Читать книгу Grenzverletzung - Klaus Hönn - Страница 2
1. Aufbruch
ОглавлениеHermann fühlte sich unbehaglich. Er setzte den kleinen Rucksack ab und musterte Elvira. Sie verwahrte gerade sorgfältig das Schiffchen am Reißverschluß ihrer Hängetasche. Eben noch hatte sie gesagt, alles was gebraucht wurde bei dem Unternehmen, sei darin verstaut: der Ausweis, 280 Mark der Notenbank der DDR, ein paar Familienbilder, die Sommerjacke und Wäschezeug.
Sie standen unter den Zweigen der letzten Baumreihe vor dem breit abgeholzten Streifen. Nur drei halbhohe Büsche trennten sie vom Grasland vor dem Zaun. Schon im nächsten Sommer würden Sträucher
nicht mehr geduldet werden an diesem Ort. Man würde sie dann ebenso trimmen wie das andere Grünzeug, das zu hoch herauswuchs aus dem Niemandsland. An der Staatsgrenze West hatte das Blickfeld für die Grenztruppe frei zu sein
Die kleine Vertiefung im Boden der flachen Wiese versteckte sich unauffällig zwischen Sträuchern. Vor drei Tagen hatten sie einige Zeit lang suchen müssen ehe sie sich gefunden hatte. Das Land war unbebaut. Hohes Gras, am Rand des Grenzstreifens anscheinend seit dem Frühjahr nicht gemäht, schützte vor den Blicken der Grenztruppe, vorausgesetzt man kroch. Am Freitag waren sie zum ersten mal hier gewesen. Vom Waldrand aus waren sie die zwei Meter an die flache Kuhle herangerobbt Hatten sich nach einigem Suchen überzeugt: am Ende der kleinen Senke begann ein Rohr. Kein Deckel schloß das Ende ab; einzig mit Laub bedeckter Boden reichte bis knapp unter die Querschnittsmitte. Einen unauffällig halbmondförmigen Block hatten sie ausgemacht, als Teil eines Rohres hatte er sich nur in Bauchlage erkennen lassen. Jeder andere, der nicht aufmerksam suchte, hätte ihn für einen großen Stein gehalten. Hermann hatte Moder und Erde bis zum unteren Rand weggekratzt. Mit ihrer Taschenlampe hatte Elvira in das schwarze Loch hineingeleuchtet. Soweit der Lichtschein getragen hatte, war das Rohrinnere frei gewesen. Hermann hatte sich mit den Füßen voran hineingeschoben und den Hohlraum nicht allzu eng gefunden. Auch Elvira hatte Maß genommen, Kopf voran, und war einen Meter hineingekrochen. Das Rohr hatte ihr mehr Freiraum gelassen als Hermanns stämmiger Statur. Sie hatte die Hände zur Faust geballt und im Dunkel vor ihrem Gesicht den rechten Arm gegen den linken abgestützt. Beim Versuch, den Abstand zwischen den Fäusten zu vergrößern, war sie auf Widerstand der Rohrwandung gestoßen. Halb hatte sie sich schlangenhaft rückwärts bewegt, halb hatte Hermann sie herausgezogen und sich dabei mehr Handgreiflichkeit erlaubt als nötig gewesen wäre. Elvira hatte nicht ernsthaft protestiert. Sie hatten alle Mühe gehabt, nicht laut aufzulachen. Zwar hatten sie sich vorher überzeugt, daß die Luft sei rein war, aber hätte man sie an diesem Ort entdeckt, die Truppe zum Schutz der Landesgrenze hätte ihnen mit vielleicht wenig angenehmen Folgen die Vorbereitung einer Republikflucht unterstellt.
Der Bericht des Armin Schöppach war also keine Erfindung! Für die Entdecker unverständlich, dass anscheinend seit langer Zeit, keiner das Rohr zum Abhauen verwendet hatte!
Als sie beide wieder in der Kuhle lagen, vor sich die aufgeworfene Erde, über sich hohes Gras, hatten sie sich Arm in Arm auf dem Rücken ausgestreckt wie Kinder in der Frühlingssonne. Ganz nahe an dieser hartnäckig verschlossenen Grenze hatte sie ihrer Phantasie eine Ausschweifung erlaubt. Die Staatsgrenze West zum Greifen nahe! Bisher hatte sie sich gegen die Überquerung durch die Leute aus Engenthal hartnäckig gesperrt. Mit Hilfe der Röhre würde der Weg frei sein aus der Abgeschlossenheit in eine größere Welt.
Der Zeitpunkt für einen Wechsel auf die andere Seite wäre nicht schlecht gewählt, dachte Schrader. Elvira Hambach hatte den ersten Schritt ihrer Berufsausbildung hinter sich. Nach Abitur und Berufsausbildung war sie seit einem Vierteljahr Facharbeiterin im Apparatebau für Anwendungen in der Chemie. Der nächste Schritt im Kombinat führte zur Spezialistin für Plaste in Bau und Installation. Danach bestand Aussicht auf ein Studium zum Chemieingenieur, vorausgesetzt, sie bewährte sich in der Produktion.
Elvira war klar, ein Ausflug über die Grenze ohne Genehmigung taugte nicht zur Qualifikation für höhere Aufgaben in ihrem Staat. Gelang ihr Vorhaben, stand bei der Rückkehr Ärger an. Sie vertraute darauf, den war die Erfahrung wert.
Auch Schrader war sicher, er übersah die möglichen Folgen mit dem gesunden Sinn fürs Reale. Waren sie erst einmal drüben angelangt, würde Elvira das Weitere genauer überlegen. Wenn sie bei ihm blieb, verlagerten sich die nächsten Abschnitte ihrer Berufslaufbahn in das Land auf der Seite, die ihnen gegenüber lag.
Er versprach sich von der Unternehmung Aussicht auf Freiheit und mit etwas Glück auch auf den Einstieg in eine akzeptable Karriere im Beruf. Er wusste von einem seiner Kameraden, sein Studienabschluß in Maschinenbau galt etwas auch in der BRD. Der Kommilitone des Jahrgangs über ihm hatte sich nach Jugoslawien abgesetzt. Nur von einem Beinahe - Abschluß durfte er einstweilen reden, nahm man es genau. Das Diplom würde erst im Herbst überreicht. Eine Formsache noch, mehr nicht. Er wußte, die Abschlußarbeit war akzeptiert; die anstrengende Abschlußprüfung hatte er hinter sich gebracht. Er rief sich selbst zur Ordnung. Der Zeitpunkt eignete sich schlecht für eine Abschweifung in Zukunftsphantasien. Gefordert war zunächst Konzentration auf das Hier und Jetzt.
Elvira war das Risiko ebenso bewusst wie ihrem Gefährten dieser aufregenden letzten vierzehn Tage. Entdeckte man sie wider Erwarten hier, stand vielleicht auch mehr als nur schwerer Ärger an. Hermann bedeckte die aufgewühlte Erde so gut es eben ging wieder mit Gras. Die Flecke mit unbewachsenem Boden durften nicht größer als Maulwurfshügel sein, dann fielen sie niemandem auf. Der Startplatz ihrer Tour sollte dem Blick der Grenzsoldaten auf Patrouillenfahrt keinen Anlaß zur Suche geben.
Flüsternd hatten sie dann ihren Weg zurück in den Wald gefunden. Im Hochsommer bot er zuverlässig Schutz vor dem Blick der Wächter in ihren Jeeps. Gleich hinter dem breiten Waldstück hatten sie die Felder der LPG erreicht. Auf einer kleinen Anhöhe erhob sich der vormalige Hambach-Hof. Früher im Besitz der Familie Hambach, Elviras Elternhaus, jetzt einer der Stützpfeiler der LPG „Freies Land“.
Drei Tage zurück lag der Entschluß zu ihrer Unternehmung. Seitdem war viel geschehen. Jetzt Montagabend, nach Anbruch der Dunkelheit, im Spätsommer des Jahres 1976 kauerten die beide wieder in der Bodensenke. Elvira sah Hermann Schrader an, Unternehmungslust im Blick. In ihren wachen Augen schien der Glanz wie in den ersten Stunden mit ihr auf. Die Bekanntschaft war erst drei Wochen alt. Er wusste seine Freundin frei von Furcht, die für Mädchen ihres Alters sonst die Regel war. Am zweiten Tag ihrer Bekanntschaft hatte sie im Schwimmbad den Kopfsprung vom Sieben-Meter-Brett gewagt. Zurückstehen hatte sich verboten. Ungeübt in der scheinbar einfachen Disziplin, hatte er die Federung des Brettes falsch eingeschätzt und sich mit etwas zu viel Schwung halb überschlagen. Trotz schneidendem Schmerz hatte er Haltung bewahrt und hatte sich nach dem Auftauchen ein mühsames Grinsen abgequält. Der Rücken war noch am nächsten Tag krebsrot gewesen. Anders als die Kollegen seiner Truppe im Ernteeinsatz hatte sie nicht gelacht über den plumpen Sprung, jedenfalls nicht nach seinem Auftauchen an der Oberfläche, sondern Respekt gezeigt. Er hatte sie um Rat zur Sprungtechnik gebeten und sie hatte ihm ihre Methode anvertraut. Man müsse das Gesicht gleich beim Absprung schräg hoch weit nach vorne recken. Hüftknick und Flugbahn ergebe sich dann mit instinktiver Selbstverständlichkeit von selbst. Er beherrschte die Übung seitdem besser als irgendein anderer männlicher Bewohner ihres Einsatzortes zur Ernteschlacht in Engenlohe.
Drei Tage alt war sein und Elviras Beschluß zum Grenzübergang im Rohr. Grenzuntergang hatte sie ihn verbessert. Natürlich wünschten sich viele den Untergang dieser unseligen Sperre, zumindest eine mit mehr Durchlässigkeit. Mit Sinn für real Mögliche betrachtet, würde diese Grenze auf Generationen hin nicht untergehen. Unterquert mußte sie sein wenn sich für sie und Hermann ein besserer Weg nicht fand.
Sie probten jetzt nicht mehr, es wurde ernst. Hermann erinnerte sich wieder an das Unbehagen vor seinem ersten Sprung vom Brett im Schwimmbad von Engenlohe Er gab sich einen Ruck:
„Also wie abgemacht, ich vorneweg, du hinterher. Glückauf“.
Die Stimme klang rauher als gewohnt. Er verspürte Beklommenheit wie vor der Prüfungskommission der Hochschule für Maschinenbau. Die letzte Prüfung dort lag jetzt sechs Wochen zurück. Das unbehagliche Bewußtsein von Wissenslücken stellte sich wieder ein. Ohne den Mut zur Lücke war nicht auszukommen in seinem Fach. Wenn einer der Professoren darauf abzielte, legte man ihn mit Leichtigkeit aufs Kreuz.
Ungute Gefühle wollten ausgehalten sein! Damals die Erwartung eines Kreuzverhörs in seinem Fach, jetzt die Aussicht auf einen Kriechgang ins teilweise Ungewisse. Die Nähe Elviras machte den großen Unterschied. Wenn die Sache hinter ihnen lag, würden sie auf der Sonnenseite angekommen sein. Mit ihr zusammen stand die Welt weit offen. Vorher hieß es diese elende Röhre zu durchqueren.
Er spürte in sich kein Talent zum Kriecher. Trotzdem führte an einer Übung in kriechender Haltung jetzt kein Weg vorbei. Als mündliche Prüfungsfächer hatte man ihm vor sechs Wochen Physik und ML zugemutet. Warum befragte man ihn, Hermann Schrader zu den Grundlagen des Marxismus - Leninismus? Seine reservierte Einstellung zu dem Thema war den Dozenten bekannt. Würde der Mann ihm einen weiteren Kotau abfordern oder erkannte man auf Gnade? Alles war dann besser als erwartet glatt gelaufen. Der Dozent in ML hatte sich mit Tiraden in der Abschlußprüfung weiter zurückgehalten als von ihm sonst gewohnt. Vielleicht hatte der Einfluß der Beisitzer in der Kommission mäßigend gewirkt.
Er wischte die Erinnerung weg, band sich seinen Rucksack an den rechten Fuß und nahm die Schaufel zur Hand. Sie diente daheim bei Elviras Eltern sonst zur Befeuerung des Kohleofens. Nicht der größte Verlust für den alten Hambach an diesem Tag, dachte er, ohne Zynismus in dem Gedanken zu erkennen. Lang ausgestreckt, verspürte er den kühlen Erdboden am Bauch. Er verschränkte die Arme vorm Kinn und begann die eingeübte Kriechbewegung. So hatten sie es gestern und vorgestern abends in der Dämmerung geübt. Trainingsgelände war die große Wiese hinter dem Stall gewesen. Sie erstreckte sich bis zum Zugang zu Schöppachs morscher Scheune. Zuletzt hatten sie die hundert Meter von der Scheunenwand bis zum Zaun am Feldweg nach Engenthal in sieben Minuten geschafft. Nach einer Ruhepause hatte sie der Rückweg auf gleiche Weise acht Minuten ungewohnte Anstrengung gekostet. Ermüdend und alles andere als Kurzweil diese Übung, aber kein Kunststück, der gesunde Leute in ihrem Alter vor Probleme stellte. Wäre jemand Zeuge des Vorganges geworden, er hätte sich gefragt, ob den beiden kein besserer Zeitvertreib für den schönen Sommerabend eingefallen war.
Die Übung waren unentdeckt geblieben. Keiner hatte den beiden neugierig verfolgt nach der Abmeldung vom gemeinsamen Abendessen. Die Geschwister und Hambach Senior hatte wohl angenommen, die beiden machten einen Besuch bei Schöppach wie schon öfter seit Schraders Auftauchen an Elviras Seite. Wenn nicht, so würden sie am besten wissen, wie der schöne Abend zu verbringen war. Letztlich hatten beide die Volljährigkeit erreicht. An ihrem Staat, der DDR, war seit der Gründung vieles auszusetzen und verbessernswert. Der Vorwurf von Lustfeindlichkeit gegenüber den Bedürfnissen auch jugendlicher Bürger traf ihn nicht, eine Feststellung die anscheinend auch für den Bewußtseinsstand in der Familie Hambach galt.
Sie hatte den Zeitablauf überschlagen: etwa zweihundert Meter breit war der Streifen insgesamt, etwa mittig darauf verlief der Zaun, davor der befestigte Kolonnenweg für die Jeeps. Die Soldaten hatten irgendwann früher einmal erwähnt, der Zaun stehe nicht genau auf der Grenze sondern mehrere Meter tief auf DDR-Gebiet.
Das Ende der Röhre auf der anderen Seite blieb ihnen unsichtbar. Das Minenhuhn war am Vormittag drüben in einer Baumgruppe aufgetaucht, die vom Zaun nicht weiter weg stand als geschätzte hundertfünfzig Meter. Dreihundert Meter höchstens, hatte Schöppach gemeint, eher weniger. Die Strecke ließ sich in einer halben Stunde schaffen. Auch der Rückzug war ihnen nicht verbaut im Fall unerwarteter Hindernisse. Das Tempo im Rückwärtsgang wäre freilich höchstens halb so hoch, dafür ginge es dann aber auch nur um einen Teil der Strecke.
Hermann hatte auf die Probe mit dem Huhn bestanden. Das Tier hatte erfolgreich ihren Weg vorab erkundet. Man würde auf die Rückwärtsgang nicht angewiesen sein. Länger als zwanzig Minuten war nicht zu veranschlagen für die Ost-West-Passage. Selbst bei Anrechnung einiger Ruhepausen war der Transit in längstens einer halben Stunde ausgestanden.
Was zählte eine halbe Stunde im Dreck gegen die Verlockung, sich einmal im Nachbarstaat umzutun?
Glücklicherweise lag nennenswerter Regen mindestens zehn Tage zurück. Ihre Lage im Rohr wäre sonst weniger gemütlich. Das Wetter konnte nicht besser sein für die Unternehmung ebenso wie für die Ernteschlacht. Bei Einholung der Rüben und des Getreides lag die LPG „Freies Land“ gut im Plan, wenn nicht sogar dem Plan voraus. Der Vorsitzende der LPG hatte sich auf Nachfrage nicht klar ausgedrückt. Vielleicht fürchtete er die Abordnung seiner Leute zur Aushilfe bei den Nachbarn nach außerhalb.
Man hatte Hermann bald nach der Ankunft bei den Leuten von Engenthal beachtlichen Respekt gezollt. Gleich wie spät die Traktoren und der Drescher abends vom Feld zurück gekommen waren, er hatte zusammen mit dem Zimmergenossen Roland seinen Part getan. Jeweils zu Schichtbeginn am nächsten Morgen war das Geschirr betriebsbereit gewesen. Nur wenige Maschinen waren neu, manche stammten noch aus der Vorkriegszeit. Traten Schäden auf, waren sie rechtzeitig auszubessern so gut es die Versorgungslage zuließ. Ersatzteile waren Mangelware. Erfindungsgeist war gefragt und die Maschinisten und ihre Helfern improvisierten mit Erfolg. So hatte man noch jedes mal für den Folgetag den vollen Einsatz in der Ernteschlacht gesichert.
Die LPG lag anscheinend so gut im Plan, dass die Verlegung einer Kolonne in die Nachbar - LPG erwogen wurde. Damit drohte Hermann die Trennung von Elvira und Engenthal. Allein schon deshalb war jetzt keine Zeit mehr zu verlieren.
Sie arbeiteten sich voran in die kühle Finsternis. Elvira hatte es Hermann gleichgetan. Sie schleifte ihren Rucksack, angebunden am Fuß, hinter sich her. Hatte vor dem Eintauchen ins Rohr zum Schutz der Haare eine Mütze aufgesetzt. Beide trugen sie Handschuhe und lange Hosen, am Fuß zugebunden als Schutz vor Kleingetier, das sie vielleicht auf ihrem Weg begleiten würde.
Hermann Schrader kroch in unnatürlicher Bewegung vor Elvira her. Schlängelte er sich? Elvira fühlte sich eher an einen Lurch erinnert als an eine Schlange. Den Stoffbeutel stieß er mit den Füßen regelmäßig abwechselnd rechts und links seitlich gegen die Röhrenwand.
Das enge Rohr erlaubte Hermann Schrader kaum mehr als den Blick schräg zurück zu seiner Gefährtin. Beim Aufstützen der Ellenbogen lagen die Hände nur knapp unter der Rohrinnenseite über seinem Kopf. Der Freiraum in der Waagerechten war nur um einige Handbreit weniger eng bemessen. Es konnte nicht anders sein. Der Kanal führte in Regenzeiten schließlich Wasser. Schlamm hatte sich abgesetzt und war getrocknet. Über der Rohrsohle war die freie Höhe eingeschränkt durch Ablagerungen, wahrscheinlich schon seit einer Zeit, in der noch kein Mensch eine Grenze hier für möglich gehalten hatte.
Bisher war nicht ein Wort gewechselt worden seit dem Start. Elvira brach das Schweigen. Sie machte späte Bedenken geltend:
„Was, wenn das Rohr weiter weg vom Anfang in einem Bogen liegt und unten mit Wasser voll gelaufen ist?“
Die Frage war berechtigt. Er hatte sie vorab bedacht und die Möglichkeit als wenig wahrscheinlich eingeschätzt. Schöppachs Angaben hatten sich bisher bestätigt. Beim Bau von Entwässerungskanälen achtete man aus gutem Grund auf stetiges Gefälle. Warum sollte der Arbeitsdienst damals weniger solide Arbeit abgeliefert haben als unsere Leute jetzt? Soviel war ihm als Ingenieur bekannt: Rohre werden beim Kanalbau auf ein Bett aus Kies und Sand verlegt. Darin fließt das Grundwasser ab ehe es über die Rohrsohle steigen kann. Ein Wasserdruck von außen baut sich so nicht auf. Wenn der Grundwasserspiegel trotz des Kanals dennoch hoch geblieben wäre, hätte man sich den ganzen Aufwand für die Urbarmachung der Felder damals besser eingespart.
Allenfalls konnten kleine Abweichungen vom geplanten Gefälle aufgetreten sein. Mehr als flache Lachen durch früheren Eintritt von Regenwasser war nicht zu befürchten. Das Wetter war stabil. Ereilte sie aber tatsächlich ein heftiger Wolkenbruch, war nicht unmöglich, er schwemmte die Eindringlinge mit Macht davon wie Ungeziefer.
Wahrscheinlich hatte Elvira die Frage nur gestellt, damit Abwechslung in ihre schweigende Vorwärtsbewegung kam. Den Kopf so weit möglich zurückgewendet, gab er zur Antwort:
„ Viel Wasser ist ausgeschlossen, höchstens mal feuchter Schlamm. Das Minenhuhn hat es ohne Problem geschafft. Wir stehen einem Huhn nicht nach. Was dieser Vogel konnte, können Elvira und Hermann allemal.“
Sie lachte und er leuchtete mit der Taschenlampe einen Augenblick lang zurück. Er die großen, gescheiten Augen in ihrem Gesicht vom Licht geblendet und knipste rasch wieder aus, noch ehe sie die Hand schützend vor sich hielt. Sogar die Mütze kleidete sie vorteilhaft, so wie jede andere Aufmachung ihr stand, in der sie bisher aufgetreten war. Wahrscheinlich trug Elvira die Kopfbedeckung sonst zum Wintersport.
Der Abstand zwischen ihnen war klein, so wie sie es abgesprochen hatten. Einmal mehr spürte er das starke Gefühl einer großen Zärtlichkeit. Nie zuvor hatte ihn eine Frau so angezogen. Sie verband Grazie mit Mut und Unternehmungsgeist in einem Ausmaß, das ihn vom ersten Tage an gefesselt hatte. So fest schien sie auf eigenen Füßen zu stehen, dass jede Stützung überflüssig war. Trotzdem fühlte er sich jetzt in der Verantwortung für sie. Verantwortung, ein großes Wort, ohne ihr Zusammentreffen bei diesem Einsatz in Engenthal hätte er es nie in den Mund genommen, schon aus Protest gegen den inflationären Gebrauch im Lehrfach ML. Jetzt erstmals gewann es Sinn. Die Unternehmung fiel, wenn sie auch nicht gerade gefährlich war, so doch weit aus dem Rahmen der alltäglichen Langeweile in ihrem Staat. Er würde für ein gutes Ende Sorge tragen.
Die einzelnen Rohrelemente konnten nicht länger als drei Meter sein, vielleicht nur zweieinhalb. Umlaufende Linien im immer gleichen Längsabstand waren erkennbar in der dunkel gewölbten Fläche, die vor ihnen ins Ungewisse lief. Der Schein der Lampe machte Fugen in der Röhre sichtbar. Sie trennten die Einzelrohre gegeneinander ab. Bei näherem Hinsehen zeigten sich ringförmige Spalte an denen vorbei sie vorwärts krochen. Wurzeln wucherten dort von außen herein. Dünne Fäden, hingen herab; einige reichten bis zu der Sandablagerung unter Schraders Bauch. Er schob die dürren Wurzeln mühelos zur Seite.
Elvira empfand sie als ekelhaft. Manche verdickten sich zum Sandbett herunter, auf dem sie krochen, bis auf Fingerdicke, ließen sich aber dennoch ohne Kraftanstrengung wegschieben an die Seitenwand. Sie bat Hermann mit Widerwillen in der Stimme um den Einsatz der Machete. Das Wort hatte sie mit Bedacht gewählt. Die besonders hinderlichen Exemplare schnitt Hermann daraufhin mit seinem Taschenmesser ab. Er blieb voll auf die Vorwärtsbewegung konzentriert und spendete Trost so gut es ihm gelingen wollte. Noch stärkere Wurzeln träten seiner Schätzung nach nicht auf. Ausgewachsene Bäume mit dicken Wurzeln, habe man auf dem Geländestreifen über ihrem Kopf vor Jahren abgeholzt, vorausgesetzt hier war jemals Wald gewachsen. Schöppachs Schilderung war ungenau gewesen in diesem Punkt. Wie konnte es anders sein? Schließlich hatte er den Bau der Entwässerung damals als kaum Erwachsener erlebt. Was allenfalls nachwuchs an Gehölzen, legte seit der Rodung die Grenztruppe umgehend wieder flach. Mindestens einmal jährlichen werde die Flur längs der Staatsgrenze West bereinigt, hatte sie ihm erzählt.
Die ersten zwanzig Rohrlängen waren geschafft. Schrader spürte noch keinerlei Ermüdung. Wieder, wie nach jedem zweiten Rohr bisher, wendete er den Kopf schräg zurück und starrte in die Dunkelheit. Um sie herum absolutes Schwarz, ausgenommen den Lichtpunkt der Eintrittsstelle. Aber er hörte Elviras Atemzüge und ein schabendes Geräusch. Sie schloß zu ihm auf.
„Wir kommen nicht schlecht voran. Es kriecht sich hier drin nicht schlechter als auf eurer Wiese.“
„Mann, du hast sicher recht, ich glaube wir sind schneller als gedacht “, kam zurück. „Deshalb jetzt erst mal eine kleine Pause.“
Sie nannte ihn gerne abgekürzt nur Mann statt Hermann. Er fühlte sich geschmeichelt, trotzdem blieb sie für ihn unverkürzt Elvira.
„Genehmigt mit einem Sonderlob für unseren Stoßtrupp. Nicht ungemütlich hier trotz der elenden Wurzeln auf dem letzten Stück! Der kleine Dschungel im Rohr vorhin kann nicht mehr als die Ausnahme von der Regel sein. Und die heißt: der Weg vor uns ist frei. Soweit ich voraus sehen kann, ist die nächste Etappe ohne Einwüchse von außen.“ Dann nach einer Pause:
„ Hier unten fehlt uns jetzt nur noch eine Untermalung mit Musik, was hältst du von „Warum ist mir im Rohr so wohl?" Elvira ging auf den Einfall nicht ein, euphorische Gefühle erschienen ihr verfrüht. Stattdessen dachte sie an das Huhn, das ihr Kundschafter auf diesem Weg gewesen war.
„Hoffentlich hat das Minenhuhn nicht zuviel Spuren hinterlassen. Du würdest der sein, der es auszubaden hat“. Hermann lachte laut auf, lauter als Elvira es für ihre Lage angemessen fand.
„Bisher noch keine Feindberührung, jedenfalls habe ich nichts bemerkt. Ich finde die Luft angenehm hier unten, wie in einem Sommerwald nach Regen. Das Stichwort ausbaden halten wir fest. Wenn wir erst drüben sind, ist ein Bad das erste, was wir brauchen. Schöppach hat gesagt, hinter der Grenze gibt es einen kleinen Teich.“
Elvira stimmte zu. Sie streichelte sein Bein unterhalb des Knies als Zeichen zum erneuten Aufbruch. Noch lag eine Strecke vor ihnen, die länger war als die beiden Querungen der Wiese, die sie im Training in Bauchlage bewältigt hatten. Vor dem Röhrenende erwartete sie wahrscheinlich ein zusätzlicher Aufenthalt vor dem Ausstieg. Bei den Probestrecken unter freiem Himmel hatten sie sich nach hundert Metern jeweils kurz aufgerichtet und die Arme seitlich weit ausgestreckt. Sie wussten beide: diese Freiheit war ihnen im Rohr verwehrt.
Ungemütlich, die Situation; so unbeschwert wie Hermann schätzte Elvira ihre Lage nicht ein. Sie kannte ihren Wert. Ein verständiges Elternhaus hatte sie früh zur Selbstständigkeit ermutigt, wenn auch nicht stärker als manche ihrer Altersgruppe auch. Ihr angeborenes Naturell wirkte in gleiche Richtung. Hindernisse hatte sie selten entmutigt, jede neue Herausforderung hatte gereizt zur Erprobung des wachsenden Gespürs für neue Möglichkeiten in ihrer Welt. Man bewunderte sie insgeheim unter Gleichaltrigen für ihre Unerschrockenheit. Kleine Erfolge hatten sich mehrfach wiederholt. Im Kindergarten, dann in der Schule und bei den Jungen Pionieren hatte man ihr unter den Gleichaltrigen anfangs widerstrebend, dann anerkennend, die Führungsrolle eingeräumt. Die beiden jüngeren Geschwister hatten spätestens bei Eintritt in die erste Klasse der Schule am Ort die Rivalität der ersten Jahre aufgegeben und sich mit Stolz an Elvira, ihrer großen Schwester orientiert.
In diesem elend engen Rohr führte sie gemeinsam mit Hermann ein vielleicht folgenschweres Unternehmen aus, soviel lag auf der Hand. Gingen sie zu weit? Um welchen Preis wurde der Grenzübergang gewagt? War der Gang nach Maulwurfsart normal wenn es um nicht mehr ging, als sich ein Bild vom Nachbarland zu machen? Sie konnte ihrem Staat diesen Vorwurf nicht ersparen. Er zwang sie beide zu einem würdelosen Übertritt der Grenze, statt sich einem Vergleich zu stellen. Soweit absehbar aus ihrer Welt, bestand kein Anlaß, ihn zu scheuen.
Viel größer war die Anstrengung hier unten, als sie erwartet hatte. In den Ferienlagern der letzten Jahre vor dem Schulabschluß hatte sie sich immer achtbar gehalten, oft sogar mittelmäßig sportliche Jungen übertrumpft. Im Vergleich zu dieser Tour waren die Geländespiele damals Kinderei. Sie hatte keine Ähnlichkeit mehr mit einem Indianerspiel der Jungen Pioniere. Dennoch, sie hätte diese kurze Pause vorhin jetzt noch nicht gebraucht. Der Ermüdung der Arme und Beine würde später kommen. Dreißig Minuten angestrengtes Kriechen am Boden mochte eine sinnvolle Leistung von Elitekämpfern sein, unter Beschuß in Vietnam, Afrika oder Lateinamerika im Krieg. Sie befanden sich hier nicht im Krieg sondern in Friedenszeiten auf dem Weg nach Westdeutschland. Nur die Abwehr der Angst kostete sie Kraft. Angst wovor? Elvira hätte es nicht erklären können. Jedenfalls hieß es hier an die eigenen Grenzen gehen, zur Überwindung dieser realen Grenze über ihrem Kopf. Die Bewegung zum seitlichen Ausstrecken der Arme war solange sie krochen radikal eingeschränkt. Der Verzicht auf die zu Unrecht kaum geschätzte Wohltat fiel ihr schwer. Gerade die Suche nach Bewegungsfreiheit hatte sie in diese drückende Zwangslage geführt.
Hermanns Nähe gab ein Mindestmaß an Sicherheit. Hoffentlich würden sie zusammen bleiben wenn die Durchquerung erst überstanden war!
Der gleichmäßige Rhythmus der Bewegung hatte sich wieder eingestellt. Sie kamen ohne große Anstrengung voran. So konnten sie lange durchhalten bis sie müde wurden. Auch Hermanns Erwartung fand sich bestätigt. Die eklige Berührung des Gesichts durch kalte Wurzeln blieb auf eine längere Strecke aus.
Elvira verspürte die gewohnte Zuversicht. Der erste Abschnitt hatte wahrscheinlich Spuren hinterlassen. Ihr Anblick unter der Mütze konnte nicht anders sein als mohrenhaft.
Die Dunkelheit immer zwischen dem Aufleuchten der Lampe stellte sie vor kein Problem. Sie hatte sich schon als Mädchen nie gescheut, alleine dunkle Kellerräume zu betreten. Die Freundinnen hatten jedes Mal bei solchen Proben ihre Furchtlosigkeit bestaunt. Sie war Anerkennung gewohnt. Die Anderen bewunderten den Mut, der ihr nicht nur bei solchen Gelegenheiten früh zur Verfügung gestanden hatte.
Eine kleine Episode hatte die Mutter ihr oft nachträglich erzählt: nach einem Mißverständnis in der zweiten Klasse der Grundschule von Engenthal hatte die ärgerliche Lehrerin ihr eine Strafarbeit aufgebrummt, so drückte man sich damals dazu aus. Elvira hatte nicht nur umgehend heftig protestiert sondern nach der Strafzumessung zum Erstaunten der Klasse eine Besprechung unter vier Augen vorgeschlagen. Die Sache war ohne Strafarbeit gütlich beigelegt worden. Im Elternkreis sprach der Vorgang sich herum. Elviras Verhalten erschien ungewöhnlich ihr frühes Lebensalter. Der erfolgreiche Vorstoß Elviras ging zurück auf einen ihr früher einmal abgegebenen Bericht der Mutter. Die hatte selbst als Kind, aber um einige Jahre älter, gute Erfahrungen gemacht mit dieser Strategie. Förmliche Autorität allein hielt die Hambach - Frauen seit jeher nicht in Schach.
Elvira stand jetzt vor anderen Schwierigkeiten bis die Fesselung ihrer Bewegungsfreiheit wieder fiel. Der Nachweis ihre Ausdauer im Kriechgang würde leicht zu führen sein. Finsternis focht sie nicht an. Die Enge waren unangenehmer als erwartet aber einstweilen erträglich. Den Ausgang der Röhre am Westende würden sie nicht minder meistern als das stumme Huhn. War die Öffnung für einen Menschen dort zu eng, würde notfalls der Weg mit bloßen Händen freigekratzt. Das Unternehmen lief. Am meisten belastete der Mangel an Gelegenheit zur Streckung in die Breite.
Sie schoben sich in zielstrebigem Vorwärtsdrang voran. Gleich bleibend reihten sich die Rohre aneinander. Hermanns Zählung der Fugen war bei fünfzig angelangt. Auf die Frage nach einer Pause hatte Elvira abgeraten. Sie wolle Strecke machen und spüre keine Müdigkeit. Die Aussicht auf ein Bad treibe sie voran.
Auch Hermann verhehlte sich nicht, er spürte Überdruß. Die Grenzdurchquerung zog sich schon zu lange hin. Die Fortbewegung auf dem Bauch hier in dem engen Rohr belastete entschieden stärker als unter freiem Himmel. Hut ab vor Elviras Stehvermögen. Wo sie durchhielt, durfte er als der Mann und Ältere nicht klagen.
Nicht mehr als einen Meter über dem Kopf musste hier irgendwo über ihnen der Grenzzaun stehen. Tiefer hatte man damals die Rohre nicht verlegt, hatte Schöppach aus der Erinnerung geschätzt. Hatte man zufällig je einen Pfosten des Zaunes beiderseits gegründet oder reichten flach liegende Fundamente nicht herunter bis auf ihr Rohr? Vielleicht hatte man beim Bau der Grenzbefestigung ein Stück Beton freigelegt und als Felsblock missdeutet, ein Hindernis für den Bau der Sperre, das sich umgehen ließ, der Mühe einer Ausgrabung nicht wert. Hätte man die Röhre entdeckt, kein Interesse an der Entwässerung von Wiesen, gleich ob in Ost oder West, hätte den Durchlaß vor der Zerstörung bewahrt. Oder verlief der Kanal doch tiefer als Schöppach meinte? Wie immer auch, zu ihrem Glück hatte man die Querung beim Bau der Grenzanlagen nicht entdeckt. Auch wenn die Zeit sich hinzog, das Ende dieser unseligen Schinderei rückte heran. Von einem stabilen Dach aus Beton beschirmt, stand ihrer Ankunft drüben kein ernstliches Hindernis mehr im Weg.
Elvira führte, wohl eingeübt, ihre schlangenartige Fortbewegung mechanisch aus. Die Hände hielt sie unter dem Kinn gefaltet. Abwechselnd schob sie einen Ellenbogen vor, verlagerte das Gewicht auf diese Seite und zog den Körper nach. Das Knie der entgegengesetzten Körperseite half beim Vorschub nach. Nach jedem dritten Röhrenabschnitt zeigte der Griff an das linke Bein: der Beutel mit ihrem Kleingepäck hatte sich nicht gelöst. Der Ausflug in den Westen wurde mit einer Notausrüstung angetreten, jedoch nicht ohne alle Habe.
Hermann hatte Waldluft beschworen vorhin. Sie gab ihm da nicht recht. Wärme war zu verspüren mehr als ihr willkommen war. Strengte das Abenteuer ihn so wenig an, dass er von Kühle sprechen konnte wo sie unangenehme Erhitzung spürte? Ihr schien, sie näherten sich nicht Badeteichen drüben sondern einem Ort, von dem aus ihnen unangenehm warme Luft entgegenkam. Sie rief Hermann an. Die Stimme klang weniger fest als gewohnt:
„Ich ziehe die Jacke aus. Mir wird zu warm.“
„Du bist sicher, du hast ein Problem mit deiner Jacke ? Das Ausziehen ist schwierig, Elvira. Wir hängen noch in unserer engen Röhre. Wenn du sie ausgezogen hast, hindert sie dich beim Kriechen. Lässt du sie hier zurück, dann fehlt sie später. Wenn wir erst drüben sind, würdest du sie vermissen. Ist dir wirklich so warm? Mir wäre ohne meine Jacke jetzt zu kalt.“ Hermann also verspürte diese unangenehme Wärme nicht. Sie suchte, ihrer Stimme den gewohnten Klang zu geben:
„Kein Problem, Mann, aber die Wärme setzt mir zu.“ Ohne es auszusprechen, war ihr bewusst, nicht Wärme allein setzte ihr zu, mehr noch empfand sie die Beengung als Problem. Gerade eben erst hatte sie ein Problem abgestritten. Wem wenn nicht Hermann konnte sie sich anvertrauen mit einer Schwierigkeit:
„Ja, Mann, doch ein Problem. kein großes zwar, aber immerhin.“ Sie sprach nicht weiter und streifte die Regenjacke an der linken Seite ab. Es gelang nachdem sie die Schulter an den Hals herangezogen hatte, als klemme sie einen Telefonhörer ein, um mit den freien Händen eine Notiz zu schreiben. Sie drehte sich vom Bauch in voller Länge auf die rechte Seite, dann presste sie den Arm mit der halb zurückgestreiftem Ärmel fest an den Körper und zerrte mit der rechten Hand am Bund. Sie hatte Gewalt anwenden müssen bis das letzte Stück über den schmerzhaft eingebogenen Handrücken geglitten war. Ein Geräusch von einreißendem Stoff begleitete den Vorgang. Die Jacke fiel hinter dem Rücken halb ausgezogen auf den Sandboden im Rohr. Das Manöver hatte Erleichterung verschafft. Ein Teil des Drucks oben im Hals war weg. Hermann fragte nach:
„Wir haben Zeit, auf jedes Problem einzugehen. Kein Mensch drängt uns zur Eile.“ Er nahm Ermüdung bei Elvira an.
„Bist doch schneller erschöpft als gedacht durch die Anstrengung, Liebes. Zur Not könnten wir hier erst schlafen ehe es weitergeht. Wenn du magst, trink aus meiner Flasche. Es war kein Fehler etwas Stärkung mitzunehmen. Diese drei Viertelstunden hier unten ziehen sich elend hin.“ Elvira ging auf das Angebot nicht ein.
„Mir ist immer noch zu warm. Die Jacke hat mich eingeengt. Halb habe ich sie gerade ausgezogen. Habe mich winden müssen wie ein Aal. Für dich wäre dazu das Rohr mit Sicherheit zu eng.“
„Habe auch absolut nicht vor, mich zu entblößen. Hermann Schrader ist kein Entfesselungskünstler. Aber schade um das schöne Stück aus der HO. Stand dir so gut an wie extra für dich gemacht. Zieh sie am besten ganz aus und lass´ sie hier zurück. Hoffentlich handelst du dir keine Erkältung ein, Elvira. Meine Jacke wird einen Waschgang brauchen wenn wir drüben sind. Den hast du immerhin gespart, stattdessen leiden jetzt die Sachen, die du drunter trägst. Ich fühle mich mit meiner Jacke richtig wohl. Ist dir wirklich so heiß geworden?“
Er sprach ohne Unterbrechung belangloses Zeug daher. An Elviras Tonfall hatte er gespürt, sie schlug sich mit einem Problem herum. Hoffentlich lenkte sein Wortschwall sie fürs erste ab.
Bisher lief ihr Vorhaben glatt. Die Bahn vor ihnen lag bis zum Ende freigeräumt, sah man vom Ausstieg ab. Wo ein Huhn herauskam, würde mit wenig Mühe auch Platz zu schaffen sein für Menschenmaße. Notfalls würde man um Hilfe von außen bitten, falls der Ausgang wirklich zu stark verrammelt war. Die Grenzer der anderen Seite konnten sich einer Hilfeleistung dann nicht entziehen. Sie lagen in diesem Rohr sicher wie in Abrahams Schoß. Vielleicht sperrten sich Elviras Nerven gegen die Finsternis. Er zog die Taschenlampe vom Gürtel und streifte die Halteschnur über sein Handgelenk.
„Lassen wir die Lampe jetzt dauernd eingeschaltet. So lässt es sich besser aushalten in unserem Verlies. Besser so?" Er hatte gehofft, Helligkeit werde auf sie beruhigend wirken. Elvira war dankbar für die Besorgnis und das Mitgefühl. Hermann hatte gespürt, ihre Verfassung war nicht so zielstrebig und siegessicher wie er sie sonst kannte. Er suchte, ihr zu helfen. Hermann sprach weiter auf sie ein während der Ruhepause. Was er sagte, traf zu, sie waren hier keiner Bedrohung ausgesetzt. In aller Ruhe konnten sie den weiteren Gang der Dinge selbst bestimmen. Selbst im Schneckentempo weiterkriechend, war das Ende des Rohres bald erreicht. Sollte es dann schon Nacht geworden sein, umso besser für ein unauffälliges Verlassen ihrer Röhre.
Sie fühlte, die Erleichterung wirkte nur schwach. Die Enge setzte ihr mehr zu als sie vorausgesehen hatte. Die Jacke blieb zurück als der schleppende Zug der beiden wieder Fahrt aufnahm. Sie hatte sich vorher stöhnend noch einmal in Seitenlage umgedreht. So gelang ihr, auch den anderen Ärmel von sich wegzuziehen. Hermann hatte gelacht. So schön habe sie schon seit vorgestern nicht mehr gestöhnt. Ernst nahm er anscheinend ihre Beklemmung nicht.
Dieses mal riß der Ärmel nicht ein. Ehe sie weiter krochen, hatte sie den überflüssigen Stoffbalg noch einmal zu sich herangezogen und untersucht. Nur der Hausschlüssel befand sich noch in der Seitentasche. Alles andere hatte sie vorhin der am Fuß befestigten Hängetasche einverleibt. Für den Schlüssel war die nächste Verwendung nicht absehbar. Der Zeitpunkt für eine Rückkehr nach Engenthal stand nicht genau fest. Allzu lange aber würden sie nicht bleiben. Elvira hatte sich den Abschied von zu Hause nicht leicht gemacht. Der Weggang auf Zeit entsprang nicht einer sommerlichen Laune sondern wohlüberlegtem und gerechtfertigtem Protest. Wenn sie Engenthal den Rücken kehrte, war dies ein Adieu für einen Besuch der BRD von ein paar Tagen. Hermann hatte ihr versichert, er sähe es ebenso. Ließ man sie wider Erwarten nicht ohne Umstände gleich wieder zurück ins Land, konnte es ein Abschied auf Wochen gewesen sein, damit aber noch lange nicht für immer. Der Tag des Wiedersehens mit Engenthal jedenfalls war nicht allzu fern. Schlimmstenfalls würde ihre Zulassung zum Studium erschwert nach der Rückkehr, mehr an Sanktionen traute sie von ihrem Land nicht zu. Sie hatte den Beutel vom linken Fuß umständlich herangezogen. Der Schlüssel befand sich darin besser aufgehoben als in der Hosentasche. Dort drohte nur Verlust bei der scheußlichen Wegstrecke, die noch vor ihnen lag.
Nach jedem zweiten Röhrenabschnitt meldete Hermann sich jetzt mit einer Ermunterung. Die Taschenlampe hielt er in der Hand. Bei jedem Vorschub der gekreuzten Unterarme huschte der Lichtschein gegen die Rohrwand und danach wieder weit voraus. Geradeaus gerichtet, verlief sich das Licht spurlos in der Dunkelheit. Im halbrunden Hohlraum vor ihnen kein Hindernis! Auf Reichweite der Taschenlampe war der Weg vor ihnen frei, aber das Röhrenende blieb weiter außer Sicht.
Dann und wann richtete Hermann den Lichtschein seiner Lampe vorsichtig zurück auf Elvira. Der Abstand zwischen ihnen war so klein wie schon von Anfang an. Er sagte ihr, wie froh er sei über ihre Nähe inmitten der Verlassenheit. Ihr Gesicht hatte wieder den entschlossenen Ausdruck angenommen, den er kannte. Sie lächelte ihm zu. Dass der Ausdruck sie Anstrengung kostete, bemerkte Hermann nicht. Lenkte er das Licht über sie hinweg, bot sich das gleiche Bild hinter ihr, das er beim Kriechen vor sich sah: matt erleuchtete Wandungen der Rohre auf einige Distanz, dahinter Finsternis, als werde das Licht von der Leere spurlos verschluckt. Sie waren allein zu zweit, nur auf sich selber angewiesen.
Den Weggang durch die Röhre war niemandem bekannt mit Ausnahme von Schöppach. Stieße ihnen hier unten etwas zu, sie existierten für die Außenwelt nicht mehr. Keiner außer Schöppach würde sie hier vermuten in dieser gottverlassenen Röhre. Er würde sich hüten vor einem Hinweis wenn kein Lebenszeichen von ihnen kam.
Wären sie nur für die Außenwelt verloren? Elvira wurde wieder deutlich, was sie gewußt hatten seit der Plan gefasst worden war. Ja, sie wären ganz und gar verloren, aber der Fall eines Fehlschlag hatte nicht eine Minute den Charakter der realen Möglichkeit gehabt. Ginge es nicht weiter voran wegen Hindernissen auf ihrem Weg, der einzige Möglichkeit zur Rettung läge im Rückzug zum Ausgangspunkt. Sie hatte Kriechen im Rückwärtsgang nicht geprobt, nicht einmal ausprobiert, so sehr waren sie überzeugt von ihrem Plan. Sie schätzte den Zeitaufwand bis zum Einstieg zurück auf mindestens dreimal die bisherige Dauer. Laut rief sie Hermann zu:
„Wir kommen gut voran. wann sind wir da? Ist vorne schon etwas zu sehen“? Die Antwort half nicht aus den düsteren Gedanken:
„Knapp die Hälfte haben wir hinter uns. Ich denke, der Grenzzaun ist längst passiert. der Tunnel reicht aber ziemlich weit auf westdeutsches Gebiet.“ Sie war enttäuscht:
„Schade, ich dachte, wir wären weiter.“
„ Aber doch gut vorangekommen. Geht es dir immer noch ganz gut Elvira? Wenn du es willst, ist wieder Zeit für eine kleine Rast. Ich selber könnte stundenlang so weiter robben. Trotzdem, dieses Kriechen ist eine lästige Tortur. Liegt die Strecke heute Abend hinter uns, erscheint sie gleich in einem anderen Licht. Wir haben dann eine Geschichte zu erzählen, die nicht von schlechten Eltern ist.“ Elviras Überlegung galt Mitmenschen in gleichem Lage, der Verdrossenheit über ihren Staat:
„ Sobald irgend jemand davon erfährt, ist dieser Weg für andere versperrt. Ich kenne einige, die viel für das Wissen um unsere Röhre geben würden.“ Dann nach einer kleinen Pause:
„Hermann, warum zieht sich der Ausflug so schrecklich in die Länge? Mir ist noch immer heiß. Ich möchte mich so gerne einmal strecken, nicht nur in die Länge, sondern auch die Arme ausstrecken so weit wie es nur geht.“ wieder der verzagte Ton! Hermann spendete den Trost, der in ihrer Lage möglich war:
„ Lege dich auf die Seite, Elvira, und stelle dir intensiv einen Garten vor. Wir beide liegen im Schatten in Liegestühlen unter einem Baum. Die streckst die Hände hinter deinen Kopf und spürst den Sommer“. Er schob seine Wasserflasche vorsichtig mit den Füßen zu ihr hin. Im Schein der Lampe sah er, dass sie dem Vorschlag zum strecken ihrer Arme folgte. Sie griff sich blind die Flasche, und setzte sie lange nicht ab. Wahrscheinlich hatte sie ganz leergetrunken.
„Hat gut getan Mann, danke schön“, sagte sie. „Das Strecken der Arme vor den Kopf ist trotzdem kein Ersatz für die Bewegung in die Breite“. Sie sah unglücklich aus, fand er, oder lag nur Täuschung durch den Dreck und die fahle Beleuchtung vor?
Hermann täuschte sich nicht. Sie gab sich keine Mühe mehr, den Ausdruck ihrer Angst zu verbergen. Nicht ein Bild der Ruhe im Sommergarten trat vor ihre Augen, ein ganz anderer Eindruck quälte sie. Sie sah sich in eine Höhle eingesperrt und keiner half heraus. Man rief ihr von draußen höhnisch zu, sie solle sich selber helfen. Der Starke sei am mächtigsten allein. Dann kratzte jemand von draußen hinter dem Eingang in aufgeworfener Erde. Sie wehrte die düsteren Gedanken unwillig ab. Hirngespinste, nicht das Geringste hatte diese Zwangsvorstellung zu tun mit ihrer Lage. Schließlich war sie weder allein hier unten noch waren die Eingänge verschlossen. Hermann war bei ihr, sie beide würden in einer halben Stunde Westdeutschland erreichen.
Sie atmete stoßweises und gepreßt, zu leise als daß Hermann es hören würde. Ein neues Bild drängte sich auf. Der Inhalt schlimmer als zuvor. Man hatte ihr Flucht entdeckt. Hermanns Tarnung des aufgekratzten Bodens hatte nicht ausgereicht. An der Einstiegsseite verschloß die Grenztruppe ihre Zugangsöffnung. Sie sah die Erdkuhle aufgefüllt mit einer Aufschüttung von Sand. Beide saßen sie jetzt in der Falle. Panik ergriff Elvira. Der Pulsschlag beschleunigte sich zu jagender Raserei. Deutlicher noch als den Puls nahm sie die Atmung wahr; Luft aus den Lungen ausgepreßt und wieder eingesogen in hastiger, der Panik nahen Folge, begleitet von einem sinnlosen Gefühl der Furcht. Sie stieß einen schlecht unterdrückten Angstlaut aus.
Die Attacke ging vorbei, so rasch sie gekommen war. Hermann hatte sie gar nicht bemerkt. Er leuchtete den Abschnitt ab, der nach der Rast als nächster vor ihnen lag.
„Ich habe eben nicht verstanden. Was hattest du gesagt, Elvira, liebe Genossin im Untergrund?“ Sie gab kein Wort zurück. Dann hörte er sie weinen:
„Es ist so schrecklich eng. Ich kriege kaum noch Luft. Hilf mir raus, Hermann. Ich muß schnell hier raus, sonst fürchte ich um den den Verstand“.
Wieder weinte sie, diesmal lauter als zuvor. Hermann hatte sich vorhin nicht getäuscht. Seine Ablenkung hatte nicht gegriffen. Sie war letztlich ein Mädchen, ihr Reiz so unglaublich stark, daß sie ihn bis zur Verrücktheit anzog, aber doch schien sie trotz der Stärke auch verletzlich. Die Abgeschlossenheit setzte ihr zu.
Er mußte ihr helfen. Ein Anspruch, der unbedingt einzulösen war. Sie litt anscheinend an etwas ähnlichem wie Klaustrophobie. Er hatte irgendwann davon gelesen. Eine grundlose Ängstlichkeit, die seelisch Gesunde nicht betraf, oft aus den Untiefen gehemmter Seelen stammend, vielleicht aus einer früherer Verletzung. Wie auch die Höhenangst, eine Eigenschaft jedenfalls, die rational nicht kontrollierbar war. Elvira und schwach? Diese Eigenschaft traf auf sie nicht zu. Sie gehörte zu ihm seit ein paar Tagen. Wenn sie nur bleiben wollte, er ließe sie niemals wieder fort. Vor allem Schmerz und Unrecht sollte sie an seiner Seite sicher sein. Hermann Schrader wollte sie beschützen. Das Gefühl seiner Verfallenheit an das Mädchen war stärker als zuvor plötzlich wieder da.
Der nächste Ausgang unter freien Himmel war noch weit entfernt. Mehr als schwacher Trost konnte er nicht spenden mit Versuchen zur Aufmunterung. Vielleicht übertrieb sie die Klage. Freilich, es entspräche nicht ihrer Art. Vorsichtig schob er sich ein Stück weit zurück auf sie hin, schob die Beine, soweit das enge Rohr es zuließ, leicht angewinkelt über ihre Schultern und griff nach ihrer Hand. Elvira hatte nicht aufgehört zu schluchzen.
Er erschrak über das Zittern ihres Arms. Die Hand schien ihm eiskalt als sie mit ihren Finger fest sein Handgelenk umschloß.
„Laß mich hier nicht allein, Mann, ich habe so schreckliche Angst“, stieß sie keuchend hervor.
„Ganz ruhig, Liebes. Wir sind hier völlig sicher. Ich bleibe bei dir bis wir drüben sind. Absolut kein Grund, sich zu fürchten. Die Rohre sind stabil. Die haben Jahrzehnte so gelegen und halten jeder Belastung stand. Wir haben jede Menge frischer Luft. Sobald wir drüben sind, wartet ein neues Leben. Freuen wir uns drauf. Denk daran, wie viele uns um diese Chance beneiden. Am Ende wartet auch Hilfe wenn wir darauf angewiesen sind. Der Staat drüben ist nicht kleinlich. Wenn wir ohne Erlaubnis kommen, nehmen die das dort als Entscheidung für ihre Freiheit. Auch meinen Onkel haben sie damals nicht schlecht versorgt.“ Elvira sprach nicht. Das Zittern ihres Armes ließ nach. Hermann wusste nicht, ob die Wirkung seinen Worten zu verdanken war oder die Nähe ihr Beruhigung gab. Was er sagte, würde zumindest nicht schaden. Hermann fuhr fort:
„Wie baden wir? Bei deinen Sachen fehlt der Schwimmanzug. Wenn es ein bisschen dunkel ist, führt an einem Nacktbad kein Weg vorbei. Anschließend müssen wir uns bei den Grenzern bemerkbar machen, vorausgesetzt, man hat uns dann nicht schon entdeckt“.
Das zittern hatte aufgehört. Ihr arm war jetzt wieder ruhig, aber noch kalt. Statt einer Antwort spürte er ihren Händedruck. Sie atmete jetzt ruhiger; noch hörbar auffällig für Hermann, aber nicht mehr so krampfhaft angestrengt, wie kurz zuvor.
„Die Angst kam so plötzlich und so stark, Mann. „Von einer Zwangsvorstellung heimgesucht“, hätten wir das noch vor einem halben Jahr im Schulunterricht genannt. Niemals hätte ich geglaubt, dass so etwas existiert außer in billigen Romanen.“ Dann nach einer Pause:
„Du tust mir Gutes, Mann, aber auch gleichzeitig weh. Die langen Beine drücken mir die Schultern ein. Danke für deine Hand. Ach Hermann, warum nimmt das Rohr kein Ende? Bei unserem Training ging es viel lockerer als hier. Ich fühle mich immer noch schrecklich beengt. Habe mir alles viel leichter vorgestellt. Sag doch, wie kann ich mich schützen gegen diese Angst?“ Hermann hob die Füße von ihren Schultern ab und presste sie gegen die Innenwand des Rohres. Lange konnte er diese Stellung nicht beibehalten. Kurzzeitig eine prächtige Übung für die Bauchmuskulatur, dachte er. Immerhin, eine leichte Aufrichtung des Oberkörpers gelang. Er nahm jetzt die Form eines flachen Flitzebogens ein, dachte er. Den Bogen weiter durchzubiegen, verhinderte das Rohr.
„Die Vorstellung vom Platz im Grünen hat nicht gewirkt?“
„Nein, hat nicht gewirkt.“ Wieder der verzagte Tonfall, ein Grund zur Sorge. Es war ihr Ernst mit ihrer Klage und Hermann wusste keinen Rat. Er konnte ihr nicht zur Seite stehen, noch nicht einmal zur Seite liegen, das Rohr ließ es nicht zu.
„Dann ärgere dich gar nicht erst mit Vorstellungen herum, schließe einfach die Augen und öffne sie erst dann wieder wenn wir drüben sind. Bin bei dir, Elvira, es kann wirklich nichts Schlimmes geschehen, die Röhre führt uns mit Sicherheit zu einem guten Ende. Zusammen sind wir ein unschlagbares Kollektiv.“
Mehr Hilfe als fader Zuspruch war ihm verwehrt. Psychotherapie hatte nicht zum Pensum seiner Ausbildung gehört. Könnte sie doch ihre grundlosen Ängste abwälzen auf seine stärkeren Schultern! Es war unmöglich, die Hauptlast beim Überstehen der ungemütlichen Situation lastete auf ihr.
Merkwürdig, dass Elvira unter dem Einschluß so litt. Eine vorübergehende Irritation, mehr konnte nicht dahinterstehen. Eine flüchtige Platzangst, die weichen würde auch ohne seine Sprüche. Er täuschte sich nicht, dass sie auch schwach sein konnte, machte sie ihm lieber als zuvor. Er hatte sie lieb, bei aller Scheu vor dem Gebrauch großer Worte. Wenn es sich machen ließ und sie es sah wie er, würde er bei ihr bleiben auf lange Zeit, vielleicht für immer. Mandy in Leipzig würde unglücklich sein wenn sie davon erfuhr.
Er hätte, wäre es notwendig, hier stundenlang bequem verweilt. Erinnerungen tauchten auf an ganz frühe Kindertage. Damals zählte zu den Vergnügungen zuhause der Aufbau großer Zelte aus Wolldecken, mit Wäscheklammern an den Möbeln festgemacht. Zusammen mit dem Vater hatte er sie aufgebaut. Fertiggestellt, blieben sie dann ihm allein vorbehalten. Je niedriger die freie Höhe im Zelt ausgefallen war, desto größer die Lust an der Unzugänglichkeit für andere in seine Zuflucht. Er hatte seine Spielsachen hinein geschleppt und sich auf eine weiche Unterlage lang hingelegt. Ein Gefühl königlicher Absonderung von der Familie. Den Großen war der Zutritt durch sein Verbot streng verwehrt. Am liebsten hätte er die Unterkunft tagelang zu seinem Aufenthalt gemacht im Wohlgefühl der selbst bestimmten Abgeschiedenheit.
Hatte nicht auch ein Philosoph in einem Rohr sein Glück gefunden? Er unterbrach den Gedankengang. Abschweifungen waren ihm nicht erlaubt, während sie litt. Von hier unten jedenfalls mußten sie so schnell wie möglich zurück ans Tageslicht.
Erneuter Aufbruch half mehr als endlose Verlängerung der Pause. Bei aller Beklemmung, wußte Elvira sehr wohl, jedes Rohrelement, das sie hinter sich ließen, brachte sie näher an ihr Ziel.
Sie schien gestärkt. Die Hand hatte sich seit der tröstenden Berührung vorhin nicht erwärmt. Ihr Atem ging jetzt anscheinend wieder flacher. Überstanden der Anfall von Kleinmut und Ängstlichkeit, dachte Hermann. Sie hatte Kraft für den nächsten Abschnitt geschöpft. Er löste ihren Griff vorsichtig und schob sich wieder ein Stück von ihr weg in Richtung auf den unsichtbaren Ausstieg. Viel länger hätte die Kraft nicht ausgereicht für das Verharren in der unbequem verkrümmten Haltung.
Die Anstrengung hatte zuletzt auch bei Hermann Keuchen und einen beschleunigten Atemzug bewirkt. Sein Bauch schmerzte nach der ungewohnten Anstrengung. Die kurze Zeit mit angezogenen Füßen über Elviras Schultern hatten ihn mehr Kraft gekostet als die ganze bisherige Kriecherei.
„Jetzt schnaufst du auch“, hörte er sie sagen.
„Mir bleibt die Anfechtung nicht erspart. Kein Grund, sich dafür zu schämen. Was wir hier treiben ist schließlich keine Kleinigkeit. Wir halten das zusammen aus. Kurzes Atmen hilft gegen die Angst. Es pumpt mehr Sauerstoff ins Blut. Trübe Gedanken kommen gar nicht auf. Am besten ist, du versuchst es gleich jetzt.“ Er dämpfte das Geräusch der eigenen Atemzüge und lauschte dem gepressten Hecheln hinter sich.
„Ich glaube schon, dass es ein bisschen wirkt.“
„Soll ich wieder das Licht anknipsen vor dem Start“?
„Nein, ich halte die Augen fest zugedrückt. Du hast es doch selbst empfohlen. So oder so, vor Dunkelheit habe ich nie Angst gehabt.“
Sie krochen schweigend weiter. Elvira beherzigte auch Hermanns zweiten Rat. Ihr hartes Keuchen, regelmäßig zwischen gespitzten Lippen herausgepresst, begleitete den Zug. Seine Gedanken galten nur ihr. Er ertappte sich bei einem Stoßgebet. Mochte ein gütiger Gott im Himmel ihr Nervenstärke geben die nächste Viertelstunde lang. Ein Bewußtsein für die Gefahr von Panikreaktionen war ihm nicht fremd. Bliebe Elvira stark, während der kurzen Zeit, die noch durchzuhalten war, dann würde diese Tour ihr gutes Ende finden.
Der Sand machte ein schwaches Schleifgeräusch unter dem um nur an der Vorderhälfte um eine Handbreite aufgestützten Bauch. Erschien der Ton ihr zu leise, steigerte sie die Geschwindigkeit bis sie einen der Füße vor ihr mit den Händen spüren konnte. Hermann sprach nicht. Das heftige Schnaufen hinter ihm zeigte an, Elvira hatte Tritt gefaßt. Nein, Tritt war falsch, sie stießen sich vor allem mit den Knien vorwärts. Noch einigen Minuten weiter so, dann wollte er sich wieder melden mit dem Vorschlag zu einer neuen Rast.
Elvira arbeitete sich wortlos voran. Für einen Blinden, ausgesetzt in unbekannter Umgebung, musste das Gefühl ähnlich sein. Er konnte nicht wissen, wie der Raum begrenzt war, in dem er sich bewegte. Aber ein Blinder stünde aufrecht auf seinen Beinen da und hatte die Freiheit zum Ausstrecken in jede Richtung, nicht nur nach vorn. Der Weg vor ihr war frei von Hindernissen, hatte Hermann gesagt. Auf Hermann war Verlaß. Jedes Hindernis räumte er beiseite, auch das was noch warten würde am Ende dieser endlos langen Röhre.
Seitlich und über ihr war Dunkelheit. Unbegrenztes Dunkel, das sie nicht schrecken konnte, niemals geschreckt hatte bisher. Sie würde sich in halber Trance weiter voran winden und erst haltmachen wenn Hermann eine Ruhepause brauchte, immer mit dieser wohltuenden Atemtechnik, die diese Angst von ihr nahm. Wenn diese Angst nicht wiederkehrte, war sie bereit, sich zu verausgaben bis zur völligen Erschöpfung. Dabei stellte sich diese Anforderung doch gar nicht. Das Ziel lag nah. Hatte Hermann nicht eben gesagt, die zwei drittel Marke sei jetzt überschritten? Nur noch die Hälfte der strecke vor ihnen, die hinter ihnen lag!
Wenn sie die Augen öffnete, würde sie Licht von außen sehen. Keine Beengung mehr dann, keine Verstellung mehr in die Rolle einer Blinden. Sie würde aufrecht stehen und sich beliebig strecken in jede Richtung ihrer. Wahl. Endlich würden die Arme wieder ausgebreitet und frische Luft zu atmen sein.
Solche Bilder waren über sie gekommen, entgegen dem Vorsatz sich frei von Gedanken ganz zu versenken in eine gleichgültige Dunkelheit. Aber die Steuerung der Bilder im Kopf lag außerhalb ihrer Macht. Nur schwach abgeschirmt, eilte die Phantasie zum Ziel voraus. Wieder erwachendes Bewußtsein der eingeengten Lage gab Elvira erneut Angstimpulse ein. Die Gier des Körpers nach ungehinderter Bewegung lebte wieder auf. Noch war es zu früh für das das Einfordern des selbstverständlichen Rechts auf freie Ausbreitung im Raum. Dieses Verlangen war stärker als alle Selbstkontrolle.
Der Anfall kam rasch und stark. Das regelmäßige Geräusch der kurzen Atemstöße blieb aus. Stattdessen hörte Hermann hinter sich eine Tonfolge ähnlich schlecht unterdrücktem Lachen. Der Luftstrom in Elviras Hals schwang in einem ihm fremden Stakkato. Er konnte nicht unterscheiden, war dem Atemschöpfen ein Lachen oder Weinen unterlegt.
„Alles in Ordnung, Liebes“, rief er in das Dunkel und wusste doch, dass wahrscheinlich nichts mehr in Ordnung war. Ein Klagelaut, dann:
„Hilfe Mann, Luft“, nicht gesprochen die drei Wörter, sondern schmerzvoll in das Hecheln eingeschoben. Er wiederholte seinen Rat, der anscheinend nur kurz geholfen hatte:
„Schließ´ die Augen, Elvira atme wieder so wie vorhin. Wir sind fast da. Vorne sieht man schon schwaches Licht.“ Er hatte dem ersehnten Anblick vorgegriffen in seiner Not.
Statt einer Antwort hörte er schluchzende Laute, einem schweren Keuchen unterlegt. Zugleich ein klopfendes Geräusch. Der Übergang vom Eindruck des Lächerlichen zu diesem Elend war zu klein. Er knipste entgegen seinem Vorsatz von vorhin die Lampe an und leuchtete hinter sich. Elvira lag seitlich gegen die Rohrwandung gelehnt. Sie schlug die Ellenbogen im kurzen Stößen gegen einen Widerstand, der keine Ausbreitung erlaubte. Der offene Mund und weit aufgerissene Augen entstellten ihr Gesicht. „Endlich, wir haben es geschafft, ich sehe Licht“ kam, wieder in atemloses Hecheln eingebettet.
„Beruhige dich, alles wird ja jetzt gut, in ganz kurzer Zeit“, gab er zurück.
Sie schien nicht zu verstehen. Nichts gab sie Hermann zurück als ein gequältes Stöhnen, das kein Ende zu nehmen schien und dann verstummte. Hermann erschrak noch mehr über die Verzweiflung in ihrer Stimme als schon beim Anblick der leidenden Gestalt. Ohne den Tod Anderer persönlich noch nie miterlebt. Doch glaubte er zu wissen, die schauderhafte Not der Todesangst drückte sich aus in einem solchen Schrei. Was half sein Mitleid Sein eigener Schmerz und die Erschütterung halfen ihr nicht heraus aus dieser Not. Sein Mitleid brachte ihr keine Linderung. Er hatte sie hierher geführt und war wohlauf, sie litt Höllenqualen. War es sein Verdienst, dass er Platzangst nicht kannte? Die Lasten ihrer gemeinsamen Unternehmung waren ungerecht verteilt. Der Fall, den er seit ihrer ersten Klage befürchtet hatte, war eingetreten. Wo nahmen sie Hilfe her in dieser Unterwelt? Er sprach ohne Unterbrechung weiter, beruhigend bildete Hermann sich ein. Elvira bewegte schwach die Lippen. Außer dem hechelnden Geräusch brachte sie keinen Laut heraus. Das Licht schadete womöglich nur. Zeigte die Rohrwand an und machte die Enge um sie herum noch deutlicher, als sie, auch ohne Beleuchtung, spürbar blieb.
„ Ich komme wieder zurück zu dir wie vorhin“, stieß er aus, jetzt wieder in Dunkelheit gehüllt. Seine Stimme klang hilflos, längst hatte Hermann die vorgetäuschte Zuversicht eingebüßt
Wieder wand er sich ein Stück weit zurück, presste die Füße an die Rohroberseite und griff nach ihrer Hand. Die Finger waren kalt, aber sie zitterten nicht wie vorhin. Auf seinen Händedruck kam keine Erwiderung. Er verstärkte den Druck. Sie musste seine Nähe spüren können, selbst wenn sie schon am Rand einer Panik stand. Kein Zeichen des Verstehens kam zurück. Elviras Atem hatte sich zu leisem Fächeln abgeschwächt. Er flehte sie mit gepreßter Stimme an:
„Antworte doch, bitte, verflucht noch mal Liebes, antworte doch.“ Die Reaktion blieb aus. Hermann spürte die Tränen im Gesicht. War Elvira bewußtlos? Ein weiteres Stück drängte er sich zurück. Mit ausgestreckter Hand streichelte er über den Haaransatz und den lieben Kopf. Ihre Augen schienen halb geöffnet in der Dunkelheit; die Stirn ebenso kalt und leblos wie die Hand.
Er durfte nicht länger seine Beine halb auf ihre Schultern stützen. Wenn sie zu sich kam, würde er ihr in dieser Stellung eine Belastung sein. Hermann stützte die Füße mühsam wieder gegen das Rohrdach ab. Einzig ein klarer Kopf würde hier von Nutzen sein. Er war sich seiner Verstörtheit wohl bewußt. Hilflosen Hingabe an den Schmerz über das jammervolle Bild half ihnen nicht. Die Distanz zum Röhrenende betrug im Höchstfall hundert Meter. Mit einer letzten Kraftanstrengung würden sie die Strecke schaffen. Vielleicht würde ihr helfen, laut zu zählen oder Gedichte aufzusagen zur Ablenkung.
„Komm, machen wir uns wieder auf den Weg“, lautete der Satz, den ein ums andere mal, zu ihr hin gerichtet wiederholte. Brauchte sie so viel Zeit, sich von der Attacke zu erholen? Elvira blieb weiter die Antwort schuldig. Er hielt den Kopf zurückgewendet so weit das Rohr Platz dafür gab. Es gab keine andere Erklärung, Elvira war ohnmächtig geworden.
Er mußte jetzt abwarten bis sie aus der Bewußtlosigkeit erwachte, es blieb ihnen keine Wahl. Sobald sie bei Besinnung war, würde er versucht, sie hinter sich her zu schleifen. Sie würde sich an ihm festklammern und sich ziehen lassen, notfalls angebunden mit einer Schlinge an seinem Fuß. Jedenfalls aber mußte sie bei Bewußtsein sein.
Fünf oder zehn Minuten mochten verstrichen sein seit ihrem Zusammenbruch, als Elviras Stimme wieder zu ihm drang. Sie sprach ganz leise. Trotzdem klangen die Worte wie eine Erlösung in Hermanns Herz. Elvira lebte.
„Was ist hier los? Ich kann nicht weiter, Hermann, du musst Hilfe holen.“ Das zitternde Keuchen stellte sich wieder ein. Sie atmete hastig, schneller als normal aber nicht ganz so schnell wie vorhin bei ihrem Anfall.
„ Jetzt ist es nicht mehr weit. Wir schaffen auch das letzte Stück gemeinsam“, sagte er.
„Ganz ruhig so weiter wie vorhin und nur auf das Vorwärtskommen konzentriert. Halte dich fest an meinen Füßen wenn du willst. Wir kommen dann langsamer voran, aber immer noch rechtzeitig drüben an, ehe es draußen dunkel wird. Wir sind hier völlig sicher“. Sie gab nur zurück:
„ Nein, unmöglich, ich kann mich nicht bewegen, Mann. Vielleicht bin ich gelähmt“ die letzten Worte waren so leise gesprochen, dass er sie kaum verstand. Wieder nur Hecheln, das in Schluchzen überging. Hermann schlug Rezitieren von Gedichten vor. Er ahnte im Voraus die Nutzlosigkeit: von diesen Ratschlägen ging keine Beruhigung mehr aus. Er durfte sich kaum sicher sein, daß sie seine Worte verstanden hatte. Sie ging auch gar nicht auf den Vorschlag ein. Nach ein paar Minuten meldete sie sich hinter ihm:
„Geh bitte und hole Hilfe.“ Hermann Schrader bat sie um die Hängetasche mit ihrem Gepäck. Er würde dann eine Schlinge um ihre Schultern legen. Nein, sie könne sich nicht bewegen, hörte er wieder, jetzt haltlos flennend dabei wie ein kleines Kind. Erst nach zwei weiteren Bitten zum Aufbruch gab sie wieder Antwort:
„Hol Hilfe, ich kann mich nicht bewegen“ seine Beschwörung hatte nichts genützt. Die Starre ließ nicht nach. Abschreckend der Gedanke, sie hier allein zurückzulassen und sei es nur für kurze Zeit. Hermann zwang seiner Verzweiflung eine mühsame Überlegung ab. Die schnellste Hilfe würde die sein, die er selber brachte. Er konnte voraus kriechen zum Ende des Kanals und in Gegenrichtung gleich wieder aufbrechen zurück. Dann hatte er die Möglichkeit, sie mit den Händen hinter sich her zu ziehen. Das Tempo auf diesem zweiten Weg zum Ziel würde niedrig sein. Rückwärts kam er mit ihr zusammen nur langsam voran. Aber diese Bewegung rückwärts würde die Rettung für Elvira sein.
Der Vorsatz war ausführbar, aber Elvira blieb einige Zeit lang allein. Elvira musste nur die Zeitspanne durchhalten, die er brauchen würde für die Strecken zum Ausgang und zurück. Dann war er nahe bei ihr, Kopf an Kopf, und alles würde leichter sein. Ihre Erstarrung konnte dann nicht ewig dauern. Im schlimmsten Fall löste sie sich erst nach dem Ausstieg. Er erinnerte sich an ein Buch über Bergsteigerei. Auch dort kam bei Erschöpfung in Gefahr Angststarre vor. Seelische Belastung so stark, dass sie die Muskeln völlig lähmt. Wieder schlug er Elvira den gemeinsamen Aufbruch vor. Die Antwort kam klar aber ganz leise:
„Nein, unmöglich, ich kann nicht. Ich habe versucht, mich abzulenken. Erzähle mir selbst schon seit einiger Zeit Gedichte vor. Beeil´ dich“
„Hältst du solange alleine aus?“ Sie füsterte eine verzagte Zustimmung. Hermann schob sich noch einmal zu ihr hin, so, dass er mit der Hand ihr Gesicht streicheln konnte. Er spürte, die Augen waren ebenso tränennaß wie seine.
„Bald ganz bald bin ich bei dir zurück, dann helfe ich dir raus und du kannst dich wieder frei bewegen, Liebes.“
„Mach schnell“, waren die letzten Worte, die Hermann hörte, dann robbte er eilig von ihr weg. Die Taschenlampe hatte er ihr vorher in die Hand gedrückt.
Das Huhn hatte den Ausgang am Vortag ohne Schwierigkeit passiert. Für Hermann erwies sich die Restöffnung als zu klein. Es kostete ihn einige Mühe und Zeitaufwand bis die Erde vor dem Röhrenende wenigstens bis zur Rohrmitte weggeschoben war. Auch hier eine wenig auffällige Erdvertiefung, nicht hinter Büschen gelegen sondern in einem kleinen Wald! Mehr als einen kurzen Blick in die Runde war ihm Westdeutschland nicht wert. Nichts sah hier anders aus als auf der anderen Seite. Kein Westgrenzer ließ sich sehen. In der Richtung, aus der er gekommen war, erkannte er in einiger Entfernung den verfluchten Zaun. Die beiden Wachttürme erschienen nicht weiter entfernt zu sein als von der anderen Seite her gesehen.
Er nahm alle diese Eindrücke nur flüchtig wahr. Die Gedanken waren bei Elvira, zurückgeblieben in ihrer Verlassenheit in einem endlosen Kanal. Er hatte sich nicht einmal aufgerichtet, nur das Hemd ausgezogen, sich gestreckt, lang und breit, und hatte danach die Jacke wieder angelegt. Gleich danach hatte er kehrt gemacht, war in Gegenrichtung aufgebrochen.
Unterwegs zum Ausstieg schon war ihm bewusst geworden, er brauchte eine Zugvorrichtung. Der Riemen an Elviras Ledertasche war vielleicht zu schwach. Sie würden beim Weg zurück das Hemd als Ziehseil nutzen. Die Hemdsärmel verknotet, würde er sie mit dieser Schlinge fassen. Bei der Bewegung rückwärts blieben dann seine Hände frei. Er konnte sich gegen das Rohr abstützen und Elvira notfalls heraus schleifen, wenn auch im Schneckentempo. Immer vorausgesetzt, sie brauchte diese Unterstützung noch. Die halbe Ohnmacht, in der er sie zurückgelassen hatte, war vielleicht in der Zwischenzeit ihrer gewohnten Zuversicht gewichen. Hatte sie sich inzwischen auf den Weg gemacht, dann trafen sie sich jetzt jeden Augenblick hier im Dunkel. Überzeugt war er von der Erwartung nicht. Warum machte sie sich nicht wenigstens bemerkbar durch Antwort auf sein Rufen?
Er würde ihr wieder nah sein können, seine Arme, nicht die schmutzigen Schuhe nahe bei ihrem Gesicht. Die Nähe zwischen ihnen hatte sie mehr als einmal alles andere vergessen lassen. Sie würde auch jetzt wieder Wunder wirken, wenn das noch nötig war. Den Gedanken, dass in der Zwischenzeit sich nichts gebessert hatte, unterdrückte er so gut es ging. Es gelang ihm schlecht. Hässlich nagte im Kopf die Furcht, Elviras Zustand habe sich in der Zwischenzeit verschlechtert. Er erlaubte das nicht, es durfte nicht sein. sie gehörten zusammen; keiner, auch nicht der liebe Gott, durfte schuld daran sein, dass sie litt. Mit ausgetrocknetem Mund stammelte ein immer gleiches Stoßgebet.
Während der vielleicht zehn Minuten bis zum Rohrausgang hatte er mehrere Male den Kopf gewendet und gebrüllt: „Bin gleich zurück.“
Die Stimme trug anscheinend nicht weit. Ihm selbst war sein Ruf schrill und dabei kraftlos vorgekommen. Keine Verstärkungswirkung! Wahrscheinlich schluckte die Röhre den Schall statt ihn zu verstärken. Eigentlich durfte das nicht sein, sagte ihm sein Sachverstand. Vielleicht dämpfte die feuchte Oberfläche im Rohr oder die Schlammschicht unter ihm die Weiterleitung.
Jetzt, auf dem Rückweg, schrie er in kurzen Abständen in die leere Dunkelheit vor seinem Gesicht:
„Ich komme“, „habe Hilfe dabei.“ Sie meldete sich ebenso wenig wie vorhin. Dann war Elvira erreicht. Seine Hände berührten ihren ausgestreckten Arm. In der Finsternis hatte er sie auch auf einen halben Meter Abstand vorher nicht gesehen.
„Endlich, Liebes, ich bin so froh. Du wirst sehen, alles wird gut“, keuchte er, noch erschöpft von der hastigen Vorwärtsbewegung im Rohr. Er streichelte ihre Hände und führte sie, aneinandergelegt, vor seinen Mund. Ihre Finger verteilten die Tränen aus seinen Augen über das Gesicht. Seit er sie allein gelassen hatte, waren sie in seiner Hilflosigkeit geflossen. Hermann schämte sich nicht dafür.
Immer noch zeigten die Hände die gleiche Kälte wie vorhin. Sie sprach kein Wort, auch bei der tröstenden Berührung ihres Kopfes und des Gesichts. Eine unsinnige Angst stieg in ihm auf. Er rief sich selbst halblaut auf zu Übersicht und Nüchternheit. So wie vorhin, würde sie zu sich kommen nach einiger Zeit. Er fühlte nach dem Puls am Handgelenk. Anscheinend zu schwach für eine zitternd suchende Hand. Auch vorhin hatte er ihren ganz leisen Atem kaum gehört, ehe sie zu sich kam. Jetzt keuchte er selbst zu laut. Erst mußte er selbst zu mehr Ruhe kommen, vorher hielt er in seiner Gefühlsverwirrung schwache Sinneseindrücke nicht auseinander.
„Komm zu Dir, das Schlimmste ist vorbei. Ich bin bei dir und ziehe dich heraus. Du musst dich selbst nicht mal bewegen.“.
Die Worte, mehr angstvoll gestammelt als klar gesprochen, hörte Elvira nicht. Wieder wurde ihm Geduld zum Warten abgefordert wie vorhin, sagte sich Hermann. Er wollte sie nicht noch einmal ängstigen durch die Beleuchtung der Misere. Es würde nur zusätzlich die Enge deutlich machen. Dann löste er die Lampe doch aus ihrer Hand und machte Licht. Elvira blickte ihn mit offenen Augen an. Sie lag seitlich leicht angelehnt an der Wandung des Rohres und schlief. Die Hände waren dort auf den Boden gesunken, wo er sie eben losgelassen hatte. Das Gesicht, obwohl verschmiert durch Tränen und Dreck, drückte Frieden aus. Er hatte sie mit diesem Ausdruck einige mal schlafen sehen und sich an ihr gefreut. Nur die offenen Augen passten nicht ins Bild.
Wieder beschwörend und behutsam zugleich:
„Komm zu dir“, ein Anruf, der sie nicht mehr erreichen sollte? Konnte es sein, dass sie nicht mehr am Leben war? Hermann hatte keine Erfahrung mit dem Tod. Furcht packte ihn, die drohte, ihm den Verstand zu rauben. Zu seinen Tränen trat lautes Protestgeschrei. Er durfte sie nicht verloren haben. Ein Ende, so schrecklich und so früh, ließ ein gütiger Gott nicht zu. Keiner hatte verdient, in einer solchen Röhre elend zu krepieren. Ausgeschlossen, dass man als junger Mensch an Platzangst starb. Sie würde die Augen wieder schließen wenn diese Ohnmacht überstanden war. Vorsorglich würde er erste Hilfe leisten. Das konnte nicht völlig falsch sein wenn ihre Atmung so schwach war, dass er sie nicht hören konnte. Hermann schob seinen Kopf neben ihren und versuchte sich ungelenk in Reanimation. Öffnete ihren Mund und presste, rhythmisch wiederholt, Luft hinein. So hatte man es ihm vor Jahren in einem Kurs beigebracht. Lang wartete er dann, forderte mit hilflos wiederholter Anrufung vergeblich ein Lebenszeichen.
Elvira kam nicht zu sich. Beide mußten sie erst mal raus aus diesem Verlies! Er schlang die Ärmel seines Hemdes zu einem festen Knoten. Die Schlinge wand er keuchend um Elviras Rücken und führte sie unter den Schultern durch. Vorsichtig legte er ihre Arme zurück an die Seiten, so, dass sie die Bewegung nach vorne nicht behinderten. Vorder- und Rückenteil des Kleidungsstückes legte er zwischen die Zähne und bog den Kopf hoch in den Nacken. Elvira bewegte sich. Sie waren bereit. Auf diese Weise war langsamer Fortschritt zum Ausgang möglich. Einen Augenblick lang bedachte er, es würde sogar zu ihrem Vorteil sein, wenn sie erst draußen wieder zu Bewußtsein kam. Dann würde die Enge schon überwunden sein, die ihr beinahe zum Verderben geworden war. Die freien Hände gegen die Rohrwand abgestützt, schob er sich zurück. Elvira folgte erst anschließend, willenlos in ihrer Schlinge. Etwa einen halben Meter Fortschritt brachte jeder Zyklus. Der Ablauf war zeitaufwendig, aber er führte zum Ziel. Vorsicht war geboten in Anbetracht der Haltbarkeit des Stoffes. Kein Hemd der Welt, auch nicht sein Hemd der HO in Leipzig war für solche Beanspruchungen ausgelegt. Sollten die Ärmel an den Schulternähten reißen, hätten sie keinen Ersatz. Er zog immer soweit möglich behutsam an. Einstweilen widerstand der Stoff. Elvira blieb weiter stumm. Er konzentrierte sich jetzt ganz auf das Geschäft der Fortbewegung.
Nach etwa dreißig Metern hörte er ein schwaches Geräusch, als löse sich eine Naht. Hermann verdoppelte seine Vorsicht jeweils wenn er die Schlinge zu sich zog. Glitt Elvira erst einmal zu ihm hin nach dem kleinen Ruck, den er brauchte, die Bewegung einzuleiten, fiel der Widerstand immer deutlich ab.
Ohne ein auffälliges Hindernis auf ihrer Bahn, riß dann einer der Ärmel glatt ab. Hermann hätte gerne laut aufgeheult vor Enttäuschung. Diesmal gewannen Kopflosigkeit nicht die Oberhand. Wenn die Schlinge die Belastung nicht aushielt, würde er mit einer Hand Elvira hinter sich herziehen bis zum Verlassen dieser Hölle. Er wendete ihren rechten Arm vorsichtig unter dem Rohrdach zu sich hin. Dann schob er sich soweit von ihr weg, dass seine linke Hand ihre Rechte gerade fassen konnte. Stützte sich mit seinem freien Arm und den Füßen gegen die Rohrwand ab und versuchte, sie zu sich heranzuziehen. Die beiden Körper bewegten sich ein kleines Stück aufeinander zu, Hermanns etwas weniger in Elviras Richtung als sie hin zu ihm. Seine stützend Hand war abgerutscht. Die Nässe an der Oberfläche hatte nicht den Halt gegeben, die zum Aufbringen der Kraf notwendig gewesen war. Elvira war um nicht mehr als zehn Zentimeter zu ihm nach vorn gerutscht. Er versuchte es noch einige male, immer wieder mit gleich enttäuschenden Erfolg.
Hermann keine Tränen mehr. Er sah die Zwecklosigkeit dieser Bemühung ein. Stumpf flüsterte er sein immer wiederholtes „Komm zu dir“ auf sie ein. Innerlich wusste er längst, sie würde nie wieder zu sich kommen. Das leichte Fächeln des Atems von vorhin war ausgeblieben. Seit er zurück war, ging Totenstille von ihr aus. Totenstille. Hermann schauderte bei dem Wort. Der Lichtschein der Lampe zeigte, der Anblick war unverändert. Die geöffneten Augen blickten ihn scheinbar unbeteiligt an. Hermann Schrader riß seine Lippen auseinander zu einem Schrei, der ihm nicht gelang. Er hielt den Schrecken nicht länger aus. Schob sich von ihr weg mit der eiligen Gangart einer Robbe an Land, nicht mehr in schlängelnder Bewegung sondern auf flach angewinkelte Ellenbogen und die Knie statt die gestreckten Beine abgestützt, trat er den Fluchtweg an. Die Lampe blieb bei Elvira zurück. Sie erschien ihm im Nachhinein wie eine Grabbeigabe.
Hermann erreichte zum zweiten mal das Röhrenende. Er kroch ins Freie. Warf sich wie vorher auf voller Länge in eine Mulde auf den Rücken. Immer noch umgab ihn ein heller warmer Sommerabend. So wie er das letzte Rohr verlassen hatte, ohne die Jacke auszuziehen, streckte er sich mit geschlossenen Augen aus. Er zitterte am ganzen Körper, so wie Elvira vor einer halben Stunde. Hermann Schrader fürchtete um seinen Verstand.
Seit einer Woche stand die Grenze offen. Ausweise wurden kaum mehr ernsthaft kontrolliert. Die argwöhnische Beschränkung des Grenzverkehrs war fast von einem auf den anderen Tag gefallen. Wer es einrichten konnte in der DDR, nutzte die neue Bewegungsfreiheit aus. Zahlreich schwärmten die Menschen aus zum ersten Besuch in Gebiete, die man ihnen lange Jahre vorenthalten hatte. In Eile trat man kleine Erkundungsfahrten an. Keiner konnte sich sicher sein, daß dem Sinneswandel in der Staatsspitze Dauer beschieden war.
Reisende berichteten über unglaubliche Großzügigkeit der Behörden beim Passieren ihrer Grenze West. Nicht nur neugierige Bürger der DDR, auch viele Menschen aus Westdeutschland nutzten die neue Freiheit zu einem Besuch im Nachbarstaat. Vorher hatte man ihnen den Besuch bei den Landsleuten im Osten absichtlich schwer gemacht. Der Nachweis einer Einladung, Zwangsumtausch in DDR-Mark, die Anmeldung am Zielort, all die ungewohnten Beschwernisse waren über Nacht gefallen.
Anscheinend hatte die Führung der DDR unter dem Druck der Vorgänge in Berlin und Leipzig einen Schwenk von früher scharfer Überwachung zu grenzvergessener Großzügigkeit vollzogen. Unfaßbar nachsichtig im Vergleich zu früher sei das Verfahren an den Kontrollstationen. Man reise völlig problemlos ein und ebenso wieder aus. Ein krasser Gegensatz zur Erfahrung des Wartens auf Abfertigung, so hatte sich das bürokratische Verfahren noch vor einer Woche genannt. Besucher der DDR kannten das Gefühl, Schikanen und Willkür ausgesetzt zu sein.
Hermann Schrader, 36 Jahre alt, Copilot der Frachtfluggesellschaft „Lineas Aereas Commerciales“ mit Firmensitz in San Jose, Costa Rica, brach unter den neuen Bedingungen auf zu einem Besuch der alten Heimat. Kein Mensch hatte verstanden, warum er so lange gewartet hatte. Immer hatte er zuvor als Grund Angst vor Verhaftung angegeben. Man hatte ihm nicht geglaubt, daß der Nachbarstaat nach dreizehn Jahren noch Vergeltung suchen würde. Die Bekannten hatten ihn einen Angsthasen genannt. Das Delikt Republikflucht sei für die Behörden drüben längst verjährt. Nach der Flucht aus der DDR vor dreizehn Jahren war spätestens jetzt ein Besuch überfällig.
Vorgänge von einiger Bedeutung hatten sich abgespielt vor ein paar Tagen. Das Wort von der historischen Tragweite schien vielen nicht zu hoch gegriffen. Grenzen hatten sich geöffnet, die man noch bis zuletzt als dauerhaft schwierige Hindernisse hingenommen hatte. Gleich am ersten Tag nach der Freigabe hätte er sich aufgemacht an seiner Stelle, hatte Rohrbach ihm gesagt.
Erst jetzt, als alle Welt schon gewöhnt war an den Anblick der Trabant-und Wartburg - PKW aus volkseigener Produktion auf westdeutschen Autobahnen, machte sich Hermann Schrader auf den Weg. Drei Tage hatte er frei. Keine Kleinigkeit, der Einbau dieser paar Tage in den Flugplan seiner Linie. Die Leute in der Europa-Zentrale hatten eigens die Personaleinteilung umdisponiert für den Nostalgie-Besuch. Die drei Tage waren nur dank Entgegenkommen der Kollegen frei geworden. Rohrbach und Teuner und Gundloff hatten es gut mit ihm gemeint und sich auf ein kompliziertes Tauschgeschäft ihrer Einsatztermine mit seinen eingelassen. Das Zeitfenster für ihn könne sich bei längerem Zuwarten sonst wieder schließen, hatten sie den Zögernden gemeinsam überzeugt. So hoch also war der Aufwand gewesen, damit Schrader die Zeit fand für den überfälligen Besuch der Heimat.
Rohrbach und Gundloff hatten freiwillig ihre Pausen zwischen zwei Einsätzen so verkürzt, so dass gerade noch die Mindestdauer nach IATA- Vorschrift eingehalten blieb. Teuner hatte einen Urlaub aufgeschoben. Klar, dass Schrader das in Ordnung bringen würde. Er war gut bedient mit der Hilfsbereitschaft und dem Zusammenhalt dieser drei. Schrader nahm sich nicht aus in diesen Eigenschaften. Die häufigen gemeinsamen Flüge hatten aus Kollegialität allmählich Kameradschaft werden lassen. In der Firma wurden sie inoffiziell als das deutsche Kleeblatt aufgeführt.
Schrader verdiente sein Brot als bei der Fluglinie Lineas Aereas Commerciales. Eine Gesellschaft ausschließlich für den Frachtverkehr über die lange Strecke. Die Flotte hatte sich aus bescheidenen Anfängen Jahre zurück inzwischen zum Umfang von fünf vierstrahligen Jets ausgedehnt. Das fliegende Gerät geriet nicht fabrikneu in den Bestand der Firma sondern wurde aufgekauft aus zweiter und dritter Hand, meistens aus Nordamerika. Schrader konnte aus eigener Sachkenntnis bestätigen, ihr Zustand war technisch einwandfrei. Einzeln hatte die Behörde für Flugsicherheit im Herkunftsland die vierstrahligen Jets sorgfältig inspiziert und ohne Einschränkung für den Frachtbetrieb freigegeben. Zwei Boeings waren für den Einsatz ausschließlich im Frachtverkehr ausgelegt, die anderen, Convair- Jets von älterem Semesters, hatte man vom Passagierflugzeug erst nachträglich zum Frachter umgebaut. Die vorgeschriebenen Haupt- und Zwischeninspektionen fanden wenn immer möglich jeweils in Spanien statt. Die Gesellschaft bediente Routen von Europa über den Atlantik nach Mittelamerika. Gelegentlich ergänzte man diese Stammrelation um Flüge nach Afrika und Fernost. Der Flugplan richtete sich nach dem Bedarf der Kundschaft. Die L.A.C. galt unter den Partnern im Geschäft als flexibel und nicht übermäßig konventionell. In Fragen der Sicherheit schätzte die Flugaufsicht sie zu Recht als verläßlich ein. Ein Prämiensystem stand als Grundlage hinter dem wirtschaftlichen Erfolg. Nach außen hin hielt man es sorgfältig verdeckt.
Das fliegende Personal nahm seine Arbeit ernst. Jederzeit war das Bewußtsein der großen Verantwortung in der Luftfahrt wach. Bei aller Anspannung im Cockpit blieb man aber im privaten Miteinander angenehm gelassen.
Vorschriften, die direkt die Sicherheit betrafen wurden streng überwacht und wurden schon im eigenen Interesse nicht angetastet, aber man war Erwerbsbetrieb. Erfolgreiches Wirtschaften rangierte gleich hinter der Sicherheit. Kein öffentlicher Haushalt käme für mögliche Verluste wegen überzogener Auslegung der Regeln auf. Die Linie beförderte letztlich nur Luftfracht, keine Menschen. Unnachsichtig eingehalten wurden von der L.A.C. aber alle Erfordernisse mit direktem Bezug zur Sicherheit. Die Aufsichtsbehörde verstand hier keinen Spaß. Wo die Lizenz ihrer Gesellschaft auf dem Spiel stand, endete jedes Schielen nach einer Prämie.
Nicht alle Vorschriften aus den Tiefen der Regelwerke für den Luftverkehr verdienten uneingeschränkt diesen Respekt. Manches war erkennbar nur Zumutung ohne sachlich überzeugenden Grund. Sie hatten die Kenntnis unzähliger Vorschriften schriftlich quittiert, natürlich. Aber bestand nicht auch Anspruch auf Spielraum für die Kompetenz eines erfahrenen Piloten? Es gab in seinem Beruf Verfahrensweisen und Entscheidungen abweichend vom Katalog der Vorschriften, deren schadlose Folgen er deutlich übersah. Wenig sinnloser Aufwand sich umgehen ließ in Bereichen, die der Behörde eigener Kontrollen nicht wert erschien. Hier setzte das Prämiensystem an. Schrader sah für sich in der Freiheit zur selbständigen Entscheidung ein Stück Emanzipation, das er sich schuldig war. Wo es vertretbar erschien, war er im Interesse des Ganzen bereit zum Kompromiß. Schließlich blieb er auch nicht an Fußgängerampel stehen bis das grüne Signal erschien. Er nahm nicht zu Unrecht an, die Kollegen hielten es ebenso.
Die Geschäftsleitung in San José ebenso wie die Europazentrale in einem Vorort von Frankfurt hätte jede Abweichung von der unbedingten Treue zum Regelwerk nach außen hin bestritten. Intern drückte sie die Augen zu. Die Eigentümer erwarteten zu Recht, daß man Grauzonen ausnutzte zum Wohl der Linie. Verborgene Reserven gehörten zugunsten der Wirtschaftlichkeit ausgeschöpft. Keiner verlor bei diesen Kunstgriffen, im Gegenteil. Die Linie profitierte. Die Flieger hatten sich ihre Prämien durch eigenständiges Entscheiden redlich verdient.
Die L.A.C. dankte ihrem Personal durch anhaltendes Gedeihen. Der Markt für Flugfrachten über den Atlantik wuchs. Ein Ende der Expansion war auf Jahre hin nicht absehbar. Schrader fühlte sich wohl an seinem Platz im Cockpit. Man schätzte seine Arbeit. In nicht allzu langer Zeit erwartete er trotz der relativen Jugend die Beförderung zum Kapitän.
Er war jetzt 36 Jahre alt. Die Schwierigkeiten des Anfangs in seiner neuen Heimat lagen jahrelang zurück. Er hatte sich eingerichtet in der Welt, die ihm zuerst fremd erschienen war. Die ersten Wochen nach dem Übertritt hätte er aus der Erinnerung gern gestrichen. Er war kein Masochist. Ging er nach der Schilderung von Gerd, dem Mann seiner Cousine, war er eines Vormittags in Ostheim aufgetaucht und hatte sich als eben Zugereister vorgestellt. Der Eindruck, den er bei den Verwandtschaft hinterlassen hatte, konnte nicht schmeichelhaft gewesen sein.
Gerd hatte die Szene wiederholt beschrieben. Anfangs gebremst durch Rücksicht auf Hermanns schlechte Verfassung, hatte es an Zurückhaltung und Feingefühl nicht gefehlt bei der Schilderung. Später dann, Jahre nach seinem Grenzübertritt, hatte der Schwerpunkt sich auf die Komik verlagert, die unfreiwillige Begleiterin der Situation gewesen war. Ein Anflug von Spott lag seither über der Darstellung des Vorganges, den Gerd niemand übelnahm. Das Ego des angeheirateten Cousins aus Leipzig war längst gefestigt. Bei der Beschreibung der Szene hielt der unfreiwillige Protagonist eigenes Lachen dennoch stets zurück. Zeitpunkt der Ankunft musste ein Samstag- oder Sonntagmorgen Ende August im Jahr 1976 gewesen sein
„Richtig bei Mahlmann hier?“, habe der für Gerd völlig Unbekannte Schrader herausgestoßen. Der Mann habe ausgesehen wie ein Strolch, einen Rucksack über der Schulter getragen und sich mit der rechten Hand krampfartig an eine Jacke geklammert, die allem Anschein nach in Schlamm gebadet war.
„Sie wünschen?“, habe Gerd ihn gefragt und sich selbst, wieso war ausgerechnet ihr Haus Ziel einer Bettelei. Almosensuche und Gelegenheit zu Mildtätigkeiten am Tor seien nicht üblich gewesen in diesem Wohnviertel von Ostheim. Er habe den abgerissenen Vagabunden von weitem kommen sehen. Anscheinend sei er auf der Suche nach dem Haus mit ihrer Postanschrift gewesen. Einige Tage lang nicht rasiert, ungewaschen, übernächtigt wirkend, verwirrter Blick! Eindruck für ihn, ein Mensch in Schwierigkeiten. Gerd wiederholte aus der Erinnerung gern ihren Dialog:
„Ja, also, wenn es auch wenig erfreulich für die Verwandtschaft ist, ich bin der Hermann. Komme aus Leipzig über Umwege hierher.“
„Was heißt hier Hermann? Kenne keinen Hermann. Schon gar nicht einen, der aus Leipzig kommen könnte. Sind sie allein oder haben sie vielleicht auch Dorothea mitgebracht? Soll der Besuch ein Späßchen für uns sein?“ Dann, mit Blick auf die unübersehbare Hilfsbedürftigkeit:
„Sie sollten jemand haben, der Ihnen hilft.“
„Dorothea kommt nicht. Sie wird niemals kommen.“ Der Mann hab verstört und weinerlich gewirkt. Gerd war nicht der Einzige im Haus gewesen. Seine Frau war in den Flur und hatte ihm, unsichtbar vom Hintergrund aus zugerufen:
„Liegt was dringendes an? Kann ich behilflich sein?“ Gerd habe geantwortet:
„Hermann ist hier, Dorothea ist nicht mitgekommen.“ Dann hatte die Einsicht überwogen, der Mann habe vielleicht Spott nicht verdient. Zumindest sei er kaum zur Würdigung von Späßen aufgelegt gewesen. Nicht weit entfernt von Ostheim habe man damals kurz zuvor eine psychiatrische Klinik aufgemacht. War der Mensch entsprungen und suchte nun ausgerechnet ihn, Gerd Mahlmann heim? Seine Frau war, mit Unmut im Blick, dazu gekommen.
„Gib ihm eine Mark; wir haben noch zu tun“. Der Vagabund habe beide aufmerksam gemustert. Habe sich mit den Händen flächig über das Gesicht gerieben, dann zu Gerd Mahlmanns Frau gesagt:
„Als du zehn Jahre alt gewesen bist, habe ich dich auf dem Fahrrad durch den Park kutschiert, Cousine. Sage nicht, dass du das vergessen hast.“
„Cousine, Hermann, Hermine, was soll dieses Theater Mann?“ Gerd Mahlmann sei ärgerlich geworden.
„Sie sollten sehen, dass sie den Weg zurückfinden in Ihre Klinik. Auf schnellstem Weg, nicht erst mit dem Umweg über Leipzig. Wenn Sie wollen, fahre ich sie hin. Die Jacke kommt in den Kofferraum.“ Schraders Cousine Evelyn Mahlmann sei nachdenklich geworden. Die Beschwörung der Verwandtschaft in Leipzig sei vielleicht nicht aus der Luft gegriffen. Als Kind war sie zweimal mit ihren Eltern zu Besuchen der Messe mitgefahren. Auch ein Ausflug in den Wald oder einen Park nahe einem großen See war schwach in Erinnerung. Ihre Großmutter, die nicht mehr lebte, hatte in Leipzig einen Bruder. Zu den Leuten dort drüben bestand schon lange kaum noch Kontakt. Es mochte sein, dass die Eltern sich noch dann und wann Briefe mit diesem Verwandten schrieben. Der Junge, mit dem sie gespielt hatte, konnte im schlimmsten Fall ein Enkelsohn des Großonkels gewesen sein.
Wenn dieser abgerissene Typ keine Komödie spielte, dann waren sie und er Cousin und Cousine zweiten Grades. Keine enge Verwandtschaft, aber auch keine Fremden! Sie hatte sich an kein Gesicht mehr aus der Zeit in Leipzig erinnert. Der Junge damals müsse ein paar Jahre älter als sie gewesen sein. Einmal seien sie mit dem Fahrrad umgekippt. Keiner habe sich dabei verletzt. Die Mutter habe sich übertrieben besorgt gezeigt und gemahnt, sich besser mit den kleinen Cousinen abzugeben, die wilden Burschen seien nichts für sie. Sie habe Hermann gemustert und bekannt, Präferenz für wilde Burschen sei ihr auch früher schon nicht fremd gewesen.
Der Name Hermann sei nicht gefallen damals während der Messetage. Wäre es anders gewesen, sie hätte den Namen nicht vergessen. Wenn sie sich richtig erinnerte, habe sie ihren Cousin Schorsch genannt. Schorsch Schrader, war ihr der Name wieder eingefallen. Ihre Mutter hatte ihn vor längerem erwähnt, als von frühen Zeiten die Rede gewesen war.
Der Mann hier vor ihnen hatte sich Hermann genannt. Dass er aus Leipzig kam, war ausgeschlossen. Leute in seinem Alter und seinen sie auch nicht bei Trost, gab der Staat drüben zur Ausreise keine Gelegenheit. Das Lamento über die beschränkte Reisefreiheit war allgemein bekannt. Man hatte längst den Zustand achselzuckend und ohne sonderliches Bedauern akzeptiert. Wer keine Verbindung nach drüber hatte, den ließ das Thema kalt. Es wurde Zeit für die Brüder und Schwestern, sie fanden sich damit ab. Schließlich konnte man aus der DDR ja immerhin in Länder weiter östlich reisen.
Eine Zumutung, wenn tatsächlich ein Mitglied der entfernteren Verwandtschaft aus Leipzig als abgerissener Vagabund nach Ostheim gekommen war! Zumindest eine Voranmeldung und ordentliche Aufmachung hätten sich gehört.
Sie habe ihn bei dieser Überlegung unsicher angeblickt. Abgekämpft und erschöpft habe er ausgesehen, sonst aber nicht übel der Statur nach und im Profil. Die wenigen Worte, die er gesprochen habe, konnten Beleg dafür sein, dass er aus der Gegend um Leipzig kam. Sein Zungenschlag war im Hessischen nicht zu Hause. Gewaschen und gekämmt der Bursche, in ordentlichem Aufzug, bestand kein Grund zur Verlegenheit wegen familiäre Nähe. Sie war an die beiden vor der Tür herangetreten, habe ein zögerndes:
„Hallo, guten Tag“ gesagt, einen Gruß den man auch einem abgerissenen Zeitgenossen schuldig gewesen sei.
„Die Geschichte der gemeinsamen Radtour muß eine Verwechslung sein. Ich war wohl früher schon in Leipzig. Mit einem Hermann habe ich noch keine Fahrradtour gemacht und auch von einer Hermine weiß ich nichts.“ Wieder glotzte der Fremde sie aus den übernächtigten Augen an
„Georg Hermann Schrader. Keine Erinnerung mehr an damals? Wenn schon, ich selber habe auch einiges zu vergessen. Bin von der Ausfahrt der Autobahn aus bis hierher gelaufen. Wohnen die Eltern noch in Offenbach? Bringt mich bitte hin wenn Ihr ein Auto habt.“ Evelyn Mahlmann sei jetzt erst überzeugt gewesen. Schorsch, Georg, der Name Schrader gehörte zur Verwandschaft in der DDR. Offenbach, der Wohnort ihrer Eltern; alles passte zusammen. Sie habe abwechselnd zum Besucher Hermann alias Schorsch und zu ihrem Mann Gerd geblickt, habe sich dann einen Ruck gegeben und die Arme ausgebreitet.
„Armer Kerl, Georg, alles doch kein Grund für Tränen bei einem ausgewachsenen Mann.“ Sie habe ihm mit diesen Worten einen vorsichtigen Willkommensgruß mehr neben die Wange als auf die verschmierte Haut gehaucht.
„Gerd, wenn wir beide hier uns nicht ganz missverstanden haben, besucht uns der Enkel Georg meines Onkels Ernst aus Leipzig“.
Gerd habe nicht schlecht gestaunt über den Sinneswandel seiner Frau. Trat ihre Verwandtschaft Besuche in diesem Aufzug an? Habe säuerlich angemerkt, ganz so übel sollte es doch inzwischen nicht mehr zugehen im Arbeiter- und Bauernstaat. Mochte auch ein entfernter Bezug zu Evelyn vorliegen, der Mann war ihm gestört erschienen. Selbst wenn hier ein Wiedersehen vor sich ging, sei das kein Grund zu Tränenseligkeit in Dreck und Speck. Natürlich sollte er Hilfe haben, das sei man der Verwandtschaft schuldig.
Das Badezimmer hatte Hermann aufgenommen. Warum stand nicht am Ende der Fahrt das Bad See? Er hatte sein Versprechen an Elvira nicht gehalten. Wieder war dieses Würgen in den Hals gestiegen. Es wurde durch Tränen nur wenig abschwächt. Dieses mal hatte er sich die Linderung versagt, die sie mit sich brachten. Natürlich waren Tränen nicht am Platz gewesen. Der Druck ließ sich kurze Zeit lang ertragen wenn er sich sehr zusammennahm.
Ein jämmerlicher Anblick, sein Gesicht im Spiegel! Erstaunlich, dass die beiden Autofahrer gestern diesem Strolch die Mitfahrt angeboten hatten. Er hatte sich an ihr Zögern nach dem Stopp erinnert, als er an das Auto herangetreten war. Der Tag war noch jung gewesen nach Beginn der Morgendämmerung. Im schwachen Licht hatte man das verschmierte Äußere erst spät erkannt. Er war dankbar gewesen, dass man ihm wenigstens die Mitfahrt auf der Ladefläche zugestanden hatte.
Kaltes Wasser hatte der Stirn und den rot unterlaufenen Augen gut getan. So kannte er sich wieder. Durfte er guten Gewissens in den Spiegel schauen? Warum war Elvira nicht an seiner Seite? Der Empfang hätte anders ausgesehen wenn sie mit ihm zusammen eingetroffen wäre.
Seine Cousine Evelyn hatte ihm ein Hemd und ein paar Sachen durch die Tür gereicht. Stamme von ihrem unangenehmen Partner namens Gerd, hatte Hermann angenommen. Gerade noch hatte der ihn unverschämt ausgelacht. Sollte er eingehen auf das Angebot? Schrader hatte eingesehen, so wie er hier angetreten war, durfte er keine Wendung zu mehr Respekt erwarten. Er hatte sich die Unterwäsche, Hemd und Hose angezogen. Auch nicht besser gewesen, die Qualität, als die aus der HO! Der Tag solle nicht ausbleiben, an dem er sich revanchieren würde für die herablassende Mildtätigkeit vom hohen Roß.
Ein äußerlich verwandelter Hermann Schrader war aus dem Zimmer herausgetreten. Nur Evelyn hatte nebenan gewartet. Ihr Mann Gerd hatte sich absichtlich abseits aufgehalten. Diskretion beim Wiedersehen der lange getrennten Cousins war angebracht erschienen.
Die Szene war Schrader bei jeder Wiederholung des Berichtes über seine Ankunft in Ostheim deutlich in Erinnerung getreten: Evelyn stellte keine Fragen, nahm vermutlich an, ihr Cousin brauche erst einmal seine Zeit zur Orientierung. Was hatte ihn so extrem aus dem Gleichgewicht gebracht? Sie wollte wahrscheinlich nicht aufdringlich wirken gegenüber dem unerwarteten Besuch. Wenn sie jetzt in ihn drang, würde er nicht zu Unrecht ungehörige Neugier unterstellen. Auch Hermann sprach zunächst kein Wort. Schließlich brach sie das Schweigen:
„Damals habe ich dich Schorsch genannt. Warum jetzt Hermann“?
„Aus Widerwillen gegen einen Klassenkameraden, der auch so hieß. Alle haben sich schnell daran gewöhnt“
„Meine Eltern sind erst heute Nachmittag wieder zuhause. Du musst sehr müde sein. Kannst hier gerne bleiben, bis es dir besser geht, auch einige Tage wenn du willst. Unser Platz hier reicht aus. Selbstverständlich fahren wir heute Nachmittag zusammen nach Offenbach. Es ist kein weiter Weg. Ich bin mir sicher, die Eltern freuen sich. Ihr müsst euch von früher her noch besser kennen als wir zwei.“ Hermann gab nicht gleich Antwort. Als Gerd Mahlmann zu ihnen trat, stierte der Gast geistesabwesend in Richtung auf das große Fenster zur Veranda. Schrader bot jetzt einen vorzeigbaren Anblick, sah man von seiner Körperhaltung ab. Gebrochen, ein Mann, in diesem Alter. Geschlagen, plattgemacht. Mahlmann schien, so wie der sich hier präsentierte, wirkte er wie ein abgestrafter Hund. Der Vergleich drängte sich auf, denn die Mahlmanns hielten seit einiger Zeit einen Dobermann im Haus.
Also doch kein Entsprungener der Anstalt! Allem Anschein nach war dieser Hermann oder Schorsch körperlich gesund. Weshalb dann dieses Elendsbild von einem Sachsen? Typisch für den Menschenschlag dort konnte er nicht sein. Nach allem was über die Grenzschützer und die Sportler der DDR bekannt war, waren die Leute dort keine Jammerlappen. Er stand vor der gleichen Frage wie seine Frau: Was hatte den Cousin so aus der Bahn geworfen? Gerd sagte:
„Schon besser so, Hermann. Ich heiße Gerd und gehöre zu Evelyn. Von der Autobahn aus bis hierher zu laufen strengt schon an bei dieser Hitze.“ Hermann blieb stumm. Gerd zog die Augenbrauen hoch und heftete den Blick auf seine Frau.
„Sicher kommst du von weiter her. Erzähl uns davon nach einer Stärkung.“
Hermann griff zu. Nach zwei hastigen Bissen schob er den Teller von sich weg. Der Druck war zu stark als dass er essen konnte. Seit dem Aufwachen aus der Betäubung heute morgen fühlte er den ganzen Körper schwer und gepanzert wie einen übergroßen Stein. Ein Brennen war zu Spüren. Natürlich brennen Steine nicht. Vielleicht begann in ihm schon die Verdauung seiner Magenwände. Er würde nicht mehr essen. In seiner Lage verlor jede Maßnahme zur Verlängerung des Lebens ihren Sinn. Noch aber war er nicht tot wie Elvira. Würde er ihr überhaupt nach dem eigenen Tod näher sein? Das war unsicher, aber zumindest dieser Albtraum, den er seit gestern erlebte, wäre ausgestanden.
Das Verlangen nach einem Ende war auf Widerspruch gestoßen. Meldete das Leben sich zurück? Jede Wendung zum Besseren setzte Aufnahme von Nahrung voraus. Er griff zu einer Scheibe Brot und würgte sie widerwillig in sich hinein. Die Anstrengung lohnte nicht. Alle Kraft war zu konzentrieren auf die Selbstbehauptung gegen den überstarken Wunsch, loszuheulen wie ein Kind. Gerd Mahlmann wurde bewusst: besser wäre gewesen, er hätte sich den traurigen Anblick und dem Besucher die Demütigung dieser Szene erspart. Zumindest der Versuch einer Aufklärung über die Begleiterin sollte aber nicht unterblieben sein, ehe man den Mann seiner augenscheinlichen Verzweiflung wieder überließ. Immerhin hatte er auf die Anspielung auf Hermann und Dorothea vorhin reagiert.
„Also Hermann, mit Dorothea hat es nichts weiter auf sich, oder sollten wir sie suchen?“ Er hatte sich auf seine Frage hin stumpf angeglotzt gesehen. Der Gastgeber hatte den Blick von seinem Besucher abgewendet. Gerd Mahlmann hatte gemeint, wieder Tränen erkannt zu haben.
Hinter Bad Hersfeld beherrschten PKW aus der DDR das Bild der Fahrbahn in Richtung West. Meistens Trabant, viele Wartburg, auch einige Moskwitsch machte Schrader aus. Diese Autotypen bekam man sonst nur dann und wann im Fernsehen zu Gesicht. Die Trabant fuhr man dem Anschein nach oft schneller als ihnen auf Dauer bekommen konnte. Bei näherem Hinsehen stießen die meisten blaue Auspuffwolken aus. Hier beeilten sich Leute zum Besuch auf einem Terrain, das ihnen lange verschlossen gewesen war.
Zweitaktmotore, dachte Schrader, robust, mit unempfindlicher Mechanik. Zahnstangen, Kipphebel, die Ventile, eine ganze Reihe anfälliger Einzelteile fiel bei dem Antrieb weg. Auf seiner Seite der Grenze hatte sich trotzdem der Viertakter längst durchgesetzt. Man mochte drüben gute Gründe gehabt haben für das Beharren auf diesem Motortyp. Mit herablassender Geringschätzung wurde man ihren Vorzügen nicht gerecht.
Hoffentlich würden die Leute beim Tanken nicht auf Probleme stoßen! Er wusste, die Tankstellen hielten Gemisch für Zweitakter nur für Mopeds und die kleine Motorräder vor. Bei der Bezahlung würden fast alle auf ein Begrüßungsgeld angewiesen sein, das der bisher feindselige Nachbarstaat für seine Besucher ausgesetzt hatte. Einmalig hundert Mark. Einerseits nicht knauserig von den öffentlichen Kassen, für klassenbewußte Empfänger andererseits vielleich nicht angenehm. Man war auf Handgeld vom Gegner angewiesen, ohne das hier nichts ging.
Er würde vor Eisenach wieder auffahren auf die Autobahn. Wenn er in keinen Stau geriet, war er dann nach spätesten zwei Stunden in Leipzig. Schrader war neugierig, wie sich die Stadt verändert hatte. Sicher war auch jetzt noch viel zerstört. Der Wohnort seiner Eltern lag etwas außerhalb. Dort war er aufgewachsen. Immer hatte man sich dort als Leipziger gefühlt, nicht als Bewohner von Beuchenroda.
Die Neugier und ein Drang zurück zum Ort der Wurzeln trieb ihn hin, nicht die Suche nach der Pflege oder der Aufnahme von Kontakten. Die spärliche Verbindung zu den Freunden der Schulzeit und aus Studententagen war mit dem Tod der Eltern eingeschlafen. Der eine oder andere hatte sich später noch einmal um Fühlung bemüht. Schrader war passiv geblieben. Der Abbruch dieser Verbindungen war ihm nur recht.
Keiner hatte verstanden, warum er nie die Gelegenheit der Messen in Leipzig nutze für ein Zusammentreffen. In den ersten Jahren nach seiner Republikflucht, hatte Verhaftung gedroht. Später war dieses Risiko entfallen; trotzdem war er nicht hingefahren. Viel Mühe mit der Begründung hatte er sich nicht gemacht. Der vage Hinweis auf Zwänge seines Flugplans musste reichen. Die Eltern waren schließlich Einladungen nach Frankfurt bereitwillig gefolgt. Warum er sich so sperrte, die Besuche zu erwidern, hatte er ihnen nie enthüllt.
Beide lebten sie seit Jahren nicht mehr. Er würde den Friedhof besuchen und das Haus, in dem er groß geworden war, den Kindergarten, die Schule, den Treffpunkt der „Jungen Pioniere“, den kleinen „Park der Völkerfreundschaft“. Auch das Wohnhaus von Mandy. Ihr musste es damals nach seiner Flucht aus der Republik schlimm gegangen sein. Er hatte ihre Briefe nie erwidert. Im ersten Vierteljahr zu krank dazu, später in der Annahme, sie habe sich über die Trennung hinweg getröstet und eine Antwort risse nur alte Wunden auf.
Auch jetzt war seine Absicht nicht die Aufnahme abgebrochener Verbindungen, zu wem auch immer in der alten Heimat. Dieser Abschnitt in Schraders Leben war abgeschlossen. Auch die eigenen Wunden waren verheilt. Wo Freundschaft in der Altersgruppe gewesen war, hatten dreizehn Jahre dort und bei ihm auf der anderen Seite in seiner Welt zu viel verändert. Er spürte kein Bedürfnis nach Anbindung an abgebrochene Schicksalslinien. Neugier vor allem war es, die ihn trieb, er machte sich selbst gegenüber keinen Hehl daraus. Sein Besuch würde mit einem Hauch Voyeurismus verbunden sein.
Am Grenzpunkt Herleshausen vollzog sich der Übertritt sehr schnell. Mehr als einen flüchtigen Blick auf Schraders Ausweis war den Grenzern die Einreise ihres vormaligen Staatsbürgers nicht wert. Man winkte ihn ohne Befragung und nicht unfreundlich durch zur Weiterfahrt. Noch vor ein paar Tagen hatte man hier streng kontrolliert. Die Frage nach Funkgerät und Schußwaffen im Gepäck war allgemeine Übung, selbst bei einer Transitfahrt nach Berlin. Schrader wusste das nicht aus eigener Erfahrung. Man hatte ihm davon berichtet. Ein einziges Mal war er in Berlin gewesen. Hatte für Hin- und Rückweg das Flugzeug benutzt. Westberlin, nicht Berlin hieß es korrekt; er erinnerte sich an die ML-Kurse seiner Studienzeit.
Diese Autobahn der DDR, die er hier befuhr, lag im Ausbaustandard zurück. Nicht gerade dramatisch, es ließ sich auch jetzt noch zügig vorwärtskommen, aber unübersehbar war der Zustand schlechter als gewohnt. Gleich darauf mußte er sich korrigieren. Der Abschnitt hinter dem Reisfelder Dreieck auf der eigenen Seite war in einem gleich beklagenswerten Zustand. Vielleicht hatte man auch in diesem Staat mehr Aufwand getrieben für die Streckenunterhaltung dort, wo der Transit nicht so stark überwog wie hier bei Eisenach. An den Beschilderung zeigten sich Unterschiede. Sie erinnerten Schrader in der abgestumpfte Beschriftung auf Bilder aus der Zeit des Dritten Reichs. Er entschloß sich zu einem Imbiß in der Raststätte bei Eisenach.
Modern und funktional, die Anlage. Sie konnte erst vor nicht allzu langer Zeit errichtet worden sein. Ihren Platz könnte sie ebenso gut irgendwo auf der anderen Seite haben, dachte er beim Eintritt. Einen Innenarchitekten hatte man sich anscheinend auch hier gespart. Neben der Kasse war ein Pappschild aufgestellt. Es forderte Westreisende zur Bezahlung in D-Mark auf statt in der Währung der DDR. Die Preise kamen ihm bescheiden vor. Ein Omelett mit Pilzen, Mineralwasser und die Tasse Kaffee hätte man ihm zuhause in Frankfurt für sechs Mark nicht hingestellt. Also verständlich der Appell zur Bezahlung in der ausländischen Währung, die sein Geld für die Landsleute hier war. Hätte er seine Scheine zuhause vor der Abfahrt in DDR-Mark umgewechselt, hätte er sonst hier fast zum Nulltarif gespeist.
Der positive Eindruck gehörte dann doch wieder eingeschränkt. Ein ordentlicher Kaffee musste höheren Ansprüchen genügen. Schließlich hatte man auch von hier aus Zugang zu Lieferländern in der dritten Welt. Schrader hätte darauf gewettet, man habe das Pulver für seinen Kaffee mit untauglichen Zugaben gestreckt. Trotzdem stieg Urlaubsstimmung in ihm auf. Zwei Tage frei, ohne jeden Termin, das zählte.
Er würde Vater sein in ein paar Wochen. Rohrbach und Gundloff hatten ihm mit launigen Sprüchen die eigene Erfahrung mitgeteilt. Danach sei es aufs Erste mit einigen der gewohnten Freiheiten vorbei. Ein gnädiger Übergang zeichnete sich für ihn ab. Das Kind würde in die ersten Wochen in San Jose sein, bei Rosalie. Etwas unglücklich gelaufen und nicht allein seine Schuld, daß es so gekommen war. Schrader hatte nicht die Absicht, sich seinen Vaterpflichten nicht entziehen. Jedenfalls würden sie sehr bald heiraten, immer noch rechtzeitig, damit ihr Kind in einer Familie aufwuchs wie es sich gehört. Noch war über den Wohnort nicht entschieden. Rosalie scheute sich, ihre schöne Tropenheimat zu tauschen gegen das Leben in dem kalten Land, in dem Schrader zuhause war.
Einstweilen suchte er hier noch nach Spuren seiner Vergangenheit. Das Land war nicht kalt. Genau genommen viel angenehmer eine gemäßigte Temperatur wenn man zu arbeiten hatte, als die Hitze der Trockenzeit in Costa Rica. Er hätte seine Jacke nicht gebraucht auf dem Weg hierher vom Parkplatz, so mild blieb es noch tagsüber. Mitte November zeigte sich draußen überall noch Grün zwischen dem bunten Laub. Die Landschaft hatte sich kaum verändert seit dem Grenzübergang vorhin. Fanden sich mehr Unterschiede im Menschenschlag? Früher, als er selbst hier zuhause gewesen war, hatte solche Fragen ihn nicht interessiert. Es hatte auch jede Vergleichsmöglichkeit gefehlt. Er fühlte sich jetzt in einem entspannten Zustand der Muße, in dem eine solche Betrachtung angemessen war.
Sein Platz neben dem zentralen Ständer für einen ausladenden Gummibaum gab den Blick in die Runde frei. Zeit für Gedankenspiele hinter seiner Kaffeetasse! Auf dem Parkplatz trug höchstens die Hälfte der Autos Nummernschilder von außerhalb. Eine Reihe von Leuten aus der DDR ebenso wie Besucher aus dem Westen mussten unter den Gästen sein. Die Zuordnung nach dem äußerlichen Aussehen allein traute er sich nicht zu. Beim Lauschen auf die Sprache war der Zungenschlag Ost dagegen durchweg schnell festgestellt. Bedächtiger und breiter ins Wort gesetzt, mit einer gesunden Behäbigkeit, bediente man sich drüben hier seiner angestammten Sprache; bei den Meisten jedenfalls. Schrader bestätigte sich seine These seit jeher: trotz lang anhaltender Trennwirkung der Grenze wirkten die Leute auf ihn von nahe verwandtem Schlag
Schraders Bekannte und Freunde in Frankfurt, ohne Bezug hierher, hatten die Ähnlichkeit bestritten. Man hatte ihm gutmütig widersprochen bei der seltenen Gelegenheit von Gesprächen über den reichlich entfernten Gegenstand.
In diesen Tagen gab es ein neues Interesse für das Thema DDR. Scheinbar endgültige Gewißheiten standen in Frage. Was seit den letzten dreißig Jahren niemand im Ernst bezweifelt hatte, galt nicht mehr, und kein Mensch konnte wissen, wohin die überraschende Entwicklung lief.
Noch lange nicht gab sich der Unglaube geschlagen. Natürlich, man war irritiert. Der Blick auf die Ereignisse weckte bei den Meisten, in Ost wie West, Zweifel an der bisher reklamierten Urteilskraft. Die Kehrtwende eines kompletten Staatswesens in Gegenrichtung zu Allem wofür er gestanden hatte, sprengte die Vorstellungen auch einer ausschweifende Phantasie. Allenfalls dringende Reformen standen an in der DDR. Was dort seit zwei Generationen aufgebaut und eisern gehütet worden war, konnte sich nicht sang und klanglos auflösen, flüchtig als sei es nur ein Spuk gewesen. Die Sprache der Berichte in Zeitung und Fernsehen dagegen ließ Zweifel von Tag zu Tag weniger zu. Man wurde Zeuge einer unblutigen Revolution. Keiner sah voraus, wie es weiterging. Ein Jeder, auch Schrader hoffte, wenigstens die Grenze möge auf Dauer offen bleiben. Schloß man sie wieder ab, war die Freiheit an der Trennungslinie nur ein glückliches Zwischenspiel, hatte er eine Gelegenheit zumindest nicht verpasst.
Wenn alles weiter friedlich ablief, würden sich die beiden Staaten in Zukunft mindestens näher stehen. Der reichere Teil des alten Deutschland würde dem ärmeren unter die Arme greifen, immer vorausgesetzt, dass die Freizügigkeit erhalten blieb. So hatte es die Politik zuhause unermüdlich formuliert. Zum Zweifel daran bestand kein Anlaß. Schrader freute sich für die Landsleute im Osten. Sie würden die Hauptgewinner der Änderungen sein.
Am Nachbartisch nahmen neu angekommene Gäste Platz. Eine Familie mit zwei dunkelblonden Kindern. Allenfalls eines der beiden mochte schon in der Schule sein. Er hatte sie auf dem Parkplatz aus einem Trabant aussteigen sehen. Ein freundliches Bild. Nicht lange noch, dann würde auch er auftreten mit Frau und Kind, wenn auch zunächst in Costa Rica, nicht in seinem angeblich kalten Land. Der Vater bestellte Eis und Limonade, die Eltern kamen mit Kaffee aus. Falsch gewählt, dachte Schrader. Er musterte jetzt die Mutter der beiden Kleinen und hörte gegen seinen Willen ihrer Unterhaltung zu. Nicht was sie besprachen, sondern der Tonfall nahm ihm fast den Atem.
Elviras stimme klang vom Nebentisch. Die kaum merklich Sprödigkeit vom Grund der Kehle, der um eine winziges verschleppte Nachhall der Stimme am Satzende, so hatte sie gesprochen; niemals würde der Klang ihm aus den Ohren gehen. Die Frau konnte nicht älter als Mitte zwanzig sein. Er wusste, man trat hier feste Verbindungen früher als im Westen an. Wäre er damals geblieben, längst hätte sich eine Familie um Mandy und ihn geschart.
Elviras Bild tauchte auf wie von der Erinnerung als Poster vor ihn hingestellt. Beim Blick von der Seite zeigte sich kein Unterschied. Größe und Haarschnitt passten. Einen Rock gleicher Länge hatte auch sie manchmal getragen. Ihr hatte er ebenso gut gestanden wie der Frau am Nebentisch. Er stand auf und ging um den Gummibaum herum zur Selbstbedienungstheke als suche er etwas. Der Anblick von vorn zeigte die Grenze der Ähnlichkeit. Das Gesicht hatte mit Elviras nichts gemein. Auch der Scheitel der braunen Haare befand sich an der falschen Seite. Elvira war fast noch ein großes Kind gewesen, selbstbewusst und eigenständig, aber in ihrer Anmut für ihn noch nicht wie eine Frau. Die Mutter dieser zwei Kinder hier war nicht Elvira. Elvira Hambach war elend gestorben durch seine Schuld. Kein anderer wusste davon als nur er allein. Die Erinnerung traf Schrader hart wie ein Schlag. Ein Quälgeist hatte diese Frau mit ihrer Stimme an seinen Nachbartisch platziert. Jahrelang hatte er das Würgen nicht mehr gespürt, das die ersten Tage nach seinem Austritt aus der DDR ständig begleitet hatte. Immer weniger oft hatte es ihn heimgesucht in der Zeit seither. Jetzt war es wieder da in Begleitung der Last einer ungesühnten Schuld. Weniger scharf als damals, aber unverkennbar und für immer für ihn verbunden mit der Erinnerung, die ihn fast den Verstand gekostet hatte.
Schrader nahm nach seinem Gleichmut vortäuschenden Rundgang nicht wieder Platz. Er war unfähig jetzt ruhig zu sitzen. Zwang sich gewaltsam zum Anschein von Ruhe durch betont gelassene Körperhaltung. Um den Rest seines Kaffees war es nicht schade. Er ging selbst zum Kellner hinüber und bezahlte in D-Mark West. Auch ein Trinkgeld ließ er da. Besuch aus dem anderen Deutschland war in diesen Tagen verpflichtet, sich gegen die Landsleute in einem Mindestmaß an Freundlichkeit zu üben.
Er stieg in seinen Golf und lenkte ihn zurück auf die Autobahn. Die Frau am Nachbartisch hatte das Ziel der Fahrt geändert. Nicht dem Beuchenroda bei Leipzig galt der erste Besuch sondern dem Ort, von dem aus er vor dreizehn Jahre weggegangen war. Ein Zeichen Elvira gegenüber, mehr nicht. Den Verführer zum Weg in den Untergang zieht es an den Ort seiner Tat, dachte er bitter. Kein Weg führte daran vorbei. Nicht Reue und Buße waren der Beweggrund. Niemandem würde der Anlaß seines Besuches offenbart. Die Wahrheit über das Verhängnis damals half jetzt keinem mehr. Was sollte er bei Anderen aus alten Wunden, neuer Schmerz entstehen, wie gerade bei ihm selbst. Wenn er selbst wieder litt wie ein Hund, war das nicht mehr als verdient. Elviras Angehörige musste die Zeit getröstet haben über den Verlust. Ihre Mutter hatte schon 1974 nicht mehr gelebt. Der Vater war bald nach dem Tod von Elviras Mutter in andere Richtung orientiert gewesen. Wahrscheinlich hatte er sich der jüngeren Geschwistern angenommen. Schrader erinnerte sich undeutlich an den kleinen Bruder und die Schwester, die zum Zeltlager aufgebrochen war. Diese Erinnerungen war viel schwächer geworden als Elviras seinem inneren Auge noch immer verfügbare Gegenwart. Mühelos verfügbar blieb ihr Bild und doch hatte er es zuletzt zum Selbstschutz immer seltener beschworen. Der Klang dieser Stimme hatte auch für das Aufleben auch dieser Anderen im Hintergrund gesorgt. Unweigerlich würde die Bilder noch stärker werden durch den Besuch, der jetzt vor ihm lag.
Die Verdrängung des Unheils hatte Kraft gekostet. Jahrelang hatte er das erfahren, ehe der Abstand zu dem Vorgang damals endlich gewachsen war. Jetzt setzt er die unzuverlässige Ruhe ohne Not aufs Spiel. Vielleicht hatte der kleine Bruder gar keine deutliche Erinnerung behalten an den Verlust der Schwester. Wenn er sich noch Gedanken machte über sie, blieb ihm immerhin die Hoffnung auf eine spätere wundersame Wiederkehr Elviras. Würde ein Geständnis für die Erleichterung des eigenen Gewissens sorgen? Oft hatte er sich die Frage gestellt und sie als unerheblich abgetan. Niemand würde gedient sein mit einer Aufklärung des schrecklichen Todes, auch nicht ihm selbst. Selbst wenn es ihm nützte, was zählte seine Erleichterung gegen die kalte Endgültigkeit ihres Verderbens? Er hatte in den ersten Tagen nach der Flucht zu einer Beichte nicht die Kraft gefunden in seinem verwirrten Zustand. Später hatte er sich gefragt, ob er nicht im Fieber die schreckliche Wahrheit preisgegeben habe, aber nie hatte man ihm dergleichen gesagt. Die Zeit war über die Katastrophe hinweggegangen. In Engenthal hatte man vermutlich längst entschieden, das spurlose Verschwinden der Schülerin Elvira Hambach blieb auf Dauer rätselhaft. Aufklärung war so spät nicht mehr zu erwarten. Ihr Verlust gehörte zu den eher seltenen Tragödien am Ort. Man begegnete ihm anfangs mit gleicher Ratlosigkeit wie einzelnen Selbstmorde oder Gewaltverbrechen, die man anfangs teilnahmsvoll besprach und sie nach einiger Zeit vergaß.
Es hatte einen naheliegenden Verdacht gegeben. Das Verschwinden der jungen Bürgerin fiel zusammen mit dem eines der Erntehelfer der Hochschule Leipzig. Auch der war unauffindbar gewesen seit jenem Tag. Nachforschung bei den Eltern des Erntehelfers Schrader hatten nicht weit geführt. Man hatte sie vernommen mit dem Ergebnis, der Sohn Georg Hermann sei von einem Ernteeinsatz nicht zurückgekehrt. Weder bei den Eltern noch am Ort seiner eben erst abgeschlossenen Studien als Maschinenbauer sei er aufgetaucht. Man sei in größter Sorge über den Verbleib. Unter diesen Umständen drängte sich der Verdacht von Republikflucht auf.
Der Vorfall hatte den Anlaß für internen Behördenstreit geliefert. Der Einsatz des Schrader habe gegen eines Anweisung aus Berlin verstoßen. Schon vor Jahren habe man vom Ernteeinsatz in Grenznähe für einzelne Personengruppen ausdrücklich abgeraten. Bedenken bestanden u. a. gegen „Helfer mit nicht nachweislich gefestigter Treue zum Arbeiter- und Bauern- Staat“ und „grundsätzlich gegen Studenten- und Personen kurz vor- oder nach Abschluß in ihrem Ausbildungsgang“.
Die Staatssicherheit hatte Schraders Eltern mit wenig Freundlichkeit behandelt. Der Verdacht der Mitwisserschaft lag zu nah. Barsch waren sie zur Vorsprache ins Präsidium geladen worden, Schraders Mutter berichtete später, einer Behandlung wie bei Verbrechern habe sie sich ausgesetzt gefühlt. Anschließend hatte sich die Vernehmung noch zweimal wiederholt, ehe die Stasi Ruhe gegeben habe.
Die Kenntnis der Fluchtabsicht des Sohnes war nicht beweisbar. Mehr als den Personalausweis habe er anscheinend nicht mitgeführt zum Arbeitseinsatz. Auch etwas Geld auf seinem Konto sei noch da. Die Eltern seien selbst aufs äußerste beunruhigt über ausbleibende Nachrichten von ihrem Sohn. Seit Mitte August?? habe er sich nicht gemeldet. Selbstverständlich werde der Behörde das erste ersehntes Lebenszeichen gleich welchen Inhalts unverzüglich mitgeteilt
Dem Amt genügte diese Auskunft für einen Bescheid an den Rat der Stadt Engenthal, der Vermißte sei vermutlich flüchtig. Viel spreche für den Verdacht auf illegalen Grenzübertritt zur Flucht aus der DDR. Über den derzeitigen Aufenthaltsort ihres Sohnes wüßten die Eltern angeblich nichts oder sie gäben ihn nicht preis. Vom Verhältnis des Schrader zu einer Elvira Hambach sei den Eltern nichts bekannt.
Die Nachforschung und die schriftliche Übermittlung des Resultats hatte zwei Monate beansprucht. Man gab sich bei der STASI mit dem dürftigen Ergebnis zufrieden mangels mehr an greifbarer Substanz. Die Ermittler erlebten sich auch in diesem Fall wieder als leidgeprüft und machtlos. Natürlich waren diese Republikfluchten ein chronisches Problem. Diese hier aber ein Sonderfall was den Ort der Tat anging, zudem auch noch rätselhaft: die Überprüfung hatte ergeben: nichts Ungewöhnliches hatte sich zugetragen im Grenzabschnitt Engenthal im Zeitraum, der infrage kam. Die meisten jungen Burschen wählten als Weg aus dem Staat einen Urlaubsaufenthalt nahe der Grenze zu Jugoslawien und setzten sich dann ab. meistens auch ohne Begleiterin.
Die Akte wurde bis auf Weiteres geschlossen. Die Organe der Grenzsicherung hätten sich brennend für den Fluchtweg interessiert, hätte man die Beiden denn erwischt. Da sie nun einmal heraus waren aus dem Staatsgebiet, sah die Bürokratie der DDR keinen Anlaß zu stärkerem Engagement. Allgemein war bekannt, dass die Kollegen von jenseits der Grenze sich zugeknöpft zeigen mußten wenn es um Auskünfte zu Fluchtversuchen ging. So hatte man sich, nicht ohne das Gefühl der Frustration, mit diesem Stand zufrieden geben müssen.
Die Nachforschung hätte womöglich weiter geführt, hätten die Verwandten in Offenbach sich nicht der Bitte Schraders um Diskretion gefügt. Die STASI hatte schließlich auch im Westen ihre Leute. Man brächte seine Eltern unnötig in Gefahr durch eine Angabe über seinen Aufenthalt. Er selbst werde sich selbst um die Unterrichtung der Eltern kümmern, hatte er verlangt. Die Verwandten waren kopfschüttelnd dem Wunsch gefolgt. Der Großneffe wirkte auch nach seiner Entlassung aus der Klinik nach wie vor überspannt, nicht nur in diesem Punkt. Ebenso erstaunt hatte man später hingenommen, Georg Hermanns Mitteilungen an an die Eltern liefen über einen Freund in Dresden. In Beuchenroda sei man jetzt im Bilde über seine Flucht und die wohlbehaltene Ankunft in der BRD. Doch habe er auch die Eltern verpflichtet, in der Korrespondenz keinen Gebrauch davon zu machen. Die STASI zeige Interesse an den Briefen zwischen Ost und West. Bekanntlich überprüfe sie nicht nur eingehende Post an verdächtige Personen sondern auch ausgehende Briefe vor dem Versand. Das Briefgeheimnis sei für Eingeweihte ein Gegenstand von Hohn und Spott. Die Eltern ständen als Angehörige unter dem dringenden Verdacht der Beihilfe zur Flucht aus der Republik.
Evelyns Eltern hatten sich gewundert. Sollte die eigene Einschätzung der Verhältnisse drüben so fehlgegangen sein? Die schlimmsten Jahre der Repression und des Kalten Krieges waren schließlich Vergangenheit. Noch mehr Verwunderung hatten besorgte Briefe aus Beuchenroda ausgelöst.
Wenn zutraf, was Hermann sagte, war die Sorge um den einzigen Sohn der Schraders stark aufgetragen, so echt klang die Bekümmernis. Die Mitwirkung der längst informierten Eltern schoß über das Ziel hinaus. Schraders Verwandtschaft feixte insgeheim, er nähme die Gefährdung viel zu ernst. Keinem Staat, der auf sich hielte, wäre ein untreuer Student soviel Aufwand an Spionage wert. Der konspirative Aufwand für die Korrespondenz sei weit übertrieben. Unverständlich, daß die Eltern drüben mittaten bei diesem Spiel. Man fügte sich nur kopfschüttelnd der geforderten Geheimniskrämerei. Tatsächlich waren die besorgten Eltern ohne Nachricht geblieben bis Schrader selbst nach einem halben Jahr das Schweigen gebrochen hatte.
Einen Ansatz immerhin nahm er für sich in Anspruch: er empfand den Gang nach Engenthal als Versuch der Buße für schwere Schuld. Es war nicht bloße Neugier, die ihn trieb. Schrader verließ auf der ersten Abfahrt hinter Eisenach die Autobahn. Er fuhr ein kleines Stück nach Nordosten über eine schmale Straße. Für Mitte November trugen die Bäume noch viel buntes Laub. Kein Zweifel, die Gegend zeigte landschaftlichen Reiz. Weniger Neubauten als auf der hessischen Seite, fast alle Häuser stammten aus der Vorkriegszeit! Wirkten dabei aber auf Schrader in Material und Farbe der Landschaft wohltuend angepasst. Wie es drinnen aussah, stand auf einem andern Blatt. Für ein Urteil darüber ging ihm jedes Interesse ab. Auf diese Dinge hatte als Junggeselle er nie viel Wert gelegt. Wenigstens was die Lage der Wirtschaft betraf, malten die Berichte in fast allen Medien schwarz in schwarz.
War die Republik so heruntergekommen seit er weggegangen war oder zogen die Medien zu Unrecht die Lebensverhältnisse hier in den Dreck? Die Erinnerung malte ihm ein freundliches Bild der Welt in seinen jungen Jahren. In den Schilderungen, gleich ob gedruckt oder vom Fernsehen verbreitet in den letzten Tagen seit die Grenze offen war, beschrie man unaufhörlich nahezu alles und jedes im Osten als sanierungsbedürftig und marode. Er war sehr lange abwesend gewesen. Es wurde Zeit, er machte sich wieder ein eigenes Bild.
Zum ersten mal tauchte Engenthal auf einem Verkehrsschild auf. Er hielt das aus. Die schreckliche Geschichte war nicht bewältigt, ehe er an Elviras Grab gestanden hatte. Soviel Psychologie zählte man inzwischen zum Gemeingut. Ohne dass die Schuld sich ständig im Vordergrund des Bewußtseins aufhielt, fraß dieses Elend aus der Vergangenheit an seiner Kraft. Gerade vorhin war es wieder aufgetaucht durch die Stimme der Nachbarin am Tisch. Er musste endlich frei werden von dieser Last. Die Auseinandersetzung mit dem Ort des gemeinsamen Verhängnisses mußte ausgetragen sein.
Ein Lebenszeichen hatte Schrader erst nach einem halben Jahr an die Eltern geschickt als es ihm längst wieder besser ging nach dem Zusammenbruch. Die Begleiterin seiner Flucht hatte er verschwiegen. Von ihnen darauf angesprochen, hatte er den Eltern gegenüber alles abgestritten. Allein habe er der Zaun an einer schlecht bewachten Stelle unterquert. Er sei dann krank geworden, wahrscheinlich Gelbsucht. Einige Wochen lang sei es ihm so schlecht gegangen, dass er die Rückkehr erwogen habe. Jetzt aber sei er wieder obenauf. Sie sollten sich keine Sorgen machen über seine Zukunft. Er sehe sich auf gutem Weg, auch was den Beruf beträfe. Er freue sich schon im Voraus auf ihren Besuch in seiner neuen Heimat. Kaum noch zwei Jahre, dann seien sie im Rentenalter. Auch ihr Weg in den Westen sei dann frei. Man werde in Frankfurt Wiedersehen feiern. Nicht alles sei perfekt eingerichtet da, wo er jetzt lebe, aber er habe nichts zu bereuen an seinem Entschluß.
Eine Gisela Hambach sei eines Tages aufgetaucht bei Schraders Eltern. Er erfuhr davon in einem Brief. Ein Pioniertreffen der FDJ in Leipzig habe ihr die Gelegenheit zum Abstecher geboten. Sie habe bekümmert gewirkt und namentlich nach ihm gefragt. Die Polizei von Engenthal habe dem Mädchen nur immer die leeren Hände vorgewiesen, was die Schwester anging. Die Adresse des verschwundenen Hermann Schrader immerhin habe man unter der Hand ihrem Vater mitgeteilt.
Die Eltern waren überrascht gewesen von diesem Besuch. Schon die STASI-Befragung hatte ja eine Begleitung ihres Sohnes unterstellt. Zuerst hatten sie dem Mädchen gegenüber alles Wissen über Hermanns Aufenthalt in Frankfurt abgestritten. Warum sollten sie der Unbekannten mehr offenbaren als dem Apparat der STASI? Womöglich hatte man ihnen ein Mädchen in so jungen Jahren als Spitzel ins Haus geschickt. Der Vater hatte sich dann ein Herz gefaßt. Das Mädchen entsprach nicht dem Typ „Agent Provocateur „ der STASI. So weit würde die STASI nicht gehen, sich halber Kinder zu bedienen. Die Geschichte, die sie erzählt hatte vom Verschwinden ihrer Schwester klang nicht frei erfunden.
Die Eltern hatten zu diesem Zeitpunkt schon von Schraders Aufenthalt gewußt. Man hatte Gisela Hambach hereingebeten und sich bei Kaffee und Kuchen ihre Geschichte angehört. So viel Zutrauen war dabei entstanden, dass man ihr zu wissen gab, der Sohn Georg Hermann lebe jetzt in Frankfurt am Main. Irgendwie habe er am ende seiner Zeit bei der Erntehilfe einen Weg durch den Zaun gefunden. Ganz allein habe er das geschafft. Von einer Begleitung habe er nicht ein Sterbenswort erwähnt. Man sehe keinen Grund, an dem Bericht zu zweifeln. Gisela Hambach sei dann ebenso bedrückt abgezogen wie sie gekommen war. Auf die Eltern Schrader habe sie ernst, fast verstört gewirkt. Ein schönes Mädchen übrigens, Halbwaise, durch den Verlust der Mutter und dann der Schwester viel zu ernst geworden für ihr Alter.
So hatte man Schrader den Besuch geschildert. Kein Sterbenswort habe er erzählt, hatte die Mutter in ihrem Brief geschrieben. Er erinnerte sich an diese Einzelheit.
Es war früher Nachmittag geworden. Schrader fuhr durch kleine Ortschaften, in denen sich wenig Leben zeigte. Den Häusern fehlten die frischen Farben im Vergleich zu den Dörfern der BRD. Am Rand der Dörfer ein kaum anderes Erscheinungsbild als rund um den Marktplatz. Umso besser erschienen sie der Stimmung dieser Jahreszeit angepaßt, nahm er die alte Heimat entschuldigend in Schutz. Die Straßen weder so breit noch glatt asphaltiert wie im Hessischen gewohnt! Dafür standen sie Schrader fast alleine zur Verfügung. Nur dann und wann ein eiliger Trabant, manchmal schwere LKW, oft Fabrikate aus der Tschechoslowakei, oder ein Bus, der Schulkinder geladen hatte.
Frauen klammerten Wäsche zur Trocknung auf Leinen, die sich zwischen hölzerne Pfosten spannten. Grüner Ansatz von Moos auf Gartenzäunen aus Scharen schräg gekreuzter schmaler Latten. Man verwendete auch an andere Stelle anscheinend gerne Holz statt Metall. Auch die Pfosten hinter dem Zaun, über die sich die Wäscheleine spannte bestand meistens aus Holz, soweit bei langsamer Vorbeifahrt erkennbar. Da und dort machte sich eine Frau über die Wäsche her. Das Wetter ließ das auch jetzt im November noch zu. Auch das ein Anblick, den man zuhause nicht mehr häufig sah. Lag darin Rückständigkeit oder doch schätzenswerte Tradition? Auf Schrader wirkte der Anblick als freundliches Idyll. Man lebte; vermutlich entbehrte man, wie seinerzeit er selbst, nicht viel mehr als größere Bewegungsfreiheit. Manchmal lehnten sich kleine Schuppen an die alten Häuser an. Oft störten sie dann das positive Bild. Wildwuchs, lieblos hingehauen, wahrscheinlich eilig und schwarz gebaut. Einer aufmerksamen Bauaufsicht wäre dergleichen nicht durchgegangen.
Nur kleine Kinder spielten in den Gärten. Die Größeren mochten auch jetzt am Nachmittag noch in der Schule sein, länger als man es auf der Westseite der Grenze gewohnt war. Einige Male liefen welche zum Zaun und winkten ihm lachend hinterher. Schrader winkte zurück. Sein Auto war ein hundsgemeiner Golf. Das Modell mußte bisher auf diesen Straßen ein seltener Besucher gewesen sein, was sich rasch ändern würde wenn die Entwicklung der Dinge so weiterlief.
Der Reiz der Landschaft des wieder zugänglichen Hinterlandes würde dann unweigerlich Besucher auch in diese abgelegene Gegend ziehen. Immer vorausgesetzt, man konnte weiterhin von drüben aus so ungehindert einreisen wie er selbst vor einer Stunde.
„Drüben“ hatte in Schraders Vorstellungswelt wieder die alte Bedeutung angenommen. Er wendete das Wort so an, wie er es von Kindertagen her gewohnt gewesen war.
Reichlich zwanzig Kilometer war er gefahren seit dem Verlassen der Autobahn. Auf freiem Feld erblickte er die kleine Wachstation. Seit damals unverändert! Er erinnerte sich noch genau. Sie diente als Wetterschutz für die Hüter über den fünf-Kilometer Streifen längs der Grenze. Hier durfte damals nur passieren, wer nachwies, daß er in Engenthal zuhause war oder einen triftigen Grund für den Eintritt ins grenznahe Gebiet angab. Seine Studentengruppe im Bus aus Leipzig hatte diesen Grund gehabt. Er erinnerte sich gut daran, wie man hier damals durchgefahren war auf dem Weg zum Ernteeinsatz. Nicht viel hatte sich geändert an dem Bild der unscheinbaren Hütte. Zur Straße hin die Tür, zwei Fensterschlitze in den Seitenwänden, mit Blick auf beide Richtungen der Straße. Auch mit einem Anstrich, der nicht weit zurückliegen konnte, verbarg der kleine Bau nicht seine ursprüngliche Bestimmung als Provisorium. Die Erbauer hatten ihm vermutlich nur ein kurzes Leben vorhergesagt. Dann war die Zeit ins Land gegangen und nichts hatte sich geändert am beschränkten Zugang zum Sperrgebiet. Jahrelang hatte er dann Kontrolleuren als Unterstand gedient. Kein Zweifel: die Häuschen der Schrankenwärter sahen früher schöner aus. Drei gelangweilte Grenzer hielten sich im Inneren der Hütte auf. Wahrscheinlich hatten sie Skat gespielt. Einer von ihnen trat heraus.
Schrader nannte als Zweck seiner Fahrt den Besuch von Verwandten in Engenthal. Wieder zeigte man eine Großzügigkeit, als nähere sich einer der Westgrenzen seines eigenen Landes. Damals hatte man jeden einzelnen Ausweis der jungen Leute umständlich kontrolliert. Jetzt nahm der Mann es weniger genau. Hier fuhr ein Besucher aus dem kapitalistischen Ausland vor, ohne Einladung, ohne Passierschein, ohne Berechtigung zum Eintritt in die Grenzregion. Ein flüchtiger Blick auf den Paß, dann wünschte man ihm gute Fahrt.
Schrader fehlte die Möglichkeit zum Vergleich dieser Lässigkeit mit dem Verfahren der Grenzer in den Jahren nach seinem illegalen Übertritt. Nach allem was man drüben gehört hatte über die Verhältnisse in der DDR, sollte sich bis kurz vor diesen Tagen wenig geändert haben gegenüber dem Stand, den er noch selber kannte. Starre Bürokratie musste auch nach seinem Weggang noch über dem Land gelegen haben wie zäher Schleim. Jetzt diese Großzügigkeit, die ihm wie Gleichgültigkeit erschien. Reimte sich das zusammen? Er hatte die ständigen Kontrollen mit zunehmendem Alter immer mehr gehasst damals, beginnend mit dem Aufkommen eigenständiger Überlegungen über Gott und die Welt. In jeder harmlosen Bemerkung hatte der Staat Verrat gewittert, Treuebekenntnisse von Menschen eingefordert, die zu Misstrauen nie Anlaß geboten hatten. Eine Bedrohung durch feindliche Mächte hatte man an die Wand gemalt, die ihm und seinen Freunden nicht plausibel erschienen war.
Selbst wenn er aus der BRD nach Frankreich fuhr, wurde manchmal mit mehr Sorgfalt kontrolliert als eben hier und vorhin an der Grenze. Man fiel vom einen Extrem ins andere. Nur ein kurzzeitiger Reflex auf die Vorgänge der letzten Tage oder kündigte sich darin ein Zusammenbruch der gewohnten Ordnung ab? Fand hier ein Umbruch statt, der die Menschen zur Umkehr all dessen treiben würde, was bisher selbstverständlich für sie gewesen war? Einige Medien drüben in Westdeutschland malten genau diese Entwicklung an die Wand. Schrader war skeptisch. Er traute dem Staat, so wie er ihn in Erinnerung hatte, die Selbstaufgabe ohne Gegenwehr nicht zu. Vieles würde dringend korrekturbedürftig sein, wahrscheinlich noch mehr als zu seiner Zeit, wenn man den Medien glaubte. Nicht alles was man in dem kleinen Staat geschaffen hatte war morsch und marode. Die Dinge soweit zu übersehen, erlaubte ihm seine Herkunft aus dieser Welt. Ein vernünftiger Vergleich stützt sich auf die Kenntnis beider Seiten. Der fiel ihm leichter als den vielen anderen, die ihr Urteil ausschließlich aus der Sicht von außen fällten.
Die Menschen hier würden zurückfinden auf einen Mittelweg. Wenn alle erst einmal die neue Freiheit gekostet hatten bei einem Kurzbesuch im vermeintlichen Schlaraffenland, folgte die Rückkehr zur Nüchternheit. Soviel Urteilskraft war den Leuten hier zuzutrauen, dass man sich nicht auf Dauer blenden ließ vom schönen Schein. Man würde seine Neugier befriedigt sehen und zurückkommen aufs Eigene, das hier entstanden war und sich nicht nur durch Nachteil von der anderen Seite unterschied.
Erwägungen solcher Art lenkten Schrader ab vom Nachsinnen über seine Fahrt an den Ort einer düstereren Erinnerung. Langsam lenkte er sein Auto auf den Marktplatz. Ein Brunnen inmitten der paar Bäume, ein HO- Laden war da, die Apotheke, das Kino und das Gemeinschaftshaus „Ernst Thälmann“. So war ihm die Szenerie von damals in Erinnerung. Engenthal war kein Dorf. Für die Leute aus den Dörfern der Umgebung stellte es ein kleines Zentrum dar Er parkte an der Längsseite vor dem Haus, das ihn damals aufgenommen hatte.
Vor diesem Gemeinschaftshaus hatte sich am späten Nachmittag seine Gruppe zur Einweisung für den Ernteeinsatz eingefunden. Vorher hatte man den Teilnehmern ihre Unterkünfte zugeteilt. Schraders und ein ihm noch unbekannter Roland, Medizinstudent, siebtes Semester, aus Dresden, fanden Platz im Anbau neben dem Haus eines früheren Aktivisten der Partei. Seunert oder so ähnlich mußte der Name gewesen sein. Ein nicht unfreundlicher Mann mit seiner kranken Frau. Von der schlechten Luft in Leuna habe er die Nase voll gehabt, hatte er gesagt. Verbringe hier seinen Ruhestand, leiste aber gerne seinen kleinen Beitrag zur Ernteschlacht. Nur leicht ironisch war der Unterton gewesen nach Schraders Erinnerung. Jeder hatte damals die Bedeutung der Ernte für die Versorgung mit Lebensmitteln noch gekannt. Eine Kammer mit zwei Betten, ein soliden Tisch und drei Stühle drin. Draußen noch ein Abstellraum für die Taschen, mit denen sie gekommen waren und zum Ablegen ihrer Sachen in der Nacht. Zur Wasserleitung und zum Abtritt ging es quer über den Hof. Nicht übel, das Quartier; bei früheren Einsätzen zur Bewährung in der Produktion hatte Schraders Unterbringung auch weniger Komfort gezeigt.
Auch Studenten der höheren Semester kurz vor dem Abschluß schloß man nicht aus vom Einsatz an der Erntefront. Der LPG - Vorsitzende hatte sie begrüßt. Es gehe wie früher regelmäßig auch um die allseitige Stärkung der Republik. Er rechne auf Verständnis. Hatte nicht viel Zeit für Tiraden aufgewendet, sondern seinen Vertreter vorgestellt, der würde alle Einzelheiten regeln. Dieser Mann, hatte den Einsatz vorbereitet und nicht schlecht. Die Gruppe der fünfzehn Studenten war schon eingeteilt. Schrader sollte ab sieben Uhr am nächsten Morgen den Einsatz des Mähdreschers begleiten. Alles Nähere für ihn beim Maschinisten! Schrader hatte gehofft, er werde nicht wieder die meiste Zeit herumstehen müssen wie letztes Jahr. Dann die willkommene Erfahrung am ersten Einsatztag: sein Beitrag hier ergab tatsächlich Sinn. Den Drescher behinderte schon seit zwei Tagen ein Defekt. Eine Halterung für die Antriebswellen der Bindevorrichtung war ließ sich nicht mehr arretieren. Sie sprang regelmäßig auf wenn das Feldende nach einer Durchfahrt erreicht war und die Maschine wenden musste. Die Erschütterung bei der Fahrt quer zu den Furchen im Feldweg waren zu stark für das verschlissene Teil. Das bedeutete dann Stillstand für die kleine Kolonne. Das erneute Einpassen der Welle dauerte zwischen fünf und zehn Minuten. Ein Behelf, der wieder nur bis zum nächsten Wendevorgang hielt, ein ärgerliches Hemmnis, das auf die Leistung drückte. Der Fahrer reagierte zunehmend entnervt. Seit zwei Tagen verhinderte das Problem, daß man eine vernünftige Leistung erreichte. Der Vorsitzende hatte vergeblich um Hilfe durch einen Mechaniker der Nachbar - LPG nachgesucht. Dieser Mann sei zu sehr mit eigenen Schwierigkeiten eingedeckt, als dass er nachts noch nach Engenthal hätte kommen können.
Schrader hatte Rat gewusst. Sein Fach Maschinenbau war hier gefragt. Schon acht Uhr am nächsten Morgen war er zurückgefahren in die Werkstatt und hatte den großen Werkzeugkoffer mit aufs Feld gebracht. In der Pause nach neun Uhr, während die anderen unter einem Baum ihr Frühstück kauten, war ihm mit dem Einsatz einer Feile und einigen Hammerschlägen die Reparatur der ausgeschlagenen Halterung geglückt. Eine vorläufige Reparatur, nicht ganz fachmännisch gemacht, hatte er sich selbst hatte eingestanden. Der Mähdrescher hatte an diesem Tag keine Zwangspause mehr eingelegt. Das Provisorium hatte aber standgehalten bis es dunkel wurde. Der Feierabend war spät angesetzt in der Erntezeit. Keiner wusste genau, wie lange das schöne Wetter hielt. Man wollte gute Zahlen weitermelden an den Bezirk und für die Zeitung. Schließlich führte man den Kampf um die allseitige Sicherung der Ernährungsbasis. Ein Wettstreit natürlich auch mit den Nachbar - LPG. Aber es ging nicht allein um die Ehre; vor allem sollten Ernteprämien her.
Schrader hatte nach Feierabend zusammen mit Roland aus Dresden in der Werkstatt noch einmal Hand angelegt an die Maschine. Dieses mal war sein Eingriff keine halbe Sache. Er hatte mit einem Deckblech und mit Hilfe des Schweißgerätes den Fehler dauerhaft beseitigt. Zumindest bis zum Ende der Ernte dieses verhängnisvollen Jahres 1976 hatte nach seiner Einschätzung die Bindevorrichtung ihren Dienst getan.
Anschließend waren die beiden müde, aber zufrieden durch den Ort marschiert. Vor dem Haus „Erich Thälmann“ waren sie auf drei andere Erntehelfer gestoßen, die Schrader von Leipzig her nur dem Aussehen nach, sonst aber nicht näher kannte. Keine Leute der Technik sondern der Geisteswissenschaft oder auch der Medizin. Sie hatten mit Mädchen aus dem Einsatzort geschäkert. Eine von ihnen, Elvira, war Schrader an diesem Abend aufgefallen. Es war schon spät gewesen. Viel hatte sich nicht mehr getan.
Man rechnete Schrader die erfolgreiche Reparatur hoch an. Er erntete Respekt in der Brigade und noch am nächsten Tag eine förmliche Danksagung vom stellvertretenden Leiter der LPG. Gleich vom zweiten Tag an genoß er so eine Sonderstellung. Unangenehme Arbeit wurde Schrader nicht zugemutet. Der Ernteeinsatz bedeutete ohnehin keine Fronarbeit. Man lebte hier im Sommer inmitten einer üppigen Natur. Der Gegensatz zu den an Farbe armen Häuserzeilen in Leipzig konnte kaum deutlicher sein. Damals hatte er schon bald den Blick für den Reiz der kleinen Stadt entwickelt. Elvira lebte hier, also entsprach ihr auch diese Umgebung. Die Landschaft konnte nicht gleichgültig sein, hatte doch auch sie Elvira mit hervorgebracht. Ihm schien jetzt, Engenthal hatte sich ihm damals wie durch ihren Blick gezeigt.
Schrader war jetzt nicht mehr ganz jung-, aber damals noch ziemlich jung gewesen. In ganz jungen Jahren fehlt meistens der Sinn zur Wertschätzung von Schönem in der Natur auch da, wo ihr Spektakuläres fehlt. Eine ruhige Landschaft in harmonischer Gliederung, wird als selbstverständlich wahrgenommen. Er konnte sich erinnern, in jenem Jahr hatte die Überwältigung durch das Glück mit Elvira abgefärbt auch auf seine bewußte Wahrnehmung der Reize einer ruhigen Landschaft, in der sie aufgewachsen war.
War er jetzt, dreizehn Jahr später noch immer ziemlich jung? Er sah es so, mochten auch die Kollegen im Cockpit sich das Maul zerreißen mit ihrem Neid auf sein Dasein als Junggeselle. Er stieg umständlich aus. Man sollte sich in ihm nicht täuschen. Die Zeit für Vaterschaft und Ehe war noch nicht verpaßt.
Engenthal gefiel auch im Herbst. Damals war Hochsommer gewesen. Nicht Hitzedunst sondern klares Licht lag jetzt über dem kleinen Ort. Der Fall der Mauer und die Öffnung der Grenze hatten bei ungewöhnlich stabiler Wetterlage stattgefunden. Das milde Herbstwetter hielt noch immer an.
In aller Regel hatte die Brigade zwischen vier und fünf nachmittags Uhr ihre Erntehelfer ziehen lassen. Dann fand sich vor dem Abendessen noch immer Zeit für den Besuch im Badesee.
Schrader hatte sich verliebt. Das Gefühl hatte ihn überwältigt. Er fand sich ohne die Möglichkeit zur Gegenwehr. Kaum mehr als ein flüchtiges Bedauern beim Gedanken an Mandy zuhause! Die Wucht der Einsicht, duldete kaum eine besonnene Erwägung: Elvira Hambach war für ihn bestimmt und er für sie.
Am ersten Tag beim Anblick aus der Distanz in der Dämmerung hatte er sie vage als außergewöhnlich wahrgenommen. Er war müde gewesen nach der anstrengenden Aktion am Drescher. Am Folgetag, beim Baden, hatte ihn zuerst Kleinmut geplagt. Er, Schrader war nur einer, und für sie vielleicht nicht der attraktivste der Erntehelfer am Badesee, die hingerissen waren von ihrem Reiz. Ein solcher Stern erster Größe hier mitten in der Provinz oder vielmehr am äußersten Rand der Republik! Sachsen war bekannt für viele schöne Landeskinder. Hier kurz vor dem Rand der Welt dagegen trat ein Mädchen auf, das ihn alle Töchter Leipzigs vergessen ließ. Eine Erscheinung wie nicht von dieser Welt, unkompliziert im Auftritt, unwirklich schön die Anmut in den klaren Augen. Anmut, auch wenn es seltsam klang im Jahre 1976, ein besser passendes Wort dafür fiel ihm nicht ein. Elvira hatte gezeigt, dass seine, Schraders, Aufmerksamkeit erwidert wurde. Aufmerksamkeit, ein schwaches Wort. Es galt nur für die allererste Zeit. Die Anziehung war stark und, wie er sich bald sicher war, auch gegenseitig. Der Ernteeinsatz war Hermann umgehend lieber geworden als jeder andere Aufenthalt in weiten Fernen, für die sich seine Phantasie sonst leicht entzünden ließ.
Das Zentrum von Engenthal wirkte menschenleer an diesem frühen Nachmittag. Wieder zeigte sich Interesse für Schraders Fahrzeug. Zwei Jungen im Grundschulalter kamen näher. Sie betrachteten ungeniert den Golf und lasen den Stempel auf dem Nummernschild. Erst schien ihm, sie wollten ein Gespräch anfangen, dann gingen sie doch wortlos weiter. Schrader winkte ihnen beim Weggehen freundlich zu und lachte. Sie mochten jetzt bedauern, dass sie nicht den Mut aufgebracht hatten zu einer kleinen Unterhaltung. Vielleicht hätte die Ermunterung dazu von Schrader kommen müssen. Doch Schrader hatte jetzt Anderes vor. Das Tageslicht reichte noch aus für einen Grenzbesuch. Er schlug den Weg ein, den er damals oft gegangen war.
Vom Marktplatz führte die kleine Straße zwischen dem HO - Laden und der Apotheke durch bis zum Ortsrand. Dort wandelte sie sich zum Feldweg um, kein Asphalt mehr, nur noch befestigt mit einer festgefahrenen Schüttung aus Split und Schotter. Das Warnschild mit dem Hinweis auf die nahe Staatsgrenze war noch da. Nur eine Sondergenehmigung erlaube den Eintritt in den direkten Grenzbereich. Strafverfolgung und Waffengebrauch wurden bei Übertretung angedroht. Schrader setzte sich über die Warnung hinweg, so wie sie es früher gehalten hatten. Familie Hambach hatte ein Sonderbetretungsrecht. Die Mitglieder waren mit den Leuten der Grenzbrigade gut bekannt gewesen. Der Hof lag nun einmal nicht weiter als zwei Steinwürfe von der Grenze entfernt. Man hatte ihn dort angesiedelt, als von einer Staatsgrenze West in dieser Gegend keine Rede war. Wenn Elvira ihren Freund Hermann in das Elternhaus mitbrachte, hatte man das schlecht verwehren können.
Jetzt, 1989, büßte die Nahtlinie zwischen Ost und West ihre Bedrohlichkeit ein. Wenn man neuerdings beim Übertritt an den Kontrollstellen so nachlässig verfuhr wie vorhin erlebt, konnte niemand ihm die bloße Annäherung an die Grenze verargen. Um Rechtfertigung seines Ganges hier würde er nicht verlegen sein, falls wider Erwarten die Staatsgewalt doch Anstoß nahm. Früher mal hier eingesetzt gewesen als Erntehelfer. Ein friedfertiger Landsmann auf den Spuren seiner Vergangenheit, kein Saboteur!
Schraders Feldweg führte nicht direkt zum Hof sondern an dem Gebäude seitlich vorbei, im Abstand von vielleicht fünfzig Metern. Der Hof, der früher Eigentum der Familie Hambach gewesen war, die Nutzflächen einbezogen in den Bestand der LPG „freies Land“, zeigte äußerlich wenig Veränderung. Er zeigte äußerlich auch keine Spur von Leben. Weder Licht im Innern noch Fahrzeuge im einsehbaren Innenhof. Das Scheunentor war unverschlossen. Wohnte jetzt eines der Geschwister von Elvira hier? Waren andere Bewohner eingezogen oder hatte man das Haus leer stehen lassen wegen seiner Grenznähe und des Aufwandes, der für die Überwachung der Bewohner nötig war? Zeichen von Verfall sah er nicht aus der Distanz. Für einen längeren Leerstand wirkte der Garten zu gepflegt. Schrader scheute sich, die schmale Zufahrt zu betreten. Ein Stück weiter weg sah er das Haus des alten Schöppach. Wahrscheinlich lebte der längst nicht mehr. Damals schon hatte es um seine Gesundheit nicht gut gestanden.
Nicht diese Häuser, an denen auch Erinnerung hing, waren sein Ziel sondern der Ort ihrer hirnverbrannten Flucht. Schrader fühlte sich ganz ruhig. Kein Vergleich mit seiner Verstörtheit nach der Begegnung mit dieser Frau beim Rasten an der Autobahn. Gleich würde er der Stelle ganz nahe sein, an der Elvira gestorben war. Ohne Hast näherte er sich dem Wäldchen. Damals im Sommer war es grün gewesen und kühl wenn auch am Abend die Hitze über den Feldern nicht hatte weichen wollen. Er hatte sich darin königlich gefühlt neben ihr, wie in einer abgeschlossenen Zuflucht, die nur ihnen alleine vorbehalten war. Jetzt, im November waren die Blätter gelb und braun verfärbt. Der größere Teil war schon abgefallen. Was noch hängengeblieben war, gab immer noch Schutz genug, um den Einblick von außen zu verwehren. Schrader ging vorsichtig zwischen den Stämmen durch bis nahe an den Rand. Die Büsche gleich am Beginn des Streifens fehlten. Entweder zurückgeschnitten oder ganz und gar gerodet. Die Vertiefung davor ließ sich noch erkennen. Sie schien flacher geworden in der Zwischenzeit. Vielleicht täuschte ihn immer noch die Perspektive. Auf dem Boden liegend, war einem damals schon die Kuhle größer erschienen als sie tatsächlich war. Aufrecht stand Schrader da und schnaufte.
Auf dem Fahrweg vor dem Zaun näherte sich ein Jeep mit Grenzsoldaten. Er trat schnell hinter einen Stamm zurück. Ebenso gleichgültig wie damals fuhren sie vorbei, den Blick wahrscheinlich nur nach vorn gerichtet. Trotz aller Aufregung um die Öffnung der Übergänge, hier versah man seinen gewohnten Dienst. Schrader horchte in sich hinein und hörte nichts. Der Schmerz der ersten Jahre, als er weit entfernt gewesen war von diesem unheilvollen Ort, war überstark gewesen. Schwer krank hatte er ihn gemacht. Dort unten lag Elvira. Nicht mehr als vielleicht hundertfünfzig Meter trennten sie. Näher kam er ihr Grab jetzt nicht heran. Eines Tages würde dies eine Grenze sein wie alle anderen. Kein Zaun und weniger Bewachung. Er konnte nach Belieben wiederkommen und noch näher bei ihr sein.
Beim Gang zurück dachte er an sich und nicht an sie. Hatte der Besuch ihm mehr Klarheit geschafft über das zentrale Verhängnis in seinem Leben? Die Krankheit, die langen Monate nach der Flucht, in der er nicht ohne Betäubung durch Medikamente hatte schlafen können, die Pest dieser ekelhaften Niedergeschlagenheit, die noch Jahre danach an ihm gehaftet hatte. Er war schließlich halbwegs darüber weggekommen, wenn auch nicht restlos; das hatte die Reaktion auf der Raststätte einmal mehr gezeigt. Schrader fühlte die erlittene Heimsuchung jetzt nur noch abgeschwächt als Gewissenslast. Eine Last, die seine Kräfte nicht mehr überstieg. Was zurückgeblieben war, erschien immer noch Strafe genug. Die Schwierigkeiten mit vielen der Leute um ihn herum seitdem, das Gefühl, manche sähe ihm, warum auch immer, mit Befremden hinterher, vorher hatte er solche Probleme nie gehabt. Ein Trauma, hätten ihm die Leute von der Psychiatrie vielleicht gesagt, hätte er berichtet, wie alles tatsächlich abgelaufen war. Einige Male war er nahe dran gewesen, sich durch Offenlegung der gemeinsamen Flucht Hilfe zu verschaffen. Jedes mal war er vor den Folgen zurückgeschreckt. Je größer der Zeitabstand wurde, desto mehr war er froh darüber, daß er standhaft geblieben war. Letztlich hatte er sich selbst therapiert, so erschien ihm die Besserung als das Schlimmste ausgestanden war. Das Übel war nachträglich nicht mehr gutzumachen. Wem brachte seine Beschwörung einem Dritten gegenüber einen Nutzen? Was außer vielleicht kurzfristiger Erleichterung wäre erreicht worden dadurch, dass er jämmerlich in Tränen ausgebrochen wäre bei einem ihm fremden Seelenarzt?
Schnelle Besserung wäre ihm damit auch nicht früher zuteil geworden. Die Zeit musste ihre wohltätige Wirkung tun, nicht eine Beichte auf der Couch. So hatte er sich selbst zugeredet gegen den Druck, der anfangs unerträglich war. Eher hätte er sich die Zunge abgebissen, als Dritten gegenüber diese Sache auszubreiten. Wie denn hätte der Zuspruch von Fremden daran irgend etwas zu Besseren gewendet?
Aber auch das war die lange Zeit über bewusst gewesen: er konnte sich niemals mehr so frei fühlen wie der Erntehelfer, den man vor der elenden Flucht abgeordnet hatte in diese scheinbare Verlassenheit der Provinz. Das niederdrückende Gefühl von Schuld und Unfreiheit hatte er nicht abgeschüttelt, auch wenn es zuletzt schwächer geworden war. Aber er hatte in ein halbwegs normales Leben zurückgefunden. Der Erfolg im Beruf zeigte es an, und die bevorstehende Verbindung mit Rosalie. Fühlte sich nicht mehr unfrei, auch imstande zu einer spontanen Aktion wie diesem Gang. Er hatte den Ort ohne vorab gefaßten Vorsatz aufgesucht. Dass keine Erschütterung aufgekommen war, sah Schrader nicht als schlechtes Zeichen an. Wenn beim Besuch dieser Stätte das Gleichgewicht erhalten blieb, würde ihn in Zukunft so leicht nichts mehr erschüttern. Zumindest seiner moralischen Verpflichtung war er mit der Rückkehr nach Engenthal nachgekommen. Gefühle der Erleichterung, gar der Lösung und Reinigung von Schuld hatten sich nicht eingestellt. Für Schrader ein Zeichen dafür, dass sie zum größeren Teil abgegolten war. Nichts Anderes war zu erwarten nach einer Bußezeit von dreizehn Jahren. Er war wieder ein leidlich gesunder Mensch. Rosalie, drüben in Amerika wartete auf ihn. Ein ganz neuer Abschnitt lag vor Schrader mit der Verantwortung für sie und ihr ungeborenes Kind.
Zurück auf dem Marktplatz, wollte er zur Weiterfahrt nach Leipzig ins Auto steigen. Vom Gehweg vor dem Parkplatz aus stieg eine mittelgroße Frau die drei Stufen zur Apotheke von Engenlohe hoch. Schrader verschlug es den Atem. Wie war das möglich? Elvira hatte überlebt! Er stieg hastig aus und starrte keuchend vor Erregung durch das halb beschlagene Fenster. Er war weder betrunken noch hatte er gekifft. Gingen verrückte Phantasien gingen mit ihm durch? Elvira, fast unverändert nach dreizehn Jahren? Ausgeschlossen!, dennoch stand drüben Elviras Ebenbild. Er schloß die Augen, riß sie weit wieder auf und fand das liebe Bild bestätigt. Schrader suchte sich zu beruhigen. Nicht von Elviras Ebenbild, von einem Trugbild wurde er genarrt! Er lief kopflos verwirrt bis zur Straßenecke, und fand in der Kühle des Abends zur einzig vernünftigen Erklärung. Der Zufall hatte ihn zu Elviras Schwester Gisela geführt. Er machte kehrt und ging die paar Schritte zurück zur Apotheke.