Читать книгу Der Vulkan. Roman unter Emigranten - Клаус Манн - Страница 5
PROLOG
ОглавлениеEin junger Mensch saß in einem Berliner Pensionszimmer und schrieb einen Brief.
Berlin, den 20. April 1933.
Lieber Karl!
Ich hoffe, Du bist gut in Paris angekommen und fühlst Dich wohl. Ich bin einmal zehn Tage lang dort gewesen — weißt Du, damals mit den drei Jungens aus unserer Klasse; Du durftest damals nicht mitkommen, weil Deine Eltern sagten, Paris ist ein zu gefährliches Pflaster für einen jungen Menschen. Das Allerschönste, woran ich mich in Paris erinnern kann, ist der Blick von der Place de la Concorde die Champs Elysées hinauf, bis zum Arc de Triomphe. Das ist wirklich großartig. Ich bin doch etwas neidisch, daß Du das nun jeden Tag genießen kannst. Ob Du sehr viel Schwierigkeiten mit der Sprache hast? Und ob Du es jetzt bereust, daß Du immer so sündhaft faul gewesen bist, gerade in der französischen Stunde? — Aber ich stelle mir vor, in Paris lernt man ja die Sprache fast von selbst.
Lieber Karl: Ich denke sehr oft an Dich — fast immer, wenn ich gerade mal nichts anderes zu tun habe —: wie es Dir gehen mag, und ob Du Deinen Entschluß nicht bereust. Denn es ist doch ein großer, schwerer Entschluß — sich von der Heimat zu trennen.
Ich habe mir das alles während der letzten Wochen hin und her überlegt, und ich bin zu der ganz festen inneren Entscheidung gekommen: Du hast einen Fehler gemacht.
Mißverstehe mich nicht, Karl: es ist ein anständiger Fehler, den Du gemacht hast. Aber doch ein Fehler.
Ich weiß nicht, ob es noch irgendeinen Sinn hat, Dir zuzureden: Komme zurück! Ich fürchte, es hat keinen Sinn mehr. Als ich Dir, vor drei Wochen, am Bahnhof Zoo Aufwiedersehen gesagt habe, fühlte und wußte ich, daß wir uns sehr lange nicht wiedersehen werden.
Natürlich könntest Du auch jetzt noch Deine Meinung ändern und zurückkehren — wohin Du gehörst. Da Du ja ein sogenannter »Arier« bist und Deine alten Herrschaften feine Beziehungen haben, würde man Dir sicher alle Deine Sünden verzeihen — wenn Du jetzt erklärst, daß alles nur jugendliche Torheit und Unwissenheit von Dir gewesen ist.
Du würdest Dir natürlich wie ein Schuft vorkommen, wenn Du eine solche Erklärung abgeben müßtest. Aber vielleicht wäre es in diesem Augenblick das Klügste und das Anständigste, was Du machen kannst. Denn jetzt brauchen wir hier Burschen wie Dich. Hier können sie jetzt nützlich sein, und nur hier.
Was gibt es denn im Ausland für Dich zu tun? Bei den Franzosen auf uns Deutsche schimpfen? Aber Karl! Ich kenne Dich doch! Das bringst Du ja gar nicht fertig. Du weißt viel zu genau, wie sehr die Franzosen mitschuldig, oder sogar hauptsächlich schuldig sind an dieser radikal-nationalistischen Entwicklung in Deutschland, die wir immer so bedauert haben. Nicht nur der Vertrag von Versailles ist schuld — obwohl der die schlimmste und eigentliche Ursache für alle Verwirrungen in Europa bleibt —; sondern die ganze Art, wie die Franzosen uns während all dieser Jahre gedemütigt haben. Wir hatten wirklich keine nationale Ehre mehr.
Die Frage ist, ob wir jetzt wieder eine bekommen werden. Ich weiß wohl, daß Du es nicht glaubst — und Dir ist nicht unbekannt, daß auch ich schwere Zweifel habe. Ich war nie ein Nazi — Dir muß ich das nicht erst lang und breit versichern —, und ich werde nie einer werden. Ich trete nicht in die Partei ein, habe nur keine Angst — ich denke gar nicht daran. Ich mache hübsch brav meine Examina zu Ende, und dann tue ich was Vernünftiges.
Ich bin kein Nazi, und ich gebe auch zu, daß hier viel Häßliches geschehen ist, während der letzten Monate — alle besseren Menschen sind sich darüber einig, und wir alle glauben, daß dies am Anfang einer großen Umwälzung vielleicht unvermeidlich war, aber bald ganz anders werden muß. Keinesfalls hat es Sinn zu leugnen, daß eine große Umwälzung im Gange ist; daß ein nationales Erwachen sich in Deutschland vollzieht. Überall ist echte Begeisterung zu spüren. Aus der könnte allmählich etwas Schönes, Fruchtbares, Positives wachsen, etwas, was dann auch Europa zugute käme, und dem Frieden.
Du findest sicher, ich bin zu optimistisch. Vielleicht bin ich es. Vielleicht kommt alles ganz anders, nicht so gut. Aber sogar wenn schwere Jahre für Deutschland kommen, will ich hierbleiben. Wenn der Führer seine begeisterten, idealistischen Anhänger enttäuschen sollte — vor allem: wenn er die Jugend enttäuscht —, dann wird in Deutschland eine Opposition entstehen, und dann ist eben von dieser Opposition alles zu hoffen . . . Ich würde, wenn es sein muß, bei den Oppositionellen sein, wie ich heute bei den Loyalen bin. Das kommt mir tapferer und vernünftiger vor, als ins Ausland zu gehen. Verzeih das harte Wort, Karl: aber es hat doch etwas von Fahnenflucht.
Mein Vater, mit dem ich gestern lang über diese Dinge sprach, gibt mir recht. Du kennst ja den alten Herrn — er ist der preußische Offizier, wie er im Bilderbuch steht. Zu diesem »böhmischen Gefreiten« — so soll Hindenburg den Hitler genannt haben — hat er im Grunde nicht viel Vertrauen. Aber er sagt: Man muß es zugeben — es weht ein neuer Geist in Deutschland. Niemand weiß noch, was draus werden soll; aber es könnte etwas Großes draus werden. Die jungen Menschen haben plötzlich ganz andere, neue, strahlende Gesichter — findet mein alter Herr. »Du mußt hierbleiben, Junge!« sagte er. — Du weißt ja, ich überschätze seine Intelligenz keineswegs; aber es hat mir doch Eindruck gemacht. — Ich erzähle Dir das alles, damit Du siehst: ich habe es reiflich erwogen.
Diesen Brief gebe ich dem Kurt B. mit, der morgen auch nach Paris fährt. Man kann sich schon nicht mehr trauen, einen solchen Brief mit der Post zu schicken . . . Der Kurt B. sagt, hier wird es bald nicht mehr auszuhalten sein, und nächstens werden auch noch die Grenzen gesperrt, da ist es schon besser, man macht sich rechtzeitig auf und davon. Aber der Kurt ist ja Jude, da beurteilt er die Dinge natürlich von einem etwas anderen Standpunkt als wir; von seinem Standpunkt aus, finde ich, hat er recht.
Vielleicht hast auch Du recht, Karl. Ich will nicht mit Dir streiten, und ich will Dir keine Vorwürfe machen. Ich will Dir nur erklären, wie ich denke und fühle.
Ich denke und fühle: Unser Platz ist hier. Hier müssen wir uns bewähren, hier müssen wir kämpfen, hier braucht man uns. Draußen braucht man uns nicht.
Ich bin gegen die Emigration.
Viele, die heute rausgehen, werden es bald bereuen. Sie werden ein bitteres Leben haben und außerdem auch noch schlechtes Gewissen. Wie die Zigeuner werden sie von einem Land ins andere ziehen; man wird sie nirgends behalten wollen; sie werden entwurzelt sein, sie werden den Boden unter den Füßen verlieren, viele werden elend zu Grunde gehen. Ich sehe das alles kommen. — Ich hoffe von Herzen, daß es Dir gelingen wird, Dir draußen eine neue Existenz aufzubauen. Es wird schon gehen, Du bist ja ein tüchtiger Mensch. Mich würde es schrecklich freuen, wenn ich nächstens erfahre, daß du eine gute Stellung gefunden hast, in Paris oder sonst irgendwo. Noch froher würde es mich allerdings machen, wenn Du mir morgen telegraphierst: Ich habe meinen Fehler eingesehen. Ich komme zurück.
Aber das passiert wohl nicht. Du bist ja so verdammt eigensinnig, altes Haus!
Alles Gute!
Dein Kamerad Dieter.
. . . Dieter war ziemlich erschöpft, nachdem er dies alles geschrieben hatte. Einen so langen Brief — schien ihm — hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht abgefaßt. Er lehnte sich in den Sessel zurück.
Er war ein hübscher, hoch aufgeschossener Junge, mit blondem Haar, einem langen Schädel, blanker Stirn, blauen Augen und einem weichen, kindlichen Mund. Es gab in seinem Gesicht keine Falten.
Draußen zog ein Trupp von SA-Leuten vorbei. Sie sangen. Dieter trat ans Fenster, um ihnen zuzuhören. Das Lied gefiel ihm nicht. Auch ihre Stimmen klangen nicht angenehm. Er machte das Fenster zu.