Читать книгу Hinter rotem Stacheldraht - Klaus G. Förg - Страница 10
ОглавлениеZwischenstopp in Rumänien
Und eines Tages werden schon in aller Frühe 2000 Mann in Marsch gesetzt. Unser Ziel kennen wir nicht. Als Marschverpflegung bekommen wir sechshundert Gramm Brot und für zehn Mann eine kleine amerikanische Fleischdose mit dreihundertfünfundzwanzig Gramm, für jeden Mann also 32,5 Gramm. Wahrlich ein lukullisches Essen. Mittag rasten wir an einem kleinen See, dann geht es weiter. Die Landser halten sich nicht mehr an die Kolonne, sondern schwärmen aus und nehmen auf den Feldern mit, was irgendwie essbar ist: Kraut, Rüben und Kartoffeln, soweit sie schon einigermaßen reif sind.
Es ist also doch so, wie der Offizier damals gesagt hat: Wir werden das Land verwüsten. Wenn ein Heuschreckenschwarm diese Straße entlanggezogen wäre, dann könnte es auch nicht schlimmer sein. Die Posten kümmern sich wenig um unsere Plünderei, sie suchen immer noch nach guten Schaftstiefeln. Abends machen wir am Rande einer Ortschaft Halt. Die Küchen werden aufgestellt, die Tschechen müssen mit Brennzeug aushelfen, dann wird gekocht. Fast alle geklauten Produkte kommen in den Topf. Bei unserer Hundertschaft hat sich ein Huhn verlaufen, das eine halbe Stunde später auch schon in der Suppe liegt. Der Posten weiß es, aber wir haben ihm einen Schlag Essen versprochen, wenn er den Mund hält. Auch der Posten hat Hunger, außerdem ist noch keiner von ihnen an Überfütterung gestorben. Wir schlafen einigermaßen gesättigt unter freiem Himmel auf dem blanken Boden, weil keiner eine Decke hat und die wenigsten einen Mantel.
Am anderen Morgen geht es weiter. Gegen Mittag kommen wir nach Iglau. Wir haben Kohldampf vom vielen Gehen, aber kein Mensch hat dafür Verständnis. Die wenigen Deutschen, die noch hier sind, haben selber Hunger, und die Tschechen erfreuen sich an unserer Lage. Als wir schon weiter in der Stadt sind, verlangt der »Iwan«, dass wir singen. Wir tun es, schon den Tschechen zum Trotz. Es geht mit Gesang an einer Kaserne vorbei, wo schon wieder tschechische Soldaten sind, aber mit deutschen Afrikauniformen und Waffen.
Ein Leutnant kommt aus dem Tor gerannt und brüllt: »Aufhören, aufhören, deutsche Schweine!« Aber als er noch eine drohende Gebärde macht und Steine in unseren Haufen werfen will, kommt unser Posten, stellt sich mit aufgepflanztem Seitengewehr vor ihm hin und macht ihm deutlich, dass er hier zu verschwinden hat. Der Offizier verdrückt sich. Der Posten ist überhaupt auf die Tschechen nicht gut zu sprechen. Schon als wir in die Ortschaft einmarschiert sind, ist er in einen Bäckerladen gegangen und hat eine ganz große Tüte voll Gebäck verlangt. Als die Bedienung Geld wollte, hat er aus der offenen Tür geschossen. Wir glaubten schon, es sei was passiert, bis er dann lachend mit der Tüte in der Hand aus der Türe kam.
Auch jetzt, als wir über eine Brücke gehen und ein Mädchen unten Gänse hütet, kommt unser »Iwan« und schießt von der Brücke aus in die Herde. Er trifft aber nicht und flucht. Das Mädchen weint vor Angst und auch, weil ihr die ganze Herde abgehauen ist.
Am Abend erreichen wir eine große Wiese, und es regnet. Essen gibt es keines. Die Russen sind müde, und tschechische Soldaten übernehmen die Wache. Gnade Gott, die Singerei müssen wir schwer büßen. Sie treiben uns wie eine Herde Schafe ganz eng zusammen, sodass keiner richtig sitzen oder liegen kann. Zum Schlafen kommt sowieso keiner, weil der Boden vom Regen patschnass ist. So stehen wir frierend fast die ganze Nacht, und die Nässe läuft uns ins Genick und an den Beinen hinunter in die Schuhe. Keinem ist es erlaubt, die Notdurft außerhalb des Kreises zu verrichten, und wir pissen uns gegenseitig an den Beinen vorbei. Nicht wenige fallen vor Schwäche um. Aber keiner von den Posten kümmert sich darum und wir können ihnen auch nicht mehr helfen, als sie hinzulegen und zu warten, bis sie durch die Nässe wieder aufwachen. Diese Nacht scheint kein Ende zu nehmen, und wir schauen voll Sehnsucht immer wieder nach Osten, ob es nicht bald hell wird.
Endlich ist es so weit. Die alte Leier geht wieder los. Aufstellen zu Hundertschaften, abzählen, dann ohne Tritt Marsch. Essen wird in die Luft geschrieben. Es ist nun schon vierundzwanzig Stunden her, dass wir etwas Warmes gehabt haben. Bis Mittag wird marschiert, dann sind wir am Ziel. Wir kommen nach Deutschbrod, einem Städtchen in Ostböhmen, in ein ehemaliges SS-Lazarett. Schon um die Mittagszeit sind wir dort, aber wir müssen erst entlaust werden, ehe wir hineindürfen. Stundenlang lungern wir herum, bis der ganze Haufen von 2000 Mann durch ist. Die Leute, die dort arbeiten, eben auch Gefangene, lassen den Obergefangenen raushängen, und wenn man die Klamotten nicht richtig an den Haken hängt, dann werfen sie einem das ganze Zeug vor die Füße.
So wird es Spätnachmittag, bis wir ins Lager dürfen. Am Eingang ist eine Musikkapelle mit weißen Westen und Mützen aufmarschiert und spielt zu unserem Empfang. In Fünferreihen marschieren wir vorbei und die Russen zählen. Beim »Iwan« wird immer in Fünferreihen gezählt, weil er sich so leichter tut. Der gewöhnliche Russe ist ein schlechter Rechner. Bei einer Dreierkolonne müsste er drei, sechs, neun zählen und das wäre zu kompliziert. Wir sind alle drinnen und kommen auf einen freien Platz, wo die Filzung vor sich geht. Wieder einmal wird alles um und um gedreht, ob nicht doch noch etwas zu finden ist. Manche haben noch ihre Orden und Ehrenzeichen, ein zweites Hemd oder eine Hose. Neben mir ist einer, der noch einen halben Eimer voller Zigaretten hat, obwohl er Nichtraucher ist. Er wollte wohl warten, bis die Kurse höher sind, jetzt haben die Russen die Zigaretten konfisziert.
Ich bin fertig und gehe in die befohlene Richtung hinter einem Leidensgenossen her, der eine lange Pfeife raucht. Ganz gierig nach etwas Rauchzeug gehe ich nahe hinter ihm, um wenigstens noch den Geruch zu haben.
Er bemerkt das und dreht sich um.
»Wo bist du denn her?«
»Von Rosenheim, und du?«
»Von Burghausen!«
»Willst du einen Zug machen?«
Ich freue mich, dass er ein Bayer ist, und will natürlich einen Zug machen. Tief ziehe ich den Rauch ein. Mir wird ganz schwindlig. Wir wollen beisammen bleiben. Ich will sowieso von meiner alten Hundertschaft weg, damit ich mit Ludwig nicht mehr zusammenkomme. Mein neuer Kumpel heißt auch Ludwig und wir suchen uns eine Schlafstätte. Der zugewiesene Platz ist viel zu klein. Wir liegen wie die Heringe, keiner kann sich umdrehen, und wenn man hinaus will oder vielmehr muss, dann tritt man auf Füße, Schenkel, Bäuche und Köpfe der Kameraden, was einem dann wieder Fußtritte und Flüche der Betroffenen einbringt. Um diesem Übel aus dem Weg zu gehen, sind Ludwig (der II!) und ich auf den Speicher gezogen, wo mehr Platz ist. Strohsäcke oder Decken gibt es natürlich keine. Alle liegen auf dem harten Boden. Unsere Hüftknochen tun weh, und jeder ist schon an den Seiten offen. Kein Wunder, wenn kein Fettpolster mehr da ist. Die Verpflegung hat sich ja leider nicht zum Besseren gewendet. Zweimal Suppe am Tag, einmal sechshundert Gramm Brot, nass und schwer.
Gestern haben sie wieder einmal einen verdroschen, weil er als guter Kamerad immer einem anderen das Essen mitgenommen hat, und bis er in den zweiten Stock gekommen ist, hat er aus dem anderen Pott die ganzen Fleischbrocken rausgegessen. Dabei haben sie ihn erwischt, und er hat Dresche bezogen, sodass er mir fast leid tut. Es kommt aber noch besser. Jeden Tag in der Frühe müssen von jeder Hundertschaft zwei Mann Brot fassen. Sie gehen an den Brotschalter, bewaffnet mit einer Decke, geben die Nummer ihrer Hundertschaft an und bekommen dann die genau abgewogene Menge Brot. Unsere zwei Mann kommen mit leeren Händen zurück. Das Brot für unsere Einheit ist schon gefasst. Erst wollen wir es gar nicht glauben, aber es ist schon so. Unser Brot ist fort. Alles Schimpfen hilft nichts.
Wie Kriminalbeamte schnüffeln wir im Lager herum, aber die zwei Männer, die unser Brot haben, sind anscheinend auch so schlau wie wir. Die Suche verläuft ergebnislos. Wir sind also heute ohne Brot. Es klingt so harmlos, aber wir bekommen es umso härter zu spüren. Der Hunger nagt in den Därmen. Die dünne Suppe, von der man sagt, dass man bei vollem Pott eine Zeitung am Grunde des Geschirres lesen kann, stillt unseren Hunger auch nicht. Im Gegenteil, wenn die Suppe alle ist, hat man erst so richtig Appetit. Sie hat keinen Saft und keinen richtigen Geschmack. Es schauen mehr Augen rein als raus.
Zu Rauchen haben wir auch nichts mehr. Jeden Tag in der Frühe werden wir ins Freie gejagt und müssen draußen bleiben, bis das ganze Haus geschrubbt ist. Es dauert oft fünf bis sechs Stunden.
Die Landser gehen in dem parkähnlichen Garten spazieren und reden vom Essen und vom Heimfahren. Wir glauben immer noch an eine baldige Heimkehr. Im Garten darf kein Feuer gemacht werden. Wenn also einer wirklich irgendwelche Produkte hat, dann kann er sie nur roh essen. Ich habe aber doch einmal gesehen, wie drei Gefangene ein Kochgeschirr voll Kartoffeln kochten. Jeder hatte ein Brennglas in der Hand und hielt es über das Wasser. Es kochte und sprudelte, und man sah den Dreien die Freude auf den kommenden Genuss an.
Einmal werden wir für einen Tag einem Arbeitskommando zugeteilt. Wir müssen mit so zwanzig Mann eine Grünanlage sauber machen. Bäume umsägen, Wege rechen und Papier auflesen. Jeder hat ein wenig Angst vor den schlagkräftigen Tschechen, noch dazu, weil eben nur ein Zivilist dabei ist.
Meine Schusterei ist schon lange eingegangen, weil mir die Ahle gebrochen ist. Die feine Schnur nehme ich mit, um zu tauschen. Zu zweit sind wir eben dabei, einen Baum umzusägen, als ein junger Tscheche kommt, der bei uns stehen bleibt. Wir machen uns schon auf irgendeine Bosheit gefasst, als er fragt, ob wir Zigaretten wollen. So etwas ist noch keinem von uns passiert. Jeder bekommt eine. Nicht viel, aber der Mensch freut sich. Die Schnur hat mir der Aufseher für Tabak abgekauft und er fragt mich noch, ob wir etwas zu lesen wollen. Er nimmt uns mit in eine Bretterhütte und wirft uns einige Bücher raus. Und siehe da, »Mein Kampf«, der angebliche »Matthäus des 20. Jahrhunderts« (gemeint ist: Alfred Rosenberg »Der Mythus des 20. Jahrhunderts«), und »Befehle des Gewissens« (Hans Zöberlein »Der Befehl des Gewissens«) kommen zum Vorschein. Wir haben kein Gewissen und nehmen die Bücher mit.
Zu Mittag bekommen wir eine Rindsblutsuppe mit Kartoffeln und dreihundert Gramm Brot. Ein kleiner Ersatz für das am Vortag Geklaute. Auf dem Weg zum Essen kommen uns deutsche Zivilisten entgegen, die mit dem Auto zur Arbeit gefahren werden und alle weiße Armbinden (mit »N« für Nemec, also Deutscher) tragen müssen. Wir winken uns zu, einer bedauert den anderen, aber ich glaube, dass wir auch nicht schlechter dran sind. Am Nachmittag arbeiten wir nur noch wenig, jeder ist schon so müde von der ungewohnten Arbeit.
Eine Frau kommt, und wir fragen sie, wie es bei den Russen ist, die ja nun schon ein Vierteljahr da sind. »Ja«, meint sie, »die Deutschen waren auch nicht gut, aber sie haben sich für jede Arbeit erkenntlich gezeigt. Die Russen aber suchen in der ganzen Wohnung nach Essen oder Schmuck und legen sich dann noch mit den Stiefeln ins Bett, und man muss froh sein, wenn man selber seine Ruhe hat.«
Es wird Abend, und wir kommen wieder ins Lager zurück. Ich bin zufrieden mit dem Tag, weil ich doch zu etwas Essen gekommen bin. Ludwig freut sich auch, als ich ihm den Tabak zeige. Es macht Spaß, sich nach der Suppe noch eine Pfeife zu stopfen und von zu Hause zu reden. Es macht uns Sorgen, dass wir von der Heimat nichts wissen und vor allem, dass sie zu Hause von uns nichts wissen. Nicht einmal, ob wir noch am Leben sind. Die Heimattreffen finden wieder statt, aber im engen Kreise. Ich treffe einen Maurer vom Rosenheimer Stadtteil Aisingerwies. Wir versprechen uns, dass derjenige, der zuerst nach Hause kommt, die Familie des anderen verständigen soll.
Seit einigen Tagen ist in der Suppe, überhaupt im Wasser, Chlor. Die Russen haben es gegen die Seuchen angeordnet. Ob es hilft? Es werden wieder Untersuchungen durchgeführt. Die Mageren und Schwachen sollen nach Hause kommen, die anderen arbeiten. Ich nehme täglich zweimal ein kaltes Bad, weil Wasser zehrt, um die nötige Statur zu erlangen, aber es reicht nicht. Nur der Maurer schafft es. Ich bin froh, weil ich doch die Hoffnung habe, dass er sein Versprechen hält und meine Eltern verständigt. Er hat es auch getan und ich bin ihm heute noch dankbar.
Wieder sollen wir zum Arbeiten nach Breslau, Königsberg oder Berlin kommen. Wir werden untersucht, neu eingeteilt und eingekleidet, natürlich nicht mit neuen Sachen. Jeder bekommt zwei Decken und einen Mantel, wenn nötig, Unterhose oder Hemd. Ohne Filzen läuft es natürlich nicht ab. Jeder muss seine Klamotten vor den Posten ausbreiten, die Taschen werden umgedreht, sogar die Schuhe müssen wir ausziehen, ob nicht etwas darin versteckt ist. Messer und Gabel dürfen nicht im Besitz eines Gefangenen sein. Ich habe mein Messer bisher immer durchgebracht, aber diesmal wird es gefunden. Der »Iwan« freut sich. Es verschwindet in seiner Tasche, obwohl er es abliefern müsste.
Es dauert einige Stunden, bis wir fertig sind, dann werden wir von den übrigen abgesondert, und in der Nacht ist Abmarsch. Weit ist es nicht. Nur zehn Minuten, dann sind wir auf einem Abstellgleis. Eine lange Reihe von Waggons steht dort, und in jeden kommen sechzig Mann hinein. Es ist für alles gesorgt. Ein Küchen- und ein Vorratswagen sind auch dabei. Und natürlich ein Waggon für die Wachmannschaft. Wie die Heringe liegen wir beisammen und warten auf die Abfahrt. Es dauert bis in den Morgen. Keiner kann schlafen. Die Nerven sind überreizt und werden durch Rauchen beruhigt, soweit Rauchmaterial vorhanden. Ludwig und ich haben noch Tabakblätter. Sie sind grün und feucht. Wir legen sie in eine Blechdose, zünden einen Kerzenstumpf darunter an und rösten so die Blätter, bis sie trocken sind. Der Tabak ist furchtbar stark, aber er ist zu gebrauchen.
Endlich fahren wir. Jeder ist froh darüber. Es ist alles egal, wenn wir nur irgendwohin kommen. Das ist immer noch besser als die Ungewissheit. Die Verpflegung ist während der Fahrt sehr unregelmäßig. Der Tagessatz wären sechshundert Gramm Brot und zweimal ein Viertelliter Suppe, also ein Trinkbecher voll. Bei Tag wissen wir selten, wohin es geht, dafür aber bei Nacht. Wir richten uns nach den Sternen und finden so unsere Fahrtrichtung heraus. Dass in dieser Richtung weder Breslau noch Berlin zu erreichen ist, haben wir am ersten Tag schon herausbekommen. Die meiste Zeit stehen wir. Die Nächte sind unangenehm, weil man nicht schlafen kann. Das Rollen der Räder schläfert uns nur ein. Bei Tag haben wir weniger dagegen. Vor allem weil man dann »fechten«, also betteln kann. Besonders um Tabak. Ludwig und ich machen eine Erfindung: Wir haben einen kleinen Beutel an einer langen Schnur befestigt, den wir durch das vergitterte Fenster schieben. Wenn er dann unten hängt, kann ein Vorübergehender Tabak hineintun. Wenn den ganzen Tag nur einer etwas reintut, dann reicht es wieder bis morgen. An der Schnur wird der Beutel wieder hochgezogen.
Drei Tage haben wir Brot bekommen, jetzt ist es alle. Es gibt also nur noch Suppe. Zweimal einen Trinkbecher voll. Das Brot wird die Wachmannschaft verkauft haben. Wenn möglich, dürfen wir einmal am Tag aussteigen. Schon nach ein paar Schritten tun uns die Beine weh, wir werden müde und schwindlig. Außerdem sind wir bärtig und dreckig, weil man sich nicht waschen und rasieren kann.
Irgendwann gelangen wir nach Ungarn. Unser Tabakgeschäft geht auch besser, obwohl der Posten den Beutel schon ein paar Mal abgeschnitten hat. Wir haben ihn aber schnell durch einen anderen ersetzt. Der Platz am Fenster wird jetzt stundenweise vergeben, damit jeder mal drankommt. Ich bin gerade am Fenster, als wir an einem Bahnhof halten. Na, das wird hoffentlich eine große Ernte für den Fischer geben. Die Leute steigen in ihre Züge, aber nicht in Personenwägen, sondern auf offene Güterwägen. Personenwägen sind anscheinend knapp. Mein Beutel geht auf Fangstation. Alles schaut, und ich mache die Geste des Rauchens. Der Beutel ist bald voll und ich ziehe ihn hoch. Eine Frau, die wie viele Ungarn deutsch spricht, sagt mir, ich soll am Fenster bleiben. Auf dem offenen Waggon erbettelt sie für uns Geld. Manche geben, manche nicht. Gerade will sie es mir heraufreichen, da macht der Zug einen Ruck, und wir fahren ab. So ein Pech. Beim nächsten Waggon hat sie dann das Geld übergeben und viele Gefangene damit glücklich gemacht – wenigstens ein bisschen.
Wir halten auf freier Strecke und müssen für die Küche Wasser tragen. Zehn bis fünfzehn Mann, bewacht von einem Posten. Von einem Tümpel holen wir das Wasser. Beim Verpflegungswagen angelangt, sehen wir, wie die Küchenbullen einige Eimer Graupenbrei unter den Waggon schütten. Die Wassereimer fliegen weg und jeder stürzt sich trotz des Schreiens des Postens auf den Brei. In den zwei Minuten essen wir mehr als sonst den ganzen Tag. Der Posten schlägt mit seinem Gewehrkolben auf unsere Ärsche, aber er kann uns auch nicht wegtreiben. Erst als unter dem Brei der Schotter hervorkommt, geben wir Ruhe. Die Köche schimpfen auch und vergleichen uns mit den Hunden. Warum wir hungrige Hunde sind, wissen wir, aber warum sie so dreckige Hunde sind und uns das bisschen Essen auch noch wegschütten, wissen wir nicht. Der Teufel soll sie holen!
Acht Tage sind wir schon auf der Fahrt und jeder sieht aus, als ob er der Leichenfrau davongelaufen wäre. Vom Haarschnitt und vom Bart gar nicht zu reden. Seit drei Monaten keine Haare mehr geschnitten und seit vierzehn Tagen nicht mehr rasiert. Mit den Nägeln kann man den Dreck von Hals, Gesicht und Brust schaben und man sieht jeden kratzen. Stundenlang fahren wir durch Maisfelder und sehen vereinzelt große Gutshöfe stehen. Wie sehr wünschen wir, hier aussteigen und arbeiten zu dürfen und Ruhe zu haben. Ruhe vor der Ungewissheit, wo wir hinkommen und was aus uns werden wird. Zehn Tage sind wir gefahren und jetzt sind wir am Ziel, einem kleinen Ort irgendwo in Rumänien.
In der Nacht haben wir die Grenze passiert und um die Mittagszeit sind wir da. Wieder stehen wir vor dem Lagertor und warten, bis wir eingelassen werden. Wir sind in Hundertschaften aufgestellt, die Klamotten werden durchsucht und in einer Liste aufgenommen. Endlich kommt der russische Kommandant, begrüßt uns und heißt uns – welche Ironie – herzlich willkommen. Er geht durch die Reihen, schaut die Leute und die Kleider an, um schließlich einen ehemaligen Offizier zu fragen, wie die Fahrt und das Essen waren.
Seine Antwort: »Die Posten waren gut, das Essen ebenso und vor allem reichlich.«
Jeder hat natürlich gelauscht, was er sagt, und als wir hören, dass wir gut und reichlich gegessen hätten, geht ein Proteststurm durch die Reihen. Wir fragen, wo das Brot von den letzten sieben Tagen geblieben ist, und wer ein solches Rindvieh zu einem Offizier gemacht hat. Dem Kommandanten ist es sichtlich peinlich. Er beruhigt uns und verspricht uns für heute noch Brot, obwohl wir schon für den ganzen Tag verpflegt wurden.
Jetzt dürfen wir einrücken. Auf einem großen freien Platz können wir uns hinlegen und schlafen. Der Platz darf nicht verlassen werden, doch jeder ist auf Neuigkeiten erpicht. Diejenigen, die schon hier sind, besonders, weil sie ja von niemandem etwas erfahren. Man sucht Bekannte, Landsleute, vor allem solche, die an der Quelle sitzen. Also die, die in der Küche sind oder indirekt damit zu tun haben, Holzhacker, Wasserträger und Heizer. Ich habe Glück und treffe einen Kumpel aus Frasdorf im Inntal. Er ist Holzhacker und hat noch einen Schlag Suppe für mich übrig. Es ist eine Fischmehlsuppe, normalerweise also reines Schweinefutter, aber ich habe so großen Hunger, dass mir die Suppe sogar schmeckt. Ludwig bekommt auch ein paar Löffel voll, weil er mit mir auch immer geteilt hat. Erst bei Dunkelheit kommt ein hochrädriger Karren, gezogen und geschoben von sechs Landsern mit dem versprochenen Brot, das so schmeckt, wie wir es von zu Hause in Erinnerung haben. Am anderen Morgen werden wir schon um vier Uhr früh geweckt zum Essenfassen. Es ist eine unheimlich lange Schlange, die sich da an den Futtertrog drängt. Ich rechne schon mit Stunden, bis wir dran sind. Aber die Köche haben Übung, überhaupt, die Organisation ist mustergültig. Vier Suppenkessel stehen im Freien und an jedem zwei Mann mit der Schöpfkelle. Es geht fast im Laufschritt vorbei, und die Suppe ist sogar gut, ja, wir haben noch nie eine so gute Suppe gehabt. Sogar ein bisschen Fett verliert sich in der Brühe.
Jetzt geht es zur Entlausung, dann zum Baden und zu guter Letzt zum Haareschneiden und Rasieren. Es ist eine Wohltat, das warme Wasser über den Körper rieseln zu lassen. Wenn man sich so anschaut, merkt man doch, dass wir verdammt mager geworden sind. Jedem schauen die Knochen heraus, und man kann jede Rippe sehen. Manche sind nur noch Haut und Knochen. Beim Friseur muss man sich selber einseifen. Jeder macht es, so gut er kann, weil davon die Rasur abhängt. Die Friseure tragen Mützen, worauf ein Zeichen mit einem »K« genäht ist. Auf unsere Frage, was das bedeuten soll, erfahren wir, dass sie zum Regiment »Keller« gehören. Das Regiment ist im Lager gesondert untergebracht. Sie haben noch eigens einen Stacheldraht um ihre Baracken, damit kein »Andersgläubiger« reinkommt. Außerdem haben sie alle Arbeitskommandos inne, die im Lager oder außerhalb zu vergeben sind, wie Küche, Bad, Friseur, Schusterei, Schneiderei, Musik, Baukommando und Kolchose, also Landwirtschaft. Es sind sozusagen »Ober-Plenni« (»Plenni« ist russisch und heißt »Gefangene«), die aus unserer Sicht reich sind. Sie haben alles, was wir nur vom Hörensagen kennen, wie Speck, Eier, Zigaretten und Brot in Hülle und Fülle.
Einige Friseure tragen Sowjetsterne an den Mützen, und einer von uns regt sich darüber auf und sagt, sie sollen sich schämen. Er hätte es lieber nicht sagen sollen, denn erstens bekommt er dafür ein paar Ohrfeigen, dann richten sie ihn beim Rasieren so zu, als ob ihn ein Metzger rasiert hätte.
Als alle fertig sind, kommen wir in eine große, leere Baracke zur Untersuchung. Die geht schon fast maschinenmäßig vor sich. Jeder muss sich ausziehen, dann wird er angeschaut, ein paar Mal umgedreht und bekommt eine Nummer auf die Brust geschrieben. Entweder Eins, Zwei oder Drei. Die Einser sind die körperlich am kräftigsten. Die Zweier, wozu auch ich gehöre, sind etwas schwächer und die Dreier noch schwächer. Dann gibt es noch O.K., woraus wir »ohne Kraft« gemacht haben. Diese dürfen nicht arbeiten. Zum Schluss noch »D.K.«, wir sagen »dauernd krank«. Das sind Gefangene, die im Lazarett liegen oder ins Lazarett kommen und auf die schon der Totengräber wartet. Nach dieser Kategorie werden wir neu eingeteilt. Alle Einser, Zweier und Dreier kommen zusammen. Wir sind in der Gruppe zehn Mann – alles Bayern. Ludwig ist noch bei mir, dann noch ein Kamerad aus Unterfranken, von Beruf Pater. Ich habe mich später eng mit ihm zusammengeschlossen und habe keinen besseren und selbstloseren Kameraden mehr kennengelernt als gerade Bruder Theo. Es wird uns eine Baracke zugewiesen, in der wir bleiben sollen, bis wir wieder wegkommen, denn dass wir hier nicht bleiben können, ist uns klar. Schon in der Nacht ziehen wir fluchtartig aus, weil wir nicht schlafen können. Es gibt hier Wanzen in rauen Mengen. Sogar an den Tischen und Bänken kriechen sie herum. Wenn man eine davon zerdrückt, stinken die Finger ganz fürchterlich. Aber eigenartigerweise muss man trotz des Ekels immer wieder dran riechen. Wir schlafen also wieder einmal im Freien.
Es ist sandiger Boden, fast wie in einer Wüste. Auch die Hitze des Tages und die Kälte der Nächte erinnern daran. Trotz der Decken frieren wir oft. Was die Wanzen in den Baracken sind, das sind die Ratten im Freien. Man hat keine Ruhe vor ihnen. Bei Nacht springen sie über uns hinweg, kriechen in unserem Gepäck herum und pfeifen uns was vor. Auch am Tage sind sie nicht gerade schüchtern. Einem Kameraden neben mir haben sie am hellen Tag die eben empfangene Tagesration Brot genommen und in eines der vielen Löcher gezogen. Manchmal, wenn es ein bisschen ruhiger ist, sieht man Ratten in der Sonne spielen. Besonders in der Nähe von Latrinen, von denen es viele hier im Lager gibt, sind sie sehr lebhaft. Trotz des Spätsommers herrscht hier eine afrikanische Hitze. Wasser ist Mangelware. Was der einzige Brunnen im Lager hergibt, wird fast restlos für die Küche gebraucht, die Kranken brauchen auch dringend Wasser. Kein Wunder, dass der Brunnen Tag und Nacht belagert und bewacht wird. Die ganze Zeit ist ein Gefangener mit einem Prügel dort, aber er hat sich als zu schwach erwiesen, als es einmal zusätzlich zum Abendessen Salzfisch gab.
Der Fisch wurde an uns so ausgegeben, wie er eben war. Kleine Salzstücke klebten noch an den Schuppen. Trotzdem wurde er von jedem mit Heißhunger samt Gräten gegessen. Daraufhin erfolgte der Sturm auf den Brunnen, um den aufkommenden Durst zu löschen. Der Posten verwehrte uns mit dem Prügel die Wasserentnahme, aber was ist einer gegen viele. Wir hätten den ganzen Brunnen leergesoffen, wenn nicht ein russischer Posten mit Gewehr gekommen wäre und uns vertrieben hätte. Aber auch er musste ein paar Mal schießen, bis wir gingen.
Die Gegend ist hier ganz öde und leer. Außer dem Lager sieht man kein Haus. Das Gelände ist eben wie ein Tisch und es weht dauernd ein leichter Wind. Er tut uns bei der Hitze gut, aber beim Essen hat man immer etwas Sand zwischen den Zähnen. Vor allem, wenn man Brot isst, knirscht es im Mund. Einmal haben wir auch eine Windhose gesehen. Es war eine tänzelnde Sandschlange, die der Wind senkrecht an uns vorüberblies. Sie hatte eine Höhe von ungefähr dreißig bis vierzig Metern.
Die Tage verlaufen eintönig, langsam, einer wie der andere. Solange man etwas zu rauchen hat, geht es. Bis jetzt haben wir in dieser Hinsicht keine Not, denn das Regiment »Keller« ist unsere Tauschzentrale. Ich möchte hier erwähnen, dass sie nicht schlecht zahlen. Es wird gehandelt und gefeilscht, und die Sachen nehmen ihren Weg durch den Drahtverhau zum neuen Besitzer. Jeder hatte bei seiner Ankunft zwei Decken, jetzt haben die meisten keine mehr, oder zu zweit eine. So eine Decke bringt immerhin siebzig Zigaretten. Denn wenn keiner weiß, was er den ganzen Tag tun soll, dann raucht er auch viel. Bei »Keller« erfährt man auch die neuesten Gerüchte. Momentan erzählen sie wieder, dass die Transporte nach Russland seit August gesperrt sind. Es kann möglich sein, dass wir hier in der Gegend oder bei den Öltürmen in Arbeit kommen, aber spätestens in einem Jahr sind wir zu Hause. Einerseits sind wir beruhigt, weil es nicht nach Russland geht, aber andererseits bereitet uns die Aussicht auf ein Jahr Lager einige Sorgen.
Nur an einem Tag wird das ewige Einerlei unterbrochen. Schon in der Frühe müssen wir uns am Lagertor aufstellen, dann kommt die Zählung und wir dürfen das Lager verlassen. Fast eine halbe Stunde dauert es, bis wir an eine Ortschaft kommen, in der einige Häuser bombardiert worden sind. Wir haben weiter nichts zu tun, als zwei Ziegelsteine zu nehmen und wieder in das Lager zu bringen.
Es klingt ganz einfach, aber es dauert den ganzen Vormittag, bis alle wieder im Lager sind. Oft müssen wir rasten, weil uns die Beine wehtun und die zwei Steine zu schwer sind. Am Lagereingang werden wir von unserem Kommandanten mit Anhang empfangen. Sie weisen uns den Platz an, wo die Steine hinkommen. Jeder von ihnen hat eine nagelneue Luftwaffenuniform an mit Reithose und Schaftstiefeln. Wohlgenährt und gepflegt sehen sie aus. Kein Wunder, den ganzen Tag sitzen sie vor ihrer Baracke, die mit Sowjetsternen und Stalinbildern geschmückt ist, spielen Schach oder reden über Politik. Mit dem Essen wird es auch nicht so genau genommen wie bei uns.
Es ist wieder einmal Bestandsaufnahme der Bekleidung, ein Zeichen, dass man mit uns etwas vorhat. Ich bin dazu bestimmt worden, beim Fassen der benötigten Sachen zu helfen. Manche von uns haben in den zwei Wochen alles verschachert, was irgendwie ging. Hemden, Unterhosen, Schuhe. Von Mantel und Decken gar nicht zu reden. Die Firma »Keller« hat für alles Verwendung. Es ist klar, dass ich zuerst einmal an mich denke. Ich ziehe einige Garnituren Wäsche an, einen neuen Marinepullover und eine neue Feldbluse kann ich auch brauchen. Für meine Bergschuhe finde ich nichts Besseres. Die Wäsche bringt nun am gleichen Tag abends schon hundert Zigaretten. Diesmal muss es heimlich gehen, weil immer wieder »gute« Kameraden da sind, die einen verpfeifen. Der Pullover findet einen Liebhaber von der Küche für Brot und Suppe. Dafür bekomme ich einen alten von Mäusen zerfressenen Pullover, damit ich einen zum Herzeigen habe, wenn Kontrolle ist. Ich habe noch eine Wattehose, aber die möchte ich behalten, weil ich dann wenigstens nicht auf dem blanken Boden schlafen muss.
Die Gerüchte um unseren Abtransport nehmen immer festere Formen an. Von allen Seiten werden wir beruhigt, wenn wir auf dieses Thema zu sprechen kommen. Sogar der Kommandant versichert uns, dass Transporte nach Russland nicht mehr gefahren werden. Ganz trauen wir ihnen nicht, weil wir in den fünf Monaten, die wir nun Gefangene sind, schon zu oft angelogen wurden. Doch hofft jeder insgeheim, dass es wahr wäre. Ich habe überhaupt nie geglaubt, dass man von der Hoffnung so lange zehren kann, dass man sich daran wieder aufrichten und damit auch anderen wieder Mut machen kann.