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1 Einleitung

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Dieses Buch beschäftigt sich mit der Veränderung der Parteiensysteme in Westeuropa. Diese sind seit längerer Zeit in Bewegung, haben aber im letzten Jahrzehnt eine Phase besonders starker Turbulenzen erlebt. Ich möchte erläutern, worin dieser generelle Wandel besteht und erklären, warum sich gerade in den Jahren nach 2010 vielfach neue Muster des Parteienwettbewerbs entwickelt haben. Beherrschendes Thema dieser Abhandlung wird die Zersplitterung gesellschaftlicher und politischer Lager sein. Diese Fragmentierung hat eine neue Dynamik hervorgebracht, in der (a) mehr Parteien eine relevante Rolle in den Parteiensystemen spielen, (b) mehr Konfliktpotential zwischen den Parteien vorhanden ist, und (c) weniger Stabilität des Wettbewerbs vorherrscht. Angesichts der Bedeutung der Parteien für die demokratische Willensbildung und das Regieren in Europa stellt ein solcher Wandel der Parteiensysteme eine wichtige Entwicklung dar, wirft er doch Fragen nach den Herausforderungen für eine legitime und effiziente Politik auf.

Machen wir uns die Problemstellung am deutschen Beispiel klar. Eines der zentralen Merkmale der deutschen Politik war lange Zeit das leicht zu überblickende Parteiensystem. Zwei große Volksparteien, die CDU/CSU1 und die SPD, standen im Zentrum des Kampfes um die politische Macht, wobei eine kleinere Kraft, die liberale FDP, durch ihre Hinwendung zu einer der beiden Seiten oftmals das Rennen entschied. Auf Bundesebene sorgte die FDP in ihrer Rolle als Königsmacherin für die beiden Regierungswechsel von 1969 und 1982. Mit dem Erfolg der Grünen, die ab den frühen 1980ern in die Parlamente in Bund und Ländern einzogen, wurde das Parteiensystem zwar etwas komplexer, wies jedoch bald wieder ein klar erkennbares Muster auf: den bürgerlichen Parteien von Christdemokraten und Liberalen standen die gemäßigt linken Parteien von Sozialdemokraten und Grünen entgegen (Jun 2017; Niedermayer 2018).

Die Bündnisse wurden jeweils angeführt von einer der beiden Volksparteien. Volksparteien sind dadurch definiert, dass sie sich programmatisch und organisatorisch der Interessenvertretung vieler unterschiedlicher sozialer und politischer Lager verschreiben (Kirchheimer 1965; Mintzel 1984). Die politische Mission der deutschen Volksparteien lag in der Integration heterogener Wählerschichten um einen bestimmten Markenkern herum, der sich, wenn auch recht vage definiert, bei der Union in der christlichen Soziallehre verorten ließ, bei den Sozialdemokraten im Versprechen höherer gesellschaftlicher Gleichheit. Politischer Kompromiss und ideologische Offenheit wurden zu den Betriebsmitteln der Volksparteien (Lösche 2009). Der Erfolg gab ihnen Recht. Von 1957 bis 1990 lag der gemeinsame Anteil von CDU/CSU und SPD bei Bundestagswahlen durchgehend bei über 80 Prozent der Stimmen. Regierungen waren daher immer entweder christdemokratisch oder sozialdemokratisch geprägt.

Seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 sind die Verhältnisse komplizierter geworden. Eine Reihe weiterer Parteien ist in die Parlamente eingezogen, von denen die Linkspartei und die rechte AfD die wichtigsten Neuerungen darstellen. Von dieser höheren Fragmentierung des Parteiensystems gehen drei Folgewirkungen aus. Erstens ist die Vielfalt an politischen Positionen gewachsen, ebenso wie das Potential für Streitfragen im politischen Wettbewerb. Themen wie Europa oder Migration werden mit neuer Schärfe diskutiert (Schoen/Gavras 2018). Zweitens sind die Mehrheitsverhältnisse unklarer geworden. Dies hat ein allmähliches Aufweichen der festen politischen Blöcke hin zu flexiblen Koalitionsbildungen begünstigt. Gerade in den Ländern zeigt sich eine bunte Vielfalt an politischen Partnerschaften, die als Ausdruck der regional unterschiedlichen Entwicklung der Parteiensysteme verstanden werden können (Detterbeck/Renzsch 2008). Drittens ist die Dominanz der beiden Volksparteien ins Wanken geraten. In den Ländern sind plötzlich auch Ministerpräsidenten der Grünen oder der Linken zu finden.2 Es ist auch nicht mehr ausgemacht, dass CDU/CSU oder SPD die ersten beiden Plätze nach einer Wahl einnehmen. Koalitionsvielfalt und Regierungsinnovationen auf Landesebene verändern die Handlungslogiken im Bundesrat und somit der Gesetzgebung im Bund (Jun/Leunig 2011; Detterbeck 2019).

Der Blick auf den gemeinsamen Stimmenanteil der beiden Volksparteien bei den Bundestagswahlen zwischen 1990 und 2017 ist aufschlussreich. Schaubild 1.1 zeigt die Erfolgskurven der Parteien seit der Wiedervereinigung. Die vormals kleinen Parteien haben an Stimmenanteilen gewonnen und bringen die Volksparteien zunehmend in Bedrängnis. Dabei ist der elektorale Abwärtstrend bei den Sozialdemokraten stärker ausgeprägt als bei den Christdemokraten. Bis Ende der 2010er-Jahre ist zwar noch keiner der Verfolger in die Sphären der beiden Volksparteien vorgedrungen, aber die Jäger sind mehr geworden und ihre Erfolgskurven gehen tendenziell nach oben.


Abb. 1.1: Stimmenanteile der Parteien bei den Bundestagswahlen 1990–2017. Quelle: Eigene Darstellung; Daten nach: Der Bundeswahlleiter 2018, S.€16–20.

Der Anteil von CDU/CSU und SPD lag bei den vier Wahlen zwischen 1990 bis 2002 bei durchschnittlich 77 Prozent, bei den vier Wahlen zwischen 2005 bis 2017 rutschte er auf 62 Prozent ab. Wir haben es also mit einem graduellen, aber kontinuierlichen Verlust der Vormachtstellung der Volksparteien zu tun. Christdemokraten und Sozialdemokraten sind immer noch die wahrscheinlichsten Sieger einer Wahl in Deutschland, aber der Wettbewerb ist offener geworden. Die Bundestagswahl 2017 mündete zwar schließlich, nach mühevoller Suche, in eine Erneuerung der Großen Koalition von Union und SPD – aber die Mehrheit der Wählerstimmen wurde gerade noch so eben erreicht (mit 53,4 Prozent). Beide Fraktionen fuhren ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949 ein.

Dabei stellen die relativ schlechten Wahlergebnisse der Volksparteien nur eines ihrer Problemfelder dar. Sie haben in den letzten Jahrzehnten massiv an Mitgliedern verloren. CDU wie SPD haben sich etwa halbiert seit den frühen 1990ern, die CSU ist um etwa ein Viertel geschrumpft im selben Zeitraum (Niedermayer 2019). Die Volksparteien sind, stärker als die übrigen Parteien in Deutschland, massiv überaltert. Rund die Hälfte der Mitglieder von CDU, CSU und SPD sind älter als 60 Jahre. Viele von ihnen sind im Mitgliederboom der 1970er, einer Zeit hoher Mobilisierung, in ihre Parteien eingetreten, dort grau geworden und nur unzureichend durch jüngere Kohorten ergänzt worden. Das Altersproblem ist gekoppelt an weitere Repräsentationsdefizite der Parteien, etwa der zu geringen Vertretung von Frauen sowie von Menschen mit geringeren Bildungsabschlüssen und niedrigem sozialen Status in ihren eigenen Reihen (Klein/Spier 2012; Biehl 2017; Klein et al. 2019).

Nimmt man zu den Mitgliederproblemen die sinkende Anzahl loyaler Stammwähler, die komplizierter gewordenen Beziehungen zu traditionell den einzelnen Parteien nahestehenden Interessengruppen, etwa den Gewerkschaften und den Kirchen, und die aus Meinungsumfragen ablesbare Skepsis der Bevölkerung gegenüber der Vertrauenswürdigkeit und Problemlösungsfähigkeit der Politik hinzu, so schält sich ein Bild heraus, demzufolge die Parteien Schwierigkeiten haben, stabile und belastbare Bindungen an gesellschaftliche Gruppen aufrechtzuerhalten bzw. neu herzustellen. Die Parteien agieren heute in sichtbarer Distanz zur Gesellschaft statt, wie historisch gewachsen, unmittelbar aus ihr hervorzugehen (vgl. Detterbeck 2011, 23–38).

Mit diesen beiden Phänomenen, der Zersplitterung des politischen Wettbewerbs und der Lockerung der Bindungen zwischen Gesellschaft und Parteien, wird sich der vorliegende Band beschäftigen. Er ist vergleichend angelegt, da sich in den meisten westeuropäischen Demokratien ähnliche Entwicklungen feststellen lassen, die über die Spezifika der einzelnen Länder hinausdeuten. Ich werde aber immer wieder auch auf das deutsche Parteiensystem zu sprechen kommen.

Kapitel 2 legt die Grundlagen für die Studie. Die bereits angesprochene Relevanz der Parteien für die demokratische Legitimität der Politik wird diskutiert. Es wird gezeigt, wie sich die wissenschaftliche Forschung mit dem Themenfeld des Parteienwettbewerbs und Parteiensystems auseinandergesetzt hat. Daraus ergibt sich dann die Beschäftigung mit den zentralen ökonomischen und kulturellen Konfliktlinien des Parteienwettbewerbs sowie mit der Rolle von parteipolitischer Ideologie und Organisation für die Schaffung stabiler Bindungen an gesellschaftliche Gruppen. Erst die Erosion dieser Bindungen hat Veränderungsprozesse in Gang gesetzt.

In Kapitel 3 werfen wir einen empirischen Blick auf die wachsende Instabilität der Parteiensysteme in Westeuropa. Nachlassende Beteiligung an Wahlen, eine höhere Bereitschaft der Stimmbürger, die Parteipräferenzen zu wechseln und die gestiegene Anzahl von Parteien im Wettbewerb, die insbesondere durch Stimmenverluste der bislang dominierenden Kräfte gekennzeichnet ist, werden im europäischen Vergleich als generelle Indikatoren für den Wandel der Parteiensysteme seit den 1970ern nachgewiesen. Dabei erweisen sich allerdings gerade die 2010er-Jahre als Dekade der besonderen Turbulenz.

Kapitel 4 beschäftigt sich dann mit den Hintergründen des langfristigeren Wandels der Parteiensysteme. Es sind Veränderungen in der Gesellschaft auf ökonomischer und kultureller Ebene, aber auch neue Orientierungen in den Parteien selbst, die von der Öffnung für breitere Wählerschichten bis hin zu einer verstärkten Hinwendung zu staatlichen Aufgaben und Ressourcen reichen, die den Rückgang stabiler Parteienbindungen erklären. Durch eine Betrachtung von Phasen ideologischer Konvergenz und Divergenz kann die Annahme eines generellen Rückzugs der Parteien von programmatischen Positionen relativiert werden. Dennoch zeigt sich, dass es Parteien zunehmend schwerfällt, die an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen. Verlorene Loyalität mündet in instabilere Parteiensysteme.

In Kapitel 5 wird ein genauerer Blick auf die Jahre nach 2010 geworfen, die auf eine neue Qualität im Wandel der Parteiensysteme hinweisen. Modernisierungsprozesse in Gesellschaft und Wirtschaft, die sich mit den Schlagwörtern der Globalisierung und Europäisierung umreißen lassen, haben neue gesellschaftliche Polarisierungen hervorgebracht. Befürworter und Gegner, Gewinner und Verlierer offener Grenzen stehen sich scheinbar unversöhnlich gegenüber. Diese Spaltungslinien sind von politischen Akteuren in den Parteienwettbewerb übertragen worden, indem bereits zuvor bestehende kulturelle Konfliktlinien aktualisiert und gestärkt worden sind. Hierbei spielen populistische Parteien eine besondere Rolle. Daher werde ich sowohl die ideologische Grundlage des Populismus betrachten wie auch empirisch nach der Stärke dieser Herausforderung für die Parteiensysteme fragen.

Kapitel 6 liefert die Konklusion dieser Schrift. Sie stellt kompakt das zentrale Argument des Bandes dar, geht aber einen Schritt weiter. Es werden drei Dimensionen skizziert, die durch die Fragmentierung und Destabilisierung der Parteiensysteme betroffen sind. Dabei handelt es sich um Zukunftsoptionen der Parteien als Organisationen, strategische Anpassungsprozesse der Parteien im Wettbewerb und Veränderungen auf parlamentarischer Ebene, die das demokratische Regieren tangieren. All dies sind offene Prozesse, deren weitere Entwicklung von Entscheidungen der Parteien abhängen. Der Wandel europäischer Parteiensysteme ist in diesem Sinne unabgeschlossen – wohin der Weg gehen wird, ist dabei zu guten Teilen von den politischen Akteuren selbst abhängig.

Parteien im Auf und Ab

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