Читать книгу Hartmuth der Deserteur - Klaus Dengg - Страница 5

Оглавление

Vor- und Nachwort

(gerichtet an meine von mir vernachlässigten Freunde,

die Menschen)

Solange wir leben, hier unter dem Mond,

jeden Morgen, wenn uns die Augen geöffnet werden

und der Vorhang der Welt-Bühne sich wieder hebt,

bei jeder Rückkehr aus dem magischen Traumland,

gerade in dem Augenblick, wo wir wieder Fuß auf die Erde setzen,

ist da ein kurzer Moment tastender Unsicherheit,

meist kaum wahrgenommen.

Es ist der kurze Zeitraum, den wir benötigen,

um uns geistig zu sammeln,

um unser mentales Ego wieder hochzufahren

und uns zu orientieren.

An welchem Ort bin ich? In welcher Zeit?

Wozu bin ich zu diesem Zeitpunkt hier?

In Sekunden ist alles scheinbar geklärt und das ist gut so!

Ein Wimpernschlag und schon haben wir Anker geworfen

und uns in Raum, Zeit und Kausalität

wieder festgehakt und den mentalen Absturz

und die Einweisung in die Irrenanstalt vermieden.

Noch ein Wimpernschlag

und schon haben wir den Faden wieder aufgegriffen zur Geschichte,

die uns erzählt, wer da eben auf der Erde wieder gelandet ist

und die Augen geöffnet hat.

Ja, wer bin ich? Was bin ich?

Eine Antwort ist sofort parat, mental reflexiv,

ich heiße A, von Beruf bin ich B, bin verheiratet mit C,

habe die Kinder D und E,

habe diese Eigenschaft und jene, bin ein Fan von …

und Eigentümer von … usw. … usw. …

Ja, da ist ein riesiger Fundus an Erinnerungen,

aus dem wir bei unserer Blitzortung

beim Aufwachen nur einige wenige herausgreifen,

um uns sofort wieder zu finden

und uns einzuordnen in die Welt,

die eben wieder vor uns aufgeht wie ein Bühnenbild.

Frage jemanden danach, wer er sei,

und er wird den mentalen Aufwachreflex fortsetzen,

ihn ausbauen und die Geschichte seines Lebens

in allen Einzelheiten präsentieren.

Doch egal, welche Gedanken wir

zum Zwecke unserer Selbstbeschreibung herausgreifen,

immer handelt es sich bloß um Definitionen des Begriffes „Ich“ und Definieren heißt nichts anderes als „Abgrenzen“

anhand von oberflächlichen Unterscheidungskriterien.

Wir definieren im unreflektierten Alltag unser „Ich“

nach derselben mentalen Methode,

nach der wir auch den Begriff „Baum“

vom Rest des Universums abgrenzen.

Wenige äußerliche, charakteristische

Unterscheidungsmerkmale genügen

und schon sind der Begriff „Baum“

und der Begriff „Ich“ gebildet und mit dem Seziermesser

des Verstandes aus dem Fluss des Lebens,

aus dem „Prozess Universum“, herausgeschnitten,

aus dem Fluss, der auch unseren unbewussten Geist

und unsere Gefühle in sich trägt.

Der Verstand schneidet aber stets nur Teilaspekte

unseres Wesens aus dem Fluss heraus,

er macht Fragment-Bilder in allen denkbaren Farbnuancen

aus verschiedensten Perspektiven.

Die Funktionsweise unseres Verstandes liegt in

dieser Fragmentierung, er kann nicht anders,

aber er setzt die Fragmente –

allerdings nach seinem Gutdünken – auch wieder zusammen

und malt daraus wie ein Pinselkünstler

mehr oder weniger kunstvoll unser Selbstportrait.

Jeder Pinselstrich entspricht einer Abgrenzung

und jede Farbnuance einem Seelenzustand.

Es ist ein Portrait, an dem ununterbrochen gepinselt wird,

eine Romanfigur, die fortwährend bearbeitet wird.

Ja, und diese Romanfigur, das soll tatsächlich „Ich“ sein?

Na ja, dieses sich täglich wandelnde Selbstportrait

gehört wohl auch zu uns,

betrachten wir es mit Nachsicht, mit Wohlwollen,

mit Durchsicht und Humor,

betrachten wir es als unsere mentale Haut,

mit der wir uns nach Außen abgrenzen.

Unser Verstand ist nach außen gerichtet, er ist uns gegeben,

um unser Handeln zu leiten,

er ist auf Konstruktion und Fabrikation angelegt und hilft uns, zu überleben in dieser Welt.

Es ist erstaunlich, welche Leistungen er vollbringt,

und er verdient unsere volle Wertschätzung,

aber nach innen, auf unser Wesen gerichtet,

ist er seltsam schwach und blind.

Er ist nicht in der Lage, uns eine Antwort zu geben

auf die Frage: „Wer bin ich wirklich?“

Der Strahl einer Taschenlampe vermag eben die Tiefe

des Meeres nicht zu erhellen.

Wir Menschen sind aber unendlich viel mehr,

als unser Verstand zu greifen vermag.

Wir fließen aus einer geheimnisvollen Quelle in eine Form,

um dann aus dieser Form in ein rätselhaftes Meer

gegossen zu werden,

und zwischen Quelle und Meer bewegt

und ermutigt uns eine Kraft,

die wir mit dem Verstand nicht greifen können,

er ist eben zu schwach und zu blind.

Besuchte je ein mitfühlendes,

weises Wesen aus den Tiefen des Alls unsere Erde,

so würde es wohl erstaunt fragen:

„Wie ist es möglich, so zu leben?

Woher bloß nehmen sie ihre Zuversicht, diese Menschen,

und woher ihren Mut in all ihrer Dunkelheit

und woher oftmals diese kindliche Heiterkeit auf ihrem Weg zum Tode, von dem sie nichts wissen?“

Ja, das ist das Paradoxon unseres Lebens,

unseres derzeitigen mentalen Bewusstseinszustandes,

der die magischen Fragen erlaubt,

nicht aber die Antworten darauf.

Mit unserem derzeitigen Bewusstsein lassen sich

diese Antworten nicht finden!

Derartige Versuche sind von vornherein zum Scheitern verurteilt,

solche Versuche sind genauso vergeblich wie der Versuch,

mit einem groben Pinsel eine Mücke in Originalgröße

in den Sand zu zeichnen.

Wir haben nur die Möglichkeit,

uns diesen großen Antworten zu nähern,

indem wir sie gedanklich umkreisen, sie überschlafen,

sie überträumen,

sie meditativ, gleich einem Koan, auf uns wirken lassen,

um so in ihren Dunstkreis zu gelangen,

diesen zu fühlen und gedankenlos darin zu baden.

Die Antworten liegen zwischen den Gedanken,

außerhalb der Worte!

Die Antworten liegen zwischen diesem Vor- und Nachwort,

sie liegen zwischen allen Worten.

Also, meine Freunde,

zwängen wir unser Ohr zwischen die Worte,

zwängen wir es in den Spalt des Bühnenvorhangs

und lauschen wir hinaus in den Raum

zwischen den Sternen und hinein!

Hört doch, wie das Herz klopft! Hört Ihr es?

Hört Ihr, wie alle Herzen klopfen?

Hört Ihr dieses Gepoche über die Jahrtausende?

Hört doch, wie der Atem rauscht,

das mächtige Rauschen allen Atems,

spürt doch, wie es kribbelt, innen, wie es lebt,

wie Wärme durch jede Zelle fließt,

wie Freude aufsteigt aus dunkler,

unbekannter Tiefe und Begeisterung.

Spürt doch, wie sehr wir gewollt sind von jenem Mysterium,

das in uns klopft und rauscht und wärmt

und uns Freude macht, uns lebt.

Ja, legen wir sie ab, die Erdschwere, im Geiste

und begeben wir uns hinaus in den Raum, mit allen Sinnen,

hinaus, weit hinaus außerhalb unseres Sonnensystems,

und fühlen wir die Erheiterung und die Erleichterung,

die sich breit macht,

sobald wir aus dem unendlichen, unbegreiflichen Raum

das Vergängliche betrachten,

die Formen, die Objekte, die Gestirne, die Planeten, die Erde,

das gesamte im Bannkreis der Sonne kreisende kosmische Treibgut.

Seien wir die dunkle Unendlichkeit zwischen den Sternen,

seien wir das Nichts

und schauen wir aus dieser leeren Fülle

als dieses Subjekt auf all die Objekte,

betrachten wir unseren werdenden und vergehenden Körper

dort auf der Erde,

beobachten wir unser Tun, unsere Gedanken, unsere Emotionen,

unsere lächerliche Wichtigkeit,

unsere seltsam rührenden Rollenspiele!

Sie zwingt zum Lachen diese Übung, zum erleichterten Auflachen,

eine Übung voll von Poesie, die uns „Kind-Sein“ nahe legt,

eine Übung, die uns ein kosmisches Ringelspiel vor Augen führt,

das jährlich einmal mit viel „Klimbim“ seinen Kreis vollendet.

Seht es Euch an aus dieser magischen Perspektive,

unser Sonnensystem, unsere Erde

und alles, was darauf lebt und strebt und vergeht, seht Ihr Euch?

Hört Ihr die Jahrmarktmusik, die Drehorgeln,

das Klingeln des Ringelspiels,

das aufgeregte Kindergeschrei, Euer eigenes?

Seht Ihr die Löwen, die vielen bunten Girlanden,

die blauen Delphine und die weißen Elefanten,

auf deren Rücken mit großen Augen Kinder sitzen,

die, ganz dem Lebenszauber hingegeben, sich erhitzen?

Am Zugang an der Kassa, ungeduldig, bange,

der Wartenden unendlich lange Schlange,

derer die bereit, mit ihrem Leben zu bezahlen,

mit gutem Mute in den Reigen steigen,

Kinderspiele spielen und mit Leben prahlen,

bis es erlischt und sie ermattet scheiden,

um neu sich einzureihen in die lange Schlange,

wie oft noch und wie lange?

Seht doch, wie die Bäume kraftvoll leben, sich bewegen,

und in Sekunden aus dem Keime in den Himmel streben,

wenn in Gedanken wir erhöhen des Kreisels Schwung,

wie Frauen ihrer Kinder sich entbinden,

Gesichter, blühend, glatt, so rein, so jung,

die reifen, welken und im tiefen Weltenraum verschwinden.

So umrunden wir die Sonne in edlem Jahreskreise,

in irrem Tempo, sanft, geschmeidig, leise,

auf dem Delphin, dem blauen, reitend,

im Bann der Sonne durch das Weltall gleitend,

auf einem Feuerball mit gnädig milder Kruste,

auf der Millionen rote Rosen blühen,

geschöpft aus einer Kraft, die wusste

ob der Träume und der roten Kinderwangen Glühen.

Überwölkt von dunkler Todeskälte

schlafen wir in luftig warmen Kissen,

so, als ob für alles Leben gelte,

nichts von dunkler Kälte je zu wissen.

Beatmet, liebevoll, von Mund zu Munde,

das Leben lang, vielmals in jeder Lebensstunde,

durchpocht uns wärmend jene Kraft,

die keimt, gebärt, die alles Leben schafft …

Ja, liebe Freunde,

auch wenn sich nicht alles reimt in unserem Leben,

eines ist nicht zu übersehen und nicht zu überfühlen,

wir sind eingebettet in großes Wohlwollen,

wir sind eingebettet in Liebe,

getragen von einer mystischen Macht, die uns will.

Ja, das Wohlwollen, das uns trägt, ist unübersehbar!

Das ist das Evangelium, das jede unserer Zellen

und alle Natur verkündet!

Also lasst uns feiern …

Klaus Dengg

… Noch ein kleiner Hinweis,

bevor sich der Bühnenvorhang hebt

und das Schauspiel beginnt!

Unser Leben ist unendlich vieles und jedenfalls auch ein Schauspiel. Ein Schauspiel, zu dessen Aufführung wir allerdings immer zu spät kommen, denn immer hat es schon angefangen, lange, bevor wir die Bühne betreten. Die Kulisse, das Bühnenbild, die Mitspieler, die Sprache, die Denk- und Gefühlsschablonen, die Kultur, die sozialen und politischen Verhältnisse, all das und noch vieles mehr ist uns immer schon fremdbestimmt vorgegeben.

Aber spätestens ab unserem ersten Schrei auf der Bühne mischen wir mit in diesem Theater. Zumeist – und das ist schön – lösen wir mit unserem ersten Schrei Entzücken aus, oft Tränen der Freude, was von unseren späteren Schreien als Erwachsene natürlich nicht immer behauptet werden kann.

Von außen, aus der Perspektive des bloßen Verstandes betrachtet, ist unsere „Einmischung“ in das große Schauspiel minimal, doch aus uns selbst heraus, aus unserem Wesen heraus betrachtet, sind wir es, die maßgeblich „mischen“. Jeder von uns ist quasi in Personalunion gleichzeitig Autor, Schauspieler und auch Zuschauer des Stückes, das gerade gespielt wird. Ein Stück, das – unter Berücksichtigung der fremdbestimmten Vorgaben – jeder für sich aus seinem Ich-Punkt heraus gestaltet, sei es nun ein Heldenepos, eine Komödie, ein Trauerspiel oder sei es eine der Milliarden anderen möglichen individuellen Varianten. Ein Stück jedenfalls, das – solange der Verstand es unberührt lässt und es nicht zerpflückt – einfach „Fluss des Lebens“ genannt werden könnte.

Sobald aber der Verstand in den Fluss des Lebens greift – und das tut er ständig – und mit seinen Begriffen wie mit einem Seziermesser einzelne Teile herausschneidet, gefriert das Herausgeschnittene und wird zum starren Bild, das wir zwar dadurch in Ruhe betrachten können, ohne am ständigen Verfließen zu verzweifeln, das aber eben – seines Wesens beraubt – nicht mehr fließt.

Begleiten wir ihn also nicht nur mit unserem Verstand, sondern auch mit dem Herzen und mit Gespür für das Fließen des Flusses des Lebens, ihn, den Helden des Romans, den bemerkenswerten Hartmuth, wie er, im Zug der ÖBB oder an anderen schicksalhaften Orten sich befindend, Bilder aus dem Fluss seines so aufregenden Lebens herausgreift, um sich letztlich in ihn, in den magischen Fluss des Werdens und Vergehens und des Vergehens und Werdens, hineinzustürzen.


Hartmuth

der Deserteur

Ein Roman über das

Schauspiel des Lebens

in 5 Szenen

Hartmuth der Deserteur

Подняться наверх