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Оглавление1 Was die Digitalisierung für die Praxisarbeit konkret bedeutet
1.1 Warum niedergelassene Ärzte Probleme mit der Transformation haben
Die Zurückhaltung niedergelassener Ärzte in Bezug auf die digitale Transformation ihrer Tätigkeit ist eine durch eine Vielzahl von verlässlichen Untersuchungen gelegte Tatsache. Hierfür sind mehrere Gründe verantwortlich
Diffuse DefinitionDer Digitalisierungs-Begriff wird in Publikationen, Vorträgen und in der öffentlichen Diskussion inflationär und gleichzeitig sehr undifferenziert verwendet. Hierdurch ist es zu Fehleinschätzungen und Vorurteilen gekommen, die eine qualifizierte Diskussion teilweise unmöglich machen. Ja-Aber-AmbivalenzSichtet man die Berichterstattung in Fachmedien, so sind die Inhalte durchaus Transformation-freundlich ausgelegt, in der Gesamtbetrachtung enthalten die Beiträge dann aber mehr - zum Teil durchaus berechtigte - Warnungen und Einschränkungen als konkrete Anwendungs-Motivation. Auch ärztliche Interessen-Verbände betonen einerseits immer wieder die Wichtigkeit der Digitalisierung. Die Ausführungen, die dem sich anschließenden "aber" dann folgen, überdecken jedoch in ihrem Umfang die positiven Bekundungen, vor allem in Form der fast übermächtigen Datenschutz- und Kostendeckungs-Argumente. Dabei sollte deren Bedeutung nicht gemindert werden, aber sie dürfen nicht dazu eingesetzt werden, jeden Ansatz im Keim zu ersticken. Das TI-ProjektGanz besonders prägend für die Definition der Digitalisierung und ihre Fehlleitung ist das Negativ-Image des mit der Arbeit von Arztpraxen eng assoziierten Telematikinfrastruktur-Projektes, das für viele Ärzte die Transformation repräsentiert. Die sich über Jahre erstreckende Vorlaufzeit und die fortwährenden Diskussionen über die Verantwortung der Verzögerungen haben dazu geführt, dass Praxisinhaber der konkreten Umsetzung in ihren Betrieben äußerst negativ entgegensehen, vor allem, wenn schon die Experten ein derartiges Projekt nicht „in den Griff bekommen“.
Insgesamt haben sich die bis heute nicht endenden Projekt-Querelen stark negativ auf den Gesamtkomplex der Digitalisierung abgefärbt. Die ohnehin relativ geringe Bereitschaft, sich mit den Möglichkeiten der digitalen Transformation zu beschäftigen, wird durch den Eindruck ergänzt, dass Digitalisierung ein unausgegorener, schwieriger, zeitaufwendiger und vor allem Medizin-ferner Prozess ist. Bei der ärztlichen Bewertung des TI-Projektes wird inzwischen der Versorgungs-Nutzen deutlich durch die Implementierungs-Administration überlagert.
Nicht-Digitalisierung als Abstrafungs-GrundEin weiterer Aspekt, der die Digitalisierung zu einem „ungeliebten“ Projekt macht, ist die in Zusammenhang mit der Telematik-Einführung geäußerte Androhung einer Sanktionierung von Umsetzungs-Verspätungen durch Honorar-Abzug. Natürlich muss es Instrumente geben, die eine zeitliche Strukturierung sicherstellen, allerdings sollten bei derartigen Ankündigungen sowohl der Kontext als auch die „Nebenwirkungen“ in Betracht gezogen werden. Insgesamt hat die Ankündigung der Honorarkürzungen die negativ geprägte Sicht der Digital-Entwicklung ergänzend verstärkt. Zukunfts-Bewertung mit Gegenwarts-KriterienHinzu kommt die im Gesundheitswesen besonders ausgeprägte Grundhaltung, die Möglichkeiten und Bedeutung von Zukunfts-Szenarien mit den Regelungen, Vorschriften und Gegebenheiten der Gegenwart zu bewerten: für die eine Lösung existiert keine rechtliche Grundlage, für die andere gibt es noch keine breiteren Anwendungserfahrungen, die Konsequenz ist dabei immer wieder die gleiche: eine Realisierung der Ideen und Ansätze ist nur schwer oder gar nicht möglich.
Um die Relevanz und Möglichkeiten der Transformation für Haus- und Fachärzte / ärztinnen zu bestimmen, muss deshalb die gegenwärtig existierende, diffus-emotionale Definition der Digitalisierung durch eine realitätsbezogene Betrachtung ersetzt werden, um auf einer objektivierten Basis die tatsächlichen Möglichkeiten und Grenzen erkennen zu können. Für eine derartige Präzisierung sind folgende Dimensionen zu berücksichtigen:
1.2 Gesundheitswirtschaftliche und Arztpraxis-bezogene Betrachtung der Digitalisierung
Der Begriff „Digitalisierung“ ist nicht nur im Gesundheitswesen auf zwei Ebenen zu betrachten: als gesamtwirtschaftliche Entwicklung und als unternehmerische (einzelwirtschaftliche) Entscheidung.
Der gesamtwirtschaftliche Aspekt Die meisten derzeit stattfindenden Diskussionen und die Berichterstattung beziehen sich fast ausschließlich auf den gesamtwirtschaftlichen Aspekt. Das ist speziell im Gesundheitswesen vor allem dadurch bedingt, dass unter dem übergeordneten Aspekt der Patientenversorgung alle hierfür direkt und indirekt relevanten Sektoren und Akteure sowie ihre Beziehungen untereinander in die Betrachtung einzubeziehen sind. Die mediale Abhandlung der Digitalisierung ist deshalb zwangsläufig durch eine Vielzahl an Aspekten geprägt, die niedergelassenen Ärzten eine Orientierung erschweren und den Eindruck von etwas Absolutem, Soghaftem, Unumgänglichen, teilweise Bedrohlichem und kaum Steuerbarem entstehen lassen. Hinzu kommt eine programmatische und theoretische Behandlung des Themas, die auf allgemeine Vorteile und grundsätzliche Aspekt abzielt, nicht aber die konkreten Fragen beantwortet, die Praxisinhaber im Hinblick auf die konkrete Transformation in ihren Betrieben haben. Der einzelwirtschaftlich-unternehmerische Aspekt Wechselt man die Betrachtungs-Perspektive auf die einzelwirtschaftlich-betriebliche Ebene des „Unternehmens Arztpraxis“, wird deutlich, dass Richtung und Ausmaß der Digitalisierung durch das Digital-Interesse des einzelnen Arztes, seine Praxis-Strategie, medizinische Schwerpunkte, die Patientenstruktur, die praxisbezogenen Behandlungskonzepte und durch die persönliche ärztliche Arbeitsweise bestimmt werden. Digitalisierung bedeutet auf der Praxisebene zwar die Umsetzung allgemein gültiger Standards, z. B. in Form der Telematikinfrastruktur, darüber hinaus aber die individuell-selektive Auswahl und Nutzung von Angeboten, jedoch keinen grundsätzlichen Zwang. Oder anders formuliert: kein Arzt muss – von gesetzlichen Vorgaben abgesehen – seine Arbeit digitalisieren. Doch das sehen bislang die meisten Praxisinhaber anders: „Wer nicht mitmacht, ist weg vom Fenster!“, äußerte in einem Interview ein Arzt seinen Frust. Wie er beklagen viele Mediziner, durch einen „Absolutheits-Anspruch“ der Ausführungen zur Transformation instrumentalisiert zu werden, d. h. keine Entscheidungsfreiheit im Hinblick auf einen persönlich-differenzierten Umgang mit den Digital-Ansätzen zu haben. Kein Wunder also, dass die Transformation eher als inakzeptabler Zwang ohne wirklichen Nutzen für die Arbeit und die Patientenversorgung gesehen wird und kaum als Option, die individuellen Arbeitsbedingungen und die Patientenversorgung deutlich zu verbessern. Deshalb ist es wichtig, noch einmal explizit darauf zu verweisen, dass die Digitalisierung - unabhängig vom thematischen „Mainstream“ - eine individuelle Wahl- und Entscheidungs-Möglichkeit ist. Dieser Aspekt wird noch deutlicher, wenn man die drei Bereiche betrachtet, in denen die Digitalisierung in Arztpraxen stattfinden kann.
1.3 Die Digitalisierungs-Trias in Arztpraxen
Die Transformation der Arbeit in Arztpraxen kann in drei Bereichen erfolgen:
(1) Die systembezogene DigitalisierungSie ist das „digitale Pflichtprogramm“ der Ärzte und definiert den verbindlichen Grundausstattungs- und Handlungsrahmen. Hierzu zählt vor allem das Telematik-Projekt, aber auch die Labordaten- und Klinik-Kommunikation oder die elektronische Version des Medikationsplans. (2) Die patientenbezogene Digitalisierung Hierunter werden alle Digital-Lösungen subsumiert, die von Ärzten über den Systemrahmen hinaus individuell bei der direkten Patientenbetreuung und -Versorgung einsetzbar sind. Ihre Auswahl ist stets das Ergebnis persönlich-unternehmerischer Entscheidungen. In diese Kategorie fallen bereits heute in ersten Ansätzen genutzte Techniken wie die Online-Videosprechstunde oder die E-Mail-Kommunikation, aber zukünftig vor allem der Einsatz von Apps, Sensoren und Trackern sowie die Nutzung von KI-Systemen zur Unterstützung der diagnostischen und therapeutischen Arbeit. (3) Die managementbezogene DigitalisierungIn dieser Kategorie geht es um die Transformation der Administration und Organisation in Arztpraxen. Im Mittelpunkt steht hierbei die Praxis-Software und ihre Nutzung als Instrument für das Patient Relationship-Management (PRM), aber auch der Einsatz von Online-Terminbuchungen, die Datenerfassung mit Hilfe mobiler Endgeräte oder die Anwendung von Speech-To-Text-Programmen.
1.4 Technik und Inhalte der Digitalisierung
Ein weiterer Ansatz zur Präzisierung des Begriffs ist die Differenzierung zwischen der Technik, z. B. in Form von Geräten oder Apps einerseits und den datentechnischen Möglichkeiten andererseits, die durch die Digitalisierung geschaffen werden. Ein Beispiel sind KI-Expertensysteme, die in der Lage sind, aus den Daten großer Patientenkollektive in kürzester Zeit spezifische diagnostische sowie therapeutische Empfehlungen abzuleiten. Die Systeme erweitern in ihrer Assistenzfunktion die ärztliche Entscheidungs-Grundlage, in die ebenfalls – wie bisher – die individuelle Kenntnis des einzelnen zu behandelnden Patienten und die persönlichen Erfahrungen des einzelnen Arztes einfließen.
1.5 Fazit
Ärzte sind keine „Opfer“ der Digitalisierung, sondern deren Gestalter. Art und Umfang der Transformation hängen von der Digital-Affinität des einzelnen Praxisinhabers, von seiner Strategie, den Patienten-Zielgruppen und von seinem Praxis-Konzept ab. Die Transformation der Arbeit einer Arztpraxis ist damit primär eine individuell-unternehmerische Entscheidung mit weitreichender Gestaltungsfreiheit.