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Einleitung
Оглавление„Graf Bismarck hat neben sich einen zögernden Souverän mit einem unsicheren Gewissen, das unter verschiedenen gemischten und gearteten Einfüssen handelt; er hat ferner eine feindliche Nation vor sich und hinter sich eine Sache, die, bis zu einem gewissen Grade in ihrem Ziel volkstümlich, doch in der Form und der Methode dem öffentlichen Gefühl widerstrebt.“
Francis Napier of Merchistone, Britischer Botschafter in Berlin, am 14. Oktober 18651
Am 3. Juli 1866 stürmte das I. Bataillon des 7. Westfälischen Infanterie-Regimentes Nr. 56 gegen 14.30 Uhr die Ortschaft Problus, den südlichen Eckpunkt der österreichisch-sächsischen Stellung bei Königgrätz. Gut 1500 Meter offenes Gelände hatten die Angreifer unter heftigem Gewehr- und flankierenden Kartätschenfeuer bis zum Ortsrand zu überwinden. Die preußischen Verluste waren beträchtlich: 18 Offziere sowie 317 Unteroffiziere und Mannschaften des in Köln stationierten Regimentes waren am Abend entweder tot oder verwundet.2
Zu den ganz übel Zugerichteten zählte auch ein gewisser Johann Konrad Adenauer aus der Domstadt, ein stattlicher Mann in den Dreißigern, der in 15 Dienstjahren zum Feldwebel aufgestiegen war. Schon im folgenden Jahr musste Adenauer, der zuvor noch ehrenhalber zum niedrigsten Offizierdienstgrad (Sekonde-Lieutenant) befördert worden war, wegen seiner Blessuren als „Ganzinvalide“ mit einer monatlichen Pension von zehn Talern aus der Armee ausscheiden. Johann Konrad Adenauers tapferes Verhalten in der Schlacht von Königgrätz fand immerhin Würdigung in der Regi mentsgeschichte, die Behauptung aber, dass der Vater des späteren ersten Kanzlers der deutschen Westrepublik im Kampf eine österreichische Fahne erbeutet haben soll, erwies sich als aus der Luft gegriffen.3 Hätte sich aber der Feldwebel Johann Konrad Adenauer im Jahre 1866 je träumen lassen, dass einer seiner Söhne einmal in einer unvorhersehbar fernen Zukunft zum Nachlassverwalter jenes Reiches werden würde, an dessen Entstehung er bei Königgrätz als Soldat mitgewirkt hatte?
83 Jahre und eine ganze Epoche später war der auf dem böhmischen Schlachtfeld gegründete preußisch-deutsche Machtstaat schon wieder Geschichte und der jüngste Sohn des Veteranen von Königgrätz freute sich als Regierungschef des soeben konstituierten westdeutschen Teilstaates geradezu diebisch, dass er anlässlich der Vorstellung seines ersten Kabinetts vor der Alliierten Hohen Kommission am 21. September 1949 auf dem Bonner Petersberg den roten Teppich hatte betreten können, ohne von den argwöhnischen Kommissaren zurechtgewiesen worden zu sein.4
Adenauers Gefallen an kleinen Unbotmäßigkeiten gegenüber den Vertretern der Alliierten erinnerte in gewisser Weise auch an Bismarcks lustvoll provokantes Verhalten gegenüber den Vertretern Österreichs während seiner Zeit als preußischer Gesandter am Frankfurter Bundestag. Deutschland oder das, was nach dem Ende der Hitlerdiktatur davon übrig geblieben war, schien nun endgültig auf ein verträgliches Maß zurechtgestutzt. Westorientierung und die Beschränkung nationaler Souveränität durch Einbindung in europäische oder transatlantische Institutionen waren der neue Königsweg des vorerst noch fragilen Adenauerstaates. Das 1866 von Bismarck durch „Blut und Eisen“ begründete Reich, Europa in einer Stunde der Unaufmerksamkeit abgetrotzt, erschien einer nachwachsenden Generation deutscher Historiker bald schon nicht mehr als historische Ausnahmeleistung. Plötzlich war das Werk des „Eisernen Kanzlers“ zu einer nationalen Verirrung mutiert, zum fatalen Beginn eines deutschen Sonderweges, der eine gedeihliche demokratische Entwicklung verhinderte und angeblich auch verantwortlich war für die kriegerischen Katastrophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Zu den prominentesten Vertreter dieser Richtung zählte wohl der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler, der in seiner Geschichte des Deutschen Kaiserreichs von einem strukturellen Grundproblem des Bismarckstaates sprach. Vorindustrielle Machteliten hätten demnach die Bildung einer freiheitlichen Sozial- und Staatsverfassung verhindert und eine aggressiv auftrumpfende Außenpolitik begünstigt.5 „Von Bismarck zu Hitler“ lautete wiederum in den 1970er-Jahren der Titel einer gedankenreichen Studie des renommierten Publizisten Sebastian Haffner, in der von einer Geburtshypothek des Bismarckreiches gesprochen wird. Für seine Nachbarn war es zu mächtig, für sich allein aber zu schwach, um einer gegnerischen Koalition erfolgreich trotzen zu können, und daher stets zum Prävenire geneigt. Das autoritäre Kaiserreich schien Historikern wie Heinrich August Winkler geradezu als der Gegenentwurf zur politischen Kultur des „Westens“ mit ihren Bürgerrechten, ihrer Gewaltenteilung und ihrer Toleranz.
Hatte also Bismarck 1866 die Büchse der Pandora geöffnet, um sämtliche Übel des Nationalismus in die Weltgeschichte zu entlassen? Historiker wie der Bismarckbiograf Lothar Gall oder Thomas Nipperdey haben dagegen immer darauf verwiesen, dass die Idee des Nationalstaates zu den wirkungsmächtigsten Kräften des 19. Jahrhunderts gezählt hatte. Eine in den 1850er-Jahren stark aufblühende Wirtschaft in Westdeutschland und Baden, in Berlin und Sachsen forderte geradezu die Vereinheitlichung von Maßen, Münzen und Tarifen in einem gemeinsamen Staat. Ökonomisch passte man schon längst nicht mehr zu Österreich, was der einflussreiche Staatssekretär im Handelsministerium, Rudolf Delbrück, dem preußischen Ministerpräsidenten im August 1864 unmissverständlich klarmachen musste, als dieser in der Zollfrage Zugeständnisse an Wien ernsthaft in Erwägung zog.6 Der Krieg von 1866 beschleunigte schließlich nur die unausweichliche Trennung vom Kaiserstaat.
Gab es aber 1866 überhaupt noch realistische Alternativen zu einer kleindeutschen Lösung unter preußischer Führung? Etwa eine Fortentwicklung des Deutschen Bundes mit seinen föderalen Strukturen unter Beibehaltung des preußisch-österreichischen Dualismus? War nicht gerade dieser Bund, dieser schale Aufguss des 1806 aufgelösten alten Reiches, längst zu einem Gebilde erstarrt, das immer noch die Kräfteverhältnisse von 1815 zu zementieren versuchte und das ein halbes Jahrhundert lang vielen Patrioten nur als Symbol engstirniger Kleinstaaterei und politischer Unterdrückung gegolten hatte? Nirgendwo löste die föderale Perspektive besonderen Enthusiasmus aus, ja eine deutsche Föderation wäre im Kontext der Nationalismen des 19. Jahrhunderts erst wirklich ein deutscher Sonderweg gewesen, da selbst Italien unter erheblich ungünstigeren Vorzeichen seine nationale Einheit anstrebte und die Gründung der Società nazionale im Jahre 1857 sogar Vorbild für den Deutschen Nationalverein wurde.
Bismarck hat 1866 und dann endgültig 1870/71 den deutschen Nationalstaat mit Waffengewalt errichtet, doch das Deutsche Reich von 1871 führte danach 43 Jahre keinen Krieg mehr. Selbst für das vergleichsweise friedliche 19. Jahrhundert war dies eine beachtliche Zeitspanne. Gewiss fügte sich das Reich von 1871 mit einem „Biegen“ in die europäische Staatenwelt, aber es war kein Brechen, wie Klaus Hildebrand betonte.7 Und überdies: Hätten die Deutschen auf ihren Nationalstaat verzichten sollen, nur weil dieser den Neid und den Revisionismus einiger Mächte hervorrief? Einzig linke Historiker mögen dies als eine echte Option betrachten. Sie verkennen in ihrer grundsätzlichen Ablehnung alles Nationalen aber auch gern, dass der Nationalstaat bis heute die einzige politische Organisationsform geblieben ist, die es wenigstens im atlantischen Raum geschafft hat, halbwegs stabile und ausgewogene Sozialordnungen hervorzubringen und mit demokratischen Mitteln zu bewahren. Ob dies auch der Europäischen Union mit ihrer von Krisen geschüttelten Währung gelingen wird, steht noch in den Sternen.
Der Krieg von 1866 hat fraglos die mitteleuropäische Staatenwelt revolutioniert und das Wiener System von 1815 begraben. Es erweist sich aber bis heute als überaus schwierig, den kampferfüllten sieben Wochen des Jahres 1866 überhaupt einen zutreffenden Namen zu geben. War es der Krieg Preußens gegen Österreich, von dem auch noch die meisten Nachschlagewerke im Kaiserreich sprachen?8 Politisch wäre das zutreffend, da der Krieg von 1866 in der Hauptsache den preußisch-österreichischen Dualismus, vom Potsdamer Autokraten Friedrich II. einst mit der Besetzung Schlesiens eröffnet, endgültig zugunsten des Hohenzollernstaates entschieden hat. Ein „Preußisch-Österreichischer Krieg“ würde aber der Mitwirkung der deutschen Staaten und vor allem Italiens nicht gerecht, selbst wenn die militärische Bilanz dieser Verbündeten 1866 nicht gerade beeindruckend ausfiel.
Auch die häufig verwendete Rede vom „Deutschen Krieg“ schließt das italienische Risorgimento vollkommen aus und müsste auch einräumen, dass die militärische Entscheidung in Böhmen, einem überwiegend von Nichtdeutschen bewohnten Gebiet, gefallen ist. Eine derartige Etikettierung würde zudem übersehen, dass auch in den österreichischen Regimentern Italiener, Kroaten oder Rumänen kämpften. Bei Nachod fochten am 27. Juni 1866 sogar auf beiden Seiten Polen unter fremder Fahne gegeneinander. Auch war der siebenwöchige Waffengang von 1866 nicht wirklich ein Einigungskrieg, denn immerhin schieden nach dem Sieg Preußens fast zehn Mio. Deutsch-Österreicher keineswegs begeistert aus dem jahrhundertealten Verbund der deutschen Nation aus. Der kleindeutsche Nationalstaat kam nur um den Preis einer schmerzlichen Trennung zustande, wie es Thomas Nipperdey einmal treffend formuliert hat.9
Inzwischen findet sich in aktuellen Darstellungen auch die Bezeichnung „Deutscher Bruderkrieg“.10 Tatsächlich sprachen im Vorfeld des Krieges viele Gebildete wie etwa der Bonner Rechtsprofessor Clemens Theodor Perthes, der in engem Briefkontakt zum preußischen Kriegsminister Albrecht von Roon gestanden hat, von einem Krieg, der die Feindschaft mitten in die Familien hineintragen würde.11 Doch derartige Bedenken schienen eher ein Oberschichtenphänomen gewesen zu sein und wohl auch nur auf Preußen beschränkt. Die Frankfurter etwa sahen auch schon vor ihrer Besetzung in den Preußen nicht etwa die deutschen Brüder, sondern schlicht harte und unerbittliche Gegner. Für die Soldaten aller Armeen wiederum blieb der feindliche Soldat einfach nur der Widersacher, der einem unter Umständen ans Leder wollte. Gewiss eine extreme Ausnahme war der bayerische Jäger, der in einem Kissinger Hotelzimmer hoffnungslos von Angreifern umstellt, jeden „preußischen Pardon“ ablehnte und sich lieber totstechen lassen wollte, was dann auch geschah.12 Doch auch die Soldaten der Division „Goeben“ freuten sich bei Aschaffenburg, dass sie nun Gelegenheit hatten, nach den Bayern und Hessen auch noch die Österreicher zu prügeln.13 Der Nationalismus war 1866 fraglos noch ein Anliegen der gebildeten Schichten. Gerade Soldaten aus ländlichen Räumen, die es gewohnt waren, sich mit den jungen Leuten der Nachbarorte bei jeder Gelegenheit zu raufen, auch unter Inkaufnahme böser Verletzungen, konnten mit der Idee eines einigen deutschen Volkes wenig anfangen. Entscheidend für sie war stets die Primärgruppe, das Dorf, die Handwerksgemeinschaft und schließlich im Krieg die eigene Korporalschaft.14 Die 5700 Patronen, die preußische Füsiliere am 26. Juni im Gefecht bei Podol innerhalb kürzester Frist verbrauchten, waren längst nicht alle in die Luft geschossen worden.15
Der Krieg von 1866 war somit allenfalls im Rückblick ein Bruderkrieg. Vor allem aber schien er Bismarcks Krieg gewesen zu sein. Damit ist allerdings keine vordergründige Kriegsschuldzuweisung verknüpft, wie sie damals viele Zeitgenossen in einer Art von gerechtem Zorn vornahmen. Mit einer „solchen Schamlosigkeit und Frivolität“ sei „vielleicht noch nie ein Krieg angezettelt worden wie der, den Bismarck gegen Österreich zu erheben sucht“, schrieb etwa der Rechtsprofessor Rudolf von Jherings am 1. Mai 1866 aus Wien16 und stand mit seiner Ansicht bei Weitem nicht allein.
Seit seiner Zeit als Preußischer Gesandter am Frankfurter Bundestag hatte Bismarck die militärische Konfrontation gegen Österreich herbeigeredet, hatte es in seiner Korrespondenz gegenüber beinahe jedem in vielen Varianten immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass Preußen und Österreich in Deutschland einander die Luft zum Atmen wegnähmen und „einer […] weichen oder vom anderen gewichen werden“ müsse.17 Nicht noch einmal dürfe Preußen eine Demütigung wie die von Olmütz hinnehmen, als im November 1850 Österreich seinen norddeutschen Rivalen mit militärischem Druck und der Hilfe Russlands dazu gezwungen hatte, seine kleindeutsche Unionspolitik aufzugeben und der Wiedererrichtung des Frankfurter Bundestages zuzustimmen. Bismarcks Weg in den Krieg von 1866 verlief allerdings nie gradlinig. Er war Staatsmann genug, ernsthaft auch friedliche Optionen mit Habsburg auszuloten, sofern nur Preußens Status als Großmacht und seine dominierende Rolle in Norddeutschland gesichert war. Die Ausdehnung preußischer Macht war das primäre Ziel des Urpreußen Bismarck und Habsburg musste – so oder so – dazu gebracht werden, Preußens neue Rolle zu akzeptieren. Nur wenige sahen die Rivalität zwischen Preußen und Österreich mit dieser kristallklaren Nüchternheit. Sein kritischer Realismus versetzte ihn in die Lage, Machtverhältnisse unabhängig von ideo logischen Bindungen zu analysieren, zu durchschauen und ständig im Fluss zu halten. Der Gegner von gestern konnte der Alliierte von morgen sein, selbst mit Österreich schloss er 1864 ein Bündnis gegen Dänemark und brüskierte damit die gesamte deutsche Nationalbewegung. Bismarck war gewiss nicht der Magier, der alle diese Kräfte wirklich kontrollierte, aber er verstand sie zu nutzen, kombinierte sie oder spielte sie gegeneinander aus und dies mit einer titanenhaften Kraft, die keinen Augenblick ihren Kurs aus dem Auge verlor. Doch auch wenn Bismarck spätestens seit der Kronratssitzung vom 29. Februar 1866 den Krieg gegen Habsburg energisch vorantrieb und alle erdenklichen Kräfte mobilisierte, war es ihm am Ende doch nicht gelungen, den ihn umgebenden Ring aus Isolierung und Feindseligkeit zu durchbrechen.18 Es brauchte Mut, ja vielleicht sogar Verzweiflung, unter diesen Bedingungen seinen Hut in den Ring zu werfen. Bismarck tat es, indem er am 7. Juni Holstein besetzen ließ und damit die Lunte zum Waffengang mit Österreich und seinen Verbündeten zündete. Ein „neues Olmütz“ durfte es nicht geben. Der Krieg von 1866 war in diesem tieferen Sinn tatsächlich sein Krieg.