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1. Die Vorläufer der Waffen-SS bis zum Kriegsausbruch Der 30. Juni 1934 – Die Geburtsstunde eines SS-Staatsschutzkorps

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»Als wenige haben wir angefangen. Wir sind damals angetreten nach heiligen und großen Gesetzen, angetreten nach unserem Gesetz der Auslese nordisch bestimmter Menschen, nach unserem unverbrüchlichen Gesetz von Treue und Tapferkeit, nach unserem Gesetz, dass wir unser Blut heilig halten wollen und das Blut weitergeben wollen, angetreten aber vor allem nach dem Gesetz einer unverbrüchlichen Gefolgschaft zum Führer Adolf Hitler.«

Reichsführer-SS Heinrich Himmler im September 1940

vor Angehörigen der SS-»Leibstandarte« in Metz1

Kurz nach Mitternacht des 30. Juni 1934 erhielten zwei Kompanien (Stürme) der in Berlin-Lichterfelde untergebrachten SS-»Leibstandarte Adolf Hitler« (LAH) ihren ersten scharfen Einsatzbefehl. Ein nächtlicher Bahntransport sollte die 220 Männer in geheimer Mission nach Bayern bringen. Hitlers persönliche Prätorianer waren erst 15 Monate zuvor als besondere Stabswache für die Reichskanzlei aufgestellt und am 9. November 1933 in einer nächtlichen Zeremonie vor der Münchner Feldherrnhalle auf den Diktator vereidigt worden. Noch lebte Reichspräsident Paul von Hindenburg, aber kaum jemand hatte damals Anstoß daran genommen, dass die formal noch gültige Weimarer Verfassung eigentlich keine bewaffneten Kräfte unter dem direkten Befehl eines Reichskanzlers vorsah.

Von ihrer Anfangsstärke von 117 Mann war die illegale Truppe nach Zusammenlegung mit den SS-Sonderkommandos Jüterbog und Zossen rasch auf mehr als 1000 Mann angewachsen und in die ehemalige preußische Hauptkadettenanstalt umgezogen, die in der Weimarer Zeit als Polizeikaserne gedient hatte. Hitlers Leibstandarte verfügte inzwischen sogar über eine Maschinengewehreinheit, einen motorisierten Sturm und eine eigene Versorgungsstaffel, was weit über den Bedarf einer »Palastwache« hinausging.2 Die Männer stammten aus der SA oder der Allgemeinen SS und hatten sich in zahllosen Saalschlachten eine ausgeprägte Gewaltaffinität erworben. Das Berufsbild war vom Akademiker bis zum Gelegenheitsarbeiter bunt gefächert. Etliche der Älteren unter ihnen hatten bereits in Freikorps oder in der Reichswehr gedient. Andere Prätorianer wie etwa Theodor Wisch, der spätere Generalmajor der Waffen-SS, oder Georg Schönberger, der 1944 das Panzerregiment der SS-»Leibstandarte« führen sollte, besaßen auch eine gut gefüllte Polizeiakte.3 Nicht wenige Angehörige dieser angeblichen Elite waren schwere Alkoholiker, wie beispielweise Kurt Gildisch, der für seine Untaten im Verlauf des 30. Juni 1934 von Reichsführer-SS Heinrich Himmler zum Sturmbannführer (Major) befördert werden sollte, zwei Jahre später aber wegen öffentlicher Pöbeleien im angetrunkenen Zustand gegen Reichswehrsoldaten und Polizei aus der SS ausgestoßen wurde.

Fast 40 Angehörige der Leibstandarte stammten aus Österreich und hatten im Mai 1933, nach dem Verbot der dortigen NSDAP, ihr Heimatland illegal verlassen, wodurch sie zu Staatenlosen geworden waren.

Für die militärische Grundausbildung der zusammengewürfelten Truppe hatte die Reichswehr auf den Truppenübungsplätzen Jüterbog und Zossen gesorgt. Noch 1938 fand Himmler deswegen schmeichelnde Worte für den Befehlshaber des zuständigen Wehrbereichs III, General der Artillerie Werner Freiherr von Fritsch. Er habe den Aufbau der Leibstandarte sehr gut unterstützt.4 Es störte den Reichsführer-SS durchaus nicht, dass der Aristokrat Fritsch in Wahrheit ein beharrlicher Kritiker der bewaffneten SS war und sie sogar als einen »lebendigen Misstrauensbeweis gegen das Heer und seine Führung« bezeichnete.


Röhm und Hitler gemeinsam auf dem Reichsparteitag in Nürnberg zwischen dem 30. August und dem 3. September 1933.

Die Reichswehrführung im Berliner Bendlerblock sah dies allerdings weniger dramatisch. Reichskriegsminister Generaloberst Werner von Blomberg sowie der Chef des Ministeramtes, Generalmajor Walter von Reichenau, wollten in Hitlers kleiner Prätorianerschar vorerst keine ernsthafte Konkurrenz zur legalen Streitmacht des Reiches sehen. Man begrüßte sie im Gegenteil sogar als willkommene Verbündete gegen Ernst Röhm und dessen SA. Als die SS-»Leibstandarte« am 30. Juni 1934 zu Hitlers bewaffneter Speerspitze gegen diesen gemeinsamen und weitaus bedrohlicher wirkenden Gegner avancierte, fand sie mit Reichenaus Genehmigung auch die bereitwillige Unterstützung der bayerischen Militärbehörden.

Kaum 18 Monate nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler stand dem neuen Regime im Frühsommer 1934 ein brutaler innerparteilicher Schlagabtausch bevor. Im Kern ging es um die zukünftige Rolle der SA im neuen NS-Staat. Hermann Göring, der als preußischer Ministerpräsident zugleich zum Herrn über den größten deutschen Polizeiapparat avanciert war, hatte sich mit Himmler und dessen sinistren Sicherheitschef Reinhard Heydrich gegen Röhm, den Stabschef der omnipräsenten Massenorganisation, verbündet. Seit der Machtergreifung hatte Röhm, der Weltkriegsoffizier, Verdunkämpfer und nunmehrige Staatsminister ohne Geschäftsbereich, immer wieder auf eine gewichtigere Rolle seiner braunen Kolonnen gedrängt und zuletzt sogar mit einer »zweiten Revolution« gedroht. Göring sah seine eigenen militärischen Ambitionen bedroht, falls Röhm seine Pläne einer Massenmiliz durchsetzen sollte. Seit der Machtergreifung spekulierte der Weltkriegsflieger und letzte Kommodore des Jagdgeschwaders »Richthofen« auf den Oberbefehl über das Heer. Dagegen kalkulierten Himmler und Heydrich, im Erfolgsfall Görings gesamte Polizeigewalt erben zu können.

Für die Reichswehrgeneralität wiederum war Röhms Anspruch absolut inakzeptabel, mit seiner – nach dem Beitritt des rechtsnationalen Stahlhelms – auf über vier Millionen Mann angewachsenen SA der »erste Waffenträger der Nation« zu werden. Zwar hatte Hitler bereits am 28. Februar 1934 Röhms Konzept einer Milizarmee in einer Erklärung im Beisein der Spitzen von SA und Reichswehr rundweg abgelehnt. Für seine politischen Expansionspläne brauchte der Diktator eine professionelle und hoch bewegliche Armee, die zu offensiven Operationen fähig war. Doch schien er gleichwohl noch lange nach Kompromissen mit der SA-Führung und seinem alten Duzfreund Röhm gesucht zu haben. Derweil bemühten sich Göring, Himmler und Heydrich, völlig frei von sentimentalen Rücksichten, mit gefälschten oder völlig übertriebenen Meldungen ein Bedrohungsszenario aufzubauen, demzufolge die SA sich bereits in einigen deutschen Städten zusammenrotte und die SA-Führung um Röhm kurz vor einem Staatsstreich stände.5 Nicht ohne Erfolg. Ende Juni zeigte sich Hitler endlich zum Schlagen entschlossen.

Die Männer der nachts in Berlin alarmierten Leibstandarte unterstanden dem Kommando des damals 42-jährigen Sepp Dietrich, einem grobschlächtigen, aber bauernschlauen Schwaben, der im Ersten Weltkrieg zuletzt als Panzersoldat zum Einsatz gekommen war und sich seit seiner Zeit im berüchtigten Freikorps »Oberland« in etlichen zivilen Berufen mit mehr oder weniger Erfolg versucht hatte. Seine tatsächliche Bestimmung schien der ehemalige Vizefeldwebel der bayerischen Armee erst gefunden zu haben, nachdem er 1928 als Hitlers Leibwächter in die NSDAP eingetreten war und sich – erstaunlich weitsichtig – sogleich für die damals noch unbedeutende SS entschieden hatte.6 Joseph Goebbels notierte später spöttisch in sein Tagebuch, dass Dietrich ohne den Nationalsozialismus wohl immer nur Unteroffizier geblieben wäre, so aber sollte er unter dem Hakenkreuz bis zum Kriegsende noch zum Oberbefehlshaber einer Armee aufsteigen. Hitler hatte ihn einmal als seinen »bayerischen Wrangel« gelobt, doch nach Auskunft des späteren Stabschefs der SS-»Leibstandarte«, Wilhelm Bittrich, sei Dietrich nicht einmal in der Lage gewesen, eine Lagekarte zu lesen.7

Während Hitlers oberster Prätorianer auf Befehl seines »Führers« mit einem Flugzeug nach München flog, wurden die beiden in ihren Quartieren alarmierten Stürme mit einem auf dem Anhalter Bahnhof beschlagnahmten Urlaubszug ins bayerische Kaufering am Lech befördert. Dort eingetroffen sollten sie am nächsten Morgen auf Lastwagen der Reichswehr in das etwa 100 Kilometer entfernte Bad Wiessee gebracht werden, wo sich in dieser Nacht die Führungsspitze der SA unter ihrem völlig arglosen Stabschef Ernst Röhm in einer Pension einquartiert hatte. Hitler selbst war kurz nach Dietrich mit einer dreimotorigen Junkers Ju 52 von Bonn in die bayerische Hauptstadt geflogen, wo er morgens gegen 3.30 Uhr eintraf. Meldungen über spontane große SA-Aufmärsche in den Straßen Münchens am Abend zuvor versetzten ihn in rasende Wut. Auch wenn die alarmierten SA-Männer längst wieder von ihren Vorgesetzten nach Hause geschickt worden waren, glaubte Hitler jetzt keine Zeit mehr verlieren zu dürfen. Röhm und sein Führungskorps mussten sofort in Bad Wiessee verhaftet werden. Nach nur kurzem Aufenthalt im Braunen Haus in der Brienner Straße machte sich der Diktator, in äußerster Erregung und von nur wenigen Polizisten eskortiert, auf den Weg zu Röhms Urlaubsquartier am malerischen Tegernsee.8


Stabschef Ernst Röhm (Mitte) vor dem Hauptquartier der SA in München unmittelbar vor seiner Ermordung während des Röhm-Putsches am 1. Juli 1934.

Seine von Kaufering kommenden 220 Leibgardisten waren dazu bestimmt, die Verhaftung der SA-Führungsspitze gegen den möglichen Widerstand rasch alarmierter SA-Männer abzuschirmen. Doch als Hitler, dessen Wut auf Röhm sich inzwischen zur Panik gesteigert hatte, kurzerhand gegen 6.30 Uhr morgens an der Spitze seiner kleinen Begleitgruppe mit einer Reitgerte in der Hand die Pension stürmte, um die vermeintlichen Verräter mit seinen Begleitern unter wüsten Beschimpfungen aus ihren Betten zu werfen, war von seiner Leibgarde weit und breit nichts zu entdecken. So sah sich der Parteiführer und Reichskanzler gezwungen, eine plötzlich mit einem Lastwagen aus München eingetroffene SA-Stabswache mit viel Aplomp und Pathos auf Distanz zu halten. Das morgendliche Treiben am idyllischen Seekurort hatte etwas Surreales. Der Regierungschef einer modernen Industrienation von mehr als 70 Millionen Menschen war an diesem Samstagmorgen in die Rolle des gesetzlosen Räuberhauptmanns geschlüpft, um einigen scheinbar untreuen Bandenmitgliedern persönlich den Garaus zu machen. Auch als die kritische Lage mit dem Abzug der bewaffneten SA-Männer bereinigt schien, blieb der Reichskanzler in besonderer Mission vorsichtig und nahm mit seiner kleinen Gruppe und den Gefangenen einen weiten Umweg zurück in die bayerische Hauptstadt.

Dort im Braunen Haus meldete sich dann auch gegen Mittag endlich der Chef seiner verschollenen Leibgarde bei ihm. Der reichlich verlegene Dietrich entschuldigte das Ausbleiben seiner beiden Stürme mit nassen Straßen und abgefahrenen Reifen. Die mangelnde Fahrtüchtigkeit der von der Reichswehr gestellten Transporter konnte den Soldaten der SS-»Leibstandarte« zwar ebenso wenig angelastet werden wie ein zusätzliche Zeit kostender Tankstopp in Landsberg. Doch aus Hitlers Sicht war der erste scharfe Einsatz seiner Prätorianer gründlich schiefgegangen. Der Diktator hatte für einige ungemütliche Minuten in Bad Wiessee praktisch allein einer mit Gewehren bewaffneten SA-Stabswache gegenübergestanden, die ihn ohne Weiteres hätte verhaften oder gar umbringen können. Mit einem unwirschen Murren quittierte Hitler fürs Erste Dietrichs kleinlaute Erklärungen und erteilte ihm kurz darauf neue Befehle. Er hatte jetzt aus seinen beiden Kompanien sofort ein Kommando zusammenzustellen, um gemäß einer soeben erstellten Todesliste sechs der in das Stadelheimer Gefängnis verschleppten SA-Funktionäre, darunter auch den Münchener Polizeipräsidenten August Schneidhuber, ohne weitere Umstände im Hof der Haftanstalt zu erschießen. Nur der Duzfreund Röhm selbst sollte vorerst verschont bleiben. Dass der Chef der Leibstandarte sich kurz darauf noch einmal in der Brienner Straße zurückmeldete, weil der zuständige Gefängnisdirektor Robert Koch die Herausgabe der Gefangenen ohne eindeutige schriftliche Befehle verweigert hatte, hätte Hitlers Unwillen über seinen obersten Prätorianer wohl noch gesteigert. Doch der Diktator befand sich bereits auf dem Rückflug nach Berlin, und so musste der ans Telefon gerufene Rudolf Heß den widerstrebenden Koch mit einem Schwall übelster Drohungen auf Linie bringen. Derart eingeschüchtert ließ er die Leibstandarte schließlich in seinem Gefängnis gewähren.

Die von Dietrich nach eigenen Worten sorgfältig ausgesuchten Schützen, damit, wie er 1958 vor dem Münchner Landgericht versicherte, »keine Schweinerei« passiere, erledigten offenbar ohne Einwände ihren blutigen Auftrag, der ihnen nach bestehender Gesetzeslage mindestens als Totschlag angelastet werden konnte. Kurt Meyer, der später als »Panzermeyer« bekannt wurde und 1944 die 12. SS-Panzer-Division »Hitlerjugend« an der Invasionsfront führen sollte, war als Angehöriger der SS-»Leibstandarte« Zeuge der Geschehnisse gewesen und bezeichnete zehn Jahre später in britischer Gefangenschaft im Gespräch mit dem General der Panzertruppe Heinrich Eberbach die Erschießungen als eine »saubere Angelegenheit«. Die seien da »soldatisch erschossen worden«.9 Angesichts der verzweifelten Unschuldsbekundungen etlicher der Delinquenten bewiesen Meyers Kameraden an diesem Abend mehr Kaltblütigkeit als ihr kleinwüchsiger Chef, der, wie ein Entlastungszeuge ein Vierteljahrhundert später vor dem Münchner Landgericht erklärte, die Nerven verloren und sich angeblich schon nach der dritten Salve vom Ort des Geschehens zurückgezogen habe.10 Dietrich zählte zu den wenigen NS-Größen, die sich für ihre Beteiligung an der Mordwelle des 30. Juni 1934 in der Bundesrepublik juristisch verantworten mussten. Das Münchener Landgericht verurteilte Hitlers obersten Leibwächter fast ein Vierteljahrhundert nach den Todessalven von Stadelheim zu einer erstaunlichen milden Strafe von 18 Monaten Gefängnis.

Nach dem Überrumplungsakt von Bad Wiessee und Hitlers wohlbehaltenem Eintreffen in Berlin war auf das am frühen Nachmittag ausgegebene Stichwort »Kolibri« über die Reichshauptstadt und andere Städte eine Welle von Verhaftungen und Morden hinweggezogen, wie sie Deutschland mitten im Frieden noch nie erlebt hatte. Auf Befehl Himmlers und Görings wurde aus der Unterkunft der Leibstandarte in der ehemaligen Hauptkadettenanstalt in Berlin-Lichterfelde eine Hinrichtungsstätte. Bis in die Nacht hinein passierten in kurzen Abständen Lastwagen mit Verschleppten das von zwei in Stein gehauenen Weltkriegssoldaten flankierte Kasernentor. Die Gewehrsalven hallten durch die anliegenden Straßen und ließen die gutbürgerlichen Anwohner entsetzt in ihren Betten hochfahren. Nach späteren Zeugenaussagen müssen wohl 170 SA-Funktionäre, aber auch konservative Regimekritiker, vor den alkoholisierten Erschießungskommandos der Leibstandarte den Tod gefunden haben.11

Hitler hatte am Nachmittag des 30. Juni den in Stadelheim gefangenen Ernst Röhm zunächst noch verschont. Doch nach dem Abklingen der Mordaktionen war auch die letzte Stunde des einstigen Kampfgenossen gekommen. Ein Hochverratsprozess gegen Röhm musste unbedingt vermieden werden, und so ließ der Diktator am Abend des 1. Juli Himmler den brisanten Mordbefehl an Theodor Eicke erteilen, den Kommandanten des Dachauer Konzentrationslagers. Dessen Schergen hatten sich in den zurückliegenden 24 Stunden bereits rege an der großen Abrechnung mit der SA beteiligt und dabei reibungslos funktioniert. Mindestens 17 Tote gingen in Bayern auf ihr Konto.12 Begleitet von seinem Adjutanten, SS-Sturmbannführer Michael Lippert, verschaffte sich Eicke mit wilden Drohungen und Gebrüll Zugang zu Röhms Zelle im Stadelheimer Gefängnis. Doch der Todgeweihte wollte die auf ausdrückliche Weisung Hitlers in seiner Zelle hinterlegte Waffe nicht zum Suizid nutzen, und so töteten Eicke und Lippert nach kurzer Wartezeit den immer noch ungläubigen und verwirrten Stabschef der SA durch mehrere Schüsse in Kopf und Brust.

Hitler hätte kaum einen weniger sentimentalen Kandidaten für den Mord an einem alten und verdienten Parteigenossen finden können als Theodor Eicke.13 Der ehemalige Unterzahlmeister der bayerischen Armee, Sohn eines deutschen Bahnhofsvorstehers in Hampont an der Grenze zu Lothringen und einer französischen Mutter, aufgewachsen im damals zum Deutschen Reich gehörenden Elsass, entstammte demselben Jahrgang wie Sepp Dietrich. Obwohl Eicke nach einigen beruflichen Fehlschlägen in den Nachkriegswirren schließlich als Sicherheitschef der I.G. Farben im badischen Ludwigshafen ein reichliches Auskommen gefunden zu haben schien, verachtete er die Weimarer Demokratie zutiefst und hatte mit seiner Sturheit sogar Schwierigkeiten, sich in eine von Ressentiments und Gewalttätigkeit geprägte Partei wie die NSDAP einzufügen. Vor einer bereits verhängten Strafe wegen des Besitzes von Sprengstoff, den er gegen einen Ludwigshafener Parteirivalen hatte einsetzen wollen, war er 1932 auf Himmlers Befehl unmittelbar vor Haftantritt nach Italien geflohen. Durch sein knappes Entkommen kaum milder gestimmt, hatte der nach der Machtergreifung sogleich zurückgekehrte Eicke seine alten Mordpläne unbeirrt wieder aufgenommen und war daraufhin von seinen Gegnern kurzerhand in die Würzburger Psychiatrie eingewiesen worden. Dort hatte Himmler seinen schwierigen, aber ihm treu ergebenen Schützling loseisen müssen und bewies einmal mehr ein »gutes Händchen«, als er den notorischen Querulanten im Juni 1933 mit der Leitung des Dachauer Konzentrationslagers beauftragte. Wohl kaum eine andere Aufgabe hätte auf Eickes radikale Persönlichkeit besser zugeschnitten sein können. Nach der Ermordung Röhms belohnte der Reichsführer den skrupellosen Todesschützen von Stadelheim mit der Beförderung zum Gruppenführer, dem zweithöchsten Dienstgrad der SS, und ernannte ihn am 5. Juli 1934 sogar zum Inspektor sämtlicher Konzentrationslager des Regimes.14

Auch der zögerliche Dietrich, der nicht einmal imstande gewesen war, sich allein gegen den biederen Gefängnisdirektor Koch durchzusetzen, wurde von Hitler sogleich nach seiner Rückkehr aus München zum SS-Obergruppenführer (General) ernannt. Dass Dietrichs Männer in Bayern überhaupt nicht zum Zuge gekommen waren und daher von einer Bewährung der Leibstandarte in ihrem ersten scharfen Einsatz kaum die Rede sein konnte, war für Hitler kein Hinderungsgrund. Der Diktator folgte mit Dietrichs demonstrativer Beförderung einem propagandistischen Muster, das er fast bis zum Untergang beibehielt: Seine persönliche Leibgarde konnte niemals versagen, und selbst als sich am 24. Dezember 1944 der von der NS-Propaganda gefeierte SS-Obersturmbannführer Jochen Peiper mit 800 Mann der SS-»Leibstandarte« nach Sprengung sämtlicher Fahrzeuge aus dem belgischen La Gleize in einem Nachtmarsch zu den eigenen Linien hatte durchschlagen müssen, verlieh ihm sein »Führer« für diesen katastrophalen Fehlschlag noch die »Schwerter« zum Ritterkreuz.15


»So räumte der Führer auf!« Titelseite der Extra-Ausgabe des Völkischen Beobachters vom 30. Juni 1934.

Immerhin hatten sich die in Berlin verbliebenen Teile der Leibstandarte in den zurückliegenden 24 Stunden, die später von zynischen Kommentatoren als »Nacht der langen Messer« bezeichnet werden sollte, als gefügige Handlanger einer völlig enthemmten Gewaltpolitik erwiesen. Ohne Fragen zu stellen, verschleppten und ermordeten sie zusammen mit Görings Gestapo zahllose echte oder vermeintliche Regimegegner oder beglichen gelegentlich auch alte persönliche Rechnungen. Hitler musste schließlich den Erschießungen Einhalt gebieten, die längst außer Kontrolle geraten waren. In einer Kabinettssitzung am 3. Juli mimte er plötzlich den Maßvollen, distanzierte sich sogar von dem Treiben seiner Schergen und erklärte im Brustton des weisen Staatsmannes, dass er nicht sämtliche Exekutionen befohlen habe.16 Als der Diktator am 13. Juli 1934 vor dem Reichstag seine Maßnahmen zu rechtfertigen versuchte, fehlten immerhin 13 Abgeordnete, die alle erst zwei Wochen zuvor von der SS ermordet worden waren.17

Hitlers Verhältnis zu seiner Leibgarde blieb in den folgenden Jahren eher indifferent. Er schien zwar sämtliche Mitglieder seiner ursprünglichen Stabswache, den sogenannten 117er-Klub, namentlich gekannt zu haben. Auch hatte er zwei Dutzend Prätorianer für ihre Mordtaten im Verlauf des 30. Juni persönlich ausgezeichnet.18 Ob aber der Diktator als fanatischer Abstinenzler in Dietrichs trinkfester und offenbar recht lebensfroher Meute tatsächlich eine Elite des Regimes sah, der er sein Schicksal bedingungslos anvertrauen konnte, ist nicht gewiss. Das fortgesetzte Fehlverhalten von Angehörigen der Truppe im Berliner Stadtbild, häufige Schlägereien mit Reichswehrsoldaten in Lokalen oder gar die Verführung minderjähriger Mädchen auf dem Lichterfelder Kasernengelände schlugen sich in etlichen Meldungen der Polizei nieder und brachten Dietrich wiederholt in Erklärungsnot.19 Hitler dürften die ständigen Reibereien und Auffälligkeiten kaum verborgen geblieben sein. Noch 1937 musste Himmler Angehörige der SS-»Leibstandarte«, die zum Nürnberger Parteitag kommandiert worden waren, dringend ermahnen, sich nicht an den für die Gäste bestimmten Getränken und Zigaretten zu vergreifen.20 Dass die Leistungen der Leibgardisten beim diplomatischen Protokoll ihren »Führer« durchaus nicht immer zufriedengestellt haben, berichtet der spätere Standartenführer der Waffen-SS, Albert Frey, der im Frühjahr 1938 als Zugführer zur SS-»Leibstandarte« gekommen war und auch auf dem Obersalzberg Dienst geleistet hatte.21 Am militärischen Kampfwert von Dietrichs Männern schien Hitler dagegen kaum interessiert. Besichtigt hat der Diktator seine übende Standarte jedenfalls nur ein einziges Mal im April 1936.22

Der »Führer« betrachtete seine prächtig gewachsenen Prätorianer trotz ihrer offenkundigen Mängel in Disziplin und Charakter vor allem als Propagandatruppe und politische Staffage. Bei seinen zahllosen öffentlichen Auftritten zeigte er sich gern in Begleitung der großen Gestalten in ihren beeindruckenden schwarzen Uniformen mit weißem Koppelzeug. Dietrichs Männer produzierten zudem die gewünschten Propagandabilder, als sie an der Spitze der Wehrmachtsverbände im März 1936 in das entmilitarisierte Rheinland einrückten. In diesem Kontext muss auch Hitlers schon bald nach dem »Röhmputsch« getroffene Entscheidung gesehen werden, Dietrichs SS-»Leibstandarte« vollständig zu motorisieren. Die militärische Elite des Regimes konnte nicht gut auf pferdebespannten Fuhrwerken an den Brennpunkten Hitler’scher Außenpolitik in Erscheinung treten. Zwei Jahre danach war der Umstellungsprozess allerdings noch nicht zum Abschluss gekommen. Um mit allen seinen Einheiten rechtzeitig an der Besetzung Österreichs teilnehmen zu können, hatte Dietrich zusätzlich doppelstöckige Busse der Berliner Verkehrsbetriebe und der Reichspost anmieten müssen.23

Als Prätorianergarde hingegen hat die SS-»Leibstandarte«, als es tatsächlich darauf ankam, die ihr ursprünglich zugedachte Rolle einer bewaffneten Stütze des Regimes kaum noch ausgefüllt. Hitlers theatralisches Diktum vor Angehörigen der beiden neuen SS-Junkerschulen anlässlich des Nürnberger Reichsparteitages von 1936, er erwarte von ihnen, dass sie als Letzte um ihn stehen werden, wenn einmal die »Fahne fallen sollte«, hat sich nie erfüllt.24 Als am 20. Juli 1944 Oberst Graf von Stauffenbergs verzweifelter Putsch schon im Ansatz scheiterte, war es das Wachbataillon der Wehrmacht unter Major Otto Ernst Remer, das sich im entscheidenden Augenblick auf die Seite des Regimes schlug. Dagegen verharrten die in Berlin verbliebenen Stürme der Leibstandarte ebenso wie Himmlers gesamte SS mehrere Stunden lang in verdächtiger Untätigkeit.25 Schlimmer noch! Nur wenige Tage zuvor schien an der erodierenden Front in der Normandie sogar der getreue Sepp Dietrich, inzwischen zum Kommandierenden General eines ganzen SS-Panzerkorps aufgestiegen, an die Seite Rommels getreten zu sein. Im Falle eines erfolgreichen Umsturzes in Berlin hatte er sich offenbar verpflichtet, seine Linien für die Alliierten zu öffnen. Gegenüber dem »Wüstenfuchs«, der sich vorsichtig erkundigt hatte, ob er auch von Hitlers Willen abweichende Befehle befolgen würde, soll er nach der Erinnerung General Hans Speidels erklärt haben: »Sie, Feldmarschall, sind mein Oberbefehlshaber, ich gehorche nur Ihnen, was Sie auch vorhaben werden.«26

Als schließlich am 30. April 1945 die Sowjets auf das Gelände der Reichskanzlei vordrangen, war es die Armee »Wenck«, auf die Hitler seine letzten Hoffnungen setzte, während Dänen und Norweger der 11. SS-Panzergrenadier-Division »Nordland« zusammen mit 100 französischen Freiwilligen der 33. Waffen-Grenadier-Division der SS »Charlemagne« das Berliner Regierungsviertel fast bis zur letzten Patrone verteidigten. Zur selben Zeit befand sich seine alte Leibgarde fern von der Berliner Trümmerwüste auf dem Rückzug durch Österreich, um die rettenden amerikanischen Linien hinter der bayerischen Enns zu erreichen. Ihre Ärmelstreifen hatte sie schon einen Monat zuvor, nach dem vorhersehbaren Scheitern ihrer letzten Offensive »Frühlingserwachen«, die weitab vom erodierenden Machtzentrum des Reiches nördlich des Plattensees stattfand, auf Befehl ihres enttäuschten und wütenden »Führers« ablegen müssen.27

Unter den immer wieder genannten Gründungsdaten der Waffen-SS nimmt der 30. Juni 1934 in zweifacher Hinsicht einen prominenten Platz ein. Einmal hatten sich Dietrichs SS-»Leibstandarte« und Eickes KZ-Wächter als willige Schlächter ihres Regimes bewiesen, die nach den Worten Himmlers ihre gebotene Pflicht ohne Zögern erfüllten, dabei keine Fragen stellten, niemals diskutierten und jederzeit wieder bereit sein würden, selbst Kameraden, die gefehlt hatten, an die Wand zu stellen.28 Darüber hinaus war die blutige Entmachtung der SA das Startsignal für eine vorerst verhaltene und genau mit der Reichswehr abgestimmte Expansion der neuen bewaffneten SS-Truppe.

Außer der SS-»Leibstandarte« durfte Himmler jetzt auch aus seinen Politischen Bereitschaften im gesamten Reich sechs bewaffnete und kasernierte Infanteriebataillone aufstellen, die gemeinsam den Namen SS-»Verfügungstruppe« erhielten. Sämtliche Formationen wurden Anfang 1935 aus den bisher für sie zuständigen SS-Oberabschnitten herausgelöst und ebenso wie Theodor Eickes SS-Totenkopfverbände einem neu eingerichteten SS-Hauptamt unter SS-Gruppenführer August Heißmeyer unterstellt. Eickes KZ-Wächter blieben allerdings in Himmlers neuem Imperium zunächst eine separate Truppe. Erst ein Führererlass aus dem Jahre 1938 erklärte auch die SS-Totenkopfverbände ausdrücklich zu einem Teil der bewaffneten SS.29 Aus ihren drei Standarten ging nach der Besetzung Polens die SS-Division »Totenkopf« hervor, die Eicke, der ehemalige Unterzahlmeister der bayerischen Armee und notorische Verächter aller soldatischen Ordnung, bis zu seinem Tod im Februar 1943 mit beachtlichem militärischem Erfolg selbst führte. Neben der SS-»Leibstandarte« und der im Winter 1939/40 gebildeten Division »Verfügungstruppe« war sie einer der drei Kernverbände der späteren Waffen-SS.

Nach der überraschend reibungslosen Liquidierung der SA-Führungsspitze wähnten sich Offiziere wie der damalige Chef des Wehrmachtsamtes, Generalmajor Walter von Reichenau, und dessen oberster Vorgesetzter, Reichswehrminister Generaloberst Werner von Blomberg, auf der Seite der Sieger. Das Militär hatte die Mordaktionen der SS in Bayern zwar unterstützt und für Dietrichs sowie Eickes Männer Transportfahrzeuge zur Verfügung gestellt. Auch hatten Reichswehrsoldaten am 30. Juni vorsorglich das Braune Haus in der Münchner Brienner Straße gegen mögliche Angriffe der SA gesichert. Doch die Generalität war sorgfältig darauf bedacht gewesen, sich nicht selbst die Hände schmutzig zu machen, und hatte sich darauf beschränkt, die Truppe für den Fall größerer SA-Unruhen »Gewehr bei Fuß« in den Kasernen bereitzuhalten.30

Mit dem gewaltsamen Ende Röhms und der raschen Zerschlagung seiner Organisationsstrukturen war die SA als militärische Konkurrenz endgültig ausgeschaltet und die Reichswehr in ihrer von Hitler mehrfach zugesicherten Rolle als zweite Säule des Reiches vorerst bestätigt. Doch nicht überall in der Reichswehr herrschte in den ersten Julitagen Sektlaune, Generale wie etwa Werner Freiherr von Fritsch, seit Februar 1934 Chef der Heeresleitung, dürften geahnt haben, dass ihnen wohl ein ähnliches Los wie Röhm bevorstehen könnte. Denn Göring, Himmler und Heydrich hatten nicht nur in der eigenen Partei »aufgeräumt«, sondern auch gleich eine sich formierende konservative Opposition um Vizekanzler Franz von Papen ins Visier genommen. Dessen regimekritische Marburger Rede hatte am 17. Juni für erheblichen Wirbel in der Partei gesorgt und den Stein überhaupt erst ins Rollen gebracht.

Als sich der Pulverdampf des 30. Juni verzogen hatte, musste das Offizierkorps entsetzt feststellen, dass sich unter den fast 200 Todesopfern des 30. Juni auch die beiden Reichswehrgenerale Kurt von Schleicher und Ferdinand von Bredow befanden. Der vormalige Reichskanzler von Schleicher war am helllichten Tag zusammen mit seiner Frau in seiner Neubabelsberger Wohnung vor den Augen des Hauspersonals von zwei Gestapomännern erschossen worden. Zu den Opfern der SS-Mordbanden zählten auch der Pressesprecher des Vizekanzlers Franz von Papen, Herbert von Bose, sowie der Ministerialdirektor im Reichsverkehrsministerium und Vorsitzende der Katholischen Aktion, Dr. Erich Klausener. Dass Hitler auch die Gelegenheit nicht hatte verstreichen lassen, den verhassten Widersacher aus seinem kläglich gescheiterten Münchener Novemberputsch von 1923, den früheren bayerischen Ministerpräsidenten Gustav Ritter von Kahr, umbringen zu lassen, versteht sich von selbst. Die Reichswehrführung war indessen bemüht, die Ermordung ihrer beiden Generale kleinzureden. Kurt von Schleicher, der angeblich konspirativen Umgang mit Röhm und sogar auswärtigen Mächten gehabt hatte, soll sich seiner Verhaftung mit der Waffe widersetzt haben, ließ Minister von Blomberg verbreiten. Die versprochenen Beweise hat der Hitler vollkommen hörige General jedoch nie vorgelegt und noch im Februar 1935 in einem besonderen Erlass weitere Debatten über die angebliche Verschwörung Schleichers strikt untersagt.31 Vizekanzler Franz von Papen selbst blieb verschont, stand aber anfangs unter Hausarrest und wurde nach dem gescheiterten Putsch gegen die Regierung Dollfuß (25. Juli 1934) auf den schwierigen Gesandtenposten nach Wien abgeschoben.32

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