zwängen sich laut hupend durch den Engpass. Der Schaffner spielt Hilfspolizist, erteilt Vorfahrt, stoppt zeitweilig den Gegenverkehr. Der Busfahrer und Karunarathne stehen ein wenig abseits. Gestenreich beratschlagen sie, was zu tun sei. Maximilian lehnt blass – aber tapfer – am Bus gleich neben der Fahrertür, die ein noch Tapferer zuvor geschlossen hat. Als die Beratergruppe zu einem Ergebnis gekommen ist, geht die Bus-Tür auf. Im Rahmen erscheint der Weißbart mit einem entschuldigenden Lächeln und dem blau-weiß-karierten Bündel. Beinahe würdevoll steigt er aus dem Wagen, den Schlangenkorb in der einen Hand, den Krückstock in der anderen. Er hält das Bündel in die Höhe, sodass es jeder sehen kann.
„Alles in Ordnung,“ ruft er.
Wie beim Start in Kandy geht es jetzt ganz schnell. Kaum ist der Schlangenbeschwörer mit seinem Bündel in sicherer Entfernung, kommt Bewegung in die Menge am Straßenrand. Keine drei Minuten später startet der Bus wieder – mit Vollgas. In der Staubwolke bleibt der alte Mann zurück – mit seinem Bündel im blau-weißen Tuch.
In ihren Kreisen gehört sich das so.
Im Halbschlaf hört Dharmasari Wickremasinghe beharrliches Telefonklingeln. ‚Warum lässt man mich nicht in Ruhe?’, denkt er. Er reckt sich, reibt sich das linke Auge und sucht im Dunkel nach Orientierung. Die schweren, roten Damast-Gardinen hatte er geschlossen, als er bei Tagesanbruch nach Hause gekommen war und sein Lager auf dem Sofa in der Bibliothek aufgeschlagen hatte. Dort schläft er oft – wenn er bis spät in die Nacht hinein an Akten arbeitet - und weil er oben im großen Doppelbett neben seiner Frau nicht willkommen ist.
„Ja, was ist denn?“, ruft er ungehalten in den Apparat.
„Ich bin’s...“
„Haben Sie das Geld an Ibrahim überwiesen?“, unterbricht er seinen Juniorpartner in Colombo - ohne abzuwarten, was der von ihm will.
„Waas, Konto nicht gedeckt? Die dritte Rate der Japaner war doch heute fällig!“
Während er nun doch den Mann am anderen Ende ausreden lässt, trommelt der Anwalt unruhig mit den Fingern auf dem Schreibtisch. Wickremasinghe kriecht fast in den Hörer hinein.
„Ist doch nicht wahr! Die Japaner waren doch bisher immer so...“ wirft er ein. „Also, nicht liquide?“
Sein Entschluss ist schnell gefasst. „Ich werde alles regeln. Ich komme sofort nach Colombo. Wir sehen uns im Büro. So gegen Drei.“ Er legt auf, immer noch wie benommen.
Wickremasinghe rasiert sich hastig. 'Du hast schon besser ausgesehen, alter Junge', sagt ihm das Gesicht im Spiegel. Seine rechte Augenhöhle tut weh. Den Schmerz empfindet er besonders, wenn er zu wenig geschlafen hat. ‚Das verdammte Glasauge muss raus!’, denkt er. ‚Sobald ich kann, geh ich nach Amerika und lass' es operieren.’ Er rückt die Sonnenbrille zurecht. Sie ist zu einer Art Markenzeichen geworden. Er trägt sie wie andere ihre Haftschalen, tagein, tagaus, in greller Sonne und in finsteren Nächten. Wickremasinghe bestellt den Wagen und geht hinauf ins Obergeschoss. Wie erwartet, trifft er seine Frau in ihrem Studio. Sie ordnet Bilderrahmen, offenbar für eine neue Ausstellung. Die gepflegte Mittvierzigerin hat ihm den Rücken zugewandt. Ihr seidenes, pechschwarzes Haar trägt sie offen.
Als der Anwalt ‚Guten Morgen’ wünscht, dreht sich Padma Wickremasinghe um und sagt kühl lächelnd: „Guten Nachmittag!“ Mit einer Handbewegung lädt sie ihn ein, auf dem kleinen Sofa am Fenster Platz zu nehmen.
„Hab’ leider keine Zeit. Muss sofort zurück nach Colombo. Geschäfte. Du weißt schon.“
„Seit wann bist du hier?“
Padma lächelt noch immer. An der Ehe halten sie fest. Denn in ihren Kreisen gehört sich das so. Scheidungen bringen sozialen Abstieg. Darin waren sich beide einig gewesen – nach dem großen Krach. Im Supermarkt hatte man ihr zugetragen, dass ihr Mann sie mit der netten Kassiererin betrügt. Seitdem ist ihr Lächeln zur Maske erstarrt.
„Bitte denk an den Scheck für Thilan! Er hat hier angerufen, weil er dich nicht erreicht hat. Dein Boy in Colombo sagte ihm, du seiest in Kandy,“ berichtet Padma ausdruckslos.
„Ja, mach ich,“ sagt er und denkt dabei: ‚Immer nur zahlen! Dieses teure Studium in Oxford! Konnte es denn nicht Colombo sein? Aber nein, das war der Mutter ja nicht gut genug für unseren Sohn! Wann hört das mal auf mit den Rechnungen?!’
„Und Najana möchte wissen, ob es bei der Reise bleibt. Sie muss sich beurlauben lassen.“
Der Anwalt nimmt sich vor, die Tochter anzurufen. Was er ihr sagen soll, weiß er nicht. ‚Najana ist immer so ungeduldig. Ich hab' doch nur beiläufig erwähnt, dass ich bald nach Amerika will – wegen der Operation. Hab gefragt, ob sie mich begleiten würde. Und schon will sie mich nageln, wann wir fliegen,’ denkt er. Und er sagt: „Jetzt muss ich aber los!“
As time goes by
Im ‚Intercity’ nach Colombo ist die Stimmung gelöst. Schrecken und Ängste sind verflogen. Man erzählt sich von der außergewöhnlichen Reise als läge sie in ferner Vergangenheit. Und weil ein jeder – je nach Temperament – seine Tapferkeit herauskehrt, hört sich dieselbe Geschichte immer wieder ein bisschen anders an.
Der Bus schaukelt wie zu Beginn der Reise. Die Lautsprecher werden weiter gefüttert mit Rockmusik aus der Kassette. Aber jemand hat die Phonstärke gedrosselt. Maximilian sitzt nun neben Karunarathne und mustert ihn anerkennend von der Seite. Max hat mitbekommen, dass Karunarathne als letzter aus dem Bus gekommen war, und dass er beschwichtigend auf den Fahrer eingeredet hat. Ihm hat Karunarathnes ruhig-bestimmte Art gefallen.
Die liebliche Landschaft hat sich gewandelt. Am Straßenrand reiht sich nun Hütte an Hütte: Krämerläden, Obst- und Gemüsestände, Kioske, vor denen Händler und ihre Kinder bunte Kleider, Hemden, Socken, Hosen oder Sarongs anbieten. Dann und wann ragt ein modernes, spiegel-verglastes Bürohochhaus aus den Flachbauten.
Grelle Reklameschilder und Plakate zeigen dramatische Szenen aus dem neuersten Kino-Hit. Die runden singhalesischen, brezelartigen Schriftzeichen überwiegen. Viele Schilder tragen Schriften in zwei Sprachen. Singhalesisch und englisch. Auf den Dächern von Garagen,die sie Supermärkte nennen, werben die Besitzer nicht nur für ihre Waren. Die Plakate enthalten auch Postadressen.
‚Sehr praktisch,’ findet Max, ‚denn Ortsschilder gibt es nicht.’„Gampaha“, „Miriswatta“, „Weliweriya“ und „Kadawatta“ kann er nach und nach den Anschriften entnehmen. Es sind Orte an der Peripherie von Colombo. Die Millionenstadt breitet sich aus wie ein Krake seine Arme.
Max hat schnell herausgefunden, dass sein Nachbar recht gut englisch spricht.
„Noch eine knappe Stunde,“ erfährt er, „dann sind wir am Hauptbahnhof. Wenn nichts dazwischen kommt – Schlangen, Krokodile oder Elefanten.“
Beide Männer lachen herzlich.
„Was geschieht mit dem Mann am Straßenrand?“
„Nichts. Ein Ochsenkarren wird ihn mitnehmen.“
„Wie ist das mit der Schlange überhaupt passiert?“, möchte Max dann wissen. „Sie waren doch hinten im Bus, wo das Tier ausgebrochen ist.“
„Durch die wilde Fahrerei ist der Korb aufgesprungen, in dem der Schlangenbeschwörer das Reptil transportiert hat.“
„Und wie ist die Schlange zurück in den Korb gekommen?“
„Sie wurde wieder hineingesteckt,“ sagt Karunarathne gedehnt – so, als ginge ihn das gar nichts an.
„Wer hat sie eingefangen?“, hakt Max nach.
Karunarathne gibt jetzt keine Antwort.
„War es eine giftige Schlange?“ Wieder keine Reaktion.
‚Ob er mein Englisch nicht versteht?’, geht es Max durch den Kopf. ‚Hat er abgehoben? Hab ich ihn verärgert?’
Über seine außergewöhnlichen Fähigkeiten spricht Karunarathne nicht gern. Weder den Zeitpunkt noch den Ort, Debatten über übernatürliche Kräfte zu führen, lässt er sich aufzwingen. Max wartet noch ein wenig – bis es ihm dämmert: die fehlende Antwort ist nicht auf mangelnde englische Sprachkenntnisse zurückzuführen. ‚Der Dicke redet absichtlich nicht!’
Minuten vergehen. Auch Max schweigt. Karunarathnes Blick schweift zu dem blonden Ausländer, dessen randlose Sonnenbrille ihn aussehen lässt wie einen Professor.
‚Neugierig ist er. Und hartnäckig wohl auch. Tourist? Eher nicht,’ entscheidet Karunarathne. Und dann fragt er unvermittelt, in freundlichem Ton, die lange Pause ignorierend:
„Woher kommen Sie? Sind Sie geschäftlich hier?“ Und dann ganz verbindlich:
„Normalerweise fahren die Touristen in großen Gruppen durchs Land, in klimatisierten Luxusbussen, mit mehrsprachigen Fremdenführern.“
‚Warum weicht er meinen Fragen aus und erwartet, dass ich seine beantworte?’ Erst neulich hat Messalina ihm aufs Butterbrot geschmiert: „Mäxchen, wenn du mit Leuten redest, ist das wie ein Verhör im Polizeipräsidium. Immer willst du alles ganz genau wissen. Wenn dich aber jemand mal ganz nett und zwanglos was fragt, reagierst du allergisch.“
„Ich komme aus Deutschland. Wohne in Kandy - vorübergehend. Wir haben ein Haus am See gemietet,“ antwortet Max höflich.
„Wo am See?“, will Karunarathne erfahren.
„Gegenüber der großen Buddha-Statue, die nachts von Scheinwerfern angestrahlt wird."
„Das ist ganz in der Nähe von meinem Büro,“ entgegnet Karunarathne.
Dann versandet das Gespräch wieder. Max schaut auf die Uhr. ‚Die Sache mit der Schlange hat uns zu lange aufgehalten,’ muss er erkennnen. Den Termin im Investitions- Büro wird er auf keinen Fall einhalten können.
Der Bus überwindet die letzten Hindernisse auf den verstopften Strassen und fährt dann auf einen weiträumigen Platz hinter unansehnlichen Mauern. Es riecht nach Dieselmotoren, Auspuffabgasen und den nicht vorhandenen Toiletten. Straßenverkäufer versuchen lautstark, Getränke, die sie mit Eisstücken kühlen, an den Mann oder die Frau zu bringen. Ein junger Mann mit Strohhut, die Gitarre unter dem Arm, hat es auf die wartenden Busse abgesehen. Max und Karunarathne verabschieden sich flüchtig von einander.
„Muss mich beeilen. Über Mittag sind die Schreibtische leer.“
Max hastet durch die Menge. Orientieren kann er sich leicht. Von weitem sieht er die beiden Türme des Trade Centers, in deren Glasfassaden sich die Mittagssonne spiegelt. Wenn er das Gewühl auf den Bürgersteigen meidet und sich auf der Fahrbahn vorarbeitet, kommt er recht zügig voran – gegen den Strom der Lastwagen, Ochsenkarren und Mopeds, die sich im Schritttempo auf ihn zu bewegen. Kein Taxi am Bahnhof. Zum Glück ist die Telefonzelle frei. Erstaunt vermerkt Max, dass die Verbindung auf Anhieb gelingt. Eine knorrige Stimme meldet sich am anderen Ende.
„Perera?“, sagt die Stimme, „nein, Herr Perera ist nicht hier. Rufen Sie morgen wieder an.“
„Wir sind verabredet,“ beharrt Max.
„Herr Perera ist nicht da! Rufen Sie morgen wieder an,“ sagt der Mann nur und legt auf.
‚Ganz ruhig bleiben,’ sagt sich Max und wählt noch einmal dieselbe Nummer. Es dauert lange, bis sich dieselbe Stimme wieder meldet.
„Ich hab Ihnen doch gesagt, Herr Perera ist nicht da.“
Entschlossen, sich nicht wieder abweisen zu lassen, sagt Max nun: „Dann verbinden sie mich bitte mit Ihrem Vorgesetzten.“
„Herr Perera ist mein Vorgesetzter,“ hört Max durch den Straßenlärm.
„Dann machen Sie bitte eine Verbindung mit dem Chef vom Vorgesetzten“, sagt Max.
„Welchen meinen Sie? Projekt-Prüfung, Projekt-Überwachung, Finanzierung?"
„Projekt-Prüfung“, antwortet Max so ruhig er kann. Dann hört er Musik. „When the Saints go marching in“ – eine Minute lang. Und dann noch eine. Dann wechselt die Musik aus dem Telefonhörer. Als Beethovens „Freude schöner Götterfunken“ übergeht in „As Time goes by“ ist endlich die Verbindung zu einer Sekretärin – irgendwo hoch oben im Bürogebäude – hergestellt.
„Der Boss ist zum Lunch,“ sagt die Frau. „Worum geht es denn?“
Max schildert sein Anliegen und besteht darauf, dass er den Chef unbedingt noch heute sprechen muss. Schließlich ist er extra aus Kandy angereist. Als die Sekretärin verspricht, Max im Terminkalender „irgendwo“ dazwischenzuschieben, sagt er schnell: „Ich bin jetzt auf dem Weg zu Ihnen. Bin in einer Viertelstunde da,“ und unterbricht die Verbindung.
Max ist nicht der einzige, der nach einem Taxi sucht. Reisende, die mit dem Zug gekommen sind, haben eine Reihe gebildet. Zwischen den Männern und Frauen, die am Rinnstein stehen, ist auch Karunarathne. Beide begrüßen sich wie alte Bekannte.
„Wo sind bloß die ganzen Tuk-Tuks geblieben?“ fragt Max.
„Sie haben doch die Kontrollen an der Kelani-Brücke gesehen. Die Posten sind verstärkt worden. Die Taxis hängen vielleicht in den Verkehrkontrollen,“ entgegnet Karunarathne.
„Ist denn wieder was passiert, Anschläge, Überfälle?“
„Keine Ahnung. Aber man weiß ja nie!“
Aus dem Gewühl auf der Fahrbahn löst sich ein Militärfahrzeug und hält ein paar Schritte entfernt. Von der Ladefläche des LKWs springen bewaffnete Soldaten in verdreckten Uniformen. Max beobachtet einen Offizier, der - auffallend gepflegt wie aus dem Ei gepellt - die Bordsteinkante entlang stolziert und jedes einzelne Gesicht in der nun seltsam eingefrorenen Menschenmenge kritisch mustert. Vor einem dunkelhäutigen jungen Mann im bunten Sarong bleibt der Offizier stehen. Der Uniformierte herrscht den Zivilisten an. Dann sieht Max, dass der junge Tamile umständlich seine Taschen durchsucht. Seine Papier werden eingezogen. Zwei Soldaten nehmen den jungen Mann in die Mitte und zerren ihn zu ihrem LKW.
„Nur eine Formalität,“ sagt Karunarathne beschwichtigend, als er sieht, wie missbilligend Max reagiert.
„Und wofür soll das gut sein?“ murmelt Max zwischen den Zähnen.
„Sicherheitsmassnahmen. Natürlich im Interesse der Tamilen. 1983 haben wild gewordene Singhalesen Hunderte von Tamilen abgeschlachtet. Seitdem hat die Regierung eine Ausrede für alles,“ sagt Karunarathne leise und rollt mit den Augen. Dabei schiebt er Max ein wenig beiseite.
In der Nähe der Soldaten fühlt sich Max gar nicht so wohl. Weil es mit dem Taxi sowieso nichts wird, beschließt er, trotz der großen Hitze zu Fuß zum Trade Center zu gehen. Als er sich zum zweiten Mal von Karunarathne verabschiedet, hat er fast freundschaftliche Gefühle für den kleinen, runden Mann.
Da sind Sie ja in besten Händen
Um Zeit zu sparen, nimmt Max eine Abkürzung. Wie viele andere Fußgänger klettert er über ein hüfthohes Eisengeländer auf den Mittelstreifen der Allee. Am Kontrollpunkt vor dem Wolkenkratzer mit den vielen Büros halten Soldaten große Spiegel an langen Stangen unter Autos. Nur wenige Wagen stehen am Schlagbaum. In der Mittagshitze wirken die Kontrolleure, die nach verborgenem Sprengstoff suchen, eher gelangweilt als wachsam.
Eine dunkelhäutige Schönheit in Uniform gibt lächelnd den Weg frei. Hier wuselt es nicht mehr. Es tröpfelt. Auf dem breiten, mit teuren Fliesen gepflasterten Bürgersteig verlieren sich ein paar Büroangestellte und Geschäftsleute. Die großen gläsernen Drehtüren bewegen sich wie von unsichtbarer Hand geführt. In einem der sechs supermodernen japanischen Lifte schwebt Max unmerklich dem 15. Stockwerk entgegen.
Die Sekretärin des Leiters der Abteilung Projekt-Prüfung findet er an ihrem Schreibtisch. Die junge Frau im eleganten, dunklen Kostüm sitzt hinter einem Berg von Silberpapier. Sie hat sich Pittu, ihr Mittagessen aus Reismehl, Kokosnuss und Curry, mit ins Büro gebracht. Während sie auf ihrem Plastikteller herumstochert, liest sie die „Daily News“.
„Der Chef ist noch nicht da. Die Sitzung dauert noch an. Wenn Sie Platz nehmen wollen...“, lächelt sie einladend. In der Besucherecke lässt sich Max in einen der dunkelblau bezogenen Sessel fallen. Die Glaswände geben den Blick frei auf den Hafen und das tiefblaue Meer. Die weiße Brandung schlägt an die Klippen der alten Festung. Vor der Hafenmole warten mehr als ein Dutzend Frachter darauf, gelöscht zu werden. Von oben wirken die Ozeanriesen wie Spielzeuge. Ebenso wie die alten mehrstöckigen Gebäude aus der Kolonialzeit rund um den Uhrturm.
Der Blick aus luftiger Höhe schönt die Kulisse. Das alte Zentrum ist paralysiert. Früher pulsierte dort unten das Leben. Besonders nach der Abkehr der Regierung von der Kommandowirtschaft glaubte man, hier ein neues Handels- und Finanzzentrum errichten zu können. Colombo wollte mit Singapur konkurrieren. Jetzt ist es hier ziemlich öde. Verwaiste Strassen hinter Barrikaden. Mehrstöckige Häuser, die – halb zerstört – geräumt werden mussten. Das Zentrum konnte sich nie recht erholen, seitdem die Zentralbank Ziel eines Bombenanschlags wurde. Mehr als hundert Menschen waren damals ums Leben gekommen. Der Angriff aus dem Hinterhalt hatte den Bürgerkrieg aus den entfernten Provinzen in die Hauptstadt gebracht. Die Explosion von mehr als 500 Kilogramm Dynamit, das Terroristen auf einem Lastwagen versteckt hatten, war der Ruin für die Geschäftsleute im alten Zentrum. Der Schaden, den die Tiger-Terroristen der Regierung zugefügt hatten, war nicht nur materieller, sondern auch moralischer Art. Die Rebellen wollten aller Welt vor Augen führen: Sicherheit gibt es nirgends auf der Insel, denn die Regierung ist so schwach, dass sie nicht einmal ihr Zentrum schützen kann.
Im Großraumbüro des staatlichen Investitions-Förderungssamtes BOI reiht sich ein Schreibtisch an den nächsten. Die Stühle sind leer. Auf den meisten Tischen türmen sich Unmengen Papier – Aktenordner, Briefe, Notizzettel. Auf einem Tischchen in der Besucherecke entdeckt Max Hochglanz-Broschüren. Sie preisen die besonderen Anreize für ausländische Investoren an. Wer mindestens zehn Millionen Rupies investiert, zahlt weniger Steuern, heißt es da. Max interessiert sich besonders für die Passage über den Tourismus.
„Die Schönheit des Landes ist einzigartig. Nirgends auf der Welt gibt es auf so engem Raum eine so vielfältige, oft noch unberührte Natur. Zudem hat die UNESCO neun der zahlreichen Altertümer auf der Tropeninsel zu hervorragenden Stätten des Weltkulturerbes erklärt. Hunderttausende von Touristen kommen jedes Jahr aus aller Welt. Mit erheblichen Steigerungen der Besucherzahlen ist zu rechnen. Investitionen in der Hotel- und Freizeit-Branche versprechen lohnende Gewinne.“
‚Schönfärberei’, denkt Max, ‚dass die Einnahmen aus dem Tourismus zurückgegangen sind, und dass alle froh sind, wenn wenigstens die Besucherzahlen vom Vorjahr erreicht werden – davon steht hier nichts.’ Er sucht nach dem Erscheinungsdatum der Werbeschrift und stellt fest: ‚Kein Wunder. Das Heft ist alt. Wurde gedruckt, bevor die Terroristen Bomben hochgehen ließen.’
Unruhe verbreitet sich, als mit den Sachbearbeitern, die nun nach der Mittagspause schnatternd ihre Plätze einnehmen, eine Gruppe von Italienern ankommt. Die Männer in den bunten Freizeithemden wollen gleich zum Chef. Aber auch sie werden in die Besucherecke geschickt. Sobald sie in den blauen Sesseln sitzen, beginnt ein lautes, gestenreiches Palaver.
Max liest über Standortfragen. Auch außerhalb der zollfreien Zonen, in denen nur für den Export produziert wird, könnten Ausländer Land erwerben – entweder zum Kauf oder als Pachtland. Der Staat verpachtet Land für 33, in Ausnahmefällen sogar für 99 Jahre.
'Unser Park ist viel zu groß, als dass wir hier genügend Land kaufen können,' hatten Max und Messalina befunden. 'Alles Geld, das wir in das Grundstück investieren, fehlt uns dann beim Aufbau der Anlage.' So war Max heute nach Colombo gekommen, um über Pachtland der Regierung zu verhandeln – um Besichtigungstermine zu vereinbaren.
Aus dem Augenwinkel sieht Max einen kleinen drahtigen Mann in Weiß, den Tennisschläger unterm Arm, auf das Chefzimmer zufedern. ‚Das ist ja Fazi,' erkennt er.
Schon ist er neben ihm.
„Wie war das Match?“, fragt er leutselig. „Sie haben gewonnen, hab ich Recht?“
Max war dem sportlichen Abteilungsleiter bei seinem letzten Besuch vorgestellt worden. Der hatte ihm seine Visitenkarte gegeben. „Für Sie bin ich jederzeit erreichbar“, hatte er gesagt. Und unter den goldenen Druckbuchstaben „Muhammad Hassan Al Fazi – Direktor Projekt-Prüfung“ hatte er handschriftlich die Nummer seines Mobiltelefons vermerkt.
„Wir haben nicht nach Punkten gespielt,“ antwortet Fazi. „Aber das Match war gut.“ Das „a“ in Match zieht er wie ein Amerikaner. Er findet alles cool und nachahmenswert, was aus Amerika kommt. Max fühlt, wie gut dem Direktor belanglose Schmeicheleinheiten tun. Fazi atmet tief ein, lächelt – und wächst um Zentimeter. Er zieht Max mit sich in sein Büro. Erst als sich die Tür hinter den beiden schließt, erkennen die Wartenden in der Besucherecke, dass Max cool und nachahmenswert den Termin der Italiener übernommen hat.
Bevor Max zur Sache kommen kann, vergehen Minuten, die ihm wie Stunden vorkommen. „Baseball und Football, so richtige Männerspiele,“ meint Fazi. „Kricket natürlich auch eine prima Sache. Muss ich schon zugeben. Vor allem Golf ist groß im Kommen.“
Der Singhalese zündet sich umständlich eine Zigarre an, und fast hat Max Gelegenheit, diplomatisch auf sein Thema überzuleiten. „Tennis, die Top-Nachricht heute morgen im Radio...“
“Haben Sie gehört? Der Dollar ist wieder gefallen. Auch die Rupie hat verloren. Gar nicht so schlecht für unser Projekt“, sagt Max hoffnungsvoll.
Fazis Zigarre entwickelt eine gehörige Rauchwolke. Der Mann in Weiß zieht die Luft durch die Tabakrolle, drückt den Rauch an die Innenwände seiner Wangen und pafft dann prustend.
„Sportler inhalieren nicht,“ sagt er nur, als er den fragenden Blick seines Gegenübers bemerkt.
"Herr Perera wollte mich über Pachtland informieren.“
„Perera hält den Kontakt zu den einzelnen Ministerien, die industriell und landwirtschaftlich nutzbares Staatseigentum verwalten. Er handelt nach meinen Anweisungen.,“ pafft Fazi, das Büro immer mehr in Schwaden hüllend. ‚Der ist ja schlimmer als Messi! Ein Glück, dass sie keine Zigarren raucht,' denkt Max und sagt:
“Umso besser. Dann bin ich ja hier richtig. Können Sie uns Pachtland anbieten?“
„Ja, Herr Perera kann Ihnen eine Liste zusammenstellen.“
„Können Sie denn nicht heran an die Adressen? Ich meine, zum Beispiel heute, jetzt?“
Während Max fragt, ahnt er schon, wie die Antwort lauten wird.
„Wissen Sie...“, sagt der sportbegeisterte Direktor jovial, als er den enttäuschten Blick seines Besuchers sieht, „unser Amt ist mit großen Vollmachten ausgestattet. Früher hat es Monate, manchmal Jahre gedauert, bis die Eigentumsverhältnisse und Kompetenzen geklärt waren. Jetzt läuft das alles sehr viel schneller.“ Wie zur Bekräftigung klopft Fazi mit seinem Tennisschläger auf die Tischplatte und lächelt selbstzufrieden durch den Dunst.
„Für unser Projekt kommen aber nur ganz bestimmte Grundstücke in Frage,“ entgegnet Max durch den Nebel. „Unser Park darf nicht zu weit entfernt von den Touristenrouten sein. Entweder ist er direkt am Meer – am besten an der Süd-West-Küste – oder im Bergland, innerhalb des Kultur-Dreiecks. Oder natürlich in der Nähe der Hauptstadt...“
„Ja, Colombo,“ hakt Fazi ein. „Das hätte den Vorteil, dass Ihr Projekt nicht nur eine Attraktion für Ausländer wäre. Dass unterschiedliche Eintrittspreise für Ausländer und Ortsansässige festgelegt werden müssen, hatten wir ja neulich schon besprochen.“
„Im Idealfall ein großes Grundstück am Meer – vielleicht an einer felsigen Bucht. Das warme Meerwasser wäre hervorragend für unsere Schwimmanlage.“
Max beobachtet, dass Fazi zunehmend gelangweilt mit dem Tennisschläger spielt. „Haben Sie denn überhaupt Ihren Antrag schon eingereicht?“
„Nein, Ihre Sachbearbeiter sagen, erst muss der Standort bekannt sein. Ohne Land kein Standort.“
„Es wird schwierig werden, Land für Sie zu finden, - ohne formellen Antrag für ein Touristik-Projekt,“ bemerkt der Beamte mit feinem Lächeln.
„Sehen Sie zu, dass Sie die Papiere in Ordnung bekommen. Haben Sie denn keinen Anwalt?“
„Oh, doch, vielleicht kennen Sie Herrn Wickremasinghe. Darmasiri Wickremasinghe aus Kandy“
„Wickremasinghe! Da sind Sie ja in besten Händen!“
Als Fazi nun auf seine Rolex-Imitation aus Hongkong schaut und die Stirn runzelt, nimmt Max einen letzten Anlauf.
„Und Sie wissen nicht von einem einzigen Pachtland, das für uns in Frage kommt? Sie mit Ihren langjährigen Erfahrungen!“, schmeichelt er, „mit Ihren ausgezeichneten Kontakten, Ihrem weitreichenden Einfluss.“ Dann folgt er einer Eingebung:
„Wissen Sie denn von einem Pachtland, das sich für einen Golfplatz eignet?“
Das Stichwort bewirkt ein kleines Wunder. „Ja, ja,“ sagt Fazi mit Begeisterung, „da gibt es ein schönes, großes Grundstück bei Gampaha. Das Land ist hügelig, liegt an der Touristenroute, und ist nur eine Stunde von der Hauptstadt entfernt.“
„Das ist ja an der Strasse, die nach Kandy führt. Wenn ich zurückfahre, kann ich es mir ansehen?“
„Tut mir leid,“ sagt Fazi – und auf singhalesisch fügt er hinzu, was sehr frei übersetzt wohl heißen mag: „So schnell schießen die Löwensöhne nicht.“ Max blickt zweifelnd auf den Löwen, der mit drohend erhobenem Schwert die kleine Nationalflagge auf Fazis Schreibtisch ziert.
„Aber wenn Sie das nächste mal kommen, vielleicht in drei, vier Tagen, ist alles vorbereitet. Herr Perera wird mit Ihnen zu den Grundstücken fahren, die in Frage kommen.“
Weil Spekulanten selten den Hals voll kriegen
„Hallo, Senior, wie war die Fahrt?“, sagt der junge Mann im strahlend weißen Hemd mit supergroßem Kragen, aus dem ein winziger, schwarzer Schlips herausrinnt. Der Anwalt ist zurückhaltend.
„Hallo Partner“, sagt er nur. Seinen Mitarbeiter nennt er nur selten beim Namen.
Für Namel Ameraweera, den geschniegelten, jungen Mann, hat der Anwalt im Laufe der Zeit Respekt und Zuneigung entwickelt. Während seine Kollegen mittags in den Imbissläden des „Majestic City“ einfallen, kaut der Juniorpartner nur am trockenen Sandwich im Büro. Er schlürft eine Cola und liest die Wirtschaftsseiten der „Herald Tribune“. Für Ameraweera, so hat Wickremasinghe herausgefunden, zählen vor allem nüchterne Fakten.
In der Kanzlei hat sich eine Arbeitsteilung ergeben. Der Chef kümmert sich um groß-kalibrige Klienten und deren Gerichtstermine. Der Junior erledigt die Routine. Wickremasinghe sieht den jungen Mann als potentiellen Nachfolger. Denn für sein Lebenswerk zeigen weder sein Sohn noch seine Töchter Interesse.
„Es sieht nicht gut aus. Lauter neue Pleiten in Japan,“ runzelt der Junior die jugendlich ungetrübte Stirn. „Der Yen ist wieder gefallen, der Dollar auch. Nur der Euro hat zugelegt.“
Wickremasinghe wehrt ab, als er sieht, dass der Juniorpartner ihm die Börsen-Notierungen zusammen mit einem Brief überreicht.
„Was habe ich heute verloren?“
„Vielleicht 30.000 Dollar, vielleicht auch ein bisschen mehr. Blitzartig wird Wickremasinghes dunkle Haut um ein paar Grade bleicher.
„Und unsere Japaner?“, fragt Wickremasinghe. Auf der Rückfahrt nach Colombo hatte er nur einen Gedanken: ‚Wie komme ich raus aus dem Dilemma? Was mache ich ohne das Geld der Japaner?’ Der Junior zuckt mit den Schultern.
Wickremasinghes Blick fällt nun auf den Umschlag. Unter seinem Namen steht „persönlich“. Dick unterstrichen. Der Absender fehlt. Die Notiz – keine Anrede, keine Unterschrift – ist unmissverständlich: „Eine Überprüfung unseres Kontostandes bei der Hongkong Bank heute um 12.01 Uhr hat ergeben, dass Ihre Zahlung nicht eingegangen ist. Was das bedeutet, wissen Sie.“
‚Ibrahim macht Druck. Und ich kann’s ihm nicht verdenken.’, geht es Wickremasinghe durch den Kopf. ‚Ich hatte fest zugesagt, bis heute zu zahlen. ’In Gedanken versunken streift er mit dem Zeigefinger über den Backenknochen. Die Fingerkuppe verschwindet hinter dem Rand der Sonnenbrille. Er tastet nach dem Auge, mit dem er noch sehen kann. Der Anwalt kennt die Horrorgeschichten über säumige Schuldner und ihre traurigen Schicksale. Er erinnert sich an ausführliche Berichte über einen zahlungsunfähigen Hotelier, den man aus einer Kneipe in einen dunklen Schuppen gelockt und dem man die Hand abgehackt hat. Er denkt an die Sensations-Berichterstattung über einen anderen Säumigen, dessen Baby entführt und das später tot in einem Fluss gefunden wurde. Und aus dem Casino kennt er einen Architekten, der seine Spielschulden nicht rechtzeitig bezahlt hat – und der deshalb ein Auge verlor.
‚Mit mir wird so was keiner wagen! Wenn wirklich alles schief geht, hab ich noch meine Häuser in Kandy und Colombo.’, macht Wickremasinghe sich Mut. ‚Archaische Schuldeintreibungen – und nie ist herausgekommen, wer die blutrünstigen Täter waren,’ sorgt er sich dann aber doch. ‚Ob Ibrahim hinter den bestialischen Untaten steckt?’
Als Wickremasinghe sich das Geld auslieh, war ihm nicht in den Sinn gekommen, er könne Rückzahlungsfristen nicht einhalten. Vor ein paar Monaten hatte er koreanische Papiere gekauft. „Ein Insidertipp!“, hieß es unter den Banken-Gurus. Er glaubte, das Geschäft seines Lebens zu machen. Dann waren die Aktien-Werte auf die Hälfte ihres Ausgabekurses gefallen.
Wickremasinghe kaufte zunächst für eine viertel Million. Weil aber Spielernaturen nur selten den Hals voll kriegen können, kaufte er nach. Noch einmal Papiere im Wert von 200.000 Dollar. Der Haken dabei: der Anwalt war nicht flüssig. Im Casino hatte er manches Mal beobachtet, dass abgebrannte Spieler schnell wieder zu neuen Chips gelangt waren.
Eines Abends lernte er an der Bar Muhammad Ibrahim, den „Helfer in der Not“, kennen. Und weil Wickremasinghe den ganz großen Gewinn totsicher erwartete, war es ihm nicht schwergefallen, die Dienste des Geldverleihers in Anspruch zu nehmen. Der Anwalt hatte selbst den Rückzahlungstermin bestimmen können. Dass die Zinsen bei Nichteinhaltung dieses Termins dann bis auf 75 Prozent steigen würden – das hatte Wickremasinghe nicht erschüttert. Wer an der Börse sehr viel Geld verliert, ist schnell bereit, anstelle von 20 Prozent auch mehr Zinsen zu zahlen. Bei Ablauf der Vereinbarung würde sein Gewinn aus den Korea-Papieren so groß sein, dass die Zinsen an den Geldverleiher nur einen Bruchteil ausmachten. Dass die Börsen weltweit baden gehen würden, das hat er nicht vorausgesehen.
„Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als Ihren Wucherzins zu akzeptieren“, hatte der Anwalt selbstsicher zu Ibrahim gesagt. Mit einem hintergründigen Lächelnd hatte der Gläubiger Wickremasinghes Schuldschein hervorgeholt und unter die Nasegehalten. „Haben Sie schon. Sehen Sie! Hier ist Ihre Unterschrift.“
Beim Abschied drohte Ibrahim dann auch noch „Verlängerung gibt’s nicht! Diese Frist ist die letzte.“
Das Telefon klingelt. Wrickremasinghe greift nach dem Hörer. Vom anderen Ende kommt nur ein knappes
„Ja!“
Die Stimme ist unverkennbar.
Wickremasinghe nennt seinen Namen.
„Ich erwarte Sie – in einer halben Stunde!“ Es klingt wie ein Befehl.
Wickremasinghe seufzt.
Den Junior weist er ungewöhnlich schroff an:„Kümmern Sie sich um die Japaner! Machen Sie es so dringend wie möglich. Drohen Sie, wenn es sein muss.“
Bald darauf rollt der Jaguar die Galle Road hinunter nach Süden. Wickremasinghe fährt selbst. Der schleppende Verkehr macht den Anwalt nervös. Erst jenseits der Stadtgrenze kommt der Wagen schneller voran. Der Geldverleiher wohnt in der Nähe des ehrwürdigen „Mount Lavinia Hotels“ am Meer. Sein Grundstück ist durch eine wuchtige Mauer gesichert, auf deren Krone Glassplitter nach oben ragen. Ein Wächter öffnet das hohe, quietschende Eisentor. Der Jaguar biegt in den dämmrigen Kasuarina-Wald ein. Gleißend helle Scheinwerfer flammen auf, als das Auto vor die Villa rollt. Ein Boy führt den Besucher durch die geräumige Halle in den hinteren Teil des Hauses, eine Treppe hinab, einen langen, engen Gang entlang durch eine Tür in einen düsteren Raum. Im Lichtkegel einer halbhohen Lampe sieht der Anwalt ein paar Männer an einem runden Tisch versammelt. Wickremasinghe erkennt in einem schwarzen Anzug die massige Gestalt Ibrahims hinter den Rauchschwaden seiner Zigarre.
„Na, wen haben wir denn da? Komm, mein Freund, setz’ dich zu uns, mach ein Spielchen mit uns...“ Die feiste Eunuhenstimme bricht ab.
Wickremasinghe bleibt fast die Luft weg. Nur mühsam unterdrückt er seine anschwellende Wut. „Ein Glück, dass meine Brüder das nicht mit ansehen,“ rast es ihm durch den Kopf. Doch er tut wie geheißen. ‚Ein Spieler muss ein Optimist sein,’ fasst er sich.
„Wie hoch ist der Einsatz?“
Die Antwort ist schallendes Gelächter. Denn alle in der Runde wissen, dass der honorige Herr aus besseren Kreisen pleite ist.
„Lächerlich,“ sagt Ibrahim, „Minimum Fünfhundert.“
Der korpulente Mann mit Mittelscheitel beugt sich aus dem Dunkel in den Lichtkegel.
„Hier hast du für den Einsatz!“ Und achtlos schiebt er – wie wenn er einem Hund einen abgenagten Knochen gibt – einen kleinen Turm roter Chips über die blanke Tischplatte.
„Jeder Fünfhundert.“
Beim ersten Spiel passt Wickremasinghe. Er hat miese Karten und will kein Risiko eingehen. Er will nur dann mithalten, wenn er wirklich eine gute Hand hat. Auch das zweite und dritte Spiel machen Ibrahim und seine Freunde unter sich aus. Chips werden hin- und hergeschoben. Ibrahims Haufen wird immer größer.
„Bist du zu feige mitzugehen, Staranwalt?“, fragt Ibrahim krächzend nach dem Geben.
„Warten Sie nur ab.“
Wickremasinghe schaut auf sein „Full House“, legt die Karten verdeckt auf den Tisch und mustert die Gesichter in der Rabauken-Runde. Die Spieler grienen amüsiert. Nur Ibrahims Grinsen wirkt finster und bedrohlich. Wickremasinghe geht kein Wagnis ein. Er passt.
Ibrahim gewinnt mit drei Damen. Wickremasinghe hat ein paar Tausender verloren. ‚Hätt’s mir denken können. Hier wird doch mit gezinkten Karten gespielt.’ Wickremasinghe hat dann aberGlück beim nächsten Spiel. Von Anfang an hat er vier Könige. Er kauft nichts dazu. Als er aufdecken muss, ist das Glück verflogen. Er verliert an vier Asse. Ibrahim streicht auch den letzten vorgeschossenen Chip ein.
„Du schuldest mir zwei Lakh Rupies, mein Lieber.“
Wickremasinghe beisst die Zähne zusammen. Wie von Ferne hört er Ibrahims Gekrächze: „Gib mir einen Scheck!“
Wickremasinghe greift in die Brieftasche, schreibt einen Scheck aus. Als er das Papier über den Tisch schiebt, johlt die Kartenrunde.
„Ist der Scheck auch gedeckt?“, fragt Ibrahim fröhlich. Wieder wird gelacht. Wickremasinghe bringt kein Wort heraus. Der feiste Mann mit dem Mittelscheitel hebt die Augenbraue, und seine Freunde verstummen abrupt. Eine Weile summt nur der Ventilator oberhalb der Deckenlampe.
„Zur Sache, Schätzchen,“ hört Wickremasinghe wie von sehr weit her.
Die schwarzbetuchte Masse Mensch beugt sich wieder ins Licht.
„Schau mir in die Augen, Kleiner!“ Die Eunuchenstimme lässt den Anwalt schaudern.
„Da ist noch eine andere Kleinigkeit, die wir begleichen müssen, nicht wahr, Staranwalt?“
„Können wir das nicht nebenan besprechen?“
„Nur heraus damit, vor guten Freunden habe ich keine Geheimnisse.“
„Aber...“
„Nein, Freundchen. Heute ist Zahltag. Sag uns doch mal, warum du hierher gekommen bist!“
Wickremasinghes Magen dreht sich um. Er kann die bohrende Krächzstimme nicht länger ertragen. Er macht sich noch kleiner als er schon ist und hofft, dass dieses Martyrium bald zuende geht.
„Hörst du nicht, Staranwalt? Erzähl uns, warum du hierher gekommen bist. Oder ich mach dir Beine.“
Wickremasinghe denkt wieder an den Architekten, den er aus dem Casino kennt. „Ich bin hier, weil ich noch einmal um Aufschub bitten möchte.“
„Aufschub wofür?“ Ibrahim treibt die Beleidigungen auf die Spitze. “Meine Freunde wollen wissen, warum du von mir Aufschub haben willst.“
Wickremasinghe plappert brav, was von ihm erwartet wird: „Ich hab Pech gehabt. Eine Geldsumme, die mir für heute fest zugesagt war, ist nicht eingetroffen. Mit dieser Summe wollte ich meine Schulden bei Ihnen begleichen.“ In einem Anflug von ungeahntem Mut schiebt er trotzig nach: „Es macht Ihnen doch eigentlich gar nichts aus, wenn Sie mir noch mal Aufschub gewähren.“
Als Ibrahim nun spottet: „Um Glück zu haben, muss man n guter Spieler sein, du Niete...“, kontert Wickremasinghe spitz:
„Lassen Sie’s doch mal drauf ankommen, wer von uns beiden der bessere Spieler ist!“
Der Eunuch ist irritiert. Wieder hebt er die Augenbraue. In der Pause, die nun folgt, überwindet der Rechtsanwalt die Schmähungen, mit denen der Geldverleiher ihn, einen Wickremasinghe aus Kandy, vor versammelter Spieler-Truppe überschüttet hat.
„Einem guten Spieler genügt es nicht, nur gut zu sein.“ Wickremasinghe fixiert Ibrahim, sagt dann messerscharf:
„Sie wollen doch nicht, dass man Ihnen zum Munde redet. Sie wollen auch nicht nur 'Champion' genannt werden. Sie wollen Champion sein!“
Wickremasinghe schwillt nun die Brust wie beim Plädoyer im Obersten Gerichtshof. „Das kleine Spielchen, das Sie soeben gewonnen haben, zählt nicht. Poker ist doch nur kalkuliertes Risiko – immer wieder Mischen, Bluffen, Neukaufen – sofern man kann. Wahre Champions gehen aufs Ganze!“
Da niemand widerspricht, schiebt der Anwalt den entscheidenden Satz nach:
„Ich finde, um zu sehen, wer der bessere Spieler mit den besseren Nerven ist, sollten wir beide um den Aufschub meiner Schulden spielen.“
Und da das schwarzumhüllte Fleischpaket noch immer schweigt, zählt Wickremasinghe gleich auch noch die Spielregeln auf:
„32-Karten-Deck, jeder Spieler mischt, jeder Spieler zieht eine Karte, die höchste Karte gewinnt. Kreuz Ass schlägt alle. Gewinnen Sie das Spiel, dann sind Sie der Größte. Ihre Freunde können es bezeugen. Mache ich das Spiel, dann geben Sie mir Aufschub.“
Wickremasinghe tut so, als sei sein merkwürdiger Vorschlag längst beschlossene Sache. Er greift nach einem frischen Karten-Deck, zerreißt das Zellophanpapier. Als er zu mischen anfängt, fragt Ibrahim: „Und wo ist mein Gewinn dabei, Kleiner?“
„Es geht um Ihre Ehre, Ansehen, Größe.“
Wickremasinghe mischt unbeirrt weiter, schiebt das Deck hinüber zu Ibrahim. Das Herz des Anwalts jubiliert, als der Geldverleiher nun bedächtig die Karten aufnimmt, sie noch einmal zählt, und ebenfalls durchmischt, dann auf dem Tisch auffächert.
„Sie zuerst,“ sagt Wickremasinghe. Denn er muss immer noch befürchten, dass Ibrahim es sich anders überlegt. „Wer zuerst zieht, hat die größere Chance.“
„Gut, Staranwalt“, krächzt Ibrahim. „Du wirst es bereuen, mich herauszufordern.“
Dann greift er zielstrebig nach einer Karte im Fächer. Er zieht sie schnell an sich, sodass alle nur den Rücken sehen. Siegessicher legt er die Karte auf den Tisch.
“Na, Kleiner, nu mach!“
Wickremasinghe kämpft um Gelassenheit. Mit gespreizten Fingern seiner rechten Hand, die millimeterhoch über dem Kartenfächer schweben, wählt er langsam - zielstrebig und zögerlich zugleich - eine Karte am Rand aus. Er presst sie an die Brust. Holt tief Luft. Und wirft die Karte mit dem Bild nach oben auf den Tisch.
"Kreuz König!" Niemand kommentiert.
Ibrahim hat die Pik Dame.
Wieder entsteht eine Pause. Der Ventilator summt. Dann fragt Wickremasinghe, eher beiläufig:
„Und was wäre passiert, wenn ich verloren hätte?“
Jeden Tag Weihnachten ist langweilig
Ein riesiges Glas Cola mit viel Eis, die obligatorische Schachtel Menthol-Zigaretten, Max's altes Sturmfeuerzeug und eine halbe Kokosnuss-Schale für Asche und Kippen: Messalina hat sich in ihre Lieblingslektüre vertieft. Die Zigaretten-Hand verfehlt immer mal wieder den Aschenbecher, weil Messi nicht vom „Abhidhamma“ aufblickt.
Zwischen den mächtigen, hölzernen Armlehnen des Liegestuhls wirkt die schlanke, sportliche Frau ein wenig verloren. Ihr blonder Bubikopf ruht auf einem dicken, blauen Kissen mit goldenen Elefanten. Sie trägt wie meistens eine weiße Bluse und schwarze Jeans. „Immer hast du Hosen an,“ hatte Max ziemlich unwirsch gesagt, als Messalina vorgeschlagen hatte, er solle ihr noch so ein Paar mitbringen, wenn er das nächste Mal in Colombo sei. „Du weißt doch, im Majestic City, im zweiten Stock gleich neben der Rolltreppe, kauf bei der jungen Verkäuferin, deren Minirock dich so beeindruckt hat,“ versuchte sie, ihm die Angelegenheit schmackhaft zu machen.
Seitdem sie vor ein paar Wochen in Colombo aus dem Flugzeug gestiegen ist, saugt Messalina alles über den Buddha und den Buddhismus ein. „Wie ein Schwamm,“ hatte Max gemeint.
„Wenn es wirklich Wiedergeburten gibt, dann hab ich schon mal in diesem Land gelebt. Dann war ich Buddhist.“ Davon ist Messi überzeugt.
Max hat genug von ihr gelernt, um erwidern zu können. „Da es im Buddhismus die Tat ohne den Täter gibt, kann die Wiedergeburt ja wohl nur ohne dich stattgefunden haben.“
Darauf kann sie nicht viel erwidern. Noch nicht. Aber sie hat die feste Absicht, diese und viele andere Fragen zu klären. 'Der Buddha hat immer wieder gesagt, dass seine Lehre hier und jetzt, in diesem Körper und mit diesem Geist erfahren werden soll. Er hat dazu aufgefordert, nicht zu glauben, sondern zu überprüfen.' Nichts weniger als das hat sich Messalina vorgenommen.
Als Lakmal atemlos an die Tür klopft, blickt Messalina von ihrem Buch auf. „Messi“ ruft die Tochter der Vermieter. „Telefon, Max ruft an – aus Colombo.“ Und schon eilt Messalina die Stufen hinauf ins Nebenhaus. Ein eigenes Telefon haben Max und Messalina nicht. Ein Handy nicht, weil der Sende-Empfang in den Bergen noch nicht funktioniert. Und auf der Warteliste für einen Festnetz-Anschluß stehen sie ganz am Ende.
„Hallo, mein Wieselchen,“ hört Messalina aus dem Plastikhörer. „Wie geht es dir, was macht der Abhidhamma?“
Messalina geht nur auf den ersten Teil der Frage ein. „Mir geht’s gut,“ sagt sie, „vermisse dich. Wann kommst du, Unruhestifter?“
"So gegen Zehn, halb Elf. Wenn’s zu spät wird, warte nicht auf mich.“
„Iss nie zu spät. Ich warte. Hab noch viel zu lesen.“ Sie fährt sich durchs kurze, blonde Haar.
„Wo bist du jetzt? Hast du was gegessen?“
„Ja, eine Kleinigkeit. Bin noch im Hotel. Mein Taxi wartet.“
„Saach bloß! Willste dich wirklich in Unkosten stürzen?“
Empörte kleine Pause am Colombo-Ende der Leitung. Dann tönt Messi am Kandy-Ende: „Na und, wie war’s beim BOI? Hast du was erreicht?“
„Ich erzähl’s dir, wenn ich zurück bin,“ antwortet Max. „Die Busfahrt war interessant.“
„Was isses? Wilde Elefanten, ein nackter Heiliger oder etwa ein vernünftiger Fahrer?“
„So was in der Art.“
„
Du willst mir weismachen, das Taxi wartet. Gib doch zu, dass du am Telefongeld sparen willst! - Na ja, sei vorsichtig und hab keinen Unfall. Ich wart' auf dich. Ich hab dich lieb,“ sagt sie und spitzt dabei den Mund zum Luftkuss.
„Ich freu mich auf dich, Liebes,“ sagt er noch. Dann legen beide auf.
Das Taxi holpert über Schlaglöcher. Die bunten Lichter der Verkaufsstände verbreiten Fröhlichkeit. ‚Wenn ich nachher komme, wird sie mir wohl sagen, ich hätte lieber in Colombo übernachten sollen. ‚Diese lange Fahrt zweimal an einem Tag! Das ist zuviel’ wird sie sagen. Dann wird sie mich umarmen und mir ins Ohr flüstern: gut, dass du da bist.’
In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte Messalina es sich nicht nehmen lassen, Max am Flughafen abzuholen, wenn er nach langen Wochen nach Hause kam. Wenn sie ihn dann schon während der ersten Umarmung fragte, wie er sich fühle, vermied er es, über seine Erlebnisse in Slums oder Flüchtlingslagern, in Bunkern oder Minenfeldern zu sprechen. Viel angenehmer war es, wenn er ihr von interessanten Menschen erzählte, die er getroffen hatte. Oft kannte sie die Leute, von denen er sprach, schon aus seinen Filmen. Er schilderte die kleinen Erlebnisse am Rande, die seine Dreharbeiten versüßt hatten. Max ließ Messalina teilhaben an Pannen und Missgeschicken – und an Überraschungen, die sich unterwegs eingestellt hatten.
Dass sich sein israelischer Kameramann wie ein Kind darauf gefreut hatte, zum ersten Mal über den Jordan hinüber nach Jordanien fahren zu können – dann aber die Kontrollen nicht passieren durfte, weil er nicht seinen, sondern den Pass seiner Frau eingesteckt hatte. Oder, dass der Minister einer Bananenrepublik sauer gewesen war, weil Max ihn im Interview hart angegangen war. Max hatte gegenüber Messalina angedeutet, dass er befürchtet hatte, ausgewiesen zu werden. Durch einen glücklichen Zufall hatte sich aber das Problem gelöst. Und der Zufall hatte Max überhaupt nicht gefallen.
„Sag, was isses!“, hatte Messalina beharrt. Und Max hatte ihre Neugier mit der blamablen Erklärung befriedigen müssen, dass die Tonaufnahme technisch nicht einwandfrei gewesen war. Das Fernseh-Interview über die Korruptionsaffäre musste deshalb wiederholt werden. Diesmal in entschärfter Form.
„Hast du aber Glück gehabt, dass sie euch nicht eingelocht haben,“ hatte Messalina gelacht. Max war enttäuscht. So viel Herzlosigkeit hatte er von Messi nicht erwartet.
Später, als Messalina lernte, mit den Unwägbarkeiten journalistischer Zwänge und den beruflichen Karriereträumen ihres Mannes zu leben, wollte sie ihn auch nicht mehr vom Flughafen abholen. Und wenn abends der elektronische Vorhang aufging und die Gebührenzahler daheim für kurze Zeit Zaungäste am kommentierten Weltgeschehen werden konnten, griff sie lieber nach einem guten Buch. Zu oft hatte sie sich Max mit dem Mikrofon vor der Nase angeschaut. Sie hatte ihm intensiv in die zwinkernden Augen gesehen und gewusst, dass Max am anderen Ende der Welt angestrengt und übermüdet war von seiner Jagd nach Katastrophen.
„Diese Art Journalismus ist ekelhafte Sensationshascherei.“ Immer wieder hatte Messalina zu Max gesagt: „Du machst dich kaputt. Ich will keinen Helden mit Herzinfarkt. So geht das nicht weiter. Wir müssen sehen, dass du da raus kommst.“
Und dann fiel Weihnachten mit Ostern und Pfingsten zusammen. Wie all die Wochen zuvor hatte Messalina den Lottoschein mit den immer gleichlautenden „Glückszahlen“ eingereicht. Sensationelle Dreiundvierzig Millionen für Max und Messalina! Freiheit für Mäxchen. Aber er war so weit weg!
Diesmal erwartete Messalina ihn ungeduldig am Flughafen, und verfrachtete den völlig überrumpelten Liebling in einen weißen Rolls Royce mit Chauffeur. Max war so fassungslos und übermüdet, dass er nicht einmal fragte, „sag, was isses?“ Erst als sie ihn in einer der eleganten Suiten des „Vier Jahreszeiten“ mit Champagner übergoss, schrie sie: „Wir sind Millionäre!“ Sie sprang ihm auf den Bauch wie ein dressierter Pudel. Sein erster Gedanke war, ob die engen Jeans den Sprung wohl überlebt hatten.
„Wir haben Dreiundvierzig Millionen!“, kreischte sie. Dreiundvierzig. Hörst du? Dreiundvierzig Millionen. Wir sind frei, frei, frei!“
„Wie, was?“, fragte er ungläubig. „Bist du völlig meschugge?“ Er sah ihre funkelnden Augen, ihr entrüstetes Kopfschütteln und musste schließlich glasklar erkennen: Messalina ist nüchtern und zurechnungsfähig. Jedenfalls nicht weniger als gewöhnliche Millionäre. Und nur ganz langsam dämmerte es ihm, dass dies sein Leben grundlegend verändern würde. Messalinas triumphierender Blick, das Glitzern in ihren Augen – Max wurde es unheimlich zumute. Eiskalt hatte er den Bomben der Iraker und der Amerikaner ins Gesicht gesehen, mehr als einmal war er nur knapp der Geiselnahme durch Hisbollah und Taliban-Milizen entgangen, ohne mit der Wimper zu zucken, und im Iran der Ayatollahs hatte er mehrere Male vier, fünf Wochen ohne einen Tropfen Alkohol tapfer überstanden. Und nun verursachten diese Frau und die Aussicht, was sie mit dreiundvierzig Millionen anstellen könnte, bei ihm Panik und Schweißausbrüche. „Room Service mit Hummer oder lieber Pizza bei Mario, wie immer?“, fragte sie aufreizend unschuldig.
„Max, ich liebe dich,“ sagte Messi, als sie bei Kerzenschein an einem kleinen wackligen Tisch saßen. „Und weil du mich auch liebst, hängst du deinen Job an den Nagel. Nicht wahr?“
„Wie stellst du dir das denn vor?“ Max's Stimme klang dumpf mit einem Anklang von Hoffnungslosigkeit, während er unter dem Tisch verschwand, wo er – wie jedes Mal – vergeblich versuchte, mit Bierdeckeln und Papierservietten das wacklige Möbelstück zu stabilisieren.
„Von heute auf morgen aussteigen? Und was machen wir übermorgen?“
Messi war so an dieses Szenario gewöhnt, dass sie ungeachtet der befremdeten Blicke von den Nachbartischen ihre Unterhaltung völlig unbefangen fortsetzte. „Mein Mann ist ein Perfektionist,“ erklärte sie dem herbeieilenden Kellner, „lassen Sie ihn mal machen, das ist schon in Ordnung....“ Als sei es das Normalste auf der Welt, schlug Messi die Tischdecke zurück, kroch zu Max hinunter und setze ihre Überzeugungsarbeit unter der Tischplatte fort.
„Übermorgen liegst du auf einer Luftmatratze im warmen Wasser der Karibik, einen Cuba-Libre auf dem Bauch. Du saugst am Strohhalm – und lässt es dir gut gehen. Du guckst nach rechts. Und wer ist auf der Luftmatratze neben dir? Dein Schnuckiputzi, deine Messi. Ich glaub' wir können es ertragen, Millionäre zu sein.“
Mäxchens Gesicht, das jetzt unter der Tischdecke auftauchte, spiegelte wohl seine Gedanken. Jedenfalls kam Messalina ganz nahe an ihn heran und flüsterte, vor Lachen fast platzend, in sein Ohr: „Mein starker Held ist doch nicht feige! Gib dir einen Stoss! Wir schaffen es !“
Natürlich äußerte sich Max an diesem Abend sehr ablehnend – ein richtiger Spielverderber. Aber ein wirklicher Held erkennt, wenn er an seine Grenzen stößt. So begann er, sich selbst mit rationalen Argumenten zu überzeugen. Sie waren tatsächlich ungebunden. Keine Kinder, die auf Hilfe angewiesen waren, sie selbst vom Leben in der Großstadt ein wenig gelangweilt. In der Fremde lockten Abenteuer.
„Wer weiß, ob wir als Rentner noch transportfähig sind.“
„Weiße Strände mit Palmen am Äquator sind im November allemal besser als Nieselregen, Nebel und Glatteis in Hamburg,“ bekräftigte Messalina zwischen zwei Strohhalmzügen aus ihrer Cola.
„Willst du etwa immerzu rumreisen mit deinem neuen rosa-roten Kosmetikköfferchen? Dann sollten wir am besten einen Chauffeur bestellen, der dich alle Nase lang nach Fuhlsbüttel bringt - und wieder abholt,“ spottete er.
„Quatsch! Wir verkaufen unsere Elendshütte hier. Es gibt ganz zauberhafte Hotels an tropischen Traumstränden. Mit Seidenbettwäsche und Hibiskusblüten auf dem Klo. Und wenn wir den Luxus nicht mehr ertragen können, kaufen wir uns eben eine Wohnung in Paris. Oder eine Villa an der französischen Riviera – wie es gerade kommt.“
„Eigentlich habe ich genug Hotels hinter mir. Wo bleibt da das traute Heim, die Nestwärme?“, entgegnete er unvorsichtig, um darauf eine Tirade über Sklavenhaltung und Heimchen am Herd über sich ergehen zu lassen.
Vor dem Super-Super-Lottogewinn sind Max nie Gedanken an ein sang- und klangloses Aussteigen in den Sinn gekommen. Sein Beruf machte ihm auch Freude. Obwohl er nicht nur bei seinen Reportagen vor Ort, sondern auch daheim in der Redaktion oft gegen Widerstände ankämpfen musste, war er viel zu beschäftigt mit den Planungen für neue Filmvorhaben und Reisen, als dass er sich hätte ausmalen können, wie es sein würde ohne Termindruck – ohne die Redaktion im Nacken.
Während das Taxi nun durch die Berge hinauf zurück nach Kandy klettert, lässt Max seinen Abschied vom Korrespondenten-Job Revue passieren. Zunächst informierte er sich, wie es um seine Rentenansprüche stand. Er wollte auf Nummer sicher gehen und beschloss, dass er auch in Zukunft freiwillige Beiträge leisten würde. Die Rentenlücke beschäftigte Max aber weniger als die Befürchtung, dass er sich ohne seine Arbeit langweilen müsste. Er kannte eine Menge Leute, denen der Beruf zum wichtigsten Lebensinhalt geworden war, und die als Rentner nichts mit sich anzufangen wussten. 'Wird es mir gelingen, mit meiner neuen Freiheit sinnvoll umzugehen?', fragte er sich nun.
„Du wolltest malen und segeln und bergwandern und deine zwanzig Bände „Weltgeschichte“ lesen, die seit Jahren im Bücherschrank dümpeln. Du wolltest tauchen, Wein anbauen und ein Buch schreiben, mit mir Schach spielen und endlich die Bilder in unseren Fotoalben ordnen,“ hatte Messalina nachgeholfen. “Und du fragst dich, wie du Löcher stopfen kannst?“
„All die schönen Dinge hast du immer aufgeschoben. Wie lange willst du denn leben? Jetzt hast du Zeit. Bist noch fit. Mach was draus! Wer hat schon so viel Glück, dass seine Frau die richtigen Lottozahlen abgibt?“
„Willst du immer noch nicht wahrhaben, dass dein Beruf Gift für deine Gesundheit ist?“, hakte Messalina nach, obwohl sie sein Zögern verstand. „Wann hast du mal gute Nachrichten zu vermelden? Es ist doch immer nur das Traurige, das Gewalttätige. Immer nur Elend und Leiden. So viele Konflikte, Krisen, Krieg, Katastrophen, Terror! Du musst doch irgendwann mal genug von dieser... Scheiße haben!“
Obwohl Max wusste, dass Messalina nicht ganz uneigennützig argumentierte, musste er zugeben, dass sie Recht hatte.
„Natürlich ist das Außergewöhnliche ein Maßstab im Journalismus. Wenn ein Hund eine Frau beisst, ist das eine traurige Angelegenheit für das Opfer, interessiert aber kaum jemand anderen. Der Nachrichtenwert ist Null,“ hatte Max gelernt. „Wenn aber eine Emanze in Buxtehude einen Rüden in die Eier beisst, dann findest du die Meldung unter „Vermischtes“ auch in Rio oder Colombo.“
„Ach nee, und wo bleiben deine hehren Sprüche von der so notwendigen Vierten Gewalt, von der Korrektur durch die öffentliche und die veröffentlichte Meinung in unserer Demokratie, vom investigativen Journalismus, der den Schurken in der Wirtschaft, in den Verbänden und den Ämtern das Handwerk legen soll? Warum dozierst du jetzt nicht über die Informationspflicht, weil mündige Bürger ungeschminkte Fakten als Grundlage für ihre Entscheidungen brauchen?“
„Ich werd’s dir sagen: Du hast dich missbrauchen lassen von Deinen Herren Kollegen und Vorgesetzten. Erinnere dich! Wie oft warst du sauer, wenn deine Berichte gekürzt wurden oder in den Papierkorb gewandert sind. Nur weil einer in der Regierung gehustet hat und einer in deiner noblen Firma gemeint hat, ein Hüsteln im Kanzleramt ist wichtiger als die Berichterstattung über die vielen Verletzungen der Menschenrechte im Sudan oder Afghanistan.
„Die Bilder in deinen Filmen werden bei der Konkurrenz auch gezeigt. Nur, dass du für ein paar mehr oder weniger kluge Sätze mit einem Mikrofon vor der Nase unter einer Palme stehst, und dass man dir deinen Namen auf den Bauch schreibt – das ist der Unterschied zur Konkurrenz. Dort steht nämlich ein anderer mit einem Mikrofon. Und auf dessen Bauch steht dessen Name.
Was soll das alles?“, hatte sich Messalina engagiert. „Deine Eitelkeit? Ein bisschen schon. Aber viel mehr der Konkurrenzkampf der Medien untereinander. Deinen Sender interessiert die Story nur in zweiter Linie. Die Einschaltquoten zählen! Seht her: unser Mann ist vor Ort! Was sind wir doch für tolle Macher! Das ist die Botschaft an die Zuschauer!“, hatte Messalina sich erregt. „Bleiben Sie dran. Unser Maxe Mertens ist immer für Sie da. Egal, ob er Durchfall hat oder Magengeschwüre. Max hält durch. Denn Max ist Leiden ja gewöhnt.“
„Messi,“ entgegnete Max. „Bitte reg' dich nicht so auf.“
„Und was ist mit deiner Gesundheit? Warum kannst du nachts nicht schlafen? Warum hast du Alpträume, wenn du endlich eingeschlafen bist?“
„Beruhige dich doch Messi.“
Aus seiner Jackentasche hatte Max dann gestenreich einen Brief gezogen. „Bitte lies. Du brauchst dich wirklich nicht aufzuregen.“
Messalina las die Kündigung.
Sie sagte bloß: „Worauf wartest du noch? Na los! Unterschreib und schick den Wisch ab!“
Mit seinen Kollegen war sich Max schnell einig geworden. Er leerte den Schreibtisch in der Zentrale und übergab unfertige Projekte. An einen, der schon immer an seinem Stuhl gesägt hatte. Die offizielle Kündigungszeit musste nicht eingehalten werden. Die Personalabteilung überwies ab sofort kein Gehalt mehr.
Nun füllte sich das kleine Haus in Hamburg mit unzähligen Prospekten, Katalogen, Reiseführern und Magazinen, die mit bunten Fotos auf Hochglanzpapier die Ziele ihrer Wünsche beschrieben. Lange und oft saßen M und M vor dem Video-Player, um sich Filme von einsamen Südsee-Inseln, von malerischen Tauchrevieren in den Atollen der Malediven und von luxuriösen Segel-Törns in der Karibik anzusehen.
„Hör mal, Messi, das ist ja alles wunderschön. Aber ich möchte, dass wir einen festen Standort haben. Was meinst du? Sollen wir nicht ein schönes Ferienhaus kaufen – in einem warmen Land – vielleicht irgendwo am Mittelmeer?
"Sieben guten Jahren folgen sieben schlechte,“ hatte Max den Lieblingsspruch seiner Großmutter bemüht. „Wir müssen auch an die Zukunft denken. Jetzt kriegen wir mit etwas Glück noch vier Prozent Zinsen auf der Bank. Was, wenn wir nur noch drei oder gar null Prozent bekommen? Und wenn unser Vermögen zusammenschrumpft?“
„Wenn wir uns ein Ferienhaus kaufen, ist doch ein Teil des Geldes gut angelegt.“
So war dann das Ferienhaus beschlossene Sache – die Suche ging los.
Das erste Ziel war Griechenland. Vor allem wohl, weil Max schon immer ein Faible für die Legenden der alten Griechen hatte. Die Götter der Helenen hatten es ihm angetan. Wieder und wieder hatte er die Geschichten von Morpheus, dem Gott der Träume, und Mylitta, der Fruchtbarkeitsgöttin, nachgelesen, der Herrin orgastischer Kulte. „Morpheus und Mylitta, M und M, wie Max und Messalina“, sagte er, als sie den Olymp überflogen. Unser Haus, irgendwo da unten, nennen wir M und M – einverstanden?“
Die Reise auf mehrere ägäische Inseln war in gewisser Weise wunderschön. Für einen Kurzzeit-Urlaub. Leider war es die falsche Jahreszeit. Spätherbst. Max fror in unbeheizten Zimmern. An Baden war nicht zu denken. Weder im blauen Mittelmeer, noch in der Sonne, die schon lange Schatten warf. Tagelang regnete es in Strömen, und der Wind wütete wie an der Nordsee.
Dann probierten sie Pasta und feurige rote Weine in Italien. In Rom waren die Boutiquen um die Via Condotti unwiderstehliche Magneten für Einkaufsorgien. Aber es war Januar. Selbst Siziliens südlichster Zipfel lehrte Messi das Frösteln. Der neue Chanel-Bikini und die leichten Bulgari-Kleidchen knitterten im Koffer vor sich hin. Max und Messalina sehnten sich beinahe zurück nach Hamburg, wo sie nur auf einen roten Knopf zu drücken brauchten, um das Haus bis in den letzten Winkel - tagaus, tagein - wohlig warm zu halten.
Im Februar grasten sie Spanien ab. Die Costa Brava hatte Messalinas Herz nicht erwärmen können. Mallorca war voll von Sangria-seligen Touristen und gewalttätigen Radaubrüdern aus dem Ruhrgebiet, die sich Keilereien mit ebensolchen britischen Biertrinkern lieferten.
Andalusien gefiel ihnen ganz gut. In der frühlingshaften Februar-Sonne blühten die Mandelbäume unter leuchtend blauem Himmel. Messalina und Max waren beeindruckt von den weiß getünchten Terrassendörfern in den Bergen, von denen man bis hinüber nach Afrika schauen konnte. Ein Immobilienmakler bot ihnen das Super-Traumhaus auf Felsenklippen hoch über dem Meer an. Der Preis war durchaus akzeptabel. Zu allem Überfluss hieß die Finca auch noch "Mira Mar“.
„Mensch, Max, sieh mal: Da steht ganz groß ‚Mira Mar’, M und M, das ist Fügung.“
Max sah sofort den Weinberg hinter dem Haus. Als der Makler bestätigte, dass der Rebenberg dazugehörte, war der Handel perfekt. Beinahe jedenfalls. Haus und Grundstück gehörten mehreren Erben. Aber nur zwei von fünf wollten überhaupt verkaufen.
„Wenn nicht Mira Mar, dann gar nichts,“ schmollte Messalina. Sie schaute verklärt auf die schnittigen Motor-Yachten mit den exotischen Wimpeln, die an der Hafen-Mole von Puerto Banus festgemacht hatten. „Ich glaube, wir sind zu sehr fixiert auf Europa,“ sagte M-Sie zu M-Er. „Das Mittelmeer ist herrlich – aber nicht im Winter. Findest du nicht auch?
„Wo ist der immergrüne Tropenwald? Wo sind die duftenden Orchideen? Wo die bunten Korallenfische, die Tiger, die Löwen, die Affen, die uns Bananen vom Frühstücks-Teller klauen?“
„Affen kannst du drüben auf dem Felsen füttern, in Gibraltar,“ sagte Max noch schwach und ohne echte Begeisterung. Denn auch er fand die Küstenabschnitte am Mittelmeer viel zu karstig, viel zu braun. Viel zu viel Goldgräber-Stimmung: Spekulanten und Oliven-Bauern, die ihre noch vor kurzem wertlosen Schollen zu Höchstpreisen verhökern wollten, um schnell reich zu werden.
„Dann müssen wir eben weiter suchen nach unserem grünen Paradies.“
Max schnitt eine seltsame Grimasse, nahm die Hände zu Hilfe und gab undefinierbar röhrende Laute von sich. Dabei wand er sich erstaunlich geschmeidig und sprang in die Höhe.
„Ich bin ein Puma und will nach Hause in den Tropenwald.“ Seine Frage „Willst du mit?“ ging unter in Messalinas schallendem Gelächter.
Als ihm Messalina vor einem weißen Segelschiff um den Hals fiel, nahmen sie sich vor, nicht mehr auf Teufel-komm-raus nach einem neuen Domizil zu suchen.
„Es wird sich schon richten,“ sagte Messalina.
Max war sich nicht sicher, ob sie dabei erleichtert oder traurig war.
„Und was machen wir nun, wir rastlosen Geld-Verprasser?“, sagte Max halb ernst und halb im Scherz.
„Ganz einfach: wir verreisen! Wir machen mal Urlaub vom Urlaub.“
„Und wo soll die Reise hingehen?“
„Mustique!“
„Was isses? Wo isses?“
„Müsstest du doch wissen, mein welterfahrener Held,“ sagte sie spitz.
Max machte unwissende Puma-Augen.
„Gut, dann werd' ich's dir sagen: 61 West, 13 Grad nördlicher Breite – in der Karibik. Mustique gehört zu den Grenadinen.
„Danke, Frau Oberlehrer. Und was machen wir dort?“
„Wir mieten uns ein im exklusivsten Bungalow mit Koch und Diener. Und sehen mal zu, was dann passiert.“
„Und wie lange?“
„Weiß der Henker,“ antwortete sie und marschierte schnurstracks aufs Hotel zu.
Am nächsten Morgen beim Frühstück erwähnte Max beiläufig das Reisebüro um die Ecke, das auf Fernreisen spezialisiert war. Und weil die Latein-Amerika-Abteilung mit einem außergewöhnlichen Angebotspaket lockte, flogen Max und Messalina gleich weiter in die Karibik. Die zwei Zentimeter dicken Tickets enthielten ein knappes Dutzend Flugziele. Die Abflugzeiten und -Tage blieben offen.
Weil Messalina noch nie zuvor den Regenwald erlebt hatte, reisten sie zuerst nach Costa Rica. Die satt-grüne Üppigkeit des Djungels, Lockrufe und Angstschreie unsichtbarer exotischer Kreaturen im undurchdringlichen Blätterwald und die warmen, überfallartigen Regengüsse, die den Einbruch der Abend-Dämmerung begleiteten, waren Hochgenüsse für Messalinas stets voll ausgefahrene Sinnesantennen. Dass sie dabei nasse Füße bekam, störte sie nicht im geringsten.
Max war vor allem von den Vulkanen begeistert. Stundenlang konnte er am Fuß des Arenal ausharren. Das rumorende Grollen aus der Tiefe, der Rauch und der Schwefel über ihm, der leuchtend rote Schein am nächtlichen Himmel und die Ungewissheit, ob der Nervenkitzel vielleicht doch umschlagen würde in Angst und Schrecken – das kostete er wieder und wieder aus.
Fast jeden Abend drängte Max: „Lass uns zum Arenal fahren!“ Und Messalina ging darauf ein – sowohl, als sie an einem pech-schwarzen Strand der Karibik wohnten als auch in ihrem Luxushotel am weiss-sandigen Pazifik-Ufer. „Ihr habt ja auch viel gemeinsam, der Arenal und du," spottete Messalina.
Mit Schlauchbooten furchten sie durch Wildwasser flussabwärts. Auf Pferden, über deren Zähmungsgrad sie noch heute rätseln, galoppierten sie über Stock und Stein und durch wild-rauschende Bäche. Die sagenumwobenen Maya-Ruinen von Palenque und Tulum und die Pyramiden von Chichen Itza waren wie Magneten, die Messalina und Max magisch anzogen und so schnell nicht wieder losließen. Stundenlang schwammen M und M in Zenoten und in unterirdischen Flüssen, in denen die Mayas früher Menschen geopfert haben - um die Götter bei Laune zu halten. Ihr Erlebnishunger überwand all ihre Schauder. Aus den zwei Wochen, die Max für die Etappe in Mexiko veranschlagt hatte, wurden locker vier.
Und so ging’s weiter – Jamaika und Puerto Rico. Dort unternahmen sie ausgedehnte Touren im Jeep. Sie reisten erst ab, wenn sie keine Lust mehr hatten, länger zu bleiben. Als Messalina vorschlug, die Reiseroute zu verlassen und zunächst auf die Cayman-Inseln zu fliegen, „weil wir ja so dicht dran sind - wer weiß, wann wir mal wieder in die Gegend kommen?-, da handelte Max einen Kompromiss aus. „Gut, wenn ich mit dir nach Georgetown fliege, begleitest du mich nach Havanna.“
Nur die Woche in Kuba verlängerten sie nicht. Die Flugdaten mussten präzise eingehalten werden. Und Messalina wollte diesmal auch pünktlich abreisen, weil Max überall auf der Zuckerinsel so tat, als müsse er für seine Firma recherchieren.
Einen traumhaften Segeltörn erlebten sie rund um die Jungferninseln. Dann ließen sie sich in Santa Lucia und danach auf Barbados verwöhnen. Sie stiegen nur in Nobelherbergen ab. Überall waren die Leute freundlich – besonders, wenn sie noch nicht wussten, ob Max mit den Trinkgeldern großzügig sein würde oder nicht.
„Wir benehmen uns wie Neureiche vom Jetset. Gottseidank stellen uns keine Fotografen nach", kommentierte Messalina lachend.
Die kleine Grenadinen-Insel Mustique war dann der Höhepunkt an Luxus. M und M wollten ihn auskosten. „Wer Super-Luxus nicht am eigenen Leib erfährt, kann sich kein Urteil darüber erlauben,“ sinnierte Max. Auf dem Mini-Eiland blieben sie, bis sich nicht nur klimatische Turbulenzen über den „Inseln vor dem Winde“ zusammenbrauten.
‚Es war damals der Himmel und die Hölle zugleich. Beinahe’, erinnert sich Max jetzt im Taxi, ‚beinahe wäre alles schief gegangen.’ Drei Wochen verbrachten sie in einem hochherrschaftlichen, stilvollen Landhaus an der Ansecoy Bay - auf der Nordseite der Insel. Ein Koch, ein Butler, ein Hausmädchen und ein Gärtner, der auch den Jeep chauffierte, sorgten rund um die Uhr für ihr Wohl. Zu ihrem Tagespensum gehörten Schnorcheln und Tauchen, Segeln, Baden und Faulenzen – und auch Lesen im Liegestuhl am weißen, menschenleeren Strand. Wenn die Sonne unterging, traf man sich im „Cotton House“ oder in „Basils Bar“.
Messalina, die früher nur selten gerne ausgegangen war, überraschte Max dann damit, pünktlich um fünf Uhr ihre Jeans in die Ecke zu werfen, um sich wie für einen Opernbesuch zurechtzumachen. Sie präsentierte sich im langen oder auch im sehr kurzen Schwarzen. In eleganten weißen oder preußisch-blauen Blusen mit tiefem Einblick. Der Gärtner-Chauffeur setzte sie vor „Basils Bar“ ab, rechtzeitig zum Sonnenuntergang. Wenn der Feuerball glutrot im Meer versank, hatten sie den ersten „Whammy“ in der Hand. Der Drink schmeckte nach Marmelade. Die hochprozentige Beigabe merkte man erst später.
Fast jeden Abend trafen sie dort die Johnsons, die sich drüben, hinter der Lagune, in einem nachempfundenen britischen Palast eingemietet hatten. Die Johnsons waren aufgeschlossene, gut aussehende junge Leute, die nicht nur übers Wetter reden konnten. Max und Messalina wussten nicht allzu viel von ihnen. Gründer einer recht erfolgreichen Software-Firma in Kalifornien, und eine Scheidungsanwältin. Weil sich die beiden zehn Monate im Jahr bis über beide Ohren in die Arbeit stürzten, leisteten sie sich ausgefallene Reisen.
Messalina war der breitschultrige, elegante Mann im weißen Dinner-Jacket auf den ersten Blick sympathisch. Ihr gefiel, wie weltgewandt er sich bewegte, wie sachkundig er war, wie höflich er aber andere Meinungen gelten ließ. Und wenn er kleine Schmeicheleien verteilte und zum wiederholten Male ihre Sprachkenntnisse lobte, tat das Messalina gut.„Er erinnert mich an dich – als du jung warst,“ schwärmte sie, „aber – er tanzt wie ein junger Gott.“
Wenn Max Messalina engumschlungen mit dem Amerikaner tanzen sah, regte sich in ihm die Eifersucht. Das glich er aus, indem er besonders charmant zu der jungen Anwältin war.
‚Es waren nicht die Tropen-Drinks. Und es war nicht das Anlehnungsbedürfnis der jungen Frau – nicht nur!’, sagte sich Max danach immer wieder. ‚Es war vor allem unsere Verdrossenheit, unsere verdammte Leere. Und unsere Gier, immer mehr vom Leben haben zu wollen.’
Max war willig auf den Vorschlag der Amerikanerin eingegangen, am Strand spazieren zu gehen, während die beiden anderen beim Blues in sicherer Entfernung tanzten. Die junge Frau legte sogleich ihren Arm sanft um seine Hüfte. Im tiefen weißen Sand streifte sie nicht nur die Stöckelschuhe ab, sondern auch gleich Bluse, Rock und Höschen. Sie lief in die Brandung und ermunterte Max, ihr zu folgen. Bevor er sich im Klaren war, was er da tat, rannte er ihr nackt über den Strand hinterher. Er genoss die Kämpfe in der Brandung. Ihre Umarmungen, die auseinandergerissen wurden, wenn die nächste Welle über ihnen zusammenschlug. Die neu begannen, wenn sie, im nassen Sand liegend, wieder zueinander fanden. Messalina schwebte im höchsten Himmel. Die Musik, der Rhythmus, die feinsinnigen Komplimente, die breiten Schultern, die starken Arme, in die sie sich fallen lassen konnte.
Messalina plagten keine Gewissensbisse – und Max auch nicht. Bis die Johnsons eines Tages einen Vorschlag machten:
"Ist doch Blödsinn mit der Geheimnistuerei. Jeder von uns weiß, dass Messalina und ich miteinander schlafen", sagte der Amerikaner. „Und Max und meine Frau treiben’s in der Brandung. Warum tun wir’s nicht alle miteinander, alle vier?“, fragte er dann wie beiläufig.
Demonstrativ drückte Messalina ihre halb gerauchte Zigarette aus, stand auf und sagte leise: „Raus!“
Max war beeindruckt.
Als sich die beiden Amerikaner verständnislos ansahen, wurde Messalinas Stimme schneidend: „Jetzt reicht’s irgendwie! Schlimm genug, was da passiert ist, aber für diese Art Unerotik sucht euch jemand anderen!“
Temperamentvoll, aber mit Würde, knallte sie ihren Gin-Tonic auf den Glastisch und ging aufrecht – ohne sich noch einmal umzudrehen – hinaus. Etwas weniger würdevoll war ihr Sprung in den Swimmingpool – in voller Versace-Montur.
Es wurde ein langer Abend. Auf der Terrasse der Traumvilla saßen sie beieinander. Betretenes Schweigen. Keiner wusste so recht etwas zu sagen. Messi drehte gedankenverloren an einem Joint. Normalerweise begleitete Max diese Prozedur mit kritischen Worten. Heute aber streckte er ganz unerwartet die Hand aus. Der erste Zug ließ ihn schrecklich husten, und weil beide darüber so lachen mussten, war das Eis gebrochen.
„Okay,“ sagte Messalina schließlich, „ich glaube, wir haben uns gegenseitig nichts vorzuwerfen!“
Nach dem dritten Zug fühlte Max ein leichtes Schwindelgefühl.
„Ich weiß nicht, warum du das Zeug immer rauchst, ich merke gar nichts,“ lehnte er sich wohlig im Liegestuhl zurück. Messalina schenkte ihm nur einen verächtlichen Blick. „Das ganze war doch wirklich nicht nötig, oder?“
„Ich hab´s eigentlich nicht mal richtig gewollt,“ entgegnete er träge.
„Was hast du gewollt?“
„Ich weiß auch nicht, ich glaube, mir fehlte was, was ich wollen kann. Verstehst du, wenn man alles haben kann, kann man sich nichts mehr wünschen.“
„Geht mir auch so!“
„Jeden Tag Weihnachten ist langweilig.“
„Und Langeweile ist grässlich!“
„Furchtbar!“
„Unerträglich!“
Irgendwie fanden die beiden das nun entsetzlich lustig. Dann schwiegen sie eine Weile.
„Kannst du mir verzeihen?“
„Die Frage ist: Kann ich mir verzeihen?“
„Das könnte jetzt von mir sein!“
Wieder Schweigen.
Plötzlich kichert Messalina. Natürlich fragt Max:
„Was isses, sag!“
„Wenn ich mir vorstelle, wie sie dir ins Ohr lithpelt: Makth, du bitht unwiderthtehlich...“
Messalina schüttelt sich vor Lachen.
„Das ist mir viel zu ernst, als dass ich es komisch finde!“
„Und nu?“
„Nu hab ich Durst! Aber mal im Ernst, wie geht’s jetzt weiter? Werden wir uns ganz klassisch scheiden lassen?“
„Was verbindet uns denn? Rastlosigkeit, die Angst, was zu versäumen, und die innige Einigkeit, dass wir uns uneinig sind.“
„Ist das alles, nach 23 gemeinsamen Jahren?“
„Von den 23 Jahren hab ich dich höchstens drei gesehen, du warst ja immer auf Achse!“
„Mindestens vier!“
„Wie immer. Jetzt hab ich dich jeden Tag 24 Stunden am Hals, wie soll man das aushalten?“
„Ich dich auch! Vergiss das bitte nicht!“, lacht Max. „Du hast ganz schön spitze Kanten, meine Liebe.“
„Vielleicht wär’ ich glatter, wenn ich nicht an der kurzen Leine hängen müsste, mein Lieber! Freiheit ist’s, die ich meine.“
„Freiheit ist innen! Wie frei bist du denn, wenn du in den Laden gehst, um ein Fläschchen Bier für den armen, durstigen Max zu kaufen, und du kommst mit zehn prallen Plastiktüten wieder, in denen alles ist – nur kein Bier!? Von den Einkaufsorgien, die du in letzter Zeit veranstaltest, wollen wir lieber gar nicht reden. Mit dem Geld, das du allein für Body-Lotion ausgibst, könnte man ein mittleres Waisenhaus ein ganzes Jahr unterhalten. Macht es dich frei, wenn in deinem Pullover ein Etikett von Gaultier klebt?“
„Nur wenn’s außen klebt, wo’s jeder sehen kann!“, lacht Messalina. „Aber vielleicht darf ich dich in diesem Zusammenhang an deine heiß und innig geliebte Rolex erinnern!“
„Hat keinen Sinn, sich Vorwürfe zu machen.“
„Was hat Sinn? Was wollen wir? Wir leben doch im Grunde sorgenfrei...“ Messalina dreht am nächsten Joint.
„Dann wollen wir wohl die Sorgen haben. Aber Sicherheit...Aber keine Langeweile, also besser nicht zu sicher. Aber behaglich, das macht so unzufrieden, das wollen wir auch nicht. Menschen sind verdammt irrationale Wesen!“
„Das mag ich nicht. Das ist eine oberflächliche Plattitüde! Nur weil wir den Grips nicht benutzen, sind wir noch lange nicht doof!“
„Na dann benutze mal!“, fordert Max sie auf und atmet den Hanfrauch tief ein.
„Du sitzt da wie 'ne Made im Speck und lässt mich alleine denken. Du weißt, das ist gefährlich!“
„Wieso?“ Max’ Augenlider wurden immer schwerer.
„Nun hör mal genau zu: Als du noch deine Filmchen gemacht hast, da hast du Feedback gehabt.“ Bei dem Wort „Filmchen“ zuckt Max zusammen. „Man hat dich über den ultravioletten Klee gelobt, oder auch nicht. Jetzt muss eine einzige Frau dir Millionen von Zuhörern und Sehern ersetzen. - Und die lithpelt auch noch!“ kicherte sie.
„Messi, bitte!“ warf er ein.
„Nein, unterbrich mich nicht. Deine Macho-Triebe sind durch und durch unbefriedigt. Du weißt, dass du jetzt wegen deines Geldes geachtet wirst. Aber das reicht dir nicht. Geld ist immer nur so viel wert, wie das, was man damit macht! Und meistens macht man damit, dass man so tut, als hätte man noch viel mehr Geld. Damit die Leute denken, dass man noch viel toller sei, als man sowieso schon ist. Aber wo bleiben die inneren Werte, wo bleiben Liebe, Güte, Verständnis? So was hat heute keinen Marktwert. Das ist nicht 'in'. Und nicht 'cool'. – Max, wir müssen was tun!“
„Ja, da werden Menschen geboren und sterben, und merken nicht mal, dass sie gelebt haben...Und was soll’n wir machen?“
„Na ja, irgendwas Richtiges. Vielleicht brauchst du 'ne Aufgabe!“
„Das ist schon 'ne dolle Aufgabe, dir alles recht zu machen! Wenn ich nur daran denke, dass du an jedem – wirklich jedem einzelnen Hotel - was auszusetzen hattest! Fürchterlich!“
„Es ist aber auch fürchterlich, dass es dort, wo ein Spiegel ist, keine Steckdose für den Haarstyler gibt. Oder da ist eine, aber kein vernünftiges Licht zum Lesen. Die Klimaanlage bläst dir Eiswolken direkt ins Gesicht, und die Betten sind so kurz, dass deine Füße raushängen. Und wenn du keine Suite hast, summt und gurgelt dich die Minibar unsanft durch die Nacht.“
„Na, mach’s erst mal besser!“, gähnte Max gedehnt.
Nach einem Moment des Schweigens schrie Messalina plötzlich: „Na klar! Das machen wir auch!“
Max schreckt auf aus seiner Behaglichkeit: „Was machen wir?“
„Das perfekte Hotel. Die absolute Superabsteige! Max, hör mal zu...“
Während Messalina ekstatisch die Vollendung aller Hotelstandards schilderte, fielen Max die Augen zu. Aber erst nachdem sie lange und begeistert geredet hatte, bemerkte Messi, dass Max schlief wie ein satter Säugling.
Nach einer kurzen, harmonischen Nacht flogen sie in einer kleinen Propellermaschine nach Barbados. Und ohne langen Aufenthalt reisten sie weiter nach London. Messalina hatte nicht schlafen können über dem Atlantik. Die Stewardess war unfreundlich, der Service miserabel und - natürlich – war es ein Nichtraucherflug. Am nächsten Morgen in der Londoner Transithalle steuerte Messi zielstrebig auf die Lounge zu. Die Zigarette schon im Mundwinkel, suchte sie vergeblich nach ihrem Feuerzeug. Als Max sich auf den Weg machte, Messalina auszuhelfen, kam ein kleiner kaffeebrauner Mann mit einem brennenden Feuerzeug auf sie zu. Er erlöste Messalina und zündete sich selbst auch eine Zigarette an. Schon nach ein paar genussvollen Zügen waren die beiden Raucher in ein Gespräch verwickelt, das weitreichende Folgen haben sollte.
„Eine schreckliche Sucht ist das – aber schön,“ sagte der kleine Mann, der eine Sonnenbrille trug, obwohl die Sonne in der Transithalle gar nicht schien. Sein Englisch ließ Messalina auf einen Inder schließen. Besonders, als er davon schwärmte, dass ihn der Zigarettenrauch an die Tempel in seiner Heimat erinnerte. „Wo ich zuhause bin, ist die Luft erfüllt vom Rauch des Sandelholzes.“
„Kommen Sie aus Bombay, aus Neu Delhi?“, wollte Messalina wissen.
„Weder noch,“, sagte der Mann, während er eine Visitenkarte aus der Brieftasche holte. „Ich komme aus Sri Lanka.“
„Anwalt sind Sie in Colombo – und in Kandy?“, entnahm sie dem Kärtchen. „Wo in aller Welt ist Kandy?“
„Kandy ist im Herzen unserer wunderschönen Insel. Oben in den Bergen, wo es das ganze Jahr über Frühling ist.“
„Sind Sie Buddhist?“, fragte Messalina. Und als der Mann bejahte, hakte sie nach: „Mahayana oder Theravada-Buddhist?“ Vor Jahren hatte sie Herman Hesse gelesen. Dessen Annäherungen an den Buddhismus hatten sie schon in der Schulzeit beeindruckt. Gern hätte sie den Zauber und die bunte Kultur Asiens kennen gelernt. Aber Max hatte mehr als einmal abgewinkt: „Die Leute dort lächeln immer nur. Du weißt nie, woran du bist.“
„Theravada,“ sagte der Mann, als er sich eine zweite Zigarette ansteckte. „Sri Lanka wird auch Dhammadipa genannt. Dhamma, das ist die Lehre des Buddhas, und Dipa heisst Insel. Bevor der Buddha vor zwei-einhalb Jahrtausenden endgültig ins Paranibbana einging, hat er Sri Lanka ausersehen, seine Lehre zu bewahren - wie einen Schatz.“
„Und wie steht’s mit dem Tourismus in Ihrem Land?“, fragte Messalina, ihr Luxushotelchen vor Augen. „Wie kommen Sie denn klar mit Ihrem abscheulichen Bürgerkrieg?“
Der Mann gab sich entrüstet. „Bürgerkrieg? Fanatische Tamilen bedrohen unsere Identität. Sri Lanka und singhalesische Kultur sind untrennbar, sodass wir auf unserer Dhammadipa keinen Tamilenstaat dulden können. Wir haben eine Aufgabe: die Verpflichtung, die Reinheit der Buddhistischen Lehre zu erhalten.“
Der Singhalese rückte seine Sonnenbrille zurecht. „Krieg ist nicht das rechte Wort für Terroristenüberfälle. Jedenfalls sind Ausländer nicht betroffen. Überall entstehen neue Touristikzentren. – Sie müssen wissen,“ fügte der Mann dann gewinnend hinzu, „unser Land ist ein unabhängiger, moderner Rechtsstaat - mit demokratischen Spielregeln wie in Europa oder Nordamerika.“
„So?“, fragte Messalina mit wachsendem Interesse, als Max endlich mit einem dicken Packen Zeitungen und einer Streichholzschachtel zurückkam. "Lohnt sich denn das Geschäft mit dem Tourismus?“
„Na klar! Viele finanzkräftige Leute investieren in Sri Lanka. Engländer, Deutsche und Japaner. Ich habe gerade Traumgrundstücke an Japaner verkauft. Sie wollen ein Golf-Hotel am Meer bauen“, erzählte Wickremasinghe. „Wenn Sie wirklich am Tourismusgeschäft interessiert sind, kann ich Ihnen helfen. Ich kann Sie den richtigen Leuten vorstellen und Ihnen Türen öffnen, die Ausländern sonst verschlossen bleiben.“
Erst über der Nordsee fragte Messalina: “Was hältst du denn vom ‚Unternehmen Colombo’?“
„Nicht uninteressant. Mal sehen.“
Nach endlosen Telefonaten und Faxen zwischen Hamburg, Colombo und Berlin machten sie sich tatsächlich auf nach Sri Lanka. Den endgültigen Ausschlag hatte ein Schreiben des Anwalts Wickremasinghe gegeben. „Ich freue mich, Ihnen zu helfen. Ich werde Ihnen alle bürokratischen Steine aus dem Weg räumen. Sie können sich auf mich verlassen.“
Billig-Hotels gibt’s genug
Es war schon dunkel, als sie in Colombo ankamen. Tausende von bunten Glühbirnen an Bambusgerüsten formten wie Mosaiksteinchen religiöse Bilder. Goldglänzende Buddha-Statuen waren von duftenden Blütenbergen überhäuft. Die Luft roch nach Räucherstäbchen, Kokosnussöl und nach Frangipani-Blüten. An Straßenständen wurden selbstgebastelte Lampen ausgestellt. In Kiosken verteilten Tempeldiener Tee und Fruchtsaft. Festlich gekleidete Frauen, Männer und Kinder schlenderten über die Strassen, sodass oft kein Durchkommen war. Sie feierten das Vessak-Fest: Den Vollmondtag im Mai, an dem vor 25 Jahrhunderten der Buddha geboren und gestorben ist – und an dem er erleuchtet wurde.
Den Blick aus ihrem Zimmer im achten Stock des Hotels werden sie so schnell nicht vergessen: Aus der dunklen Weite des Indischen Ozeans rollten hohe, weiße Wellen und schlugen tosend auf die Klippen. Der Strand war hell erleuchtet. Tausende von Menschen bummelten auf und ab. Inmitten der sich hin- und herschiebenden Menschenmassen hatten sich Gruppen niedergelassen. Ganze Familienclans lagen auf Matten im Sand, aßen, tranken, lachten und erzählten sich Neuigkeiten. Rote, blaue und gelbe Luftballons hoben ab und verschwanden im dunklen Nachthimmel.
„Da könnte man glatt zur Buddhistin werden,“ schwärmte Messalina.
„Sieht nicht aus nach Bürgerkrieg“, empfand Max. Auch ihm gefiel das bunte Treiben. ‚Sanftmut und Bürgerkrieg – wie passt das zusammen?’, dachte er. ‚Das Land ist voller
Widersprüche, aber wir werden sie bald verstehen lernen’, orakelte er.
Nach den Feiertagen versuchte Max, den Anwalt Wickremasinghe zu erreichen. Fehlanzeige. Wichtige Geschäfte hatten ihn überraschend für die nächsten zwei, drei Wochen nach Japan geführt, erfuhr er in der Kanzlei.
„Dann müssen wir eben das Unternehmen ohne unseren Gönner starten,“ murmelte Max, als er im Telefonbuch die Nummer des staatlichen Investitionsbüros suchte. Es war leicht, einen Termin zu bekommen. „Kommen Sie jetzt gleich?“, fragte der Mann am anderen Ende der Leitung.
Der weiß-uniformierte Türsteher vor dem Hotel nahm stramme Haltung an. Seine rechte Hand schnellte an die Schirmmütze. Er sah Max scharf in die Augen und rief laut: “Mertens“. ’Woher kennt er meinen Namen,’ rätselte Max und drückte ihm dankbar ein paar Rupies in die Hand.
Eraj Jayasekera, ein untersetzter junger Mann in weißem Hemd mit blauen Streifen, sprach ein geschliffenes Englisch.
„Wie lange wollen Sie in unserem schönen Land bleiben? Die meisten Investoren kommen nur für ein paar Tage. Eine Firma hier übernimmt dann die Abwicklung der Formalitäten. Wenn Sie einen zuverlässigen Kontaktmann brauchen...“, sagte Jayasekera betontbeiläufig, da kann ich Ihnen helfen.“
„Wir wollen uns erst einmal umschauen,“ wehrte Max das Angebot ab. „Es ist noch ungewiss, wie lange wir bleiben.“
Und dann fragten die Besucher dem Beamten Löcher in den Bauch. Wo die schönsten Strände, wie teuer die besten Grundstücke, wie hoch die Baupreise, wie die Lohnentwicklung, die Tarifpolitik seien. Ob der Tourismus wirklich so rasant zunehme, wie behauptet, und wie sich der Bürgerkrieg auswirke.
„Wir würden gerne schmucke kleine Bungalows am schönsten Sandstrand der Insel bauen," hatte Messalina gesagt. „Unser kleines Hotelprojekt soll Individual-Reisende ansprechen, die wegen der Naturschönheit hierher kommen und sich erholen wollen.“
Jayasekera hatte aufmerksam zugehört.
„Unsere Bungalows sollen ökologisch geführt werden. Solarstrom...“
Jayasekera wog den Kopf wie eine Endlos-Acht. „...Kompostierung und Bio-Toiletten, separate Brauchwasser-Leitungen...“ Messalina irritierte es, dass der Beamte schon wieder den Kopf hin und her bewegte.
„Und warum nicht?“, fragte sie.
„Yes, yes...“, antwortete Jayasekera.
„In unserer Küche gibt’s vor allem Vegetarisches, das unser eigener Bio-Garten liefert.“ Als Jayasekera immer noch energisch den Kopf wie eine Acht schüttelte, dämmerte es den beiden: Jayasekera gab heftige Zeichen der Zustimmung, singhalesische.
„Billig-Hotels haben wir genug. Aber teure Unterkünfte, wie Sie sie planen, sind uns immer willkommen. Erst vor ein paar Tagen haben wieder japanische Geschäftsleute mit dem Bau eines Fünf-Sterne-Hotels angefangen. Allerdings...", Jayasekara beugte sich vor "...ganz im Vertrauen, wenn Sie gutes Geld machen wollen, dann investieren Sie doch lieber in der Freizeitindustrie.“ Den Hinweis unterstützte der Beamte mit einer Visitenkarte. Sie enthielt eine Telefonnummer in dicken Zahlen und - kaum leserlich - einen Namen.
„Mein Bekannter kann höchst hilfreich bei der Abwicklung der Formalitäten sein. Der Mann ist wirklich gut. Wenn Sie heute den Antrag auf Projekt-Genehmigung stellen, können Sie schon in vier Wochen anfangen. Sie wollen doch möglichst schnell beginnen? Oder?“