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II. Was ist Religion?

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Die Frage nach dem Religionsbegriff führt unmittelbar in das Herz der Religionswissenschaft und zugleich in eine ihrer bedeutsamsten fachinternen Debatten, die in absehbarer Zeit nicht abgeschlossen sein wird – und wohl auch nicht abgeschlossen werden kann. Fast in jeder Einführung wird auf den Religionspsychologen James Leuba verwiesen, der bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts beinahe fünfzig verschiedene Definitionen von „Religion“ zusammengestellt hatte. Selbstverständlich verwarf er alle und bot statt dessen seine eigene als Alternative an. Inzwischen sind die Versuche, „Religion“ zu definieren, auf eine unüberschaubare Menge angewachsen, und es würde den Umfang dieses Bändchens sprengen, sie alle nur aufzuzählen. Auch wäre es wenig hilfreich, den vielen Definitionen von „Religion“ noch eine weitere hinzuzufügen und die Entscheidung hierfür ausführlich und langatmig zu begründen. Im Folgenden sollen deshalb lediglich einige Grundfragen des Umgangs mit dem Religionsbegriff angesprochen werden, um von da aus eine erste Orientierung im Dschungel der Religionsdefinitionen zu geben.

Eines der Probleme bei der Bestimmung des Religionsbegriffs ist darin zu sehen, dass der Begriff selbst in einem ganz spezifischen kulturellen und historischen Umfeld entstanden ist – er gehört zunächst einmal in die abendländische Geistesgeschichte. Spätestens dann, wenn wir versuchen, den Religionsbegriff als Allgemeinbegriff auf Phänomene in anderen geschichtlichen und kulturellen Zusammenhängen zu übertragen, geraten wir in unerwartete Schwierigkeiten.

Bestimmungen des Begriffs religio

Allerdings wird bereits der Begriff „Religion“ selbst nicht einheitlich verwendet, und sogar seine terminologische Ableitung ist umstritten. Zunächst beschreibt das lateinische religio, auf das er zurückgeht, „rücksichtsvolles Tun“ oder „gewissenhaftes Beobachten“. Wenngleich für die Römer im Wort religio vornehmlich der Aspekt der rituellen Exaktheit, des richtigen Tuns der religiösen Handlung angelegt ist, kann der Begriff in verschiedene Richtungen erschlossen werden.

Cicero (106–43 v. Chr.) bestimmt religio in seiner Abhandlung De natura deorum („Über das Wesen der Götter“) als cultus deorum, also als „Götterkult“, als „Pflege“ oder „Verehrung“ der Götter, wobei das richtige rituelle Verhalten im Vordergrund steht. Quasi als Gegenbegriff zu neglegere, „vernachlässigen“, bezieht sich relegere, „sorgsam beachten“, auf den richtigen Handlungsablauf beim Gottesdienst oder genauer: beim „Götter-Dienst“. Cicero bringt damit das römische Verständnis von „Religion“ zum Ausdruck, dem zufolge es bei der Religion weniger darum geht, richtig zu glauben, als vielmehr darum, die auf die Götter gerichteten Handlungen richtig zu vollziehen – also nicht Orthodoxie, sondern Orthopraxis kennzeichnet die römische Religion.

Lactantius, ein christlicher Schriftsteller und Redner aus dem 3./4. Jh. n.Chr., gibt allerdings eine andere Bedeutung an: Er leitet religio von religare ab – binden, wieder binden, rückbinden, zurückbringen. Später nimmt der große christliche Theologe Augustin (354–430) diese Bestimmung auf und beschreibt die religio vera, die „wahre Religion“ als diejenige, die darauf ausgerichtet ist, die Seele, die von Gott getrennt ist bzw. sich von ihm losgerissen hat, wieder mit Gott zu versöhnen und an ihn „zurückzubinden“.

Kürzlich ist als dritte Variante vorgeschlagen worden, religio von rem ligare, „die Sache anbinden“ – im Sinne von „die Betriebsamkeit ruhen lassen“ – abzuleiten.

Die Debatte über die zutreffende Ableitung des Terminus religio macht deutlich, dass die Bestimmung des Religionsbegriffs nicht im Sinne einer objektiven, „gegebenen“ Definition möglich ist, sondern an einen besonderen historisch-kulturellen Kontext gebunden bleibt.

der Wandel des Religionsbegriffs in der abendländischen Geistesgeschichte

Allerdings spricht eine Reihe von Indizien für die Ableitung des Begriffs religio vom cultus deorum im Sinne des „richtigen Tuns“: So bezog sich der Gegenbegriff zu religio, die superstitio, nicht auf einen falschen Glauben (später: „Aberglauben“), sondern auf ein falsches Tun – falsch im Sinne einer inkorrekten oder auch übertriebenen, ohne Legitimation und Autorisierung vollzogenen Handlung. Ein weiteres Indiz für die Richtigkeit dieser Ableitung ist darin zu sehen, dass trotz der durch Augustin vorgenommenen theologischen Schwerpunktverlagerung des Verständnisses von religio auch im Christentum zunächst noch der Aspekt der Orthopraxis bewahrt geblieben ist: Religiosi sind Mönche und Nonnen, also Ordensleute, und der status religionis findet als status perfectionis vornehmlich im richtigen kultischen Handeln, nicht im „Geglaubten“ seinen Ausdruck.

Zur Zeit der Reformation ergibt sich eine folgenschwere Akzentverschiebung in der Verwendung des Begriffs religio: Zum einen beginnen die Humanisten damit, religio mehr und mehr auf das zu beziehen, was der Volksmund als „gemeiner christlicher Glaube“ oder auch als „Bekenntnis“ bezeichnet; mit der Reformation wird „Religion“ dann zu einem Begriff, der eine kritische Funktion wahrnimmt – gegen „Aberglaube“ und „Magie“, aber auch gegen das in den Augen der Reformatoren unrechte kultische Tun der römisch-katholischen Kirche in ihren Gottesdiensten. Zum anderen setzt eine Tendenz zur Verallgemeinerung des Religionsbegriffs ein, die mit der Aufklärung nach und nach zum Durchbruch kommt: Zunächst wird „Religion“ zu etwas, das in konzeptioneller Gestalt als hinter, als Begriff über der Vielfalt der einzelnen Religionen steht – so bei David Humes (1711–1776) Verständnis von Religion als „natural religion“.

die Verallgemeinerung des Religionsbegriffs in der Aufklärung

Diese Entwicklung findet in der Spätaufklärung ihre Fortsetzung. Religion erscheint als ein ideales Ganzes, das nur in verkürzter und unzulänglicher Gestalt in den Religionen vorhanden ist. Damit tritt der Religionsbegriff zu den realen Religionen in ein doppeltes Spannungsverhältnis: Einerseits richtet er sich religionskritisch gegen die konkreten geschichtlichen Ausformungen der vorhandenen Religionen, indem er die Religion an sich zum archimedischen Punkt erklärt, von dem aus die Kritik an den konkreten Gestalten von Religion formuliert werden kann. Andererseits wird die Religion an sich der Religionskritik entzogen, da sie in einer solchen formlosen Gestalt nirgendwo zu greifen ist. In diesem doppelten Spannungsverhältnis von Religion und Religionen spiegelt sich eine durchgängige Ambivalenz des aufgeklärten Religionsbegriffs, der Religionskritik und Religionsbegründung in sich aufzuheben beansprucht. Die sog. Ringparabel in Gotthold Ephraim Lessings (1729–1781) Schauspiel „Nathan der Weise“ ist hierfür ein besonders schlagendes Beispiel: Einerseits werden die konkreten Religionen – in diesem Fall: Judentum, Christentum und Islam – einer Kritik unterzogen, die sich vornehmlich gegen ihre jeweiligen Überlegenheitsansprüche und Vereinnahmungsversuche richtet. Andererseits gründet sich diese Kritik auf die Vorstellung der einen, wahren Religion an sich, die der Menschheit Zukunft und (Über-)Leben eröffnet.

der Religionsbegriff im Dienst von Religionskritik und Religionsbegründung

Gerade in der Anwendung des Allgemeinbegriffs „Religion“ auf die Christentumsgeschichte hat das erwähnte doppelte Spannungsverhältnis von Religionsbegriff und konkreten Religionen im 19. und 20.Jh. immer wieder sowohl zur Begründung einer Christentumskritik als auch zur Untermauerung des christlichen Absolutheitsanspruchs geführt: Einerseits wird mit dem allgemeinen Religionsbegriff der Anspruch des Christentums auf eine übernatürliche, vermeintlich „absolute“ Position jenseits der Geschichte grundsätzlich bestritten, und die christliche Religion kommt mit allen konkreten Religionen auf derselben Stufe und im Rahmen derselben Weltgeschichte zur Darstellung. Andererseits hat der Geschichtsevolutionismus in seiner Kombination mit der Konzeption von „Religion“ als Allgemeinbegriff im Singular dazu geführt, dass sich der Absolutheitsanspruch des Christentums auf neue Weise begründen ließ: durch die Annahme, „die Religion“ durchlaufe einen linearen Entwicklungsprozess und strebe auf diese Weise ihrer Verwirklichung in der Welt entgegen, wobei das Christentum als zivilisierteste und höchst entwickelte Gestalt von Religion diesem Ideal näher stünde als die anderen Menschheitsreligionen.

Seit der Aufklärung haben wir also mit dem Problem zu tun, dass der Religionsbegriff als Begriff der abendländischen Geistesgeschichte einerseits seine Herkunft und seine inhaltlichen Bestimmungen dem spezifischen historisch-kulturellen Kontext Europas verdankt, dass er aber andererseits als Allgemeinbegriff den Anspruch erhebt, auch in anderen historisch-kulturellen Zusammenhängen etwas zu benennen, das dem entspricht, was er im („christlichen“) Abendland beschreibt.

Fehlende Entsprechungen zum modernen Religionsbegriff im klassischen Griechenland

Doch die Sache liegt sogar noch komplizierter. Nicht nur in anderen Kulturen, sondern auch in anderen historischen Epochen gibt es zum Begriff „Religion“ keine unmittelbare Entsprechung. Selbst die Wiege der abendländischen Kultur, das klassische Griechenland, kennt keinen Terminus, der unserem Religionsbegriff korrespondiert: Eusébeia bezeichnet Ehrfurcht und Scheu, aber die gilt keineswegs nur gegenüber den Göttern, sondern auch gegenüber Menschen – verehrungswürdigen Personen – oder Dingen – bewährten Werten und Normen; latreía kann sich zwar auch auf einen kultischen Dienst beziehen, benennt zunächst jedoch ganz allgemein und im profanen Sinne eine Dienstleistung; und threskéia beschreibt einen konkreten Vorgang im Sinne einer Gebotserfüllung. Zwar gibt es gemeinsame Schnittmengen zwischen diesen Begriffen und unserem Religionsbegriff, doch geht die Bedeutung der griechischen Termini weit über das hinaus, was wir als „Religion“ bezeichnen würden. Unser Religionsbegriff grenzt also wichtige Aspekte aus, die nach griechischem Verständnis – zumindest begrifflich – von „Religion“ nicht abzutrennen sind, und wäre somit zu eng, um alle von den griechischen Termini erfassten Bereiche mit einzubeziehen.

Der Sachverhalt wird nicht leichter, wenn wir uns in kulturellen Kontexten außerhalb des Abendlandes auf die Suche nach terminologischen Entsprechungen zu unserem Religionsbegriff begeben.

Religion als dîn?

Im islamischen Bereich gilt das Arabische dîn als ein solcher Terminus. Dieser Begriff leitet sich von der semitischen Wurzel dâna ab, was ungefähr bedeutet: etwas entrichten – nämlich das, was man (Gott) schuldig ist – und birgt somit ganz andere Assoziationen in sich als unser Religionsbegriff. So spricht der Koran etwa vom yawm ad-dîn – vom „Tag des Gerichts“. Im arabischen Sprachgebrauch kann dîn (Plural: adyân) durchaus eine Religion bzw. Religionen in unserem Sinne bezeichnen. Zugleich beschreibt dîn allerdings auch wieder mehr als bloß „Religion“, nämlich (von Recht und Ordnung geprägte) Lebensformen, Brauch und Sitte.

Religion als dharma?

Im indischen Bereich liegt der Sachverhalt nochmals anders. Hier ist der entsprechende Begriff dharma, aus dem Sanskrit, von der Wurzel dhr abgeleitet, was so viel wie „tragen“, „halten“ bedeutet.

Dharma umfasst eine außerordentlich große Bedeutungs- und Assoziationsbreite, und das Spektrum reicht hier von mythischen Vorstellungen, nach denen die Götter den Kosmos „zusammenhalten“, über die Vorstellung eines kosmischen Ordnungsprinzips oder ein Verständnis von dharma als „Gesetz“, bis hin zur Bezeichnung für die Kastenordnung in hinduistischen Traditionen, die mit dieser Verwendung des Begriffs Aspekte des rituellen und sozialen Ordnungssystems in den Vordergrund stellen.

In den Traditionen des Buddhismus wiederum wird der Begriff – im Pali als dhamma – auf die Lehre des Buddha bezogen, zum Teil auch auf den sog. „Achtfachen Pfad“ als Konkretisierung dieser Lehre; darin spiegelt sich sogleich das buddhistische Selbstverständnis wider, dass der Buddha keine metaphysischen Wahrheiten und keine „religiösen“ Dogmen verkündet habe, sondern in seiner Lehre lediglich die Ordnung der Dinge, wie sie wirklich ist – den dharma –, zum Ausdruck bringe. Dharma kann jedoch auch das Lehrsystem anderer Lehrer – oder gar die Lehre und das „Gesetz“ anderer Religionen – bezeichnen. Doch damit nicht genug: Dharma beschreibt die Praxis der Lehre bzw. Weltordnung im Sinne ihrer Verwirklichung bis zum nirvana – das selbst wiederum mit dharma synonym gebraucht werden kann; dharma kann als ethische Kategorie aber auch das rechte Verhalten bezeichnen; und schließlich wird es als ontologische, also das Seinsverständnis betreffende Kategorie zur Beschreibung derjenigen Faktoren verwendet, auf denen nach buddhistischem Verständnis die Existenz der Dinge beruht. Auch hier wird deutlich, dass es nur eine vergleichsweise kleine gemeinsame Schnittmenge zwischen unserem Religionsbegriff und der weiten Bedeutungsbreite von dharma gibt.

Religion als dao?

Das Problem setzt sich fort, wenn wir weitere Termini zu unserem Religionsbegriff in Beziehung setzen: Wählen wir aus dem ostasiatischen Bereich den Begriff des dao – als „Weg“ oder „Prinzip“, das allem Wirklichen zugrunde liegt –, so öffnen sich nochmals ganz neue Perspektiven auf die von uns mit „Religion“ gemeinte Sache; dao hat in diesem Zusammenhang nämlich auf der einen Seite eine spezifischere, auf der anderen Seite eine allgemeinere Bedeutung als „Religion“, indem er die Ordnung des Weltganzen bezeichnet, zugleich jedoch die Harmonie widersprüchlicher, zugleich aber zusammenhängender, sich gegenseitig bedingender Prinzipien beschreibt. Versuchen wir, die Vielfalt chinesischer Religionen durch eine Art Sammelbegriff zu bestimmen – durch den Terminus bai shen, ca. „Verehrung der Götter“ –, so bewegen wir uns wiederum in einem Bereich, der unserem Religionsverständnis einerseits sehr nahe kommt, andererseits aber lediglich einen Aspekt von „Religion“ im chinesischen Kontext in den Blick nimmt.

Gänzlich den Boden unter den Füßen zu verlieren scheinen wir beispielsweise bei afrikanischen oder ozeanischen Religionen, wo wir zumeist nichts finden, was sich als klar unterscheidbarer Teilbereich „Religion“ vom Gesamtkontext der Kultur abhebt – kein Wunder, dass früher Reisende oder Ethnographen, die mit diesen Kulturen konfrontiert waren, entweder meinten, es gäbe dort überhaupt keine Religion, oder zu dem Schluss kamen, dort sei alles Religion.

der Religionsbegriff zwischen Allgemeingültigkeit und Kulturgebundenheit

Was wir auch versuchen: Entweder ist unser Begriff „Religion“ zu eng oder zu weit, um das zu erfassen, was in anderen religiösen und kulturellen Traditionen mit Termini beschrieben wird, die unserem Religionsbegriff zu korrespondieren scheinen. In diesen Termini schwingen zudem unterschwellig Bedeutungen mit, die nicht unmittelbar dem entsprechen, was wir im Sinn haben, wenn wir an „Religion“ denken. Die Frage ist also: Findet sich in der Vielfalt der Religionen tatsächlich so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner, der berechtigterweise mit dem Begriff „Religion“ als Allgemeinbegriff wiedergegeben werden kann? Oder versperrt die Anwendung eines generellen Religionsbegriffs nicht gerade ein angemessenes Verständnis der Einzel„religion“, da wir in diesem Fall immer schon unsere Wahrnehmung der anderen Religion auf das reduzieren, was unserem Verständnis von „Religion“ entspricht? Jedenfalls gibt es gute Gründe, einen solchen Einwurf ernst zu nehmen. Unabhängig davon, wie wir diese Fragen beantworten, ändert das nichts am Grundproblem: Es bleibt eine letztlich unauflösbare Spannung bestehen, die sich daraus ergibt, dass unser Religionsbegriff einerseits an den historisch-kulturellen Kontext des Abendlandes gebunden bleibt, dass er andererseits aber als Allgemeinbegriff beansprucht, entsprechende Phänomene außerhalb dieses historisch-kulturellen Kontextes, dem er selbst entstammt, angemessen zu erfassen.

Dieses Problem wäre gelöst, wenn es gelänge, das allen Religionen Gemeinsame zu identifizieren und begrifflich als „Religion“ zu fassen. Diesbezügliche Bemühungen gehen bislang vornehmlich in zwei Richtungen: Einerseits wird versucht, dieses Gemeinsame in bestimmten Inhalten, in einer gemeinsamen „Substanz“ zu suchen (substanzialistisches, bisweilen auch substanzielles Verständnis); manche Religionsforscher hoffen gar, auf diese Weise das allen Einzelreligionen zugrunde liegende „Wesen“, die „Essenz“ der Religion ausfindig zu machen. Ein anderer Versuch besteht darin, nach dem zu fragen, was die verschiedenen Religionen – unabhängig von ihren unterschiedlichen Inhalten – leisten, welche Strukturen jenseits einzelner, je eigener Gegenstände und inhaltlicher Aspekte ihnen gemeinsam sind, welche Funktionen sie erfüllen (funktionales Verständnis, das auch dem funktionalistischen zugrunde liegt, von diesem hier aber terminologisch unterschieden werden soll).

Substanzialistisches Religionsverständnis

Was das substanzialistische Verständnis von „Religion“ betrifft, so werden die Inhalte, die den kleinsten gemeinsamen Nenner der Religionen auszumachen scheinen, verschieden eng oder weit bestimmt.

Aufgrund der Bindung des Religionsbegriffs an die abendländische Kultur- und Geistesgeschichte überrascht es dabei nicht, dass oftmals „Gott“ als konstitutives Grundelement solcher Definitionen genannt wird – bisweilen ganz konkret, manchmal auch in Gestalt eines Abstraktums („Gottheit“) oder im Plural („Götter“).

So hat etwa Günter Lanczkowski Religion definiert als „ein unableitbares Urphänomen, eine Größe sui generis, die konstituiert wird durch die existenzielle Wechselbeziehung zwischen Mensch und Gott einerseits, … und andererseits den Reaktionen des Menschen, seine ‘Richtung auf das Unbedingte’“(12: 33f.). Mit den Hinweisen auf das Urphänomen Religion sowie auf die Unableitbarkeit und Besonderheit von Religion als Erscheinung ganz eigener Qualität – sui generis – bestimmt Lanczkowski Religion als etwas, das allen Menschen gemeinsam ist und darin besteht, dass die Menschen Gott existenziell erfahren und darauf reagieren. Gott wird so zur konstitutiven Größe von Religion, Religion ohne Gott kann es nicht geben.

Religion als Glaube an „höhere Wesen“

Mit einer solchen Religionsdefinition steht Lanczkowski nicht alleine. Eine der „klassischen“ Bestimmungen von „Religion“ im Rahmen einer frühen Religionstheorie, die im Rahmen kulturanthropologischer Fragestellungen formuliert worden war und noch ganz unter dem Einfluss des Evolutionismus stand, kann als Vorläufer dieser Definition betrachtet werden: Edward Burnett Tylor (1832–1917) definierte Religion als „Glaube an geistige Wesen“ (133: 383f.). Diese Definition unterscheidet sich von der Lanczkowskis lediglich dadurch, dass Tylor annimmt, im Frühstadium der religiösen Menschheitsentwicklung habe der Glaube an Geister gestanden, der später durch den Glauben an viele Götter (Polytheismus) bzw. an einen Gott (Monotheismus) abgelöst worden sei; als Allgemeinbegriff für Götter (im Singular oder Plural), Geister oder andere höhere Wesen dient ihm dabei der Terminus „geistige Wesen“ (spiritual beings). Auch der Religionssoziologe Milford E. Spiro definiert in dieser Tradition Religion als Institution, die aus einer „kulturell geprägten Interaktion mit kulturell postulierten übermenschlichen Wesen (superhuman beings)“ (zit. nach 23: 21) besteht. Günther Kehrer, der sich diesem Verständnis von Religion anschließt, stellt zu Recht fest, dass „alle substanziellen Definitionen von Religion in der einen oder anderen Weise auf die Bestimmung zulaufen, dass Religion der Glaube an übernatürliche Wesen sei und somit letztlich Modifikationen der Tylorschen Definitionen sind“ (ebd: 23).

Gegen solche Religionsdefinitionen ist wiederholt der Einwand erhoben worden, dass nicht alle Religionen so etwas wie Gott, Götter oder „übernatürliche Wesen“ kennen, wobei u.a. immer wieder auf den frühen Buddhismus verwiesen wird. Andere substanzialistische Religionsdefinitionen versuchen, diese Schwierigkeit zu umgehen, indem sie abstraktere Grundgegebenheiten als Inhalt bzw. Gegenstand von Religion bestimmen.

Heiligkeit und Transzendenzerfahrung

Insbesondere in der Tradition der klassischen Religionsphänomenologie ist, der Begriff des Heiligen oder der Heiligkeit an diese Stelle gerückt. Nathan Söderblom hat explizit festgestellt, dass Religion auch „ohne bestimmte Auffassung von der Gottheit“ möglich ist, und kommt zu dem Schluss: „Heiligkeit ist das bestimmende Wort in der Religion“ (Hervorhebung von mir, K. H.; zit. n. 73: 76). Gleichzeitig definiert Rudolf Otto in seinem gleichnamigen Werk Das Heilige als grundlegende Kategorie, mit der „Religion“ erfasst wird. Dieser Traditionsstrang wird vielfach aufgenommen und weitergesponnen: Für Gustav Mensching „ist Religion erlebnishafte Begegnung des Menschen mit der Wirklichkeit des Heiligen und antwortendes Handeln des vom Heiligen bestimmten Menschen“ (37:15); und Mircea Eliade behauptet zwar, aufgrund der von ihm gewählten Methodik einer morphologischen Darstellung religiöser Phänomene der Verantwortung enthoben zu sein, „Religion“ zu definieren, de facto bezieht er sich jedoch auf die Kategorie des Heiligen, das sich seiner Meinung nach in der Gestaltungsart verschiedener Erscheinungsformen des Heiligen – in der „Modalität“ unterschiedlicher „Hierophanien“ (76: 31f. u. passim) – manifestiert. Andere substanzialistische Religionsdefinitionen abstrahieren noch stärker und bestimmen Transzendenz bzw. die Transzendenzerfahrung als Grundgegebenheit von Religion. Doch es ist fraglich, ob damit tatsächlich das allen substanzialistischen Religionsdefinitionen gemeinsame Problem gelöst werden kann: dass nämlich eine inhaltliche Bestimmung des Religionsbegriffs bestimmte „Religionen“ ausschließt. Inwieweit beispielsweise für den frühen Buddhismus, aber auch für den Konfuzianismus oder den Daoismus „Transzendenz“ bzw. „Transzendenzerfahrung“ konstitutiv ist, bleibt strittig.

funktionales Religionsverständnis

Solche Schwierigkeiten scheinen denjenigen Definitionen erspart zu bleiben, die auf substanzielle Bestimmungen von Religion verzichten. Sie fragen nicht, was Religion ist, sondern was sie tut bzw. was sie bewirkt, also was sie leistet und welche Funktionen sie erfüllt. Damit verbindet sich die Annahme, dass die Religion auf allgemeine und grundlegende menschliche Probleme reagiert, die nicht „technisch“ lösbar sind – auf Grundbedürfnisse, auf Sinnfragen, auf existenzielle Krisen etc. –, und dass ihre Leistung darin besteht, für diese Probleme „Lösungen“ anzubieten. Religion gehört folglich zum Menschsein des Menschen. Fraglich ist jedoch, inwieweit die genannten Probleme „an sich“, also kulturunabhängig auftreten; wenn dies nicht der Fall ist, müssen auch die Antworten darauf, was Religion leistet, je nach kulturellem Kontext äußerst unterschiedlich ausfallen, und wir haben es plötzlich mit einer Vielzahl funktionaler Religionsbestimmungen zu tun.

soziale Integration

Von Bedeutung ist jedoch auch die Frage, welche Leistung von Religion im Blick auf das Ganze der Kultur erwartet wird: In der Perspektive „klassischer“ funktionalistischer Modelle – hier wäre an erster Stelle auf den Hauptvertreter des ethnologischen Funktionalismus, Bronislaw Malinowski (1884–1942), aber auch schon auf den Religionssoziologen Émile Durkheim (1858–1917) zu verweisen – besteht die Hauptfunktion der Religion in der Integration der Gesellschaft. Damit verbindet sich zumeist ein Harmoniemodell von Kultur: Kultur, so die Annahme, „funktioniere“ in idealer Weise, wenn die verschiedenen Teilbereiche, aus denen sie existiert (Wissenschaft, Wirtschaft, Recht, Religion …), einander harmonisch ergänzen und aufeinander eingespielt sind. Die besondere Funktion und Leistung der Religion bestünde in diesem Zusammenhang darin, die Menschen in die Gesellschaft zu integrieren und auf diese Weise das harmonische Funktionieren der Gesellschaft zu gewährleisten. Aber trifft dies wirklich zu? Belegen nicht viele Beispiele – gerade aus der jüngsten Religionsgeschichte –, dass Religion auch eine desintegrierende Funktion hat und in dieser Gestalt gerade destabilisierend wirken kann?

Orientierung und Sinngebung

Auch funktionale Bestimmungen von Religion haben ihre Grenzen: Je konkreter sie auf bestimmte Kulturen bezogen sind, desto unterschiedlicher werden die Antworten auf die Frage ausfallen, was Religion ist. Ähnlich wie substanzialistische Religionsdefinitionen fallen funktionale Religionsbestimmungen umso allgemeiner aus, je abstrakter die Leistung von „Religion“ bestimmt wird. Ein Beispiel für einen besonders hohen Abstraktionsgrad ist die Religionstheorie des 1998 verstorbenen Religionssoziologen Niklas Luhmann, der die Leistung der Religion in etwa folgendermaßen bestimmt: Die Welt ist kontingent – d.h. sie ist zufällig so, wie sie ist, könnte aber auch anders sein; angesichts dieser Situation der Unsicherheit und Unbestimmtheit überführt die Religion Unbestimmbares in Bestimmbares, indem sie Komplexität reduziert: Sie wählt aus der Unendlichkeit aller Möglichkeiten aus und erzeugt auf diese Weise „Sinn“. Die besondere Leistung der Religion besteht also in ihrer orientierenden Funktion. Religion ist Kontingenzbewältigungspraxis durch Reduktion von Komplexität.

Aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrades lässt sich Luhmanns Religionsdefinition relativ leicht auf je konkrete, unterschiedliche Religionsformen anwenden. Doch wie die von Luhmann, so sind auch die anderen funktionalen Religionsbestimmungen vielseitiger Kritik unterzogen worden: Sie würden die spezifischen Inhalte und damit auch die „Innensicht“ der Religion völlig ignorieren, die Religion auf bloß Nichtreligiöses reduzieren und durch ihre Frage nach der Leistung bzw. der Funktion von Religion religiöse und nicht-religiöse Elemente völlig austauschbar machen.

Aporien substanzialistischer und funktionaler Religionsbestimmungen

Sowohl substanzialistische als auch funktionale Religionsbestimmungen weisen offensichtlich eine Reihe von Problemen auf, die uns deutlich vor Augen führen, dass wir von einer klaren Definition von „Religion“ wohl noch weit entfernt sind.

Angesichts der Grenzen und Unzulänglichkeiten beider Herangehensweisen ist eine „Kombination der funktionalen und substanziellen Methode“ vorgeschlagen worden, um einer Religionsdefinition schrittweise näher zu kommen und die jeweiligen Schwächen der funktionalistischen Bestimmungen durch die Stärken der substanzialistischen aufzuheben und umgekehrt: „Dem Außenaspekt der Religion ist durch die Verknüpfung der religiösen Inhalte und Formen mit dem Problem gesellschaftlicher und individueller Sinnkonstitution Rechnung getragen, dem Innenaspekt der Religion durch die Berücksichtigung ihres Transzendenzbezuges und der Veranschaulichungsformen des Transzendenten“ (186: 190). Doch auch eine solche Kombination von funktionalen und substanzialistischen Bestimmungen von „Religion“ dürfte uns angesichts der Vielfalt der Selbst- und Fremdbestimmungen von „Religion“ auf absehbare Zeit keinen allgemeinen, alle Religionen umfassenden, über-historischen Begriff von Religion bescheren.

Eine aus dem abendländisch-“christlichen“ Kontext stammende Religionsdefinition wird sich zunächst wohl immer an dem orientieren, was ihr im Rahmen ihrer Kulturgeschichte als „Religion“ bekannt ist. Wie der Zürcher Religionswissenschaftler Fritz Stolz festgestellt hat, formen sich dabei „Erfahrungen mit Christentum, Judentum, Islam und Antike … zu einem „prototypischen“ Bild von Religion … Von diesem prototypisch orientierten Ausgangspunkt her liegt eine substanzialistische Fragestellung nahe, welche das „Wesentliche“ einer Religion in bestimmten Inhalten sucht. Allerdings wird diese Fragestellung mit zunehmender Entfernung vom kulturellen und historischen Umfeld des Prototyps immer problematischer“ (15: 34).

Hinzu kommt, dass sich auch im Kontext substanzialistischer Religionsdefinitionen nicht trennscharf bestimmen lässt, was nun genau „Religion“ ist, und was nicht. Religion als kulturelles Phänomen ist mit anderen Bereichen der Kultur – Wirtschaft, Recht, Kunst, politischer oder sozialer Ordnung etc. – so verschmolzen, dass sie nicht als eigenständige Erscheinung, sondern nur in dieser Verwobenheit in den Blick kommen kann: als Teil der Wirtschaft (z.B. Verbot von Sonntagsarbeit), als Teil des Rechts (z.B. als islamisches Personalstatutsrecht), als Teil der Kunst (z.B. als Gemälde mit religiösen Motiven), als Teil der sozialen oder politischen Ordnung (z.B. als Krönungszeremonie) … Religion ist also nicht an eindeutigen Inhalten festzumachen, ist nicht in ihrem „Wesen“ zu fassen.

Religion als „offenes Konzept“

Von daher liegt es in der Tat nahe, auf eine Definition des Religionsbegriffs zu verzichten, wie beispielsweise der Bremer Religionswissenschaftler Hans Kippenberg vorgeschlagen hat. Dies trifft sich mit der auch bei anderen Religionswissenschaftlern zu beobachtenden Neigung, die Frage offen zu lassen bzw. Religion als „offenes Konzept“ zu bestimmen (18: 33). Ein solcher Verzicht auf die Bestimmung des Religionsbegriffs birgt allerdings neue Probleme in sich: Wenn „Religion“ tatsächlich nicht definiert werden kann – würde dies nicht bedeuten, auf Religionswissenschaft als eigenständige Disziplin ganz zu verzichten und sie in ihre Teildisziplinen – von den Philologien, der Soziologie und der Ethnologie über die Psychologie bis hin zur Orientalistik und anderen kulturwissenschaftlichen Fächern – aufzulösen oder völlig in eine größere Einheit – der Theologie oder der Philosophie – aufgehen zu lassen? Soll an der Eigenständigkeit der Religionsforschung als wissenschaftlicher Disziplin festgehalten werden, müsste also vielleicht nicht unbedingt eine enge Definition, zumindest aber eine annähernde Bestimmung von „Religion“ vorgenommen werden.

Religion als Orientierungssystem

In der Tat wurde und wird dies von verschiedener Seite versucht. Nicht selten bemühen sich dabei diesbezügliche Vorschläge um eine Vermittlung von funktionalem und substanzialistischem Religionsverständnis. Jacques Waardenburg etwa bestimmt „Religion auf abstrakter Ebene vor allem als Orientierung, Religionen als eine Art Orientierungssysteme“ (ebd: 34). Dies hat Vorteile in zwei Richtungen: Einerseits wird der Religionsbegriff nicht zu eng definiert, sondern offen gehalten, so dass auch solche Orientierungssysteme in den Blick genommen werden können, die sich selbst als nicht-religiös einordnen, bei genauerer Prüfung jedoch durchaus religiöse Elemente aufweisen; andererseits wird der Religionsbegriff nicht ins Beliebige ausgeweitet, sondern beschreibt verwandte Phänomene, die gewisse Merkmale gemeinsam haben. Waardenburg selbst nennt unter anderem Elemente wie „besondere Erfahrungen und Verhaltensweisen, die sich auf religiöse Kräfte und Zusammenhänge beziehen, die dem Leben und der Welt zugrundeliegen sollen …, für absolut gültig gehaltene Normen und Werte …, bestimmte jenseitige, unbedingt, ja absolut geltende Bezugspunkte, die sinngebend wirken …“ (ebd: 34f.). Die religiöse Funktion dieser Orientierungssysteme sieht er darin, dass „ihre Sinngebung auch tatsächlich als objektiv, absolut geltend und somit evident hingenommen wird“ (ebd.: 35). Mit dieser funktionalen Bestimmung wird es möglich, einerseits Veränderung von „Orientierungssystemen“ weg von Religionen und hin zu „rein sozialen Systemen“ zu beobachten sowie andererseits die „religiöse“ Wirkung nicht-religiöser Orientierungssysteme religionswissenschaftlich zu analysieren.

Dimensionen von Religion

Auch von anderer Seite wurde verschiedentlich versucht, Kriterien zu benennen, die das mit „Religion“ Gemeinte näher bestimmen lassen, ohne es in das Zwangskorsett einer engen Definition zu pressen. Hier wäre unter anderem auf die von Charles Glock und Rodney Stark entwickelten Versuche zu verweisen, verschiedene „Dimensionen“ von Religiosität zu beschreiben: die ideologische Dimension, die ritualistische Dimension, die Dimension der Erfahrung, die intellektuelle Dimension, sowie die handlungspraktische Dimension. Glock selbst hat die von ihm vorgeschlagenen fünf Dimensionen später auf vier reduziert, andere wiederum fanden mehr als fünf Dimensionen: Der 2001 verstorbene britische Religionswissenschaftler Ninian Smart etwa unterscheidet in seinem Standardwerk über die religiöse Erfahrung der Menschheit die rituelle, die mythologische, die Lehr-, die ethische, die soziale und die Erfahrungsdimension; Ursula Boos-Nünning wiederum erweitert die fünf von Glock und Stark genannten Dimensionen um eine sechste – die Bindung an die Gemeinde –, fasst mehrere andere aber in der übergeordneten Kategorie „Allgemeine Religiosität“ zusammen.

Diese Beispiele zeigen, dass auch die Bestimmung verschiedener Dimensionen oder Komponenten von „Religion“ äußerst uneinheitlich ist, ja widersprüchlich bleibt. Doch dieser Versuch, eine Reihe von Faktoren zu identifizieren, die es erlauben, das Bedeutungsfeld „Religion“ näher zu erschließen, zeigt uns zweierlei:

Komplexität und Pluralität der Bestimmung von „Religion“

Erstens sind die „handelsüblichen“ Definitionen von „Religion“ zumeist dadurch gekennzeichnet, dass sie ihren Gegenstand „eindimensional“ bestimmen. Dabei wird aus der Vielfalt der Faktoren ein bestimmter Aspekt ausgewählt und zur Grundlage der jeweiligen Religionsdefinition erhoben. Religion erscheint dann als „Glaube“, als „Erfahrung“, als „Ethik“, als „Denksystem“, als (rituelle) „Handlung“ usw. Ein solches Vorgehen reduziert „Religion“ also auf einen bestimmten Aspekt, muss sie jedoch zugleich – um die Definition allgemein gültig zu halten – so stark abstrahieren, dass die konkrete, gelebte Religion hinter der abstrakten Bestimmung kaum noch erkennbar ist. Zugleich verrät die so gewonnene Definition von Religion eine ganze Menge über diejenigen, die sie erstellt haben, ja sie sagt zumeist mehr über die Positionen und Vorlieben der Forschenden aus, als über die Religion selbst.

Diese Beobachtung führt zur zweiten Feststellung: „Religion“ umfasst eine ganze „Familie“ von Komponenten. Der Religionsbegriff muss sich also auf eine Sammlung von verschiedenen Faktoren, Kriterien und Dimensionen beziehen, die – zusammen genommen – einen Rahmen beschreiben, innerhalb dessen die Religionswissenschaft ihren Gegenstand einzeichnen kann. Dieser Rahmen ist allerdings nicht „objektiv gegeben“, sondern durch die Tätigkeit der Religionswissenschaftler „konstruiert“: Sie – die Forschenden – sind es, die aus zusammengehörigen Elementen und Ausdrucksformen ein idealtypisches Raster erstellen, das bestimmt, was als „Religion“ gelten kann.

Religion als wissenschaftliches „Konstrukt“

Was also ist „Religion“? Zunächst ein wissenschaftliches Konstrukt, das ein ganzes Bündel von Bestimmungen funktionaler und inhaltlicher Art umfasst, mit dem zusammengehörige Elemente und Ausdrucksformen in einem Raster als Gegenstandsbereich religionswissenschaftlicher (und anderer) Forschung – als „Religion“ – erfasst werden können. Hierzu gehören u.a. Dimensionen der Ethik und des sozialen Handelns (Normen und Werte, Verhaltensmuster, Lebensformen), rituelle Dimensionen (kultische und andere symbolische Handlungen), kognitive und intellektuelle Dimensionen (Lehr- und Glaubenssysteme, Mythologien, Kosmologien etc., also das gesamte „religiöse“ Wissen), sozio-politische und institutionelle Dimensionen (Organisationsformen, Recht, religiöses Expertentum usw.), symbolisch-sinnliche Dimensionen (Zeichen und Symbole, religiöse Kunst, Musik etc.) und Dimensionen der Erfahrung (Berufungs- und Offenbarungserlebnisse, Gefühle mystischer Einheit, Heilungs- und Heilserlebnisse, Gemeinschafts- und Verschmelzungserfahrungen …).

Mit diesen Bestimmungen wird auf eine eindeutige Definition von „Religion“ verzichtet, der Religionsbegriff bleibt im Sinne Waardenburgs bewusst offen. Dabei tritt dann auch die Frage, ob eher einem substanzialistischen oder einem funktionalen Religionsverständnis der Vorzug zu geben sei, in den Hintergrund, zumal die Möglichkeit erhalten bleibt, zwischen beiden Ansätzen zu vermitteln. Zugleich geraten die Forschenden selbst in den Blick, die in ihrer „konstruierenden“ Tätigkeit die einzelnen Dimensionen des religionswissenschaftlichen Gegenstandsbereiches verschieden gewichten und bei der Bestimmung von „Religion“ entsprechend unterschiedliche Akzente setzen. In der Religionswissenschaft besteht allerdings ein weitgehender Konsens darüber, dass ein religionswissenschaftliches Verständnis von „Religion“ nicht selbst „religiös“ sein darf, dass also strikt zu unterscheiden ist zwischen religiösem Diskurs – religiösen Aussagen, Handlungsträgern, Symbolen und Kategorien usw. – und religionswissenschaftlicher Konstruktion – der Bestimmung zusammengehöriger Elemente und Ausdrucksformen mit Hilfe eines Rasters formaler Begriffsbildungen auf der Ebene einer „Meta-Sprache“, einer wissenschaftlichen Fachsprache jenseits religiöser Rede.

die Realität der Religion

An dieser Stelle ist jedoch darauf zu achten, dass wir nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Die Feststellung, dass es sich beim Religionsbegriff um ein wissenschaftliches Konstrukt handelt, besagt nun nicht, dass wir es mit einer bloßen Fiktion zu tun hätten, die in der Realität keine Entsprechung fände. Vielmehr schlägt sich „Religion“ nicht nur in unserer Alltagssprache nieder, sondern findet beispielsweise in Recht und Gesetzgebung als Gegebenheit ihre Beachtung. Religion ist damit mehr als nur Schall und Rauch – sie ist eine soziale Realität, ein spezifischer Kommunikationsprozess, der Wirklichkeiten schafft und durch soziale Handlungen selbst reale Gestalt gewinnt. Wir müssen uns allerdings der Tatsache bewusst sein, dass „Religion“ sowohl hinsichtlich inhaltlicher Bestimmungen als auch im Blick auf ihre Funktionen gegenwärtig einem rapiden Wandel und tiefgreifenden Veränderungen unterworfen ist. Politische Religion, Sport als Religion, Religion in der populären Kultur, Religion und Medien, neue Religiosität, New Age usw. wären einige der Schlagworte, die einen solchen Wandel anzeigen. Diese Umbrüche könnten uns nötigen, nach einem neuen Religionsbegriff zu suchen, der die veränderte Situation in angemessener Weise reflektiert.

Einführung in die Religionswissenschaft

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