Читать книгу Das Geheimnis des Genter Altars - Klaus-Jürgen Wrede - Страница 5

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I

Gent, 2. Stunde des 11. April 1934

Unvermittelt blieb er stehen und starrte nach oben. Das konnte nicht sein! War es eine Täuschung gewesen? Oder hatte er gerade tatsächlich einen vorbeihuschenden Lichtschein hinter den Fenstern der großen Kathedrale gesehen? Möglicherweise spielten ihm seine Augen in der Dunkelheit nur einen Streich, oder er hatte das Flackern der kleinen Flamme wahrgenommen, die in der Kirche brannte.

Mitten in der Bewegung gebannt, wartete er. Wartete auf ein erneutes Anzeichen, dass er dort wirklich etwas gesehen hatte.

Nichts. Kein Licht, kein Flackern.

Pierre Renard erwachte aus seiner Starre, den Blick immer noch auf das riesige Kirchenfenster geheftet. Schließlich regte er sich und schlich achtsam weiter, dicht an den massigen Mauern der Kathedrale entlang. Er musste sich wieder auf sein eigentliches Vorhaben konzentrieren – die kleine Bäckerei auf der anderen Seite des Platzes. Sie war das Ziel seiner geplanten Dieberei heute Nacht. Daher vermied er es, den großen Platz zwischen Kathedrale und Belfried zu überqueren. Auch wenn Gent um diese Zeit wie eine ausgestorbene Geisterstadt wirkte, so wollte er auf keinen Fall ein Risiko eingehen.

Die Laternen waren verloschen und die beiden bedrohlich wirkenden Türme der Kathedrale waren eher zu spüren als zu sehen – so dunkel war diese Nacht.

Perfekt geeignet für einen kleinen Beutezug.

Pierre drückte sich weiter an der Mauer entlang, als er direkt vor sich unweit der Kirchenmauer die schattenhaften Umrisse einer Limousine zu erkennen glaubte. Ein Auto? Hier in der Nähe der Kathedrale? Er kam kaum dazu, sich zu wundern, denn plötzlich vernahm er Geräusche von der wenige Schritte entfernten Seitentür.

Konnte das ein Tier sein? Etwa eine Ratte oder eine Katze? Oder gar ein anderer Dieb?

Es war niemand an der Tür zu sehen. Er wagte sich näher heran und war sich nun sicher, dass die Geräusche, die eher metallisch klangen, einen menschlichen Ursprung jenseits der Tür haben mussten.

Aber das machte doch keinen Sinn! Schlosser, die nachts an der Kirchentür arbeiteten?

Er stand jetzt unmittelbar vor der Tür, als er plötzlich ein ihm bekanntes Geräusch hörte: das Einschnappen des Schlosses, wenn die richtige Stellung für die Entriegelung gefunden war.

Im nächsten Moment bewegte sich auch schon die dicke Eisenklinke nach unten. Pierre konnte sich gerade noch hinter dem nächsten Mauervorsprung verbergen, als sich die schwere Eichentür Stück für Stück öffnete. Vorsichtig spähte er hinter seinem steinernen Versteck hervor, sah aber nur die ihm zugewandte Tür, welche sich jetzt langsam wieder schloss.

Pierre wartete. Nichts war mehr zu hören. Er reckte den Kopf nach oben, um zu den Kirchenfenstern über ihm hinaufzusehen. Einen winzigen Moment glaubte er wieder einen Lichtschimmer wahrzunehmen. Also hatte er sich doch nicht getäuscht. Er dachte nach. Möglicherweise konnte er hier unbemerkt etwas mitgehen lassen, wenn die Kathedrale schon mal offen war. Sicher ließen sich solch wertvolle Schätze gewinnbringend verkaufen; da reichte vermutlich schon eine Kleinigkeit, die nun denkbar einfach zu bekommen war. Er witterte seine Chance. Das hier war doch viel besser als die Bäckerei gegenüber. Er ging zur Tür und ergriff die eiserne Klinke. Dann hielt er einen Moment lang inne. Auch wenn er viel Erfahrung im Öffnen von Türen hatte, so war diese doch eine ganz besondere Herausforderung. Eine solch schwere Tür verursachte meist knackende Geräusche, die er unbedingt vermeiden musste.

Er schaffte es, sie nahezu geräuschlos zu öffnen – zumindest so weit, dass er gerade so hindurchgleiten konnte. Er hatte sie fast schon wieder geschlossen, da kam das befürchtete Knacken.

Verdammt! Schnell duckte er sich, um hinter der einen Meter entfernten Schwingtür in Deckung zu gehen. Nur einige Glasscheiben im oberen Bereich der Tür gaben den Blick auf den Eingang frei.

Wieder wartete er.

Scheinbar hatte ihn der Eindringling nicht bemerkt, oder er wartete ebenfalls ab – wie bei einem Katz-und-Maus-Spiel, bei dem der verliert, der sich zu früh in Sicherheit wiegt.

Waren möglicherweise sogar mehrere Diebe am Werk? Die Idee war ihm bisher noch gar nicht gekommen, da er selbst ja immer allein unterwegs war. Nun schien ihm diese Möglichkeit sogar recht wahrscheinlich, da ein Kirchenraub schon ein ganz anderes Kaliber war, als ein paar kleine Läden um ihren Tagesverdienst zu erleichtern.

Ihm war etwas unwohl bei dieser Vorstellung, aber zurück durch die Tür konnte er nun nicht mehr.

Er schob sich halb geduckt durch die Schwingtür und bewegte sich geschmeidig wie eine Katze bis zum nächsten Pfeiler.

Dort blieb er stehen. Die Finsternis hier drinnen war noch undurchdringlicher als das dämmrige Licht draußen und er musste seine Augen erneut daran gewöhnen.

Die bedrohlichen Pfeiler hoben sich so wenig vom Dunkel ab, dass sie wie ein Teil davon wirkten. Nur in der Ferne sah Pierre die kleine rote Kerzenflamme des ewigen Lichts leuchten – als eine Erinnerung an die Allgegenwärtigkeit Gottes. Ob er das Ganze nun beobachtete? Pierre hatte kein wirklich gutes Gefühl bei dem Gedanken, hier etwas mitgehen zu lassen. Zwar war er sich eher unsicher, ob er an die Existenz eines Gottes glauben sollte oder konnte, doch hier in diesem Raum meinte er eine Macht zu spüren, die sein Tun genauestens verfolgte. Oder war das nur sein schlechtes Gewissen?

Er schloss unwillkürlich die Augen, um besser hören zu können. Vernahm er da ein Flüstern oder war das nur das Rauschen des Kirchenraumes mit seiner geheimnisvollen Akustik?

Da war es wieder! Der leise Klang verband sich durch den Hall mit der Lautlosigkeit und wirkte wie eine Unregelmäßigkeit der Stille.

Jetzt sah er sie.

Zwei dunkle Gestalten, die sich rechts vom Hochaltar in einer Seitenkapelle zu schaffen machten. Die Seitenkapellen waren rund um den Altar jenseits eines breiten Ganges nebeneinander angeordnet, so gut kannte Pierre diese Kathedrale zumindest.

Die Beiden befanden sich in der St.-Johannes-Kapelle, wo der berühmte Altar der Gebrüder van Eyck aufbewahrt wurde, ein aus vielen Tafeln bestehendes, riesiges Altargemälde. Hinter der geöffneten Chorschranke waren sie schemenhaft durch das verzierte Holzgitter der Kapelle zu erkennen.

Pierre musste näher ran. Er schaffte es unbemerkt bis zum nächsten Pfeiler. Nun konnte er erkennen, dass die beiden Männer am linken Flügel des Altars beschäftigt waren. Viel mehr konnte er von hier aus immer noch nicht sehen. Er konnte mehr erahnen, was die beiden dort taten. Vorsichtig und halb geduckt kroch er weiter bis zum nächsten Pfeiler.

Von hier aus hatte er einen besseren Blick und erkannte, dass der schwere Altarvorhang bis zur Hälfte zurückgeschlagen und der Altar links aufgeklappt war. Einer der Männer stand auf einer Leiter und zog nun eine der gewaltigen Bildtafeln Stück für Stück nach oben, was jedoch ein schwieriges Unterfangen zu sein schien. Der Andere half so gut es ging und drückte mit beiden Händen von unten dagegen. Nach einer Weile hatten sie die schwere Holztafel aus dem Rahmen gewuchtet und setzten sie laut krachend auf dem Boden ab. Der Nachhall erfüllte die gesamte Kathedrale wie ein drohender Donner. Sogar das ewige Licht schien einen Augenblick zu flackern und unruhig seine Mitte wieder zu suchen. Die Männer verharrten eine ganze Weile, bis wieder absolute Stille eingekehrt war. Auch Pierre wartete bewegungslos. Er musste sich ein besseres Versteck suchen, denn sicher würden sie gleich die Tafel durch die geöffnete Seitentür nach draußen bringen und ihn dabei entdecken.

Langsam erhob er sich aus der Hocke hinter dem schützenden Pfeiler. Dabei glitt unbemerkt sein Werkzeug aus der Tasche. Pierre registrierte es erst, als er den Aufprall auf dem Boden hörte, und erstarrte vor Schreck. Auch wenn das darum gewickelte Tuch das Geräusch ein wenig abschwächte, so reichte es doch, um auf ihn aufmerksam zu machen.

Die Männer hatten das Geräusch gehört und schauten jetzt aufgeschreckt in den Kirchenraum. Pierre duckte sich und reagierte instinktiv.

Er bewegte sich behände und geräuschlos auf allen vieren durch die Bankreihe auf die andere Seite des Kirchenraums. Nervös schaute er sich nach einem Versteck um. Einige Meter entfernt befand sich der Beichtstuhl, aber es schien ihm zu riskant, dorthinein zu fliehen – zu einsichtig, zudem wie eine Falle. Er traute sich kaum, seinen Kopf zu heben, um den Standort seiner Verfolger auszumachen. Hier musste er jedenfalls schnellstmöglich weg. Zur Kirchentüre würde er es von hier aus auf keinen Fall schaffen. Er musste sich in der Kirche ein gutes Versteck suchen. Die anderen Seitenkapellen? Der Weg dorthin war zu riskant – mehrere Meter durch den ungeschützten Kirchenraum. Er lauschte angestrengt.

Nichts. Das beunruhigte ihn. Die Männer schienen jedes Geräusch zu vermeiden. Waren sie schon in seiner Nähe?

Die einzige Chance schien ihm die nahegelegene Krypta.

Ohne weiter abzuwägen, huschte er zur Treppe, die nach unten führte. Er war erleichtert, dass das große Eisengitter vor der Krypta geöffnet war, so tastete er sich Stufe um Stufe hinab, noch tiefer in die Dunkelheit eindringend. Hier unten konnte er überhaupt nichts mehr sehen, nicht einmal die eigene Hand, die er tastend ausstreckte.

Unsicher bewegte er sich in diesem absoluten Dunkel weiter, die Hände leicht hin und her bewegend mit gespreizten Fingern, um so das Dunkel besser erfassen zu können.

Er fühlte etwas Kaltes.

Kalten Stein – eine Steinkante in etwa eineinhalb Metern Höhe.

Vermutlich ein Sarkophag.

Er tastete sich an der Kante entlang und tappte vorwärts, bis er auf einen weiteren Sarkophag stieß. Sich an diesem weiterhangelnd, entdeckte er an dessen Stirnseite eine schmale Lücke zur Wand. Pierre fragte sich, ob er wohl hineinpassen würde und ob dies ein brauchbares Versteck sein könnte. Möglichst geräuschlos zwängte er seinen Körper Stück für Stück hinter den Sarkophag, die Hände auf dem Boden abgestützt, als er unvermittelt in etwas Weiches griff. Instinktiv zog er seine Hand zurück. Er begann zu zittern, die Kälte des Bodens hatte schon seinen Körper erfasst. Da vernahm er mit einem Mal Schritte – fast lautlos, nur durch das dezente Knirschen des Schmutzes auf dem Boden zu hören.

Pierre wagte kaum zu atmen. Er lauschte angestrengt. Die Schritte hatten aufgehört. Nicht das leiseste Geräusch war zu hören.

Er wartete eine ganze Weile, versuchte seinen Atem unhörbar zu machen.

Da flackerte plötzlich der schwache Lichtschein einer Gaslampe auf. Er konnte unmittelbar neben seinem Kopf eine tote Ratte erkennen. Sie also hatte er eben ertastet. Er schluckte seinen Ekel hinunter. Nur keine Panik jetzt, versuchte er sich einzureden.

Die Männer, die hier einen Kirchenraub in großem Stil durchführten, verstanden sicher keinen Spaß mit Gelegenheitsdieben wie ihm und waren bestimmt nicht zimperlich mit lästigen Augenzeugen. Hatte er sich vor ein paar Minuten noch die Chance erträumt, hier etwas Wertvolles mitgehen zu lassen, so verfluchte er nun den Moment, als er die Kirche betreten hatte.

Er versuchte seinen Atem wieder stärker zu kontrollieren, um sich durch keinerlei Geräusch zu verraten. Er bemühte sich, die aufsteigende Panik in der zwängenden Enge des Steins im Griff zu behalten. Er musste jetzt ganz ruhig bleiben!

Doch nun hatte er schlagartig das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ihm war, als ob er kaum noch Sauerstoff bekäme, wie in einem Rauchschwall. Aber er konnte im Schimmer der Lampe keinen Rauch erkennen. Dennoch glaubte er ihn förmlich zu riechen, atmete schneller, spürte ein Kratzen auf den Stimmbändern und in der Lunge. Er durfte jetzt nicht husten. Immer wieder schluckte er, um seinen Rachen zu befeuchten. Ihm wurde heiß. War ein Feuer ausgebrochen? Er konnte keine Flammen entdecken – nicht einmal die Andeutung eines Flackerns. Und dennoch wurde ihm heißer und heißer. Bildete er sich das nur ein? Der Schweiß lief Pierre das Gesicht herunter, sein Atem wurde immer schneller. Er begann zu röcheln, bekam kaum noch Luft. Der Rauch war überall um ihn herum, die Hitze unerträglich. Er hatte das Gefühl, innerlich zu verbrennen. Wie durch einen Schleier vernahm er jetzt wieder die Schritte. Auch der Lichtschein schien heller und heller zu werden. War es doch das Feuer?

Pierre spürte die unmittelbare Nähe des Mannes. Er musste direkt vor dem Sarkophag stehen geblieben sein. Doch das nahm er nur noch wie durch einen Filter wahr. Die Hitze war nicht mehr zu ertragen. Er fühlte sich, als ob er bei lebendigem Leib verbrannte und wollte schreien. Doch er bekam keine Luft. Er spürte, dass er erstickte.

Ihm war, als entferne er sich langsam, als nehme er das alles nicht mehr wahr, als befreie er sich von seinem Körper und dem unsäglichen Schmerz.

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Köln, Gegenwart

Daniel dachte an das Feuer. Während ihm die Kälte zunehmend die Beine nach oben kroch, wärmte dieser Gedanke ihn wenigstens für einige Momente. Vermutlich würde er Holz von unten holen müssen, denn er hatte den Kamin eine ganze Weile nicht benutzt. Doch er genoss die wohlige Wärme in seiner Altbauwohnung jedes Mal sehr. Schon von weitem erkannte er die Fenster seiner Wohnung in dem alten Haus mit der Jugendstilfassade zwischen den Blättern hindurch, durch das Gewirr der Äste halb verborgen. Er mochte diese Straße mit ihren prachtvollen Bauten – jedes Haus für sich ganz individuell und doch insgesamt wie eine harmonische Einheit wirkend. Im Sommer sorgten die Boule-Spieler unter den schattigen Bäumen auf dem Mittelstreifen für einen Hauch südfranzösischen Flairs in der mittlerweile sehr hektisch gewordenen Großstadt.

Daniel beschleunigte seinen Schritt, ohne es selbst zu merken, denn er spürte die Kälte schon von überall in den Körper eindringen. Hinter den Häusern drohte eine riesige schwarze Wolkenfront mit einem bevorstehenden Unwetter und sorgte für ein apokalyptisches Licht. Für einen winzigen Moment leuchtete die Sonne auf und die Dächer warfen einen tiefstehenden Schatten, wie eine unpassende Schablone, auf die gegenüberliegende Häuserfront, bevor alles wieder im düsteren Grau versank. Es war einfach unglaublich kalt und ungemütlich für Anfang April. Der Gedanke an seine Wohnung und den Kamin trieb ihn weiter. Daniel fühlte sich müde und abgeschlagen. Er dachte an Juri, während er die schwere Haustür aufschloss. Sie ließ sich nur unwillig und mit einem schabenden Geräusch öffnen. Ein paar Zeitungen hatten sich unter ihr verklemmt.

Er schob sie mit dem Fuß beiseite und hielt einen Moment im Treppenhaus inne, als er die Tür ins Schloss gleiten ließ. Die Ruhe dieses alten Gemäuers wirkte gleichzeitig beruhigend und bedrohlich auf ihn. Abgeschirmt von der hektischen Stadt auf der anderen Seite der Tür fragte er sich, was wohl alles gerade dort draußen passierte – genau in diesem Moment. Er fühlte sich allein in dem großen Haus und auf eine unbestimmte Art plötzlich fremd in der doch so vertrauten Umgebung.

Dann war Juri vermutlich noch nicht zu Hause. Eigentlich war er froh darüber, denn so konnte er sich noch ein wenig ausruhen, bevor sie sich treffen würden. Sie hatten sich für diesen Abend verabredet, nachdem Juri gestern aufgeregt vor Daniels Tür gestanden hatte. Irgendetwas schien ihn sehr beunruhigt zu haben, doch gestern konnte Daniel nichts weiter aus ihm herausbekommen.

Aber die Gedanken daran hatten ihn den ganzen Tag begleitet und ihm keine Ruhe gelassen – so auch jetzt wieder.

Juri war es gewesen, der ihm damals diese Wohnung vermittelt hatte, etwa ein Jahr nachdem sie sich bei einer Recherche im Archiv kennen gelernt hatten. Er überlegte. Zwei Jahre musste es nun her sein, dass er in die Wohnung direkt gegenüber von Juri eingezogen war. Und er hatte sich hier auf Anhieb wohl gefühlt. Die Zeit kam ihm wesentlich länger vor als zwei Jahre.

Stufe für Stufe stieg Daniel die steile und ungleichmäßige Treppe zu den Kellerräumen hinunter, knipste das Licht an und öffnete den wackligen Verschlag, in dem das Holz lagerte. Er war nicht gern hier, zwischen dem ganzen Ungeziefer und den Spinnweben, auch wenn das irgendwie zu einem alten Haus gehörte.

Daher beeilte er sich, die Holzscheite schnell in die nebenstehende Kiste zu werfen, als er mit einem Mal glaubte, durch das Rumpeln der Holzscheite hindurch noch ein weiteres lautes Krachen zu hören. So als ob etwas sehr Schweres viel weiter oben im Haus auf den Boden gefallen wäre. Augenblicklich hielt er inne und schaute instinktiv nach oben an die tief hängende Decke des Kellers – wie ein Reflex, um die Richtung zu orten, aus der das Geräusch gekommen sein musste. Einige Sekunden lang lauschte er wie eingefroren. Aber um ihn herum war nur die drückende Stille des Gemäuers, die man fast schon hören konnte.

Dann setzte der Regen ein. Erst waren es nur ein paar dicke, hämmernde Tropfen, doch schnell verdichteten sie sich zu einem lauten Rauschen, das von überall her das Haus zu umgeben schien und hier unten durch die Kellerschächte in seiner Vehemenz noch verstärkt wurde.

Mit jeder Stufe nach oben und jedem Stockwerk änderte sich der Klang des Regens, während Daniel den schweren Korb in Richtung seiner Wohnung beförderte. Wenn auch nicht mehr so bedrohlich, so spürte er dennoch die Kraft der Natur. Im zweiten Stock angekommen, stellte er den Korb erleichtert ab und griff mit der schmerzenden Hand in die Tasche seines Jacketts.

Hier fand er statt des erwarteten Schlüssels aber nur den dunkel schimmernden Stein, den er immer bei sich trug. Er steckte ihn zurück und schaute sich im Treppenhaus um. Irgendetwas stimmte hier nicht. Etwas war anders als sonst.

Er ließ den Blick wandern, aber Daniel konnte nicht sagen, was es war. Er hatte einfach ein komisches Gefühl. Gegenüber lag Juris Wohnung ruhig und friedlich da, als warte sie geduldig auf ihren Bewohner. Sich mit einem leichten Kopfschütteln abwendend, fiel sein Blick auf die gesuchten Schlüssel, die sich auf dem Brennholz ausfächerten.

Er betrat seine Wohnung, stellte den schweren Korb neben dem Kamin ab, warf schnell ein paar Holzscheite auf die alte Asche und entzündete das Feuer. Nachdem er Jacke und Schuhe einfach im Zimmer abgestreift und liegen gelassen hatte, ließ er sich aufs Sofa fallen und nestelte nach der Fernbedienung, die ihn im Rücken störte.

Er drückte auf die Playtaste, ohne zu wissen, welche Musik ihn nun erwartete. Direkt am ersten Ton erkannte er das Stück. Ein sphärischer Klang – nicht von dieser Welt. Das Lohengrin-Vorspiel hatte immer eine unglaublich beruhigende Wirkung auf ihn und war im Augenblick genau das Richtige, um seine Gedanken auszuschalten. Er fragte sich, wie ein Mensch, wie Wagner es gewesen zu sein schien, eine solch überirdische Musik schreiben konnte. Oder war es gerade sein Spannungsverhältnis zur Welt und zur Realität, das das Geheimnis seiner Kreativität ausmachte?

Daniel musste eine ganze Weile geschlafen haben, denn plötzlich erwachte er von einem dumpfen Geräusch. War es durch die Musik verursacht, die mittlerweile viele Tracks weiter gelaufen war und sich gerade mitten in einer sehr dramatischen Passage befand? Hatte er etwas Lautes geträumt? Ging das überhaupt? Konnte man Lautstärke träumen? Er hatte doch eher das Gefühl, dass es ein Geräusch im Haus gewesen war, das ihn aufgeweckt hatte.

Daniel setzte sich auf, um erst einmal wieder zur Besinnung zu kommen, dann ging er zur Wohnungstür und schaute hinaus ins Treppenhaus. Sofort hatte er wieder dieses befremdliche Gefühl. Er lauschte und wartete einen weiteren langen Moment, doch alles war ruhig. Er trat zurück in seine Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Dann räumte er einige Sachen weg, um sich abzulenken, doch seine innere Unruhe blieb. Daniel hatte in seinem Leben mit der Zeit gelernt, dass er seinem Gefühl meist trauen konnte, aber diesmal war es sehr undifferenziert. Er beschloss, bei Juri an der Tür zu klopfen – vielleicht war er ja doch schon zu Hause. Langsamer als gewöhnlich bewegte er sich zur gegenüberliegenden Wohnungstür – fast wie ein Fremder im eigenen Haus.

Vor Juris Tür wartete er einen Augenblick mit erhobener Faust, bevor er einige Male klopfte. Etwas zu forsch, wie er sofort bemerkte, als die Scheiben in den Einfassungen schepperten. Er erschrak. Die Tür hatte sich einige Zentimeter bewegt und stand nun einen Spaltbreit offen. Juri hatte dieses Problem schon öfter gehabt, das wusste er. Manches Mal hatten sie darüber gewitzelt, dass jedermann in seine Wohnung kommen könnte, wenn man vergaß, die verzogene Tür fest zuzuziehen. Dennoch hatte er das Gefühl, dass es diesmal kein Zufall war. Vorsichtig schob er die Tür mit ausgestreckten Fingern auf, sodass sich der Blick in Juris Wohnung wie ein Vorhang langsam vor ihm öffnete. Das, was er da sah, verschlug ihm den Atem: Gegenstände und Jacken lagen überall verstreut auf dem Boden. Die Garderobe hing halb abgerissen von der Wand herunter, Schubladen aus der Kommode waren herausgerissen und deren Inhalt weit über den Boden verstreut, dazwischen lagen Glassplitter, Scherben und andere zerbrochene Gegenstände.

Bei Gott, was war hier passiert? Daniel stand wie erstarrt und wagte kaum, weiterzugehen. Er versuchte, klar zu denken und einen kühlen Kopf zu bewahren. Normalerweise gelang ihm das gut, aber in extremen Stresssituationen versagte dieser Mechanismus und er reagierte nur noch instinktiv.

Die Wohnungstür war unversehrt gewesen – zumindest dem äußeren Anschein nach. Waren die Einbrecher noch in der Wohnung? Er überlegte, ob es besser sei, direkt zurückzugehen und die Polizei zu alarmieren, aber seine Intuition trieb ihn, weiterzugehen – vorsichtig über das verstreute Chaos im Flur watend. Er hörte das Rauschen seines Blutes in den Ohren und spähte in die Küche. Auch hier, wie er schon erwartet hatte, ein Bild des Terrors – allerdings noch dramatischer als im Flur. Er näherte sich zögernd dem Wohnzimmer. So behutsam, dass sich sein Blickfeld durch die breite Tür nur ganz allmählich erweiterte. Eine furchtbare Ahnung legte sich wie ein Ring um seinen Magen und er hatte das Gefühl, nicht weitergehen zu können. Doch automatisch schaute er um die Ecke. Sein Denken setzte aus.

Er starrte wie unter Schock auf den toten Körper Juris. Da– niels Herz pochte bis unter die Schädeldecke. Mitten im Zimmer lag der Körper merkwürdig verkrümmt und verdreht auf dem Rücken, den Hals bis zum rechten Arm voller Blut, der linke Arm unter seinem Körper. Sein Kopf war nach oben in Richtung Tür gedreht, weit geöffnet und starr schienen die glasigen Augen Daniel direkt anzustarren – wie um Hilfe rufend. Rote Ringe befanden sich um seinen Hals, die von der locker darüberliegenden Nylonschnur zu stammen schienen. Auf der blassen und blutleeren Haut traten diese umso deutlicher hervor.

Daniel konnte sich von dem entsetzlichen Anblick seines Freundes kaum losreißen – Panik lähmte seinen Körper. Er stand wie versteinert in einem Moment der Zeitlosigkeit – außerstande, etwas zu unternehmen.

Dann plötzlich fuhr er wie vom Blitz getroffen herum und stolperte über die umherliegenden Sachen zurück in seine Wohnung auf das Telefon zu.

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Gent, 9.Stunde des 11. April 1934

Wie jeden Morgen wandelte Bruder Quentin mit kleinen Schritten über einen unsichtbaren Pfad im Inneren der Kathedrale – von der Sakristei in einem leichten Bogen zum Altar. Dort ging er wie jeden Tag um diese Zeit in die Knie, senkte den Kopf und bekreuzigte sich. Auch wenn seine Knie ihm diese Demutsbezeugung immer schwerer machten, so war der sechzigjährige dennoch voller Energie und Gesundheit. Aber noch bevor er an der Seitentüre angekommen war, bemerkte er, dass heute etwas anders war. Seine beherzten Schritte wurden langsamer und er blieb vor der Schwingtür stehen. Aufmerksam betrachtete er die schweren Holztüren durch das Glas. Die Riegel! Sie waren beiseite geschoben. Drei schwere Eisenbalken verschlossen die Tür normalerweise von innen zusätzlich, sodass ein Hereinkommen in diese Festung Gottes nahezu unmöglich war. Täglich bereitete ihm die Öffnung dieser Barrikaden mehr Schwierigkeiten und oft verfluchte er die kaum zu bewegenden Riegel. Doch fühlte er heute keine Spur der Erleichterung über die Tatsache, dass diese Arbeit ihm diesmal abgenommen worden war. Er schritt durch die Schwingtür und sah, dass die Holztür nur angelehnt war. Einen kurzen Moment überlegte er. Doch, er war sich sicher, dass er gestern Abend abgeschlossen hatte. Nervös ging er in das Hauptschiff der Kirche zurück. Waren Diebe am Werk gewesen? Waren diese womöglich noch hier? Unwahrscheinlich. Dennoch beschleunigte er seinen ungleichmäßigen Schritt und schaute sich links und rechts in der Kirche um. Alles schien an seinem angestammten Platz zu sein. Zielstrebig steuerte er auf die Seitenkapelle zu, in der das „Lamm Gottes“, der atemberaubende Altar, stand. Die Treppen riefen ihm wieder seine schmerzenden Knie ins Bewusstsein und verlangsamten sein Tempo merklich. Doch er sah, dass die Chorschranke zur Seitenkapelle geschlossen war. Ein gutes Zeichen.

Vorsichtig öffnete er die kleine Holzpforte und war beruhigt, den schwarzen Vorhang vor dem Altar geschlossen zu sehen. Sicherheitshalber schlug er ihn zurück und starrte in ein riesiges Loch auf der linken Seite.

Die Tafel der ‚Gerechten Richter‘ war nicht mehr an ihrem Platz. Dann musste auch die Johannestafel verschwunden sein, die sich auf der Rückseite dieses Kunstwerks befand.

„Gott, Sakrament“, stieß er fassungslos hervor und blickte entgeistert in die klaffende Lücke. Dann ließ er alles stehen und liegen und eilte panisch in die Sakristei, um den Bischof und die Polizei zu benachrichtigen.

Keine halbe Stunde später waren sie da. Die Kathedrale wimmelte von ratlosen, nach Antworten suchenden Männern in Mänteln und Anzügen.

Kommissar Fournier stand versunken vor der Seitentüre der Kathedrale, die nach draußen auf den Platz führte. Noch ganz in Gedanken schreckte er erst hoch, als Lumet neben ihn trat und auf die anderen Eingänge deutete.

„Nichts, Kommissar. Die anderen Türen sind ebenfalls unversehrt. Keinerlei Spuren!“

„Und von außen?“

„Nichts. Weder von innen noch von außen. Nicht der kleinste Kratzer.“

„Das Hauptportal?“

„Noch unwahrscheinlicher. Die schweren Riegel blockieren die Türen. Keine Spuren eines Einbruchs.“

Fournier schüttelte mit angedeuteten Bewegungen den Kopf.

Kein Einbruch, kein Ausbruch. War hier überhaupt etwas passiert?

Natürlich hatte er das gähnende Loch in dem linken Flügel des Altars gesehen. Doch wo waren die Diebe? Wie waren sie herein- und wieder hinausgekommen?

Es war ja fast, als hätten sie einen Schlüssel gehabt.

Die Riegel ließen sich keinesfalls von außen öffnen. Die Diebe mussten also auf einem anderen Weg ins Innere gekommen sein.

Oder waren schon vorher in der Kirche gewesen.

Aber wie hatten sie die Tür öffnen können?

So viele Fragen schossen dem Kommissar durch den Kopf. Dann drehte er sich zu dem Kirchendiener um, der leicht gebeugt neben dem Weihwasserbecken ein paar Meter entfernt stand:

„Bruder Quentin?“

Obwohl dieser einen sehr rüstigen Eindruck machte, schien sein Gehör doch unter dem Alter zu leiden.

„Bruder Quentin, eine Frage noch …“

Der schmächtige Mann drehte sich mit freundlichem Gesicht zu ihm um.

„Aber natürlich!“

Mit einem leicht rheumatischen Gang kam er dabei auf Fournier und Lumet zu.

Der Kommissar deutete auf die Tür. „Wer besitzt denn überhaupt einen Schlüssel für die Kathedrale?“

Mit großen, offenen Augen schaute ihn Bruder Quentin an.

„Nun, nur der Monsignore selbst und ich natürlich.“

„Und diese Schlüssel – tragen Sie die immer bei sich?“

„Normalerweise schon. Bis auf nachts eben. Da hängen sie dann bei mir in meiner Dienstwohnung. Drüben im Kirchenanbau.“

„Ist Ihnen heute Nacht etwas aufgefallen? Geräusche? Ist jemand in Ihre Wohnung eingedrungen?“

Bruder Quentins Augen wurden noch größer. „Nein. Das hätte ich sicher bemerkt.“ Er schüttelte nachdrücklich den Kopf.

Lumet kam von hinten auf den Kommissar zugestürmt, zwei Personen hinter sich, die sein vorgelegtes Tempo nicht halten konnten. Einer davon war ein etwas ungepflegt aussehender Mann, der beim Gehen von dem anderen Mann, einem Polizisten, gestützt wurde.

Der Kommissar erkannte ihn sofort.

„Renard! Was für ein Zufall“, begrüßte er den sichtlich mitgenommenen Mann wie einen alten Bekannten. „Oder vielleicht kein Zufall? Haben Sie etwas mit der Sache hier zu tun?“

Dabei fuchtelte er mit dem Finger kreisend in der Luft herum.

„Wir haben ihn hinter der Kirche gefunden, unten am Kanal in einer Nische. Dort lag er wie bewusstlos“, mischte sich Lumet erklärend ein.

Renard wirkte wie sediert. Er rang um Worte.

„Nein, nein. Was meinen Sie denn, Monsieur Kommissar?“ Er schaute sich hilflos in der Kirche um. „Ich hatte einen Schwächeanfall. Mein Kreislauf …“

„Renard, Renard …“, seufzte der Kommissar gespielt. „Da müssen Sie mir schon etwas Glaubwürdigeres auftischen, um Ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Waren Sie auf Beutezug in der Nacht? Vielleicht hier in der Kirche? Oder in der Gegend? Haben Sie etwas beobachtet?“

Renard druckste herum, offensichtlich im Bemühen, die richtigen Worte zu finden.

„Also … ein Wagen … einen Wagen habe ich gesehen. Hier draußen vor der Kirche.“

Er deutete auf den Beichtstuhl der Kirche und suchte nach weiteren Erklärungen.

„Und? Weiter?“ Der Kommissar wurde eindringlicher in seinem Tonfall.

„Es waren … zwei Männer. Sie trugen etwas Großes ins Auto.“

Um Zeit zum weiteren Überlegen zu haben, deutete er mit den Händen über seinem Kopf die Größe der Beute an, sich dabei mehrfach selbst korrigierend.

„In einem Tuch. Einem schwarzen Tuch.“ Langsam fand er die Fassung wieder und die richtigen Worte. „Sie hatten Schwierigkeiten, das Teil hineinzubekommen. Es passte nicht so richtig in das Auto. Mann, sie haben ganz schön geflucht. Aber nach ein paar Versuchen haben sie’s hinbekommen … Dann sind sie weggefahren.“ Schulterzuckend schaute er den Kommissar an.

„Und das Auto? Was war es für ein Fabrikat?“, fragte dieser.

„Ford, glaube ich. Bin nicht so ein Autokenner. Hab ja selbst keins. Schwarz oder dunkelblau. Eher schwarz, glaube ich … Ja.“

„Das Kennzeichen? Sicher haben Sie es sich doch bei einer so merkwürdigen Aktion gemerkt?“

Renard schüttelte den Kopf.

„Es war einfach höllisch dunkel in der Nacht. Tut mir leid, Kommissar. Ich würd’ Ihnen ja gern noch mehr helfen.“

Fournier war sich nicht sicher über den letzten Satz. Er würde Renard mit aufs Revier nehmen und dort versuchen noch mehr aus ihm herauszubekommen.

Er wusste wirklich nicht, was er von der ganzen Sache halten sollte. Eine solche Diebesbeute wäre überhaupt nicht zu verkaufen auf dem Schwarzmarkt. Keine Chance. Warum ausgerechnet diese Altartafeln? Sicher – wertvoll waren sie schon, sogar von unschätzbarem Wert. Aber gerade wegen ihrer Bekanntheit kaum in Geld umzusetzen.

Irgendetwas stimmte hinten und vorne nicht an der ganzen Geschichte.

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Köln, Gegenwart

Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon so auf dem Sofa gesessen hatte. Seine Wangen waren feucht, er musste geweint haben ohne es zu bemerken. Tausende Bilder waren vor seinem inneren Auge abgelaufen – Bilder von Juri, von ihrer gemeinsamen Zeit, von ihrer ersten Begegnung. Vor zwei Jahren, direkt nach Daniels Trennung von Joelle, war Juri ihm eine feste Bezugsperson und ein Freund geworden. Und dann immer wieder die Bilder von Juri vor ein paar Momenten, als dieser ihn mit toten Augen angestarrt hatte. Immer wieder diese Augen, fremd und starr auf ihn gerichtet – ein schreckliches Bild, das sich unaufhörlich zurück in seine Gedanken bohrte.

Es musste einige Zeit vergangen sein.

Daniel stand auf und ging benommen durch den Flur in die Küche, als er durch die kleinen Milchglasscheiben der Wohnungstür schemenhafte Gestalten erahnte. Vorsichtig näherte er sich dem Türspion und sah vier Personen in verzerrter Miniatur. Drei Polizisten postierten sich vor der gegenüberliegenden Wohnungstür, in ihrer Mitte stand ein Mann in Zivilkleidung. Langsam und lautlos öffnete Daniel seine Tür, worauf der Mann in Zivil sich zu ihm drehte, seinen rechten Zeigefinger an die Lippen und die linke Handfläche in seine Richtung hob. Daniel blieb gemäß der Anweisung in der Tür stehen und beobachtete, wie die vier Männer nacheinander lautlos mit erhobenen Pistolen in die Wohnung glitten.

Daniel wartete, bereit, seine Wohnungstür jeden Moment wieder zuzuschlagen. Aber nichts passierte. Waren der oder die Mörder womöglich immer noch in der Wohnung? Waren sie vielleicht auch dort gewesen, als Daniel hineingegangen war? Er stellte sich die Situation einen Moment lang vor und war jetzt froh, so kopflos reagiert zu haben.

Kein Laut kam mehr von innen. Kein Geräusch, kein Atmen, nur Totenstille.

Dann erschien endlich der Mann in Zivil in der Tür. Seiner Körpersprache und seinem Gang nach zu urteilen war die Situation gefahrlos. Bevor Daniel etwas sagen konnte, bedeutete ihm der Mann mit einer fahrigen Handbewegung der noch bewaffneten rechten Hand, näherzukommen. Dabei trat er zurück in die Wohnung. Daniel folgte ihm, erneut über die verstreuten Sachen steigend, und näherte sich mit ängstlichen Gefühlen der Wohnzimmertür. Schon bevor er um die Ecke sehen konnte, trat wieder das Bild vor seine Augen: das verwüstete Zimmer, Juri mitten darin, mit aufgerissenen Augen und verdrehtem Kopf zur Tür starrend; die leblosen Augen auf ihn gerichtet, umgeben vom bleichen Gesicht des Toten.

Als er zögerlich durch die Tür spähte, konnte er es nicht fassen – das verwüstete Zimmer lag unverändert vor ihm, aber Juri war nicht mehr dort.

„Nun, wo ist der Tote?“, fragte der Mann in einem Ton, der einen Hauch Ironie erahnen ließ.

Daniel konnte nichts sagen. Er schaute den Mann an, dann wieder auf die Stelle, wo Juri gelegen hatte. Vor seinem inneren Auge sah er immer noch Juris Körper wie eine Reminiszenz auf der Netzhaut, nachdem man in helles Licht geschaut hat. Ungläubig und irritiert sah er ins Gesicht seines Gesprächspartners, der ihn dabei abschätzig beobachtete.

„Das herauszufinden ist wohl nun Ihre Aufgabe“, konterte er, nachdem er sich wieder gefasst hatte.

„Mm, … können wir denn sicher sein, dass Sie die Wahrheit sagen?“, entgegnete der Mann mit einem süffisanten Unterton, der Daniel sehr ärgerte.

„Was wollen Sie damit andeuten?“ Daniel war überhaupt nicht nach einem verbalen Schlagabtausch zumute, zu dem das hier gerade ausartete. Es schien ihm in der augenblicklichen Situation sogar völlig absurd.

„Meffer ist mein Name – entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt“ Er streckte ihm seine Hand entgegen. „Kripo Köln, Morddezernat. Sind Sie Herr Brandt, der uns eben angerufen hat?“

Es klang mehr wie eine Feststellung als eine Frage, so nickte Daniel nur kurz und bestätigte mit einem knappen „Ja.“

Meffer schien etwas einlenken zu wollen. Dennoch war er Daniel nicht besonders sympathisch. Er betrachtete forschend Meffers Gesicht. Es erinnerte ihn an irgendeine Hunderasse, der Name lag ihm auf der Zunge. Basset, fiel ihm dann ein … Meffer wirkte träge in seiner Art. Sicher war er ein wenig engagierter Polizist, jedenfalls machte er einen recht frustrierten Eindruck.

„Sie kannten den Toten näher?“

„Juri war ein Freund von mir. Wir waren heute verabredet.“

„Wie haben Sie die Leiche gefunden? Ich meine, warum sind Sie überhaupt in die Wohnung gegangen?“

Daniel erzählte ihm die ganze Geschichte und Meffer hörte sich alles ohne Kommentar an.

„Mmh, merkwürdig ist das alles schon … dann müssten seine Mörder eigentlich noch in der Wohnung gewesen sein und die Leiche mitgenommen haben …“ Er blickte nachdenklich zu Daniel hinüber. „Und Sie haben nichts gehört? Kein Geräusch, nichts sonst?“

Daniel schüttelte den Kopf.

„Sie wirken etwas müde, Herr Brandt. Haben Sie Medikamente genommen? Oder etwas getrunken?“

„Nein, ich hatte einen wirklich anstrengenden Tag, Herr Meffer, und die Situation trägt auch nicht gerade zu meiner Heiterkeit bei“, antwortete er in leicht gereiztem Ton.

Meffer schien ihm die Geschichte immer noch nicht ganz abzunehmen oder hatte zumindest Vorbehalte.

„Wissen Sie was“, meldete sich Meffer nach einer kleinen Pause wieder zu Wort. „Erst mal hole ich jemanden von der Spurensicherung hier rein und Sie schlafen sich derweil aus. Könnten Sie morgen Vormittag zu mir ins Präsidium kommen, damit wir Ihre Aussage aufnehmen können? Vielleicht fällt Ihnen mit ein wenig Abstand noch etwas ein, was uns weiterbringen könnte.“ Er hatte nun einen versöhnlicheren Ton angeschlagen.

„In Ordnung, das ist sicher erst mal das Beste.“

Zurück in seiner Wohnung begannen seine Gedanken zu rotieren. Daniel konnte das alles nicht verstehen. War Juri etwas auf der Spur gewesen? Schon gestern hatte er so merkwürdig gewirkt. Vielleicht hätte Daniel anders reagieren sollen. Er machte sich Vorwürfe. Möglicherweise wäre das heute dann gar nicht geschehen und Juri würde noch leben. Was war nur passiert? Und wo befand sich Juris Leiche? Je länger er darüber nachdachte, umso mehr machte sich die Trauer um den Freund in ihm breit. Dennoch fühlte er sich wie unter einer Glocke – so richtig heraus konnten die Gefühle auch nicht.

Er überlegte, Joelle anzurufen. Nach ihrer Trennung hatten sie erst in der letzten Zeit wieder mehr Kontakt gehabt. Aber Daniel war sich nicht sicher, ob ihm das gut tun würde. Er wählte ihre Nummer. Nach dem Freizeichen schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Daniel hatte keine Lust, irgendetwas darauf zu sprechen. Seufzend legte er wieder auf.

Nach einiger Zeit des Grübelns ging er ins Bett, um ein wenig zu schlafen. Obwohl er todmüde war, hielten ihn die Gedanken, Bilder und Gefühle noch lange vom ersehnten Schlaf ab, bis er irgendwann doch in den Dämmerzustand hinüberglitt.

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Daniel verließ das Präsidium in niedergeschlagener Stimmung. Sein gestriger Eindruck war gar nicht so falsch gewesen; Meffer hatte seine Aussage erneut aufgenommen, begleitet von ein paar uninspirierten Fragen. Eine Sekretärin hatte das Ganze teilnahmslos mittels ihrer Tastatur verewigt. Die Spurensicherung war wie versprochen gestern noch am Tatort gewesen, aber die Ergebnisse würden wohl auf sich warten lassen. Große Hoffnungen machte sich Daniel nicht, denn die Polizei schien kaum Energie in die Angelegenheit zu stecken – angeblich gab es bisher zu wenig Anhaltspunkte.

Er stieg in sein Auto, wäre in Gedanken fast auf ein stehendes Fahrzeug vor ihm gefahren und fädelte sich nach langem Warten in den starken Verkehr ein. Obwohl die Nacht nicht so lang und sein Schlaf eher unruhig gewesen war, fühlte er sich zumindest ausgeruhter und ruhiger als am Abend zuvor. Viele Gefühle überlagerten sich: die Wut über die miserable Polizeiarbeit, die Verwirrung über die Todesumstände und nicht zuletzt die Trauer über den Tod des Freundes. Er würde selbst aktiv werden müssen, wenn er etwas über Juris Tod, seine Mörder und die Hintergründe herausfinden wollte. Vielleicht würde ihm das helfen, die anderen Gefühle etwas zu kompensieren. Aber wo sollte er anfangen? Auch wenn er sich Juri freundschaftlich verbunden fühlte, so hatte er doch wenig Anteil an dessen alltäglichem Leben gehabt. Er kannte kaum andere Freunde oder Freundinnen von Juri, hatte eher zufällig mal kurze Affären mitbekommen. Aber möglicherweise konnte er in der Wohnung irgendwelche Anhaltspunkte finden – schließlich hatte er ja einen Zweitschlüssel für Notfälle. Zumindest war das im Augenblick das Einzige, was er tun konnte und zudem etwas, das er seinem Freund einfach schuldig war.

Daniel fand einen Parkplatz wenige Meter vor dem Haus; sicher lag das an der Tageszeit, denn normalerweise musste er fünf- oder sechsmal um den Block kreisen, bis er endlich entnervt eine Abstellmöglichkeit für sein Auto gefunden hatte. Glücklicherweise konnte er sich heute frei nehmen. Da er erst kürzlich mit der Recherche für eine neue Reportage angefangen hatte, war der Stress beim Sender noch nicht allzu groß.

Als er auf die Haustür zuging, musste er unwillkürlich an das letzte Mal denken, als er diese Tür aufgeschlossen hatte. Ob Juri zu diesem Zeitpunkt schon tot gewesen war? Hätte er etwas verhindern können, wenn er sofort zu ihm gegangen wäre?

Stufe für Stufe stapfte er die Treppe nach oben. Die schmerzlichen Gedanken an Juri raubten ihm alle Kraft.

Er erreichte die Wohnung. Ruhig und beschaulich lag der Eingang da und ließ weder das Chaos noch die furchtbaren Ereignisse erahnen, die vor kurzem die jetzt leblose Wohnung erfüllt hatten. Nur das Absperrband der Polizei erinnerte unwiderruflich an das furchtbare Verbrechen.

Daniel erschrak. Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Gestalt auf der nach oben führenden Treppe. Im Halbdunkel saß sie bewegungslos da und beobachtete ihn. Langsam drehte er den Kopf. Es war eine junge Frau. Jetzt erst erkannte er, dass sie ihn gar nicht anschaute, sondern zu schlafen schien. Ihr Kopf war gegen die Wand gelehnt, ihr Gesicht konnte man unter der tiefgezogenen Indiomütze kaum erkennen. Überhaupt war sie für seinen Geschmack etwas zu bunt gekleidet und wirkte eher wie ein Hippie aus längst vergangenen Zeiten. Daniels Blick fiel auf ihre Socken, die nicht zusammenpassten. Er fragte sich, ob das Absicht war oder einfach nur Schludrigkeit.

In dem Moment öffneten sich ihre Augen und schauten ihn verkniffen an. Keiner sagte etwas, Daniel stand abwartend vor ihr.

Schließlich schleuderte sie ihm ein schroffes „Was ist?“ entgegen. „Was schauen Sie mich so an?“

Daniel gefiel ihr Tonfall nicht. „Das müsste ich Sie fragen. Was tun Sie hier?“

Sie stöhnte kaum hörbar und richtete ihren Oberkörper auf, bis sie gerade auf der Treppenstufe saß.

„Kennen Sie einen Daniel Brandt? Hier im Haus?“

Daniel nickte. „Was wollen Sie von ihm?“, fragte er misstrauisch.

Die Frau stand zögernd auf und streifte ihre Mütze ab. Ihre dunklen, leicht lockigen Haare waren platt an ihren Kopf gedrückt. Daniel sah nun, dass sie älter war als ihre Kleidung vermuten ließ – vermutlich so Ende zwanzig, schätzte er.

Sie schaute ihn skeptisch an. „Sind Sie das? Sind Sie Daniel Brandt?“

Daniel hörte, dass sie einen leichten S-Fehler hatte. Oder war es ein Akzent?

„Was wollen Sie von mir?“, fragte er nach einer langen Weile. Etwas an dieser Frau erschien ihm suspekt, aber er konnte nicht genau sagen, was es war.

„Ich bin Mara“, sagte sie. Und als Daniel nicht reagierte, ergänzte sie „… Juris Schwester.“

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen.

Daniel schaute sie verwirrt an, während er ihre kalte Hand in der seinen spürte.

„Ich … ich wusste gar nicht, dass Juri … eine Schwester hat“, antwortete er stockend. Bei näherem Hinsehen erkannte er einige Ähnlichkeiten zwischen den beiden. Auch sie hatte einen leicht braunen Grundteint, der ihr einen sehr dezenten Hauch von Exotik verlieh, ein ebenmäßiges Gesicht, aber ihre Augen waren viel dunkler als Juris. Er schaute auf den Leberfleck zwischen ihren Augen. Dieser saß nicht ganz in der Mitte, sonst hätte er ihn an das dritte Auge erinnert.

„Wir hatten auch lange Zeit überhaupt keinen Kontakt. Doch gestern hat Juri mir eine E-Mail geschrieben, die ich leider erst heute Nacht gelesen habe.“ Sie machte nach jedem Satz eine kleine Pause. „Er bat mich um Hilfe. Sonst schrieb er nichts Genaueres. Ich hatte ein merkwürdiges Gefühl wegen der seltsamen Nachricht nach so langer Pause, deshalb habe ich nur wenig geschlafen und bin dann heute ganz früh losgefahren.“ Dabei kramte sie in der Tasche ihrer Jacke herum, wohl um etwas zu suchen, schien es aber nicht zu finden.

„Gehen wir doch erst mal rein!“, forderte Daniel sie auf und öffnete dabei seine Wohnungstür.

Mara verharrte jedoch auf der Treppe und blickte hinüber zu Juris Wohnung.

„Ist das da seine Wohnung? Was war hier los? Ist hier was passiert?“

„Gehen wir doch rein, ich erkläre dann alles“, bat Daniel sie jetzt eindringlicher.

Sie folgte seiner Einladung nicht. Es war, als hätte sie diese gar nicht gehört. Sie stand bewegungslos auf der Treppenstufe und schaute ihn an, als warte sie immer noch auf eine Antwort.

„Juri ist tot“, sagte Daniel schließlich fast tonlos.

Sie stand einfach da und blickte in seine Augen. Dann sank sie langsam auf die Treppenstufe nieder.

Daniel ging einen Schritt auf sie zu, wusste aber auch nicht so recht, was er tun sollte. Er spürte einen riesigen Kloß im Magen und die Traurigkeit erwischte auch ihn wieder mit voller Wucht. Mara vergrub ihren Kopf in den aufgestützten Händen. „Oh Gott …“, stammelte sie. Als sie aufschaute, war die Farbe komplett aus ihrem Gesicht gewichen. „Was …“ Sie suchte nach Worten.

Daniel half ihr und begann zu erzählen. „Ich habe ihn gestern Abend gefunden. Er ist offensichtlich ermordet worden.“

Sie schüttelte gedankenversunken den Kopf, schaute dabei starr vor sich, dann auf die Tür.

„Ich hatte schon so etwas geahnt, als ich das Absperrband gesehen habe …“ Sie wirkte wieder ein wenig gefasster.

„Komm doch erst mal rein zu mir, dann erzähl ich dir alles“, machte Daniel einen erneuten Versuch und bemerkte erst jetzt, dass er automatisch zum „Du“ übergegangen war.

Sie nickte schließlich, stand auf, nahm ihre Tasche und folgte ihm in sein Wohnzimmer. Dort ließ sie sich auf dem Sofa nieder, ohne ihre Jacke auszuziehen.

Daniel setzte sich in den Sessel schräg gegenüber.

„Er ist einfach verschwunden. Als die Polizei eintraf, war Juri einfach weg!“

Er war immer noch völlig fassungslos und erzählte ihr die ganze Geschichte mit allen Details, die ihm noch gegenwärtig waren.

Mara hatte seine Schilderung mit ernster Mine verfolgt. „Vielleicht haben seine Mörder etwas von ihm gewollt. Etwas, das er ihnen nicht geben wollte – oder konnte. Wenn die Wohnung dermaßen verwüstet ist, wie du beschrieben hast …?“

„Ja, das denke ich auch“, bestätigte Daniel.

„Hat er dir denn nichts erzählt, eine Nachricht hinterlassen oder irgendwas?“

Daniel schüttelte nachdenklich den Kopf.

„Nein, keine Nachricht – nichts …“

Mara kramte erneut in ihrer Jackentasche und förderte diesmal ein mehrfach geknicktes Blatt zutage, das sie ihm entgegenhielt.

„Hier, das ist die E-Mail, die ich gestern bekommen habe.“

Er faltete es auseinander und begann zu lesen:

liebe mara,

viel zu lange haben wir nichts voneinander gehört. das bedaure ich sehr!! Na ja, es ist, wie es ist … du selbst kennst ja die gründe.

ich schreibe dir, weil ich in einer sehr problematischen lage bin. es wäre sehr schwierig, das jetzt alles in der mail zu erklären, aber ich bin an einer wirklich großen Sache dran – vielleicht sogar eine nummer zu groß, wie ich jetzt merke. es gibt jedenfalls leute, die deswegen hinter mir her sind und ich glaube, die scheuen vor nichts zurück. die Situation wird immer brenzliger für mich. ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden kann, denn die zeit läuft davon. daniel ist noch nicht zurück – ein guter freund, der hier im haus wohnt, daniel brandt. daher bitte ich dich: falls du bis morgen nichts von mir hörst, kannst du dich mit daniel in verbindung setzen oder hierher kommen? ich habe etwas, das ich einem von euch gern übergeben würde, hier in meiner wohnung … muss aufhören, höre was … juri

Er schaute in ihr erwartungsvolles Gesicht.

„Eine ‚große Sache‘“, murmelte er.

„Juri ist wohl nicht mehr dazu gekommen, das Wichtigste zu schreiben“, bemerkte Mara. Sie zuckte leicht mit den Schultern „So bin ich heute sehr früh losgefahren.“

„Woher kommst du denn?“, fragte Daniel.

„Aus Amsterdam. Ich lebe dort.“ Jetzt konnte Daniel den minimalen Akzent einordnen.

„Wieso hattet ihr beiden keinen Kontakt mehr? Ist da irgendetwas passiert?“

Mara verzog den Mund und schaute ihn lange an. „Ach … das ist eine lange Geschichte. Ich mag sie jetzt nicht erzählen. Vielleicht irgendwann mal in Ruhe.“

„Okay. Wir sollten uns auch vielleicht lieber um Juris Wohnung kümmern, bevor die Polizei sie ganz dicht macht.“

„Ja, in Ordnung“, erwiderte sie, machte jedoch keine Anstalten, aufzustehen.

Einen Moment lag eine Stille zwischen den beiden, die die vergangenen Ereignisse wieder in sein Bewusstsein holte. Daniel durchbrach den Moment. „Was meinst du – sollen wir einfach mal rübergehen? Und schauen, ob wir etwas finden?“

„Tja … was kann das denn sein?“

„Ich habe keine Ahnung. Vielleicht fällt uns ja was auf.“ Er legte das Blatt beiseite und musterte sie. „Aber es sieht wirklich schlimm dort aus.“

Mara schaute ihn an, dann nickte sie. „Okay.“

Juris Wohnung bot den gleichen Anblick wie am vorigen Abend. Mara war noch stiller geworden. Daniel spürte, dass sich sein Magen zuschnürte, als er an die gestrigen Bilder dachte. Dennoch begannen sie systematisch die gesamte Wohnung zu durchkämmen, um irgendetwas zu finden – auch wenn nicht klar war, was. Was hatte Juri ihnen geben wollen?

Raum für Raum durchsuchten sie nach Verstecken, Hinweisen oder Auffälligkeiten. Als sie schließlich wieder im Flur angekommen waren, schauten sie sich ratlos an. Zwar waren sie auf jede Menge Bücher, Aufzeichnungen und Skizzen gestoßen, aber hatten beide nicht das Gefühl, dass etwas davon irgendwie von Nutzen sein könnte oder auch nur minimale Anhaltspunkte lieferte.

Sie verließen die Wohnung unter dem Absperrband hindurch und Daniel zog vorsichtig die Tür zu, um keine Spuren zu verwischen.

„Mist! Eine Nadel im Heuhaufen suchen …“, murmelte Daniel. Mara reagiert nicht und wandte sich einem Bild zu, das neben Daniels Tür hing.

„Ich habe mich den ganzen Morgen hier auf der Treppe schon gefragt, woher ich das Bild kenne. Wo ist das? Hast du es selbst aufgenommen?“

Daniel trat einen Schritt näher an das Bild, als ob er es zum ersten Mal sähe und betrachtete die Fotografie einer mediterranen, leicht hügeligen und felsigen Landschaft. Er brauchte mehrere Momente für seine Antwort. Dann fiel der Groschen.

„Natürlich!“ Er schlug sich mit der Hand gegen die Stirn, als ob er seinem Gehirn einen Anstoß geben wollte. „Das ist es, was hier nicht stimmt. Gestern hatte ich ständig das Gefühl, etwas sei hier nicht in Ordnung. Es ist Juris Bild! Es hing immer in seiner Wohnung. Bis gestern. Er muss es mit einem anderen Bild ausgetauscht haben.“ Immer noch fixierte er das Foto. „Wo das genau ist, weiß ich gar nicht, ich hab ihn nie danach gefragt. Könnte in Südfrankreich sein.“

„Irgendwie kommt mir die Gegend bekannt vor. Vielleicht war ich schon mal dort – oder habe die Fotografie schon irgendwo gesehen“, bemerkte Mara nachdenklich, während Daniel direkt auf das Bild zuging, es instinktiv von der Wand nahm und umdrehte.

Hinter dem Metallspanner, der das Bild gegen das Glas drückte, befand sich eine kleine Ziptüte mit einer Speicherkarte und einem gefalteten Zettel darin. Aufgeregt zog Daniel beides heraus, sodass der Zettel fast riss. Er faltete das Stück Papier nervös auseinander. Mara war an ihn herangetreten, um die schwer leserlichen Worte zu sehen, die in großer Eile auf das Blatt geschmiert waren:

daniel, ganz kurz: wichtige dokumente auf card – keine zeit für erklärungen. juri

„Er scheint es unter großem Zeitdruck geschrieben zu haben. Aber ich verstehe immer noch nicht so ganz …“ Daniel ließ die Augen nach einer Antwort suchend erneut über die Zeilen gleiten.

„Vermutlich hat er das gestern kurz vor oder nach meiner E-Mail verfasst“, bemerkte Mara.

Daniel hielt wortlos die Speicherkarte hoch und beide gingen wie auf ein Zeichen zurück in seine Wohnung. Er schob die Karte in sein Notebook auf dem Schreibtisch. Voller Spannung warteten sie, bis der Computer hochgefahren war.

Sie starrten auf den Bildschirm.

das passwort lautet:

war über einem rechteckigen Kästchen zu lesen, über dem erwartungsvoll ein blinkender Cursor auf die Eingabe wartete.

„Mist!“

Mara schaute gedankenverloren zum Fenster. „Wenn Juri davon ausging, dass einer von uns diese Speicherkarte finden würde …“, sie machte eine lange Pause, „dann würde er uns doch auch irgendwo das Passwort hinterlassen, oder?“ Sie schaute Daniel wieder an.

„Vermutlich hast du recht“, antwortete er und fing an, im Kopf nochmals Juris Wohnung durchzugehen.

„Diese Mail …“, sagte Mara schließlich. „Sie lässt mir keine Ruhe. Ich verstehe das nicht so ganz. Ist dir denn gar nichts darin aufgefallen?“ Ihr Tonfall wurde leicht gereizt, was Daniel unangemessen fand. Er schaute nachdenklich auf das Blatt. „Eigentlich nicht. Was meinst du denn?“

„Na, zum Beispiel, dass die komplette Mail klein geschrieben ist?“

„Ach so, das … Das ist für mich nichts Neues. Juri war ein radikaler Vertreter der Kleinschreibung.“

„Ja, klar – das hab ich mir schon gedacht. Aber es ist nicht durchgängig. Schau doch mal hier.“ Sie zeigte auf eine Stelle im Text. Daniel nahm das Blatt erneut in die Hand und sah, was sie meinte. Dann griff er nach einem Stift und unterstrich die groß geschriebenen Worte.

„Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn. ‚Na‘ – ‚Sache‘ – ‚Situation‘ – Ist es vielleicht ein Anagramm? Alle Buchstaben neu mischen und sortieren?“ Beide starrten auf das Blatt.

Er sortierte die Buchstaben unten auf dem Blatt nach dem Alphabet:

A A A C E H I I N N O S S T T U

„Hm, was könnte das bedeuten, wenn man es neu mischt?“

Beide starrten konzentriert auf die Buchstaben.

„Vielleicht sind es nur die Anfangsbuchstaben. Nur sie sind ja groß geschrieben.“

„NSS. Oder SSN. Oder SNS. Das sind schon alle Kombinationsmöglichkeiten. Ein Anagramm kann das kaum sein!“

„Aber ein Passwort aus einer solch sinnlosen Buchstabenfolge?“

Mara richtete sich auf und schüttelte den Kopf. „Mir scheint es für ein Passwort zu kurz.“

„Trotzdem! Juri war sehr klar und direkt. Ich glaube nicht, dass er die kompletten Wörter damit markieren wollte!“

Daniel ließ seiner Frustration keinen Raum und probierte es direkt mit dem ersten Code aus der E-Mail:

NSS …

Zugang verweigert

blinkte es in rot.

SNS …

Zugang verweigert.

Das gleiche Resultat bei SSN.

Mara stand unvermittelt auf und ging im Zimmer herum.

„Was machst du?“, fragte Daniel irritiert.

„Nachdenken. Oder wonach sieht es aus?“

Daniel meinte schon wieder leichte Gereiztheit in ihrem Tonfall zu erkennen. Er fragte sich, wieso, konnte aber keine Antwort finden. Sie zog ihre Jacke aus und ließ sie mitten im Zimmer fallen. Dann ging sie zum Regal und nahm einen Glasbehälter voller Steine herunter. Sie betrachtete den Inhalt forschend und schüttelte das Glas leicht in ihren Händen.

„Was ist denn das?“, fragte sie verwirrt.

In dem Moment sprang ein Stein heraus und rollte ein Stück über den Holzboden. Daniel stand auf, hob den Stein vom Boden auf und nahm Mara genervt das Glas aus der Hand.

„Entschuldigung“, sagte sie übertrieben betont und wirkte beleidigt.

Daniel ging nicht darauf ein. Er stellte das Glas vorsichtig auf dem Regal ab.

„Stromboli, Italien“, sagte er und hob den Stein in seinen Fingern etwas höher, bevor er ihn in den Behälter fallen ließ. „Das ist Lavagestein. Es sind Steine aus aller Welt. Orte, an denen ich schon mal war.“

Er ging zum Sessel zurück und versuchte sich wieder auf die Passwörter zu konzentrieren, während Mara sich noch mal die Steine auf dem Regal anschaute, ohne das Glas zu berühren.

Dann ging sie zum Sofa, streifte ihre Schuhe ab, zog ihre Socken hoch und legte die Füße auf die Lehne. Als ob sie zu Hause wäre, dachte Daniel. Sein Blick fiel zurück auf die Buchstaben.

„Vielleicht ist es einfach nur unvollständig.“

Auch Mara wandte sich erneut dem Blatt zu.

„Mir fällt da wirklich nichts zu ein“, meinte Daniel schließlich resigniert.

Mara lehnte sich zurück. „Tja. Mir auch nicht.“

Daniel fragte sich, ob Mara ihm eine Hilfe sein würde oder nur ein Klotz am Bein.

„Aber das kann doch kaum sein. Dann haben wir noch nicht alle Buchstaben. Und wenn das so ist, dann müssten die restlichen Buchstaben woanders versteckt sein.“

Daniel sank in sich zusammen. „Vielleicht auf dem Zettel?“

„Aber auf deiner Nachricht gibt es keine großen Buchstaben, nicht einmal die beiden Namen.“

Mara erhob sich vom Sofa und beide betrachteten forschend die Buchstabenfolgen auf dem Zettel, der neben dem Laptop lag.

„Nichts Auffallendes – überhaupt nichts, was irgendwie ins Auge springt.“ Mara schüttelte den Kopf.

Sie saßen sicherlich eine Viertelstunde da und sprachen kein Wort miteinander. Dann durchfuhr es Daniel in seinem Sessel und er rückte nach vorn.

„Und wenn Juri in deiner Mail die Großbuchstaben gewählt hat, weil es dort keine andere Form der Hervorhebung gab?“

„Das verstehe ich nicht.“

„Nun, wenn zum Beispiel Möglichkeiten einer anderen Verschlüsselung wegfallen.“

„Ach, du meinst so etwas wie Zitronensaft? Oder eine andere unsichtbare Tinte? Das machen vielleicht Kinder!“

„Ja, so was in der Art – es muss ja nicht gleich so ein billiger Trick sein, aber er hatte auch keine Zeit für eine komplizierte Codierung, die wir dann möglicherweise eh nicht knacken.“

Mara bewegte den Oberkörper leicht nach unten.

„Danke für dein Vertrauen in meine Intelligenz!“, sagte sie und schaute ihn herausfordernd an.

Daniel zündete eine Kerze an, die auf der Fensterbank stand und hielt das Blatt darüber. Es wurde an einigen Stellen schwarz und verbrannte fast, aber Anzeichen einer unsichtbaren Tinte waren nicht festzustellen.

„Stell dir doch mal seine Situation vor. In der Hektik noch Geheimtinte? Sicher hat er eine direktere Art der Verschlüsselung gewählt.“ Während sie das sagte, sprang Mara auf, nahm das Blatt in beide Hände und hielt es gegen das Licht. Sie ging jeden einzelnen Buchstaben durch. „Schau hier: der erste Buchstabe von „ganz“ ist mit einem anderen Stift geschrieben. Dennoch ist der Unterschied kaum zu erkennen.“

Sie drehte das Blatt etwas im Licht und las weiter. Daniel stand nun dicht neben ihr und kniff die Augen zusammen.

„Hier sind noch zwei weitere Buchstaben mit dem anderen Stift geschrieben: in ‚juri‘ das ‚i‘, das ist der allerletzte Buchstabe des Textes, und das ‚o‘ von ‚dokumente‘.

„Also GOI. Zusammen mit NSS hätten wir also NSSGOI. Welches sinnvolle Wort mit sechs Buchstaben gibt es da?“ Er riss ein Blatt aus der Schublade und begann, alle möglichen Kombinationen aufzuschreiben.

„Es ist gar nicht so kompliziert, denke ich“, kam ihm Mara zuvor. „Nimm einfach je einen Buchstaben in der auftauchenden Reihenfolge abwechselnd aus deinem und meinem Text.“

„GNISOS?“ Daniel schaute Mara entgeistert an.

„Nein, in der richtigen Reihenfolge: GOI und NSS.“

„GNOSIS! Na klar – das griechische Wort für ‚Wissen‘.“

Er war beeindruckt von ihrer schnellen Auffassungsgabe und hämmerte die sechs Buchstaben aufgeregt in die Tastatur. Dann bestätigte er mit der ENTER-Taste.

Der Bildschirm öffnete sich.

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Gent, Oktober 1934

Fournier hielt den Kopf zwischen seinen auf dem Schreibtisch abgestützten Händen fest, als wolle er ihn damit auf seinen Schultern fixieren. Verzweifelt starrte er auf den mit Aktenstapeln bedeckten Tisch gegenüber. Einige Menschen in diesem Gebäude sahen seinen Kopf schon rollen – er gehörte zu ihnen.

Sechs Monate waren nun schon vergangen seit dem Diebstahl der Kunstwerke und er war noch keinen Deut näher an der Lösung des Falles, geschweige denn an der Wiederbeschaffung der noch verschwundenen Tafel.

Dabei hatte der Fall zunächst einen durchaus vielversprechenden Verlauf genommen. Schon nach dem ersten Erpresserbrief und der Forderung über eine Million Francs war er sich sicher gewesen, den Dieb umgehend fassen und den Fall zu den Akten legen zu können.

Der Dieb hatte sogar die Rückgabe der Tafel von Johannes dem Täufer in Aussicht gestellt, um die Authentizität des Briefes zu beweisen.

Und tatsächlich fand sich die Tafel nach Zusendung eines Gepäckscheins in der Aufbewahrung des Brüsseler Bahnhofs.

Möglicherweise hatte er den Fall nicht ernst genug genommen.

Von Anfang an war ihm einiges merkwürdig erschienen. Auch das scheinbar mangelnde Interesse des Bischofs befremdete ihn immer wieder aufs Neue.

Die Tür wurde aufgerissen – ein wenig zu schwungvoll für Fourniers Empfinden – und Lumet trat ein, mit der linken Hand eine zusammengefaltete Zeitung in die Luft streckend, die er wie eine Keule schwang.

„Wieder nichts“, bemerkte er fast beiläufig, während er das Druckerzeugnis auf Fourniers Schreibtisch warf.

Seit dem ersten Erpresserbrief wurden die Verhandlungen bezüglich des Lösegeldes und der Übergabe der Tafel über Kleinanzeigen in einer vom Dieb genannten Zeitung abgewickelt.

Es hatte bereits eine Lösegeldübergabe gegeben, im Juni dieses Jahres. Leider hatte er bei dieser verpatzten Gelegenheit weder den Dieb fassen können, noch wurde die Tafel danach zurückgegeben.

Kein Wunder allerdings, hatte der Bischof sich doch nicht an die vereinbarte Summe von einer Million gehalten, sondern nur 25.000 Francs gezahlt.

Wäre Fournier selbst in der Lage des Diebes gewesen, so wäre er gewiss unglaublich sauer geworden und hätte den Kontakt nach dieser Aktion mit Sicherheit völlig abgebrochen.

So verband ihn eine gewisse Sympathie mit dem Dieb – oder den Dieben. Oder steckte hinter alledem gar eine Organisation, in deren Auftrag der Dieb handelte?

Alles sehr undurchsichtig und immer noch gab es keinerlei Anhaltspunkte.

Lumet hatte sich inzwischen auf seinen Stuhl verzogen und schaute versonnen aus dem Fenster.

Fournier vergrub seinen Kopf noch tiefer zwischen seinen Händen.

Nach nunmehr dreizehn Briefen und unzähligen Kleinanzeigen, die alle mit den Initialen D.U.A. unterzeichnet waren, ein wirklich frustrierendes Ergebnis. Und nun kam gar nichts mehr. Absolute Sendepause. Hatte der Erpresser möglicherweise doch aufgegeben?

Fournier schüttelte in der Umklammerung seiner Hände kaum merklich den Kopf, bevor er zu Lumet hinüberschaute.

Dieser erwiderte seinen Blick ohne jede Regung.

„Und nun?“

Fournier zuckte demotiviert die Schultern.

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Köln, Gegenwart

Beide starrten in gespannter Konzentration auf den Bildschirm, wo nun mehrere verkleinerte Dokumente und Skizzen zu sehen waren. Mit einem kurzen Klick vergrößerte Daniel sie und scrollte die Seite abschnittweise durch.

„Alles in französischer Sprache“, bemerkte er.

„Sehr schwer zu lesen, diese Handschrift. Scheint schon etwas älter zu sein – was denkst du, wie alt die Manuskripte sein könnten?“

Er zog nachdenklich die Augenbrauen hoch und presste die Lippen aufeinander. „Vielleicht fünfzig bis hundert Jahre? Das Papier ist schon etwas vergilbt, aber sicher nicht älter, so wie es hier aussieht. Ist wirklich schwer zu sagen.“

„Das sind fast nur Zahlen – irgendwelche Berechnungen und Skizzen. Was könnte das darstellen?“ Auf dem Bildschirm waren freihändig gezeichnete Rechtecke, Rauten und Striche zu sehen, die teilweise ineinander verschachtelt und überall mit Maßangaben versehen waren.

„Sieht eher aus wie eine Bauzeichnung. Aber von was denn?“

Darunter standen Kolonnen von Zahlen, in fünf Reihen unregelmäßig untereinander angeordnet. Dazwischen teilweise Gedankenstriche, einige Zahlen waren umkreist.

„Könnte das eine Art Codierung sein?“

Daniel blickte ratlos auf den Bildschirm und wusste keine Antwort.

„Schau mal, ein paar Worte. Kannst du die Schrift lesen?“

„Pour … touts … nein, toute … – es ist wieder durchgestrichen. Hier unten: Juges … intè … gres …“

„Juges intègres – die gerechten Richter“, übersetzte Mara bedächtig.

„Kannst du denn damit was anfangen? Sagt dir das etwas?“

„Es gab da mal einen legendären Kunstraub. Das muss so um 1933 gewesen sein. Ob das was damit zu tun hat?“

„Was war das denn für ein Bild?“

„Es war kein Bild im ursprünglichen Sinne, sondern ein Teil eines riesigen Kunstwerks: des Genter Altars.“ Mara hob ihren Blick vom Bildschirm und richtete ihn auf einen unbestimmten Punkt außerhalb des Fensters, während sie langsam weitersprach.

„Der Genter Altar ist ein weltberühmtes Meisterwerk der Gebrüder van Eyck. Er besteht aus einzelnen großen Bildtafeln, sodass der Altar geöffnet und zugeklappt werden kann. Eine dieser Bildtafeln wurde damals unter äußerst merkwürdigen Umständen gestohlen und ist bis heute verschollen. Sie trägt den Titel ‚Die Gerechten Richter‘.“

Daniel war beeindruckt von Maras Bildung. Zwar hatte er auch schon vom Genter Altar gehört, doch fehlten ihm jegliche weiteren Details dazu.

„Woher weißt du das alles?“

„Na ja, eigentlich sollte ich das noch viel genauer wissen – schließlich habe ich Kunstgeschichte studiert.“

Ihr Ton wurde weicher und sie schien in Gedanken an das Kunstwerk versunken.

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25. November 1934, Termonde bei Gent

Die Klingel ertönte, als de Vos immer noch gedankenversunken am Bett des Sterbenden saß. Als würden damit die letzten Stunden eines dahinscheidenden Lebens eingeläutet. Gleichzeitig holte sie den Rechtsanwalt jedoch zurück in seine reale Umgebung.

Er ging zur Tür, über der die altmodische Glocke noch ihren Ruhepunkt suchte und öffnete sie langsam.

In eine lange braune Kutte gehüllt stand ihm ein Mann mit einem runden, gutmütigen Gesicht gegenüber.

„Bruder Bornauw, es freut mich, dass Sie so schnell kommen konnten. Es steht wohl sehr schlecht um Monsieur Goedertier“, begrüßte de Vos den Benediktinermönch herzlich.

„Ich habe mein Möglichstes getan, Monsieur de Vos, doch bringen Sie mich doch bitte so schnell es geht zu ihm.“

„Natürlich, kommen Sie bitte herein, … hier entlang.“

De Vos deutete ihm mit ausgestreckter Hand den Weg durch den dunklen, holzvertäfelten Flur.

„Er hatte einen Herzanfall. Der Weg nach Hause schien uns zu weit, so haben wir ihn erst mal hierher zu seinem Schwager gebracht“, erklärte er weiter, während sie den geräumigen Salon betraten. „Der Arzt war schon hier, hat uns aber nicht viel Hoffnung gemacht, … bitte hier herein.“

De Vos öffnete die angrenzende Tür zum Gästezimmer und blickte auf den unverändert dahinsiechenden Freund. Er ließ Bruder Bor– nauw allein mit dem Sterbenden, damit er ihm die letzte Ölung geben und die Beichte abnehmen konnte.

Dann trat er an den Kamin und betrachtete geistesabwesend die Asche und die zu tiefschwarzer Kohle gewordenen Holzreste darin. Wie plötzlich das Leben doch ein Ende finden konnte! Kannte er doch keinen so geistig wie körperlich regen und umtriebigen Menschen wie Arsène Goedertier – und das trotz dessen siebenundfünfzig Jahren!

Jäh wurde er durch die sich öffnende Tür aus seinen Gedanken gerissen. Bruder Bornauw trat mit einem behänden Schritt aus dem Zimmer.

„Bitte, Monsieur de Vos, er möchte Sie sprechen. Sofort!“

So schnell konnte der Geistliche unmöglich die Sterbesakramente erteilt haben. Gab es etwas so Wichtiges in der jetzigen Situation?

Zurück im Zimmer machte Goedertier jedoch einen völlig entrückten Eindruck. Er schien um Luft zu ringen und bewegte, wie in einem Fieberwahn, hektisch den Kopf hin und her.

„Arsène!… Hörst du mich? Arsène!“

De Vos schüttelte Goedertier ganz leicht an der Schulter. Das schien sein Freund jedoch in keiner Weise zu registrieren. Er rang weiter nach Luft und warf den Kopf abwechselnd von der linken auf die rechte Seite seines Kissens.

Goedertier befand sich im Delirium.

Hilfesuchend schaute sich de Vos nach Bruder Bornauw um.

„Was können wir tun? Können wir ihm irgendwie helfen?“

„Vielleicht sollten wir den Arzt noch einmal holen.“

Bruder Bornauw bewegte sich geschwind, aber gemessen aus dem Zimmer und befand sich gerade im Salon, als der Kranke sich schlagartig zu beruhigen schien.

„Warten Sie, er scheint zur Ruhe zu kommen!“, rief de Vos in den Salon hinüber.

Wie ein vorübergehender Husten verzog sich der Anfall so schnell er gekommen war und Goedertiers Augen öffneten sich schwerfällig. Sein Atem wurde gleichmäßig und sein Kopf lag still auf dem Kissen.

Irritiert wartete de Vos, bis der Freund ihn wiedererkannte. Schließlich drehte der Kranke den Kopf etwas zur Seite und schaute ihn aus klaren und funkelnden Augen an.

„Ich weiß, wo die ‚Gerechten Richter‘ sind“, hauchte er kaum vernehmbar. De Vos beugte sich noch näher an Goedertier heran, sodass er seinen Atem spüren konnte.

„In der Schublade meines Schreibtisches findest du alle nötigen Informationen … ein Umschlag … in der rechten Schublade … ‚Versicherung‘ …“ Die Worte des sterbenden Freundes wurden immer schwächer, nahezu tonlos. De Vos hielt sein Ohr jetzt unmittelbar vor den Mund Goedertiers und vernahm die letzten Sätze, die er in seinem Leben sprechen sollte.

Bruder Bornauw beobachtete die Szene aus dem Salon, ohne ein Wort zu verstehen. Er wunderte sich nur, wie lange de Vos regungslos über dem Mund des Sterbenden verharrte.

Als sich der Rechtsanwalt nach einer endlosen Weile langsam wieder erhob und die Hand des Freundes zwischen seine beiden Hände nahm, trat der Mönch zögernd wieder ans Bett.

Alles irdische Dasein war nun von dem Mann abgefallen und während Bruder Bornauw das Zeichen des Kreuzes machte und ein stilles Gebet sprach, schien das Leben im gesamten Raum für einen Moment zu pausieren.

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Köln, Gegenwart

Daniel betrachtete aufmerksam die Skizzen auf dem Bildschirm. Ein unverständliches Gewirr von Strichen und Zahlenreihen, die stellenweise mit nachträglichen roten Markierungen versehen waren.

„Und man hat nie irgendeinen Anhaltspunkt über den Verbleib der Tafel gefunden?“, fragte er verwundert.

„Der Dieb der Tafel konnte ausfindig gemacht werden – allerdings eher zufällig. Er starb kurze Zeit später und legte noch auf dem Sterbebett ein Geständnis ab. Doch das Bild suchte man vergeblich. Es gibt tausend Theorien, auch heute noch, aber das Ganze war schon damals sehr rätselhaft“, antwortete Mara und hielt sich mit beiden Händen stützend den Rücken, während sie sich gerade auf dem Stuhl aufrichtete.

„Meinst du, Juri wusste etwas über die Tafel – wusste vielleicht sogar etwas über ihr Geheimnis?“

„Scheint so – möglicherweise wusste er zu viel und musste deshalb sterben.“

„Oder wollte sein Wissen nicht mitteilen.“

„Ja. Oder das …“

Als Daniel den Blick vom Bildschirm löste und Mara von der Seite ansah, wirkte sie müde und erschöpft auf ihn. Vielleicht war das alles auch etwas viel für sie gewesen – innerhalb weniger Stunden vom Tod Juris zu erfahren und jetzt diese Geschichte, in die sie beide hineingeschlittert waren.

„Dann scheint er wirklich an irgendwas sehr dicht dran gewesen zu sein“, sagte sie matt. Etwas Trauriges schwang diesmal in ihrer Stimme mit, als ob sie sich in diesem Moment an Juri erinnerte und sich ihm durch die Beschäftigung mit dem von ihm gesammelten Material wieder näher fühlte. Vielleicht wurde sie sich seines Todes erst langsam richtig bewusst, dachte Daniel. Er schluckte und versuchte sich seinerseits schnell wieder abzulenken.

„Das sieht alles sehr verworren und mysteriös aus“, sinnierte er. „Sind das Hinweise auf das Versteck der Bildtafel?“

„Wenn wir uns an die Entschlüsselung der Dokumente machen und überhaupt etwas zum Altar herausfinden wollen, brauche ich aber etwas Schlaf vorher – ich habe kaum ein Auge zugetan diese Nacht.“ Mara blinzelte ihn müde an und gähnte dann.

„Ja klar! Aber dann bist du dabei und hilfst mir? Auch wenn Juri deswegen getötet wurde?“

„Na klar, – gerade dann! Das sind wir ihm doch schuldig.“

Für Daniel war es keine Sekunde eine ernsthafte Frage gewesen, ob er sich mit der Sache beschäftigen würde. Er konnte ihre Hilfe sicher gut gebrauchen und merkte, dass er froh war, nicht alleine damit dazustehen – auch wenn Mara schon ein wenig komisch war.

Bilder von Juri gingen ihm durch den Kopf. Nun war er einfach nicht mehr da. Nie mehr. Daniel konnte das kaum fassen – es war noch nicht richtig in sein Bewusstsein gedrungen. Er versuchte an etwas anderes zu denken und begann, Mara das Lager für die Nacht vorzubereiten. Mit wenigen Handgriffen hatte er das Sofa im Arbeitszimmer ausgezogen.

Mara ließ sich sofort auf das provisorische Bett fallen und schnappte sich die Decke, die er ihr hingelegt hatte. Während er im Internet noch ein hochauflösendes Bild des Genter Altars suchte, kuschelte sich Mara in das von Daniel bereitete Lager.

Nach wenigen Augenblicken hatte er eine qualitativ gute Darstellung gefunden und speicherte diese ab. Er drehte sich zu Mara, um ihr eine gute Nacht zu wünschen. Nur ihr Gesicht lugte noch aus der Decke hervor. Sie schien bereits eingeschlafen zu sein – ohne ein weiteres Wort. Wirklich eine merkwürdige Person, dachte er. Einen langen Moment blieb er so sitzen und betrachtete sie. Ihren Leberfleck und ihre zerwühlten Haare. Er fragte sich, warum Juri nie von ihr erzählt hatte. Gelegenheit wäre sicher genug gewesen.

Dann ging er mit dem Laptop ins Nebenzimmer, um sie ungestört schlafen zu lassen.

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Wetteren bei Gent, November 1934

De Vos betrat die riesige Eingangshalle von Goedertiers Haus mit einem mulmigen Gefühl. Nicht, weil ihn die Größe des Portals trotz seiner häufigen Besuche jedes Mal wieder erschlug, sondern aufgrund der Abwesenheit des Parteifreundes, dessen Lebenskraft und funkelnder Esprit diese Räume niemals wieder füllen würden. Arsène Goedertiers Witwe führte ihn direkt ins Arbeitszimmer, in dem der große Schreibsekretär den Raum durch seine ausgefallene Optik dominierte. Sein Blick fiel unwillkürlich auf die Schubladen auf der rechten Seite.

„Madame Goedertier, es scheint mir unangebracht angesichts der Situation, den Schreibtisch Ihres Mannes zu durchsuchen. Doch er bat mich, einen Umschlag mit der Aufschrift ‚Versicherung‘ an mich zu nehmen und zu verwahren. Dieser soll sich in einer der rechten Schubladen befinden.“

„Oh, das ist kein Problem, Monsieur de Vos. Gern schaue ich für Sie nach, wenn Ihnen das entgegenkommt.“

Sie öffnete die oberste Schublade, hob einige Schriftstücke an, schien jedoch nichts zu finden. Die zweite Schublade durchsuchte sie nach derselben Methode, bis sie schließlich einen Moment innehielt und einen großen braunen Umschlag herauszog, den sie de Vos mit einem matten Lächeln entgegenstreckte. Sie schien durch die Ereignisse sehr mitgenommen.

„Das wird der Umschlag sein, den mein Mann meinte.“

De Vos bedankte sich herzlich und versäumte nicht, der Witwe alle nur erdenkliche Hilfe für die nun bevorstehende schwere Zeit anzubieten. Dann machte er sich zügig auf den Heimweg, denn er konnte es nicht erwarten, die Geheimnisse des Umschlags zu enthüllen.

Zu Hause begab er sich direkt zum Schreibtisch, knipste die Lampe an und öffnete den Umschlag mit seinem silbernen Brieföffner so vorsichtig, als sei er ein Heiligtum.

Was ihm dann in die Hände fiel, machte ihn vor Erstaunen fassungslos.

Da waren die Durchschläge der dreizehn Erpresserbriefe an den Bischof, ein vierzehnter Brief, der offensichtlich nicht abgeschickt worden war, und viele Skizzen und Notizen mit Zeichnungen und Zahlenreihen darauf, die wie ein Code aussahen.

De Vos’ Körper sank wie getroffen zurück an die Rückenlehne des Sessels.

War Goedertier selbst der Dieb der ‚Gerechten Richter‘? Das konnte er kaum glauben! Er kannte Arsène Goedertier schon eine halbe Ewigkeit und, wie er sich eingebildet hatte, auch sehr gut. Warum nur? Er war doch sehr wohlhabend als Börsenmakler, benötigte das Geld nicht. Zudem war er aktives Mitglied der katholischen Partei – wie er selbst ja auch – und seine Beförderung zum Akademiedirektor hatte unmittelbar bevorgestanden. Oder war er in Schwierigkeiten gewesen, von denen niemand etwas wusste? De Vos starrte ungläubig in die Luft oberhalb seines Schreibtischs. Er konnte sich auf das Ganze keinen Reim machen. Aber vielleicht gaben ja die Dokumente mehr Aufschluss über die offenen Fragen.

Als er begann, sich in die Manuskripte, Briefe und Skizzen zu vertiefen, blieb ihm fast der Atem weg.

Langsam begann er zu verstehen.

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Köln, Gegenwart

Daniel wollte gerade den Beamer einschalten, als das Telefon klingelte. Ein Blick auf das Display ließ ihn einen kurzen Moment zögern, bevor er abnahm.

„Joelle, wie geht es dir?“

„Kennst du meine Nummer noch auswendig?“, kokettierte sie nach seiner direkten Begrüßung.

„Nein, nicht mehr – aber dein Name erscheint auf dem Display, das macht es mir leichter“, konterte er.

Manchmal machte es ihm immer noch etwas aus, sie zu sprechen oder zu sehen, auch wenn sie seit ihrer Trennung seit einer Weile regelmäßigen, freundschaftlichen Kontakt hatten. Als sie damals aus beruflichen Gründen zurück nach Berlin gezogen war, hatte sie sich von ihm getrennt – sie war also die auslösende Kraft gewesen, und das machte vermutlich den Unterschied. So musste er von Fall zu Fall entscheiden, ob er Joelle sprechen oder gar sehen wollte und manchmal entschied er sich auch wider besseres Wissen. Die emotionale Quittung dafür bekam er immer erst später. Heute aber hatte er ein klares Gefühl, dass es ihm guttun würde, mit ihr zu sprechen.

„Es ist eine Menge passiert seit gestern, … furchtbare Dinge“, begann er.

„Erzähl!“, forderte Joelle ihn mit ihrer manchmal sehr forschen Art auf.

Er berichtete ihr vom Tod Juris, von der Polizei, von seiner Nacht und seinen Gefühlen, von Mara und schließlich von der Bildtafel.

„Ui“, seufzte sie. „Das ist ja schrecklich mit Juri. Das alles klingt nicht gut! Das hört sich wirklich gefährlich an. Was wirst du nun tun?“

Daniel machte eine kurze Pause. „Du kennst mich doch.“

„Stimmt, eigentlich hätte ich mir die Frage sparen können.“ Ihr amüsierter Ton wurde sofort wieder ernsthaft. „Wenn ich dir irgendwie helfen kann bei deinen Ermittlungen, melde dich bei mir! Ich habe eine Menge Kontakte hier in Berlin.“ Sie sagte das mit besonderem Nachdruck und Daniel wusste, dass er sich immer auf sie verlassen konnte. Und dass sie durch ihre Kontaktfreudigkeit Gott und die Welt kannte.

„Danke, da werde ich sicher drauf zurückkommen. Kann ich bestimmt gebrauchen. Vielleicht kennst du ja schon jemanden, der besondere kryptologische Fähigkeiten hat? Aber er muss absolut vertrauenswürdig sein.“

Sie schien einen Moment zu überlegen, bevor sie antwortete. „Ein, zwei Spezialisten in der Richtung kenne ich schon, aber mit dem ‚vertrauenswürdig‘ bin ich mir nicht so hundertprozentig sicher. Und das sollte man in der jetzigen Situation schon sein. Es wäre zu riskant, nach allem, was bisher vorgefallen ist.“

Eine kurze Pause entstand. Daniel wusste, dass sie nachdachte.

„Was ist mit Diego? Den kennst du doch schon recht lange …“, fuhr sie schließlich fort.

Richtig, an den hatte er noch gar nicht gedacht. Diego war im Laufe der Jahre sogar zu einem Freund geworden, auch wenn er etwas kauzig und kantig war.

„Das ist eine gute Idee, zu ihm habe ich vollstes Vertrauen. Vielleicht kann er mir da weiterhelfen.“

„Melde dich einfach, wenn du was brauchst!“, klang es aus dem Hörer. Daniel hörte die Sorge in ihrem Ton, er kannte sie einfach sehr gut.

„Ganz ehrlich“, ergänzte sie.

Er wusste, dass sie es aufrichtig meinte.

„Das mach’ ich. Danke dir erst mal. Bis bald, Joelle.“

Er legte auf und war in Gedanken noch bei Joelle und ihrer gemeinsamen Zeit, als er den Beamer einschaltete.

Auf der gesamten Zimmerwand erstrahlte vor seinen Augen ein riesiges, aus mehreren Teilen zusammengesetztes Bild, welches man „Das Lamm Gottes“ nannte.

Ein Meisterwerk von unglaublicher Erhabenheit und Intensität. In überwältigender Größe, quer über die ganze Wand, hatte es vermutlich noch immer nicht die Ausmaße des Originals. Die Farben zeigten bereits in dieser Reproduktion einen besonderen, leuchtenden Glanz und gaben eine Andeutung davon, wie genial die Maltechnik der van Eycks gewesen sein musste.

Das „Lamm Gottes“ bestand aus mehreren Tafeln, in deren Zentrum ein größeres Bild zu sehen war. Dort war in der Mitte ein steinerner Altar abgebildet, auf dem ein Lamm stand. Von der Seite und somit in seiner ganzen Größe zu sehen, schaute es dem Betrachter dennoch frontal in einer selbstbewussten und fast ungerührten Art in die Augen. Aus seiner Brust schoss ein dicker Blutstrahl, der in einem goldenen Kelch aufgefangen wurde. Das Lamm machte den Eindruck, als würde es den Blutverlust überhaupt nicht bemerken, und so wirkte die gesamte Szenerie gleichermaßen surreal wie mystisch. Um den Altartisch herum befand sich ein Kreis von Engeln. Einige davon schwenkten ein Weihrauchfass, die meisten aber verharrten in anbetender Haltung. Einer der vierzehn Engel hielt ein großes Holzkreuz mit beiden Händen wie das überflüssige Relikt eines vergangenen, irdischen Lebens. In gebührendem Abstand zu diesem himmlischen Kreis standen mehrere ganz unterschiedliche Gruppen von Menschen, die aus allen Himmelsrichtungen zu kommen schienen und den Rahmen der Zentraltafel sprengten, sodass sie sich teilweise auf den beiden linken und rechten Außentafeln fortsetzten. Meist handelte es sich um Pilgergruppen, die – ganz mannigfaltig in Herkunft und Stand und mit den verschiedensten Attributen versehen – hergekommen waren, um dem Lamm zu huldigen. Eine der Gruppen war eindeutig als Kardinäle und Bischöfe zu identifizieren, denn sie trugen allesamt prunkvolle Kleidung. In rote, reich verzierte Roben gehüllt und goldene Tiaren auf den Köpfen tragend, machten sie jedoch einen etwas befremdlichen Eindruck auf Daniel. Warum waren sie allesamt abgewandt vom Lamm und dem Altar? Ihre Gesichter wirkten eher teilnahmslos und viele waren sogar in das Studium von Büchern vertieft. Sollte dies eine versteckte Andeutung sein? Die Menschen bevölkerten das gesamte Polyptychon und schienen von überall her zu kommen. Daniel erinnerte sich an eine Stelle aus der Apokalypse des Johannes – er hatte vor ein paar Jahren eine Sendung über apokalyptische Darstellungen und Ängste gemacht – 144.000 Auserwählte aus den zwölf Stämmen Israels versammelten sich dort vor dem Thron des Lammes, eine unzählbare Menge aller Rassen, Sprachen und Völker, eine Zusammenkunft der ganzen Welt. Fasziniert schaute er von einer Szene zur nächsten und konnte sich kaum sattsehen am Detailreichtum der Bilder. Die Darstellungen der Personen und Landschaften waren so unglaublich facettenreich und realistisch, ohne jedoch einen übertriebenen oder gar kitschigen Eindruck zu hinterlassen. Es war fast, als würde die Malerei die Wirklichkeit übertreffen und erhöhen. Man spürte in jedem Detail, in jedem einzelnen Pinselstrich, dass es gar nicht um eine realistische Abbildung der Welt ging. Die Gebrüder van Eyck wollten in die Tiefe, in die Seele der Dinge eindringen.

Daniel konnte sich gut vorstellen, dass die Tafeln voll von Symbolik waren; über dem gesamten Kunstwerk lag eine besondere Mystik wie ein geheimnisvoller und transzendentaler Schleier. Es wirkte eher wie ein Fenster in eine andere Welt.

Doch würde man die zahlreichen Symbole heute noch alle entschlüsseln können? Viele davon waren sicherlich überhaupt nicht mehr bekannt, das war ja immer das Problem mit Symbolen.

Sein Blick fiel auf die Tafel ganz links außen. Das mussten die gestohlenen ‚Gerechten Richter‘ sein, beziehungsweise die Kopie des ursprünglichen Bildes.

Würde das Geheimnis der Originaltafel auch auf ihrer Kopie zu finden sein? Welcher Art konnte es überhaupt sein?

Er betrachtete die Personen genauer. Alle ritten auf Pferden, waren sehr wohlhabend gekleidet und sahen eher wie Könige oder Adelige aus. Ansonsten wirkte die Tafel überraschend unscheinbar. Ein Geheimnis hätte Daniel überall auf dem Bild vermutet, nur nicht auf dieser Tafel. Vielleicht war das aber gerade so beabsichtigt. Auf der Tafel daneben, also zwischen dem Altar und den ‚Gerechten Richtern‘, befanden sich weitere Reiter mit ihren Pferden. Doch diese wirkten wesentlich kriegerischer. Ausgestattet mit Waffen und Bannern trugen sie ein rotes Kreuz auf ihrem weißen Schild – das Zeichen der Templer.

Wie zum Schutz bildeten sie eine Phalanx vor den ‚Gerechten Richtern‘.

Daniel stutzte. War der Orden der Templer nicht zum Zeitpunkt der Entstehung des Bildes bereits seit über hundert Jahren ausgelöscht und verboten gewesen?

Er spürte, dass das eine ganz schön schwierige Sache werden würde, und hoffte auf die tatkräftige Mithilfe und das kunsthistorische Wissen von Mara. Und sicher könnte Joelle ihm auch noch einen Kunstexperten nennen, der mit mittelalterlichen Symbolen vertraut war.

Abermals betrachtete er das Werk und schaute auf die obere Reihe von Tafeln, die er bisher kaum beachtet hatte. In der Mitte dominierte mit einer unglaublichen Präsenz ein Mann auf einem goldenen Thron. Er war in ein kostbares rotes Gewand gehüllt und hielt in der Linken ein Zepter. Eine mit Edelsteinen verzierte Tiara ließ ihn noch erhabener wirken. Daniel fragte sich, ob es sich um eine Darstellung von Jesus handeln sollte – oder von Gott? Möglicherweise beide in einer Person. Vor ihm auf dem Boden stand eine Krone, wie sie von irdischen Herrschern getragen wurde; zu seiner Linken und Rechten eine Frau und ein Mann, ebenfalls sitzend, ihm zugewandt und jeweils ein Buch in den Händen haltend. Vermutlich Maria und Johannes, folgerte Daniel. Daneben links und rechts je eine Tafel mit musizierenden Engeln, dann die beiden Außentafeln, Adam und Eva. So war es auch über den Personen in verzierten Buchstaben zu lesen.

Die obere Hälfte schien also der himmlischen Sphäre vorbehalten zu sein, wenn man die Außentafeln mit Adam und Eva als eine Art Bindeglied zwischen Himmel und Erde interpretierte.

Wie klein ihm die Menschen und das Treiben auf der unteren irdischen Ebene nun im Vergleich zu den oberen Darstellungen vorkamen! Und doch entdeckte man auch hier einen ungeheuren Detail- und Facettenreichtum und erahnte die latente Existenz einer nicht sichtbaren, geheimnisvollen Welt.

Was mochte sich in den ‚Gerechten Richtern‘ verbergen?

In welcher Beziehung stand die Tafel zu den Mysterien des gesamten Altars?

Und welche Rolle spielte der Orden der Templer, der rätselhafteste Orden der gesamten abendländischen Geschichte, auf der benachbarten Tafel? Bis heute konnte ihr gut gehütetes Geheimnis nicht gelüftet werden. Hatten sie etwas mit dem Geheimnis des Altars zu tun?

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Am folgenden Morgen saßen Mara und Daniel mit Diego zusammen vor einem kleinen Café am Eigelsteintor. Vor ihnen standen drei kleine Espressotassen, dazwischen die Überreste von Erdnussschalen, deren Inhalte Diego mit kurzen, heftigen Kieferbewegungen im Mund zermahlte.

„Nun kennst du die ganze Geschichte“, beendete Daniel seine ausführliche Wiedergabe der vergangenen Ereignisse.

„Ich kann mir da’ß nicht erkläȑen. Ab’ßolut nicht.“ Die Strahlen der Sonne zwangen Diego, seine Augen hinter der unmodischen Brille noch weiter zusammenzukneifen, was seinem markant geschnittenen Gesicht einen überaus kritischen Ausdruck verlieh.

Er presste die Lippen aufeinander und schaute Daniel lange und eindringlich an. An die skurrile Aussprache des Freundes hatte er sich im Laufe der Jahre gewöhnt und konnte ihn mittlerweile gut verstehen, Mara hingegen schien Schwierigkeiten mit seiner Artikulation zu haben, deren spanische Anklänge durch die Erdnüsse im Mund noch karikiert wurden. Manche Worte zog er dabei mit einem rollenden „ȑ“ besonders in die Länge.

„Und die’ße Tafel“, fuhr er plötzlich ganz leise und geheimnisvoll fort, wobei er seinen Oberkörper etwas auf Daniel zubewegte. „… von der Tafel hat Juȑi nie etwas erzählt? Er hat ein Geheimni’ß darum gemacht?“

„Ich habe ihm nie etwas angemerkt. Nicht mal zuletzt. Er wirkte nur so …“ Daniel suchte mit den Händen in der Luft nach den richtigen Worten „… in die Enge getrieben. Er schien Angst zu haben, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe.“

„Möglicherweise hatte er auch allen Grund dazu. Weißt du denn Be’ßeid über die Tafel?“

Daniel schüttelte den Kopf. „Mara hat mir gestern ein paar Dinge erzählt. Was genau meinst du?“

„Die Tafel ist nicht nuȑ ein Bild – oder nicht nuȑ der Teil eines Bildes.“ Diego schaute Daniel bedeutungsvoll an und verharrte mit seinen gestikulierenden Händen plötzlich mitten in der Luft. „Natürlich ist sie da’ß auch. Sie ist ein wichtiges Puzzleteil in dem gesamten Altaȑbild, das voller Geheimnisse und Andeutungen s’teckt. Doch niemand konnte bisher das Geheimni’ß des Altars entschlüsseln. Niemand weiß, was genau ’ßein Geheimni’ß ist. Vermutungen gibt es viele. Es geht auf jeden Fall um etwas ’ßehr Bedeutendes und überaus Wertvolles. Spekulationen reichen vom Schatz der Templer bis hin zum heiligen Gȑal. Aber ’ßicher ist, dass es sich um ein Geheimni’ß von ungeheurer Tragweite handelt. Vermutlich ist die Tafel eine Art Schlüssel innerhalb des gesamten Altaȑs. Schon der Diebstahl 1934 fand unter äußerst mysteriösen Umständen statt. Manche Forscher behaupten sogar, die Tafel befände sich immer noch in der Kirche. Viele, viele Schatzsucher haben schon die Kathedȑale, die Umgebung und sogar halb Gent umgegraben. Und doch bleibt die Tafel ver’ßollen.“

„Was können wir tun? Hast du eine Idee, Diego?“

Dieser schaute sich in aller Ruhe die Erdnuss zwischen seinen Fingern an, die er gerade pellte. Dann legte er die nutzlose Hülle auf den Stapel zu den anderen und schob sich die beiden zutage geförderten Nüsse gleichzeitig in den Mund. Erst dann konnte er weitersprechen.

„Ihr müsst nach Gent. Schaut euch den Altaȑ genau an. Lest in den Polizeiakten. Vielleicht findet ihr da was. Ich habe einen Freund in Gent, er ist auch Je’ßuit wie ich, wir sind wie Brüder seit unserer Ordenszeit. Er kann euch Zugang zu den Polizeiakten verschaffen und auch sonst weiterhelfen. Ich schreibe euch ’ßeinen Namen, Adresse und Telefón auf.“

Er kramte in der Jackentasche und holte einen kleinen Zettel und einen Stift heraus.

„Er heißt Vincent.“

Diego legte den mit einer eckigen und kaum lesbaren Schrift vollgekritzelten Zettel zusammen mit ein paar Erdnusskrümeln zwischen Mara und Daniel.

Er beugte sich noch näher an die beiden heran.

„Und ihȑ wisst, worauf ihr euch da einlasst?“

Daniel und Mara schauten sich fragend an.

„Du meinst wegen Juri?“, fragte Mara, die sich bisher beobachtend zurückgehalten hatte.

Diego nickte langsam.

„Juri ist ’ßicher in etwas hineingeraten, das er so nicht absehen konnte. Ihr solltet Augen und Ohȑen offenhalten. Viele Leute würden alles dafür geben, an das Geheimni’ß der Tafel zu kommen – oder ihm auch nur näherzukommen. Es sind gefähȑliche Leute! Immer schon haben Menschen versucht, all ihren Einfluss geltend zu machen, um an die Tafel zu kommen. Und sie scheuten dabei niemals vor dem Verlust von Menschenleben zurück! Wusstet ihr, dass Hitler und seine SS seit 1934 alles taten, um die Tafel zu bekommen?“

„Hitler hat nach dem Verbleib der Tafel geforscht?“, fragte Daniel erstaunt.

„Oh ja! Hochrangige SS-Offiziere hatten einen per’ßönlichen Auftrag von ihm. Sie waren extra für dieses eine Ziel abgeordert. Den Altaȑ konnte Hitler trotz einer abenteuerlichen Fluchtaktion rauben. Es gelang den Belgiern nicht, ihn nach Südfrankreich in ein sicheres Ver’ßteck zu bringen. Aber die entscheidende Tafel fehlte ihm. Bis zu seinem Tod hat er danach ’ßuchen lassen.“

Seine Aussprache wurde noch schärfer und akzentuierter, besonders in den Betonungen der „s“-Laute. Er griff in die Tasche und hielt die mit Erdnüssen gefüllte Hand Mara hin, die sofort mehrere davon nahm.

„Doch er waȑ und ist nicht der Einzige“, fuhr er fort. „Auch heute gibt es mächtige Leute, die ’ßkrupellos alles tun, um dem Geheimnis näherzukommen. Ihr solltet euch wiȑklich in Acht nehmen vor die’ßen Menschen. Sie haben ’ßu viel Macht. ’ßu viele Möglichkeiten …“

„Glaubst du, die Leute, die Juri getötet haben, könnten auch uns etwas antun? Der Tod von Juri hat etwas mit diesen Leuten zu tun? Denkst du, sie haben Juri getötet?“ Mara sprach aus, was Daniel im selben Moment durch den Kopf ging.

Diegos Blick schweifte über die benachbarten Tische und die Umgebung.

„Ist euch irgendetwas aufgefallen? Habt ihr bemerkt, dass ihr beobachtet werdet? Möglicherwei’ße seid ihr schon in Gefahȑ, wenn sie euch mit Juri in Verbindung bringen.“

Daran hatte Daniel noch nicht gedacht. Es war alles zuviel gewesen – und alles zu schnell gegangen. Der Tod des Freundes, wobei nicht einmal genug Raum für den Schmerz gewesen war. Daniel spürte ihn tief in sich vergraben. Und dann fand er sich plötzlich mitten in einem Abenteuer wieder – und in einem sehr gefährlichen obendrein, wie es schien. Sein Blick wanderte zu einem Tisch einige Meter entfernt, an dem ein Mann mit einer Zeitung saß. Links davon ein Pärchen, das seine Umwelt jedoch überhaupt nicht wahrzunehmen schien. Rund um das alte, massive Tor herum befanden sich noch zwei weitere Cafés, voll mit Menschen an diesem ausnahmsweise mal frühlingshaften Tag in einem sonst winterlich anmutenden April. Möglicherweise saß irgendjemand von den Gästen nur da, um sie zu beobachten. Daniel wurde mulmig zumute und er war sich bewusst, dass sie bisher zu blauäugig mit den Geschehnissen umgegangen waren. Sie würden viel vorsichtiger sein müssen.

Maras Frage riss ihn aus den Gedanken.

„Diego, weißt du mehr über diese Leute? Wer sie sind und was sie genau wollen?“

Diego nahm eine leere Erdnussschale vom Tisch und betrachtete sie, als könne er dort die Antwort finden.

Dann hob er langsam den Kopf und sah Mara direkt an.

„Es gibt mehrere Gruppen, die sich für den Altaȑ inteȑessieren. Darunter existiert eine besonders gefähȑliche Organisation.“ Er sprach jetzt leiser.

„Ihr einziges Ziel ist es, die Tafel ’ßu finden und an das Geheimnis ’ßu kommen. Ich habe keine Ahnung, wer die Leute sind, noch wer dazu gehören könnte. Aber ihnen ist jedes Mittel recht. Jedes! Ich habe schon einige Tote ge’ßehen, die auf ihr Konto gingen. Sie aȑbeiten besonders gern mit der Folter, um an ihre Informa’ßionen zu kommen – in jeglicher Form. Wer einmal in ihre Fänge gerät …“

Diego machte eine kleine Pause, bevor er mit langsamen Worten fortfuhr.

„Doch sie scheinen das Geheimnis der Tafel auch nicht so genau ’ßu kennen. Die Organisa’ßion verbirgt sich unter dem Decknamen ‚Asmodeus‘. ’ßie agiert vollkommen unauffällig, ist nicht ’ßu fassen. Die Polizeiermittlungen liefen bisher jedes Mal ins Leere. Aber sie sind in einem dichten Netz hervoȑ’ȑagend organi’ßiert und verfügen über fantastische Mittel und Möglichkeiten. Das macht sie so gefähȑlich.“

Er beugte sich noch näher zu den beiden vor.

„Mit denen ist nicht ’ßu spaßen. Seid voȑ’ßichtig! Traut niemandem!“

„Hattest du jemals Kontakt mit der Organisation? Ich meine, hast du mal jemanden von der Organisation kennengelernt? Woher weißt du so genau Bescheid über sie?“, bohrte Daniel nach.

Diego überlegte.

„Niemand Wichtiges. Nur ihre Lakeien. Die wichtigen Männer bleiben im Hintergrund“, sprach er, während er die Nussschale wieder auf den Tisch legte und an dem mittlerweile erkalteten Espresso nippte. „Aber das ist eine lange und nicht ’ßehr erbauliche Geschichte.“

Die eintretende Stille wirkte einen Moment bedrückend. Dann durchbrach Daniel sie. „Und Vincent? Ist er vertrauenswürdig?“

„Ab’ßolut! Ich lege meine Hand für ihn ins Feuer. Meldet euch, wenn ihr ihn getroffen habt. Wir ’ßollten in engem Kontakt bleiben. Vielleicht kann ich auch von hier aus etwas für euch tun.“

„Da wäre etwas, um das ich dich bitten wollte. Kannst du dich eingehender mit den Dokumenten beschäftigen, die Juri mir auf der Karte hinterlassen hat? Vielleicht findest du etwas darin. Einen Hinweis, eine versteckte Botschaft oder einfach etwas Auffälliges. Die Dokumente hab ich dir kopiert.“

Er schob Diego dabei verstohlen einen USB-Stick zu. „Würdest du das für mich tun? Ich habe grenzenloses Vertrauen in deine Dechiffrierfähigkeiten.“

Diego zog die Augenbrauen hoch, sodass sie weit über dem Brillenrand zu sehen waren.

„Natüȑlich mache ich das. Ich tue mein Bestes – und ich bin ’ßehr gespannt, was das für geheimnisvolle Dokumente sind.“

Die drei verabschiedeten sich voneinander, dann machten sich Mara und Daniel auf den Weg zurück zur Wohnung.

„Ein skurriler Typ, dieser Diego“, bemerkte Mara erheitert.

„Ich hatte dich ja vorgewarnt.“

„Das war sicher auch gut so.“

„Er ist hochgebildet, spricht etwa zehn Sprachen und kennt sich mit sämtlichen Geheimschriften und Geheimbünden aus. Und ich vertraue ihm!“

„Er ist Jesuit, sagte er?“

„Das war er zumindest. Doch damals muss irgendetwas passiert sein. Er spricht nicht darüber. Aber das muss lange, bevor wir uns trafen, gewesen sein. Kennengelernt habe ich ihn bei einer Reportage, als er schon als Sozialarbeiter tätig war. Da hatte er schon vollkommen mit der Kirche gebrochen – und auch heute ist er nicht ansprechbar auf seine Vergangenheit.“

Daniel verlangsamte kaum merklich seinen Schritt.

„Denkst du immer noch, es ist eine gute Idee mit den eigenen Nachforschungen?“, fragte er, besorgt zu Mara hinüberschauend.

„Haben wir denn eine Wahl?“

„Tja, ich glaube, die Polizei wird uns jedenfalls keine Hilfe sein“, antwortete er und fand allmählich seinen alten Schrittrhythmus wieder.

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Sie beschlossen, sich direkt am nächsten Tag auf den Weg nach Gent zu machen. Daniel fuhr noch schnell in den Sender, um seinem Chef Peter Standler die Situation zu erklären und ein paar Tage frei zu bekommen.

Er fand ihn telefonierend in seinem Büro. Peter begrüßte ihn herzlich und hatte Verständnis für sein Anliegen. Auch wenn Daniel sich Diegos Rat zu Herzen genommen und ihm lange nicht alles anvertraut hatte, so reichte allein die Nachricht über den Tod des Freundes schon vollkommen als Urlaubsgrund aus.

„Nimm dir Zeit, soviel du brauchst“, sagte Peter und legte seine Hand dabei unterstützend auf Daniels Oberarm.

„Da bin ich aber wirklich erleichtert. Dann melde ich mich in den nächsten Tagen zurück“, erwiderte Daniel, während er die Wärme von Peters Hand durch seine Jacke spürte.

„Viel Glück – und pass auf dich auf!“

Peter drehte sich um, damit er sich sogleich wieder wichtigen Aufgaben widmen konnte. Dann fiel ihm noch etwas ein.

„Ach Daniel, vielleicht kann ich dir mit etwas unter die Arme greifen. Ich verstehe zwar nicht, was du in Gent willst, aber ich habe ein kleines Häuschen, etwa fünfzig Kilometer von Gent entfernt. Es liegt zwar sehr ruhig und abgelegen, ist aber geradezu ideal, wenn du einfach mal etwas Ruhe brauchst. Also wenn du magst, gebe ich dir einfach den Schlüssel mit, nur so für den Fall …“

Dabei kramte er seinen Schlüsselbund aus der Jacke hervor und entfernte mühsam einen abgenutzten kleinen Schlüssel aus dem Ring.

Daniel war gleichermaßen überrascht wie erfreut über Peters Angebot. Schon mehrfach hatte er ihn gerade in schwierigen Situationen ausgesprochen hilfsbereit und ihm gewogen erlebt.

„Das ist wirklich großzügig von dir. Ich nehme ihn gerne mal mit, vielleicht kann ich einen ungestörten Ort ja wirklich gut gebrauchen.“

Nachdem Peter ihm die Adresse aufgeschrieben hatte, verließ er umgehend den Sender und fand sogar trotz eintretender Dunkelheit einen Parkplatz in erreichbarer Nähe zu seiner Wohnung. Ihm kam automatisch die Frage in den Sinn, wie viele Menschen auf der ganzen Welt wohl in diesem Moment einen Parkplatz suchen würden. Schon als Kind waren ihm Fragen einfach so in den Kopf geschossen, manchmal sehr zum Ärgernis seiner Eltern, die er damit oft an den Rand der Verzweiflung getrieben hatte. Dennoch hatte ihn immer schon das Geheimnisvolle und Ungelöste angezogen und ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Er hatte immer das Bedürfnis gehabt, die Welt in ihrem Innersten und in ihren Zusammenhängen zu verstehen. Auch wenn er heute auf vieles davon eine Antwort hatte, so hatten die Fragen in seinem Kopf nie aufgehört und aus jeder Antwort ergaben sich wieder neue Fragen.

Als er sich dem Haus näherte, musste er an den Heimweg von vorgestern denken. In den letzten achtundvierzig Stunden war viel passiert. Sein Leben war komplett umgekrempelt worden. Juri, dessen Geheimnis, die Polizei, Mara, die verschwundene Tafel … er fühlte sich wie auf einem Karussell, das sich für sein Empfinden etwas zu schnell drehte. Aber er konnte das alles nicht auf sich beruhen lassen, auch wenn er sich Sorgen um sein eigenes und auch um Maras Wohl machte. Jetzt hingen sie beide drin. Es war wie ein innerer Zwang – er musste wissen, warum Juri gestorben war und was das für ein Geheimnis war. Er hatte keine Wahl. Allein Juri war er es schon schuldig. Und von der Polizei hatte er nichts zu erwarten, das hatte er mehr als deutlich gespürt.

Einen kleinen Moment nahmen sich die Gefühle ihren Raum, als ihm mulmig wurde, während er auf das Haus zuging – wie ein Echo der emotionalen Erinnerung.

Er schloss die Tür auf und trat in den dämmrigen Hausflur. Stufe für Stufe stieg er die Treppen hoch.

Als er die letzten Stufen zu seinem Stockwerk nahm, überkam ihn erneut ein komisches Gefühl. Er betrachtete die Tür zu Juris Wohnung. Das Absperrband war unversehrt und auch sonst schien alles in Ordnung. Doch als sein Blick auf das Schloss fiel, sah er kleine Unregelmäßigkeiten am Holz.

Waren diese Spuren frisch oder hatte er sie vorher nur nicht bemerkt? Es sah aus, als ob die Tür hier aufgebrochen worden wäre. Nein, das war vorher bestimmt nicht so gewesen, da war er sich nun sicher.

Vorsichtig berührte er die Kratzer, als die Tür wie von selbst aufging. Er überlegte, ob er die Tür beim letzten Mal nicht richtig geschlossen hatte. Dann erinnerte er sich jedoch, dass er sie ganz bewusst fest zugezogen hatte, da sie häufig etwas klemmte. Das Schloss war eindeutig zerstört worden. Daniel erlebte ein Déjà-vu. Ohne nachzudenken schob er die Tür wie in Trance weiter auf und bewegte sich unter der Absperrung hindurch in Juris Wohnung. Vorsichtig schaute er sich um. Alles war unverändert. Ein heilloses Chaos, aber genauso wie bei seinem letzten Besuch in der Wohnung.

Der Gedanke an Mara schoss ihm durch den Kopf. Ob sie noch in seiner Wohnung war? Hatte sie etwas mitbekommen oder war sie möglicherweise in Gefahr? Er hatte fast Juris Wohnzimmer erreicht, wollte nur einmal vorsichtig um die Ecke spähen. Geräuschlos presste er sich an die Wand und bewegte den Kopf langsam zum Rand der Türöffnung. Alles hier war genau wie vorher. Er lauschte. Kein Geräusch war zu hören.

Schlafwandlerisch bewegte er sich zurück zur Eingangstür und kroch unter dem Absperrband hindurch. Er schaute auf den Türspion seiner eigenen Wohnung. Dieser blickte ihn wie ein totes Auge an. Dahinter war Dunkelheit. Das bedeutete nichts Gutes. Wäre Mara hier, so würde man zumindest einen kleinen Lichtschimmer im Glas erkennen. Oder hatte sie das Licht gelöscht, um nicht bemerkt zu werden?

Behutsam schlich er auf die Tür zu und hielt sein Ohr dicht an das Holz. Dann klopfte er ein paar Mal leise.

„Mara …?“

Er stand gebannt da und lauschte. Nichts zu hören.

Er klopfte erneut, diesmal ein wenig fester. Das Klopfen verhallte im Hausflur.

„Mara! Ich bin’s, Daniel. Bist du da?“

Wieder nichts. Und er kam nicht mal in die Wohnung, wenn jetzt etwas passiert war. Hätte er doch nur den Wohnungsschlüssel mitgenommen! Der steckte jetzt von innen in der Tür. Aber Mara musste doch zu Hause sein!

Er drückte auf seinen eigenen Klingelknopf. Einmal, zweimal, dreimal und hörte seinen eigenen Gong leise durch die Tür hindurch.

Die Wohnung blieb still. Daniel überlegte. Da hörte er plötzlich ein leises Geräusch. Doch es kam nicht aus der Wohnung, es kam von unten.

Schnell huschte er ein paar Stufen hoch, um sich dort verstecken zu können. Er hörte das Schloss unten, dann Schritte. Es waren leise Schritte, doch er konnte nur eine Person ausmachen. Derjenige kam die Treppen weiter nach oben. Leise schlich Daniel die Stufen rückwärts höher, sodass er von Juris Wohnung aus nicht gesehen werden konnte. Dann spähte er über das Geländer. Nichts zu sehen durch den engen Spalt – die Person ging zu weit außen. Gleich musste sie bei Juris Wohnung angelangt sein. Er sah eine Gestalt vor der Wohnungstür. Sie hielt kurz an, doch dann ging sie weiter – auf seine eigene Haustür zu.

Dann erst erkannte er sie.

Daniel spürte, wie sich seine Anspannung löste.

„Mara!“, rief er erleichtert aus.

Sie zuckte zusammen.

„Hilfe, hab ich einen Schreck bekommen! Wen hast du denn erwartet? Und was machst du da oben?“

„Bin ich froh, dass es dir gut geht.“ Er kam die Stufen hinab auf sie zu.

„Klar tut es das, sollte es nicht?“ Sie schaute ihn entgeistert an.

Daniel betrachtete den Schlüssel in ihrer Hand, der normalerweise neben seiner Tür hing. Sie schloss die Tür auf, als ob sie dies schon tausend Mal gemacht hätte. „Tut mir leid, dass du gewartet hast. Ich hab uns nur noch etwas zu trinken besorgt.“ Dabei hielt sie eine Weinflasche in die Höhe. „Ich wusste nicht, dass du so schnell bist. Das hat ja kaum zwanzig Minuten gedauert.“

Sie schaute sich irritiert im Flur um. „Was ist denn hier los? Ist etwas passiert?“

Da bemerkte sie die angelehnte Tür gegenüber.

„War die Polizei noch mal da?“

„Das glaube ich eher nicht. Jedenfalls haben die andere Methoden, eine Tür zu öffnen“, erwiderte Daniel und deutete auf die Spuren an der Tür.

„Eingebrochen? Aber die waren doch schon mal in der Wohnung und haben alles durchsucht.“

„Entweder haben sie noch etwas anderes gesucht – vielleicht auch etwas noch mal gesucht – oder es waren andere Leute.“

„Wenn das Leute von ‚Asmodeus‘ waren, haben die sicher auch effektivere und unauffälligere Möglichkeiten, ein Schloss schnell aufzubekommen.“

„Es sei denn, es sollte sehr schnell gehen, oder es ist ihnen egal, dass man es bemerkt.“

„Hmm, da hast du recht. Warst du drin?“

Daniel nickte. „Nur kurz. Aber es scheint alles wie gestern zu sein.“

„Also irgendjemand sucht da immer noch nach etwas. Meinst du, sie wissen von der Speicherkarte? Oder sind sie auf etwas anderes erpicht?“

„Das wäre auch möglich“, murmelte Daniel, während er seine Wohnung betrat und den Lichtschalter betätigte. Er warf den Mantel über die Garderobe und ging ins Halbdunkel des Wohnzimmers. Als er ans Fenster trat, hatte er einen Moment das Gefühl, gegenüber hätte sich ein Schatten am Fenster bewegt. Er spähte auf das gegenüberliegende Haus. Das verdächtige Fenster war schwarz hinter dem Glas und es war absolut nichts dahinter zu erkennen. Vermutlich hatten ihm die wiegenden Zweige der Bäume dazwischen einen Streich gespielt. Oder er hatte schon Paranoia. Dennoch musste er unwillkürlich an die Warnung Diegos denken. Er stellte sich etwas neben das große Zimmerfenster, um aus dem Lichtkegel der Laternen zu entkommen und blickte hinab auf die Straße. Es war sehr schnell dunkel geworden und man konnte nur vereinzelte, schattenhafte Gestalten auf dem Bürgersteig ausmachen. Niemand schaute nach oben. Der Blick richtete sich immer stur geradeaus, bewegte sich nur auf einer einzigen Ebene.

Daniel richtete sein Augenmerk wieder auf das Schattenfenster. Doch er blickte nur in undurchdringliches Schwarz.

Aus der Küche hörte er ein Scheppern.

„Alles in Ordnung?“, rief er in Richtung Küche.

„Ja ja, nix passiert“, kam es halblaut zurück. „Ist nur was runtergefallen.“

Dann hörte er ihre Schritte. Bevor sie das Zimmer erreichte, hatte er die Vorhänge zugezogen, um sie beide vor beobachtenden Blicken zu schützen.

„Was machst du denn hier im Dunkeln?“, zog sie ihn ein wenig auf.

„Ach, ich dachte nur …“, erwiderte Daniel, ohne den Satz zu beenden. Dann schaltete er das Licht an.

„Hast du eigentlich irgendetwas zu essen da?“, fragte Mara.

„Nicht so richtig, jedenfalls nichts Warmes. Aber Unmengen an Schokolade.“

„Auch nicht schlecht. Aber lieber vorher noch eine kleine Vorspeise gegen den Hunger“, antwortete Mara. „So langsam brauche ich etwas, sonst werde ich furchtbar schlecht gelaunt.“

„Hier ist ein netter Italiener in der Nähe. Was meinst du, sollen wir da hingehen?“

„Lieber hier bleiben. Der Tag heute war doch sehr anstrengend.“ Sie lehnte sich zur Bekräftigung an die Rückenlehne des Sofas. „Hast du vielleicht einen guten Pizzaservice in der Nähe?“

Daniel holte einen Stapel Flyer aus einer Schublade und hielt ihr einen davon hin. Mara schlug ihn auf und tippte bereits nach ein paar Sekunden auf eine bestimmte Stelle darin.

„Die da!“

„Ok. Normal oder groß?“

„Mmmmmh … groß!“, antwortet Mara, die es sich inzwischen im Schneidersitz auf dem Sofa bequem gemacht hatte.

Eine Stunde später saßen sie sich auf dem Sofa gegenüber, zwischen ihnen die geöffneten Pizzakartons mit ein paar Reststücken. Im Kamin hatte Daniel ein Feuer gemacht, um wieder etwas Wärme und Gemütlichkeit in die Wohnung zu holen.

„Und es war echt kein Problem, ein paar Tage frei zu bekommen?“, fragte Mara mit halbvollem Mund, bevor sie in das nächste Stück biss.

„Nein, überhaupt nicht. Mein Chef ist da wirklich super. Und zurzeit haben wir etwas Ruhe, bevor die nächste Produktion anläuft.“

„Was wird das sein?“

„Eine Sendung über Vorahnungen. So im Sinne von Intuition, Visionen, Vorbestimmtheit, Schicksal, in die Zukunft sehen können.“

Mara nickte verständig und schaute ihr abgebissenes Stück Pizza in der Hand an. „Glaubst du daran?“

„An was genau? Das müsste man sicher differenziert unterscheiden.“

Mara zuckte mit den Achseln. „Sag du es mir!“

„Schwierig. So was wie Intuition kann ich mir schon vorstellen, aber wo hört die auf und wo fängt das Schicksal an? Ist sicher eine Frage, wo man die Grenze zieht. Beschäftigst du dich mit solchen Fragen?“

Sie wiegte den Kopf hin und her. „Schon manchmal. Die Kunst beschäftigt sich ja eigentlich mit allem. Mit der Darstellung aller Fragen des Menschen und der Welt.“

„Und du arbeitest als Kunsthistorikerin?“

Mara schüttelte den Kopf. „Nein, nicht mehr. Mittlerweile bin ich als freie Künstlerin tätig, was immer schon mein Traum war.“

„Kannst du denn davon leben? So als freie Künstlerin?“

„Inzwischen geht das eigentlich ganz gut. Ich habe mein Atelier in Amsterdam und arbeite mit einigen Galerien zusammen. Die verkaufen regelmäßig Werke von mir, daher läuft es in letzter Zeit wirklich gut. Das war aber nicht immer so.“

Ihr Lispeln wurde stärker, als sie von ihrer Heimat sprach. Es wirkte niedlich bei ihr und machte sie Daniel sympathischer.

„Was machst du denn genau? Bilder?“

Mara nippte an ihrem Weinglas, bevor sie antwortete.

„Meistens. Aber jetzt gerade habe ich eine Skulpturenphase. Das geht oft so in Phasen. Im Augenblick reizt es mich, verschiedene Materialien wie Metall, Kunststoff, Naturmaterialien und auch Müll zu mixen.“

„… und da baust du dann was Schönes draus.“

Mara lachte amüsiert. „Genau!“

„Würde mich schon interessieren, mal was von dir zu sehen.“

„Klar, das geht. Du müsstest nur nach Amsterdam kommen“, antwortete sie und legte den Kopf dabei etwas schräg.

„Kein Problem, es ist ja nicht unerreichbar.“

Mara stellte das Weinglas beiseite, während ihr Gesichtsausdruck ernster wurde.

„Wie lange hast du Juri gekannt?“

„Drei Jahre …“, überlegte Daniel „… oder zwei? Nein, es waren eher drei, denke ich. Es war, bevor Joelle und ich uns getrennt haben. Das ist jetzt genau zwei Jahre her.“

„Joelle ist sozusagen Deine Ex?“

Daniel nickte, während Mara schon weiterfragte: „Hängst du noch an ihr?“

„Schon wieder so eine schwierige Frage. Du bist wohl Spezialistin in kniffligen Fragen“, zog Daniel sie auf, um abzulenken.

Nachdem sie mit einem Achselzucken reagierte, sprach er schließlich nachdenklich weiter.

„Manchmal frage ich mich schon, warum wir uns eigentlich getrennt haben. Aber dann weiß ich auch, dass es seine Gründe hatte. Vor zwei Jahren ging Joelle nach Berlin, wo sie früher schon gelebt hatte. Dort fing sie als Übersetzerin bei einem großen Verlag an. Das war eine tolle Möglichkeit für sie, aber gleichzeitig auch das Ende unserer Beziehung. Wir wollten beide keine Fernbeziehung. Dann haben wir unsere Wohnung aufgelöst – Juri hat mir übrigens diese Wohnung vermittelt, genau gegenüber seiner eigenen. So hatten wir automatisch mehr Kontakt und wurden bald zu guten Freunden.“

Daniel schaute auf die verbliebenen Pizzastücke und nahm eins davon aus dem Karton.

„Doch jetzt merke ich, dass ich ihn eigentlich gar nicht so richtig kannte“, fuhr er mit der erhobenen Pizza in der Hand fort. „Er hat eigentlich nie viel von seiner Vergangenheit erzählt. Und ich habe auch ehrlich gesagt niemals richtig danach gefragt. Wir hatten immer viel zu reden über die Welt, ihre Geheimnisse und ungelösten Fragen. Darüber konnten wir nächtelang diskutieren. Aber um ihn als Person ging es eigentlich nie.“

Er biss zaghaft in die mittlerweile erkaltete Pizza.

„Wann hast du Juri zum letzten Mal gesehen oder gesprochen?“, fragte er mit halbvollem Mund.

Mara senkte den Blick und ließ sich viel Zeit.

„Das ist schon einige Jahre her …“

Mara schien bedrückt und die sprühende Ausstrahlung von vorher war einem düsteren Schatten auf ihrem Gesicht gewichen.

„Ist denn da etwas passiert zwischen euch?“, bohrte Daniel nach.

Mara schwieg, nickte dann langsam.

„Schon … lass uns ein anderes Mal darüber reden, ja? Nicht jetzt.“

„Tut mir leid. Ich wollte nicht, … ich meine, ich …“

„Ist schon in Ordnung. Das kannst du ja nicht wissen.“ Sie schaute ihn mit traurigen Augen an.

Daniel versuchte schnell das Gespräch umzulenken.

„Diese Leute, was könnten sie suchen? Ob es sich um die Informationen auf der Speicherkarte handelt? Oder ist da noch etwas, das wir einfach nicht gefunden haben?“

Mara hatte sich wieder gefasst und änderte ihre Sitzposition, indem sie ihre Beine angewinkelt zur Seite streckte.

„Lass uns noch mal zusammenfassen: Juri ist tot, offensichtlich von Leuten ermordet, die etwas von ihm wollten. Juri hat allem Anschein nach Informationen – oder was auch immer es ist – gehabt, oder hat sie noch. Möglicherweise in seiner Wohnung. Diese Geheimnisse drehen sich offensichtlich um die verschwundene Tafel des Genter Altars, die immer noch nicht wieder auf getaucht ist. Und Juri wusste etwas darüber. Unter Umständen wusste er sogar, wo sie versteckt ist. Soweit richtig?“

Daniel nickte. „Absolut. Warum sie allerdings seine Leiche haben verschwinden lassen, ist mir ein wirkliches Rätsel.“

„Möglicherweise einfach nur, um keine Spuren zu hinterlassen oder die Sache für die Polizei unglaubwürdig erscheinen zu lassen.“

„Keine Spuren hinterlassen?“, fragte Daniel entgeistert und zeigte in Richtung von Juris Wohnung.

„Du weißt schon, keine genetischen Spuren oder irgendetwas an seinem Körper.“

„Ja. Anscheinend verfügen die Leute über eine Menge Möglichkeiten. Und gehen dabei über Leichen!“

„So wie ‚Asmodeus‘, die vermutlich Juri auf dem Gewissen haben.“

„Und sehr wahrscheinlich auch schon auf uns aufmerksam geworden sind!“

„Wir sollten äußerst vorsichtig sein und kein Risiko eingehen“, warf Mara ein.

„Tja, ich fürchte fast, da sind wir schon mitten drin. Aber du hast gewiss recht.“

„Wie machen wir denn jetzt weiter?“

Daniel schaute zur Seite auf eine unbestimmte Stelle des Zimmers, um sich besser konzentrieren zu können.

„Ich sehe drei Wege, um mehr über das Geheimnis der Tafel herauszubekommen: einer ist die Entschlüsselung der Dokumente, wofür ja Diego zweifellos der richtige Mann ist. Zweitens können wir weiterhin nach dem suchen, was Juri noch versteckt zu haben scheint und hinter dem seine Mörder her waren. Und drittens sollten wir mehr über den Diebstahl der Tafel und über die Geheimnisse des Altars herausbekommen.“

„Das können wir am besten in Gent. Wollen wir direkt morgen früh los?“, versicherte sich Mara.

„Das wäre das Beste. Dieser Vincent kann uns dort sicher weiterhelfen. Diego wird ihn vermutlich schon informiert haben.“

Daniel faltete die leeren Pappkartons zusammen und legte sie auf den Boden. Dann ging er zum Kamin und warf zwei Holzscheite auf die ersterbenden Flammen. Augenblicklich erwachten sie zu neuem Leben.

Mara streckte sich auf dem Sofa. „Daniel, ich bin echt schon sehr müde, aber bevor wir schlafen gehen würde ich gerne noch mal das Bild des Genter Altars sehen.“

Daniel schaltete den Beamer an und ging zum Lichtschalter. Als er das Licht gelöscht hatte, erstrahlte der gesamte Altar auf der Wand gegenüber in all seiner mystischen Pracht.

„Einfach ein unglaubliches Werk!“, platzte Mara heraus. „Wenn man bedenkt, dass es bereits vor 1432 entstanden ist und heute immer noch eine solch ungeheure Wirkung zeigt – ohne vergilbt, nachgedunkelt oder gar rissig zu sein. Und das nach weit über fünfhundert Jahren! Tja, auch das ist wohl eines der Geheimnisse des Altars – nicht nur die inhaltlichen Mysterien. Jedenfalls hat man bis heute keine Erklärung für diese Beständigkeit der Farben.“

„Du weißt ja doch eine ganze Menge über den Altar“, wunderte sich Daniel.

„Ist schon was her. Im Studium hab ich mich mal sehr damit beschäftigt. Ein paar Dinge hab ich noch behalten. Zum Beispiel, dass er für die damalige Zeit auch schon wegen seiner Größe beeindruckend gewesen ist. Du musst bedenken, früher gab es noch keine so riesigen Leinwände. Das gesamte Werk ist auf Eichenholz gemalt. Das ist sehr kompliziert, die Farbe wird in mehreren dünnen Farbschichten übereinander aufgetragen.“

„Wie ist das eigentlich aufgebaut? Es sieht aus wie einzelne Tafeln.“

„Es sind insgesamt zwölf Tafeln. Dabei ist die zentrale Tafel mit dem blutenden Lamm bei weitem die größte. Die anderen Tafeln oben und an der Seite können dann nach innen geklappt werden, sodass der Altar geschlossen ist. Diese Tafeln sind auch von der Rückseite bemalt, so entsteht auch im geschlossenen Zustand ein Bild. Auf der Rückseite der gestohlenen Tafel …“, dabei stand sie kurz auf und zeigte auf das außen links befindliche Bildteil, „… ist Johannes der Täufer abgebildet.“

Daniel schaute die Projektion lange an.

„Der Altar ist so voll von Details, wie sollen wir bei dieser Fülle nur an das Geheimnis herankommen?“

„Das wird sicher nicht so einfach. Vielleicht tasten wir uns einfach langsam heran. Aber du hast recht, es gibt so viele winzige Details, die man auf den ersten Blick gar nicht erkennt. Siehst du hier diesen Juden in der Menge?“ Dabei stand sie erneut auf und zeigte auf ein Gesicht im zentralen Bild, wobei viele unscharfe kleine Köpfe durch die Projektion auf ihren Wangen zu sehen waren. Bevor Daniel etwas sagen konnte, fuhr sie fort: „Erst vor wenigen Jahren hat man oben auf seiner Mütze lateinische Buchstaben entdeckt. Sie sind mit dem bloßen Auge kaum erkennbar, denn sie sind nur etwas mehr als einen Millimeter groß.“

„Unglaublich! Und was steht da?“

„Sie bezeichnen ein Datum, den 31. Mai 1417. Von solchen Anspielungen ist der Altar sicher voll.“

Daniel konnte sich nicht der Wirkung des Lammes in der Mitte entziehen, um das sich der gesamte Altar in konzentrischen Kreisen gruppierte. Immer wieder wanderte sein Blick wie von einem Magneten angezogen zur Mitte. Der Anblick dieses Lamms mit seinem sprudelnden Blutstrahl hatte etwas Verstörendes. Und genau darüber die Taube in einer Art Sonne, welche die Welt mit ihren Strahlen zu erhellen schien.

„Diese Tafel der ‚Gerechten Richter‘ wirkt so unscheinbar dort am Rand. Komisch, dass gerade sie ein Geheimnis enthalten soll!“

Mara wandte ihren Blick nicht von der Projektion ab. „Ich vermute, dass die Tafel vielleicht eher eine Art Schlüssel für den gesamten Altar ist. Der ist so voll mit Geheimnissen, daher kann man möglicherweise die ‚Gerechten Richter‘ nicht allein für sich sehen.“

„Wer sind eigentlich diese ‚Gerechten Richter‘?“

„Es sollen besonders untadelige Menschen dargestellt werden. Menschen, die durch ihr Leben und ihren einwandfreien Lebenswandel teilhaben an der Glorie Christi. Möglicherweise sind ja auch ganz bestimmte Männer dargestellt …“

„Und die Tafel daneben? Siehst du die Ritter mit der Templerflagge? Die Templer waren zu der Zeit schon längst auf den Scheiterhaufen der Inquisition verbrannt worden – und doch stehen sie hier als schützten sie die ‚Gerechten Richter‘. Findest du das nicht auch merkwürdig?“

„Stimmt. Daran hab ich noch gar nicht gedacht. Es scheint, als würden sie das Geheimnis der letzten Tafel beschützen.“

„Möglicherweise haben sie irgendwie mit dem Geheimnis zu tun. Vielleicht kannten sie es?“

Das Feuer im Kamin war fast wieder erloschen. Daniel stand auf, um einen weiteren Holzscheit nachzulegen. Er stellte fest, dass es das letzte Stück Holz war. Er dachte an den Keller. Er musste wohl Nachschub von unten holen.

Er blieb plötzlich inmitten der Bewegung stehen, dann drehte er sich ruckartig zu Mara um.

„Der Keller. Natürlich! Dass ich da nicht eher drauf gekommen bin.“

„Was ist mit dem Keller?“, fragte Mara verblüfft.

„Juri könnte etwas im Keller versteckt haben. Das wäre wesentlich sicherer. Seinen Keller kann niemand außer den Hausbewohnern hier zuordnen. Und niemand würde auf die Idee kommen, dort zu suchen. Na klar, das ist es!“

Er stürmte in den Flur, ergriff seinen Schlüsselbund und rannte zurück ins Zimmer. „Kommst du mit? Vielleicht finden wir etwas dort unten.“

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„Der hier müsste es sein.“ Daniel stand vor einem Verschlag im Keller und spähte durch die Holzlatten in das trübe Licht des Inneren.

„Er ist abgeschlossen. Meinst du, wir finden oben den passenden Schlüssel?“

„Ich glaube kaum. Wir haben oben ja schon alles abgesucht. Sägen wir das Schloss doch einfach auf.“ Mit ein paar eiligen Schritten war er in seinem eigenen Keller schräg gegenüber verschwunden und kam einen Moment später mit einer kleinen, gebogenen Säge zurück. Damit machte er sich am Bügel des Vorhängeschlosses zu schaffen, das er mit der anderen Hand festhielt. Es gestaltete sich jedoch schwieriger, als er vermutet hatte. Die Säge rutschte immer wieder ab und hinterließ schließlich eine blutende Spur auf seinem Daumen.

„Verdammt!“, fluchte er. Mara trat sofort einen Schritt näher heran und beugte sich über die Wunde.

„Ui, … aber sieht Gott sei Dank nicht so arg gefährlich aus.“

„Nein, das geht schon. Das blöde Ding muss doch aufzubekommen sein!“

Er setzte die Säge nun am Holzrahmen direkt über der Schlosshalterung an und begann, die Befestigung aus dem Holz zu sägen. Dieser neuerliche Versuch zeigte wesentlich mehr Erfolg und nach kurzer Zeit betraten beide vorsichtig den schwach beleuchteten Kellerraum. Ihnen eröffnete sich ein Durcheinander von alten Möbeln, zudem ein altes Fahrrad, einige Umzugskartons, Tapetenrollen und Farbeimer, alles im gesamten Raum verteilt.

„Na dann, viel Spaß!“, scherzte Mara. „Wo würdest du denn hier etwas verstecken?“

Daniels Blick wanderte über das zusammengewürfelte Interieur, dann über den schmutzigen Boden und schließlich nach oben zu der über die Jahre durch Staub und Spinnweben milchig gewordenen Lampe. Kein Wunder, dass kaum Licht durch das Glas dringen konnte.

„Wenn wir wenigstens wüssten, was wir suchen. Zumindest, ob es etwas Großes oder etwas Kleines ist. Das würde es uns doch erheblich erleichtern.“ Daniel schaute sich ratlos um. „Ich fürchte, wir müssen einfach alles durchwühlen.“

Sie begannen, die Kisten und Farbeimer zu durchsuchen, obwohl gerade hier vermutlich die geringste Chance auf einen Fund bestand. Mara schien keine Spinnenfreundin zu sein, stellte Daniel fest, nachdem sie mehrfach Abscheulaute von sich gegeben hatte oder Dinge unter lautem Fluchen einfach fallen ließ. Dann begannen sie, die Möbel systematisch zu untersuchen. Jedoch blieb selbst die Untersuchung aller Unterseiten und versteckter Ecken erfolglos. Ratlos standen sie nach getaner Arbeit inmitten des Kellerraums.

„Dabei war ich mir so sicher!“ Daniel schüttelte enttäuscht den Kopf. „Komm, lass uns den Schrank wieder etwas an die Wand rücken.“

Mara nickte und ging auf die gegenüberliegende Seite des Schrankes. Beide fassten ihn an einem kleinen Vorsprung an, als Daniels Blick unvermittelt auf die Kellerwand fiel.

„Mara?“

„Bin bereit.“

„Hier in der Wand … schau mal! Diese Stelle sieht irgendwie anders aus. Guck dir mal die Fugen an.“

Mara kroch hinter den Schrank und betastete die Ziegelsteine in der Wand.

„Du hast recht. Diese Steine sind später eingefügt worden.“

Daniel verließ schlagartig den Kellerraum und kam mit jeder Menge Werkzeug zurück, das er zwischen seinen Händen balancierte.

„Wir müssen die Wand aufbrechen.“

Die Fugen mit Hammer und Meißel herauszuhauen war harte Arbeit. Und eine sehr staubige dazu. Doch Stück für Stück konnten sie die Steine entfernen und einen kleinen Hohlraum in der Wand freilegen.

„Da ist etwas drin!“, rief Daniel aufgeregt, als er seine Hand hineingezwängt hatte. „Etwas aus Metall. Los, weiter!“

Wie besessen schlug er auf die Fugen ein, bis die Steine fast von selbst herausfielen. Dann hatten sie das gesamte Versteck freigelegt.

„Eine Stahlkassette.“ Daniel hielt eine graue Metallbox in den Händen und schüttelte sie leicht. Darin bewegte sich etwas. Es klang nach Papier, jedenfalls war es nichts Metallisches oder Hartes.

„Nur, wie bekommen wir die auf?“

„Sicher nicht mit dem Schlüssel.“

Zwar befand sich eine Öffnung für einen Schlüssel in der schmalen Seitenwand der Box, doch hatten sie in Juris Wohnung nun mal keinerlei Schlüssel gefunden.

Daniel machte mehrere verzweifelte Versuche mit Schraubenzieher und Hammer, doch so einfach ließ sich die Kassette nicht aufhebeln.

„Ich glaube, da brauchen wir besseres Werkzeug. Komm, wir nehmen das Ding erst mal mit. Vielleicht können wir uns später darum kümmern“, schlug Mara vor und streckte dem am Boden knienden Daniel zum Aufhelfen die Hand entgegen. Der nahm ihre Geste jedoch gar nicht wahr, sondern verharrte frustriert vor der Kassette.

„Tja, das wird wohl das Beste sein … dann lass uns mal nach oben gehen“, lenkte er schließlich enttäuscht ein.

Daniel hatte für Mara im Wohnzimmer das Gästebett ausgezogen und Decken, Kissen und ein Spannbettlaken geholt. Während sie im Bad war, betrachtete er abermals die Stahlkassette, welche er mit in sein Schlafzimmer genommen hatte. Er konnte es kaum abwarten, zu sehen, was darin war. Es ärgerte ihn, dass er sie nicht öffnen konnte. Befanden sich darin weitere Dokumente? Waren dies möglicherweise die Originale der eingescannten Bilder und Skizzen auf der Speicherkarte? Oder würden sie dort womöglich noch weitere wichtige Informationen über den Altar finden?

Sicher war jedenfalls, dass der Besitz der Box äußerst gefährlich für sie war. Wenn die falschen Leuten mitbekämen, dass sie im Besitz der Box waren, hätten sie vermutlich ihr Leben schon so gut wie verwirkt.

Ob sie hier in der Wohnung sicher waren?

Er löschte das Licht und spähte nochmals durch die Vorhänge auf die Straße. Um diese Zeit war keine Menschenseele mehr zu sehen. Er schaute hinüber zu der verdächtigen Wohnung gegenüber. Immer noch blickte er in absolutes Dunkel. Es schien niemand dort zu sein. Oder es sollte zumindest aussehen, als ob niemand dort wäre.

Daniel hatte das untrügliche Gefühl, dass sie beobachtet wurden. Meist konnte er sich auf solche Gefühle verlassen, doch hätte es nun ebenso die Angst sein können, die ihm Unbehagen bereitete. Er wanderte mit den Augen über die Autos. Man konnte nicht erkennen, ob jemand darin saß. Nur wenn der Schein der Laternen durch die sich im Wind wiegenden Blätter zwischenzeitlich freigegeben wurde, erleuchtete kurz ein flackernder Schein das Innere.

Was machte er nur mit der Box? Er entschied, sie einfach unter das Bett zu schieben. So würde er zumindest bemerken, wenn jemand sie dort suchte.

Er ging zur Wohnungstür, um die Sicherheitskette vorzulegen und nochmals abzuschließen. Er spähte durch den Türspion in den dunklen Hausflur mit Juris ruhig daliegender Wohnung gegenüber. Leise ging er zurück in Richtung seines Schlafzimmers, vorbei an der einen Spalt geöffneten Wohnzimmertür. Als er Mara dort erblickte, musste er einen Moment stehenbleiben. Sie war noch mit dem Sortieren ihres Bettes beschäftigt und stand mit dem Rücken zu ihm. Ihre Sachen lagen weit verstreut auf dem Boden. Er wunderte sich, welches Chaos man in so kurzer Zeit herbeiführen konnte. Sie war nur mit einem T-Shirt und einem knappen Slip bekleidet. Er sah an ihren schlanken Beinen hinunter und blieb an ihren Knien hängen. Es war ihm nie aufgefallen, welch eigene Ästhetik Kniekehlen haben konnten. Es gelang ihm nicht, den Blick von der glatten Haut ihrer Kniebeugen abzuwenden und einfach in sein Zimmer zu gehen. Eine sanfte und leicht exotische Bräune schien ihren gesamten Körper gleichmäßig zu überziehen. Als sie sich hinunterbeugte und Kissen und Laken zurechtzupfte, zog sich ihr Shirt langsam nach oben, sodass Daniels Blick wie automatisch weiter aufwärts wanderte. Ihre Pobacken wurden von dem knappen Slip mehr freigegeben als verdeckt. Daniel wollte gerade wegschauen, als sie sich aufrichtete und gedankenverloren umdrehte. Als sie Daniel bewegungslos in der Tür stehen sah, zuckte sie kurz zusammen.

„He, Daniel. Was machst du?“, rief sie entgeistert. „Schaust du mir zu?“

„Ich … nein, ich wollte nur …“

„Ja? …“, fragte sie herausfordernd und stemmte eine Hand in ihre Hüfte.

„Ich wollte dir nur eine gute Nacht wünschen.“ Daniel hatte seine Fassung zurück und wirkte wieder selbstsicher. „Schlaf gut. Und träum was Schönes!“

Der angriffslustige Ausdruck verschwand langsam aus ihrem Gesicht und ihre Züge wurden wieder entspannter.

„Danke. Du auch“, antwortete sie.

Daniel deutete ein Nicken an und schaute sie an, als er langsam die Tür schloss.

Das Geheimnis des Genter Altars

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