Читать книгу Der Vulkan - Клаус Манн - Страница 8

Zweites Kapitel

Оглавление

Inhaltsverzeichnis

Am nächsten Morgen besuchte Marion ihre alte Freundin Anna Nikolajewna Rubinstein, die draußen im Montrouge eine Zwei-Zimmerwohnung mit ihrem Gatten und ihrer halberwachsenen Tochter hatte. Die Tochter arbeitete in einem Modesalon; der Mann war in einem großen Verlagshaus angestellt, wo seine Beschäftigung fast ausschließlich darin bestand, Adressen zu schreiben und zu sortieren. Er hatte es, während der zehn Jahre, die er in Paris lebte, noch nicht gelernt, fließend und akzentlos Französisch zu sprechen. In Moskau war er der Herausgeber einer gemäßigt-liberalen Revue gewesen. Die Kerenski-Revolution hatte er freudig begrüßt, und einige Wochen nach der Oktober-Revolution war er in die Emigration gegangen, ganz ohne Geld, mit ein paar Krawattennadeln und Ringen als einzigem Besitz. In Berlin hatte er Anna Nikolajewna kennen gelernt. Sie war Malerin und dekorierte nun Teetassen, Blumenvasen und Fächer mit bescheidenen Blumenstilleben, bunt gefiederten Vögeln und kleinen Barockengeln. Zuweilen fand sie Käufer für ihre liebliche Ware.

Marion war bei ihrem ersten Pariser Besuch, im Jahre 1928, durch gemeinsame Berliner Freunde mit Madame Rubinstein bekannt geworden. Anna Nikolajewna hatte der jungen Deutschen Paris gezeigt. Marion liebte die russische Dame, und sie hatte immer die Tapferkeit bewundert, mit der die Verwöhnte – denn Anna stammte aus reichem Hause – Not und Erniedrigung des Exils ertrug. Niemals hatte Marion ein Wort der Klage von Anna Nikolajewna gehört. „Man muß zufrieden sein”, pflegte sie mit ihrer weichen, singenden Stimme zu sagen. „Man muß sogar dankbar sein. Wir haben alle zu tun: la petite Germaine, mon pauvre Léon et moi-même …” Marion wußte genau, wie miserabel sie für ihre verschiedenartigen Arbeiten bezahlt wurden. Übrigens hatten alle Drei immer Heimweh. Er gelang ihnen nicht, sich einzuleben im fremden Paris. Sie verkehrten beinah nur mit Russen, lasen fast nur russische Zeitungen und Bücher. Sonderbarer Weise litt an dieser Heimwehkrankheit sogar die junge Germaine, die doch ein ganz kleines Kind gewesen war, als ihre Mutter Rußland verließ. Sie stammte aus einer ersten Ehe Anna Nikolajewnas; der Vater war im Bürgerkrieg gefallen, auf der Seite der Weißen …

Madame Rubinstein konnte nicht älter als fünfundvierzig Jahre sein; sie sah aus wie eine Sechzigjährige. Ihr Haar war schlohweiß, ihr gescheites sanftes Gesicht von vielen Falten durchzogen. Sie trug sich immer in Schwarz. „Ich muß Trauer um Rußland tragen,” hatte sie einmal mit geheimnisvollem Lächeln zu Marion gesagt, die etwas schaurig davon berührt gewesen war. Manche der Kleidungsstücke, die Anna Nikolajewna besaß, stammten noch aus der Zeit vor dem Kriege – wunderliche Pelzmantillen, Spitzen-Jabots, kleine runde Muffs, allerlei überraschende Kopfbedeckungen aus Pelz: St. Petersburger Mode aus dem Jahre 1913 …

Marion freute sich darauf, ihre alte Freundin wieder zu sehen; aber sie wurde ein sonderbar bedrücktes Gefühl nicht los, als sie – es war zur späten Nachmittagsstunde – die dämmrige Treppe des Mietshauses im Montrouge hinaufstieg. Früher war sie meist mit irgend einem kleinen Geschenk gekommen, oder sie hatte ein wenig Geld zurückgelassen, wenn sie ging. Madame Rubinstein hatte es sich oft verbeten, aber es doch schließlich dankbar geschehen lassen. Nun war Marion ihrerseits eine Verbannte. Marion und Anna Nikolajewna trafen sich, zum ersten Mal, als Schicksalsgenossinnen.

Die Russin tat zu Anfang des Gespräches, als wüßte sie nichts davon. Sie umarmte und küßte Marion, wie immer, und bemerkte nur: „Auch wieder einmal in Paris, mon enfant!” Sie sah würdevoll und appetitlich aus, in einem altmodischen schwarzen Kleid mit Schleppe und elfenbeinfarbigen Spitzen am Halsausschnitt wie an den Manschetten.

„Es ist immer so schön, in eurer Stube zu sein”, stellte Marion befriedigt fest, als sie sich am kleinen Tee-Tisch gegenüber saßen. „Und all eure komischen kleinen Sachen: ich freue mich immer, wenn ich sie wiedersehe …” – Das Wohnzimmer der Familie Rubinstein, in dem Mademoiselle Germaine nachts auf der Ottomane schlief, war überfüllt mit allerlei seltsamen Gegenständen, die der Hausherr sammelte. „Mon pauvre Léon”, pflegte Anna Nikolajewna etwas mitleidig zu sagen, „es macht ihm plaisir …” Die Kollektion bestand teils aus den Modellen alter Segelschiffe, die auf der Kommode und auf mehreren Regalen placiert waren; teils aus ausgestopften Vögeln und Fischen, deren bizarre Formen alle vier Wände zierten. Zwischen den Schwertfischen, Flundern, Adlern und Papageien gab es, mit roter und grüner Farbe an die Wände gemalt, ein sonderbares System von Linien, Pfeilen und Kreisen; ein mystisch und bedeutungsvoll wirkendes Netz, das „le pauvre Léon” kindisch-emsig angefertigt hatte und von dem niemand, auch Anna Nikolajewna nicht, wußte, ob es einen geheimen, nur seinem Schöpfer bekannten Sinn enthielt, oder nichts als das Resultat von Schrulle und unbeschäftigter Künstlerlaune war. Das enge Zimmer, vollgestopft mit Möbeln, allerlei Nippes-Sachen, kleinen russischen Andenken und mancherlei Reiseerinnerungen, überfüllt mit Photographien und den Spiegeln, Tassen und Blumenvasen, die Madame mit Barockengeln oder Blumen bemalte, bot einen zugleich traulichen und beängstigenden Anblick. Meistens war es auch noch von dickem blauen Rauch erfüllt, da keines der Familienmitglieder auf die Zigaretten mit den langen Papp-Mundstücken verzichten konnte, und sie alle eine Aversion dagegen hatten, das Fenster zu öffnen.

„Ja, es ist ein gemütlicher Raum”, sagte Anna Nikolajewna, während sie ihrem Gast Kirschenkonfitüre und kleines Gebäck auf den Teller legte. „Aber mein pauvre Léon wird immer trauriger. Er spricht nicht viel, aber ich sehe doch, wie er sich grämt … Und neuerdings macht mir die kleine Germaine Vorwürfe …”

„Worüber macht sie Ihnen denn Vorwürfe?” wollte Marion wissen.

Madame Rubinstein sagte leise: „Daß sie nicht in Rußland sein darf.”

„Aber was für ein Unsinn!” rief Marion aus. „Wie kann sie Ihnen darüber Vorwürfe machen?”

Anna Nikolajewna zuckte die Achsel und lächelte betrübt. Erst nach einer kleinen Pause sagte sie: „Germaine hat mir neulich versichert, daß sie in der Sowjet-Union glücklicher sein würde als hier. Sie ist sehr aufgeregt gewesen und hat geweint. Es war ein Irrtum von euch – hat sie mich angeschrien –, es war ein Irrtum und auch eine Sünde von euch, die Heimat aufzugeben. Man soll die Heimat nicht aufgeben – hat die kleine Germaine unter Tränen gerufen –, man soll sie unter keinen Umständen aufgeben; denn sie ist unersetzlich. Wenn die Heimat leidet, muß man mit ihr leiden – ich wiederhole immer nur Germaines sehr heftig vorgebrachte Worte –; man soll weder klüger noch glücklicher sein wollen als die Nation, zu der man gehört. Übrigens – ich zitiere immer noch das weinende neunzehnjährige Kind –, übrigens sind die Katastrophen ja kein Dauerzustand. Man gewöhnt sich an alles. Ihr Alten glaubt immer, der Bolschewismus sei die Katastrophe in Permanenz – hielt Germaine mir vor –, das ist einer eurer dümmsten Irrtümer. Sicherlich hatte der Bolschewismus einmal katastrophalen Charakter. Inzwischen ist er für Millionen einfach der Alltag, das Selbstverständliche geworden. Und er wäre es auch für mich geworden – während sie dies behauptete, schluchzte meine kleine Tochter noch heftiger –, wenn du mich nicht herausgerissen hättest; wenn du mich nicht entwurzelt, nicht heimatlos gemacht hättest. Denn man gewöhnt sich an jeden Zustand und an jede Lebensform – in der Heimat. Aber an die Fremde gewöhnt man sich nie. Ich bin keine Französin, und ich will keine Französin werden! – Sie können sich vorstellen, Marion, wie erschrocken ich gerade über diese Mitteilung und Eröffnung der kleinen Germaine gewesen bin. Sie spricht doch ein so charmantes Pariserisch, und ich dachte wirklich, sie fühlte sich ganz als eine kleine Citoyenne Française. Und nun drohte sie mir plötzlich damit, sie wolle nach Moskau zurück; sie müsse das Leben im bolschewistischen Rußland kennen lernen –: ‚Wahrscheinlich ist es ein sehr interessantes, reiches, aufregendes Leben’, meinte sie. Nur mit Mühe konnte ich sie davon abhalten, ihre Stellung im Modesalon gleich aufzugeben und zur Sowjet-Legation zu laufen. Stellen Sie sich vor, Marion, was mon pauvre Léon gesagt haben würde, wenn unser Kind zu den Leuten gegangen wäre, die er seine Todfeinde nennt!”

Marion war von dem Bericht der Freundin beeindruckt. Sie hatte das Gesicht in die Hand gestützt; ihre Augen verdunkelten sich vor Nachdenklichkeit. „So so”, sagte sie und schlang die großen, sehnigen Hände mit einer merkwürdig heftigen Gebärde ineinander, sodaß die Gelenke knackten – Marion hatte recht locker ineinander gefügte Fingergelenke. „Das ist es also, was deine kleine Germaine unter Tränen geäußert hat: In der Heimat gewöhnt man sich an jeden Zustand und an jede Lebensform; aber an die Fremde gewöhnt man sich nie …”

Anna Nikolajewna, deren kluges, müdes und zartes Antlitz in der Dämmerung vor Marions Augen zu verschwimmen begann – auch ihre Stimme klang nun, als käme sie von sehr weit her –, Anna Nikolajewna, leise mit den elfenbeinfarbenen Spitzen raschelnd, die über ihre Handgelenke fielen, sagte: „Seitdem ich diese überraschenden Worte gehört habe – denn Sie werden ja begreifen, mon enfant, daß dies alles für mich überraschend kam –, höre ich nicht auf, darüber nachzusinnen, wieviel Wahrheit und wieviel Irrtum sie enthalten. Denn ohne Frage mischen sich Wahrheit und Irrtum in den aufgeregten Reden meiner kleinen Germaine. Am Ende meiner langen und übrigens oft recht bitteren Überlegungen bin ich zu dem Resultat gekommen: Wahrscheinlich habe ich wirklich Unrecht getan, als ich das Baby wie ein kleines Paket über die russische Grenze schaffte. Nun hat das Kind Heimweh, ohne die Heimat je gekannt zu haben – und das muß eine besonders schlimme Sorte von Heimweh sein … Sie will zu ihrer Nation zurück … Aber ich kann nicht!!” Dies stieß sie mit einer klagenden, fast jammernden Heftigkeit hervor, wie Marion sie noch niemals von ihr gehört hatte. „Ich werde niemals nach Rußland zurück können. Es ist zuviel Grauenhaftes dort geschehen. Man hat meinen Mann und zwei von meinen Brüdern dort umgebracht, und mein Vater ist im Elend gestorben. Die Erinnerungen sind unerträglich … Die Erinnerungen würden mich sicherlich töten …” Dabei fuhr sie sich mit einer sonderbar fliegenden, huschenden, angstvollen Bewegung über die Stirn, als müßte sie etwas Böses wegscheuchen, das sich dort niedergelassen hätte. Nach einer Pause sagte sie noch: „Aber freilich – die kleine Germaine hat ja keine Erinnerungen …”

Marion wurde etwas schaurig zu Mute in diesem Raum, wo sie sich immer so wohl gefühlt hatte. Anna Nikolajewna, die niemals klagte, – nun überwand sie ihren Stolz und ließ Jammertöne hören. Wieviel mußte sie ausgestanden haben, daß es soweit kam! Was für lange Prüfungen waren ihr zugemutet worden!

‚Werde ich auch einmal sein wie diese?’ fragte sich Marion. ‚So resigniert? So unendlich traurig und müde?’ Und sie tröstete sich: ‚Aber bei mir liegt alles ganz anders. Unser Fall liegt anders. Diese russischen Aristokraten und Intellektuellen haben sich gegen die Zukunft gestellt. Wir sind in die Verbannung gegangen, weil wir für das Zukünftige sind, gegen den Rückschritt. Unser Exil kann kein Dauerzustand sein. Diese Russen haben das Exil als Dauerzustand auf sich genommen. – Oder irre ich mich? Täuschen wir uns alle? Sind auch wir in unvernünftiger Opposition gegen etwas, was Zukunft hat, oder doch zukunftsträchtige Elemente? …’ Diese Zweifel taten sehr weh.

Anna Nikolajewna schien ihren stummen Monolog belauscht zu haben; denn sie sagte:

„Auch ich habe von Rückkehr geträumt. Wer hätte nicht von Rückkehr geträumt. Aber man kehrt nicht zurück. Wer sich von der Heimat löst, hat es für immer getan. Für immer, Marion: verstehst du mich?” Ihr Blick wurde plötzlich fast drohend. „Die Entwicklung in der Heimat geht weiter; wir haben keinen Anteil mehr an ihr. Wir sind Fremde geworden. Wir können nicht mehr heim, weil wir keine Heimat mehr haben.” Sie saß sehr aufrecht da, die Hände, über die vergilbte Spitzen fielen, strenge im Schoß gefaltet. „Schauen Sie mich an!” rief sie und zeigte das Gesicht einer Greisin – plötzlich nackt, als hätte sie sich einen schonenden Schleier von den Zügen gerissen. „Regardez-moi, Marion!” Und sie hob mit einer theatralisch klagenden Gebärde die hageren Hände. „Me voilà, une vieille femme … une femme fatiguée … Fatiguée …”, wiederholte sie und ließ den Kopf nach hinten sinken. Sie saß ein paar Sekunden lang regungslos, feierlich erstarrt in ihrer tragischen Pose.

Marion aber schwor sich: So will ich nicht werden. So nicht. Vielleicht warten furchtbare Dinge auf mich; sehr wohl möglich, daß sich Schlimmes für mich vorbereitet. Aber ich will keinesfalls als alte Frau in einem engen Pariser Zimmer die Hände recken zu einer Gebärde des Jammers, die nicht einmal mehr die Kraft hat, eine Gebärde der Anklage zu sein. Ich will mir auch nicht von meinem Kinde sagen lassen, daß ich ihm die Heimat gestohlen habe. Im Gegenteil: was ich hören möchte von meinem Kinde, das sind Worte des Dankes dafür, daß wir ihm jetzt eine bessere Heimat erkämpfen …’

Während Marion solches dachte und sich im Herzen gelobte, hatte Anna Nikolajewna sich gefaßt. Ihre Haltung war nun wieder damenhaft zusammengenommen. „Mein liebes Kind”, sagte sie, und hatte noch einmal die nervös wischende Geste, mit der sie sich über die Stirne fuhr, „entschuldigen Sie: das war unmanierlich. Übrigens sind Sie selber ein wenig Schuld daran, daß ich heute so sentimental und unbeherrscht bin. – Ja ja”, behauptete sie mit neckischem Nachdruck und hob scherzhaft streng den Zeigefinger, als wäre sie ihrem Gast hinter eine harmlos drollige kleine Verfehlung gekommen, „jaja, mon enfant, ich habe mich doch ein wenig aufgeregt, als ich erfuhr, daß auch Sie … wie soll ich mich ausdrücken? –: nun, daß Sie diesmal nicht ganz freiwillig nach Paris gefahren sind …”

„Ich hätte genau so gut nach London reisen können”, bemerkte Marion, nicht besonders freundlich. Daraufhin Madame Rubinstein, immer noch neckisch und insistent: „Aber Sie hätten nicht genau so gut in Berlin bleiben können. Oder irre ich mich?”

„Nein”, sagte Marion. „Weil ich dort erstickt wäre.” Anna Nikolajewna zuckte müde die Achseln. „Das haben wir alle einmal geglaubt – daß wir zu Hause ersticken müßten, wenn dort Leute regieren, die uns nicht gefallen.” Und nach einer Pause, die ziemlich lange dauerte, fragte sie sanft: „Haben Sie auch wohl bedacht, was das bedeutet – das Exil?”

„Mir scheint, daß ich es wohl bedacht habe”, versetzte Marion trotzig und knackte mit den lockeren Gelenken ihrer langen Finger.

Die Russin sprach aus der Dämmerung, mit melodisch gedämpfter Stimme, als erzählte sie ein Märchen für die lieben Kleinen: „Es ist hart, das Exil, mon pauvre enfant. Es werden Stunden kommen, da Sie sich der Worte erinnern, die ich Ihnen jetzt sage. Das Exil ist hart. Man ist als Emigrant nicht viel wert. Man ist gar nicht sehr angesehen. Die Leute wollen uns nicht – es macht kaum einen Unterschied, ob man politisch mit uns sympathisiert; ob man die Gründe, die uns zur Emigration bewegt haben, ablehnt, oder ob man sie billigt. Man verachtet uns, weil wir nichts hinter uns haben. In dieser kollektivistischen Zeit muß der Einzelne etwas hinter sich haben, damit er achtenswert scheint. Für uns gibt es nicht einmal ein Konsulat oder eine Gesandtschaft, an die wir uns wenden könnten. Wir haben gar nichts. Deshalb verachtet man uns – und ganz besonders wenig schätzt man uns hier in Paris, dieser klassischen Emigranten-Stadt, die unserer müde ist, weil sie uns zu gut kennt. Hier treffen sich ja alle, schon seit Jahrzehnten: die entthronten Könige und die Arbeiterführer; die Ungarn und die Russen; die italienischen Exilierten und die spanischen; die Armenier, die Jugoslaven, die Griechen, Türken, Bulgaren, Südamerikaner – und nun also auch noch die Deutschen. Unterhalten Sie sich einmal mit einem dieser Heimatlosen, die seit zehn oder fünfzehn Jahren in Paris herumsitzen! Fragen Sie einmal irgendeinen von diesen, was er hier erlebt und ausgestanden hat! Es wird interessant für Sie sein, liebes Kind …”

„Ich habe gerade gestern Nacht einen beobachtet”, sagte Marion. „Diesen ungarischen Grafen, der einmal Ministerpräsident war und alle seine Güter weggeschenkt hat. Er saß neben uns im Café Select und spielte Schach mit sich selber.”

„Sie hätten ihn anreden sollen. Manchmal ist er gesprächig, und dann erzählt er von kleinen und von großen Enttäuschungen; von allerlei Erniedrigungen, die er tragen mußte – und früher war er ein so großer Herr! Es wäre ungeheuer aufschlußreich für Sie gewesen. Denn Sie sind ja noch eine Anfängerin.”

Da Marion schwieg und nur fragend schaute, erklärte Anna Nikolajewna ausführlicher, was sie meinte: „Sie sind noch eine Anfängerin in diesem harten, quälenden Geschäft – wenn ich einen so tragischen Lebens-Zustand wie das Exil als ein ‚Geschäft’ bezeichnen darf. Ihr seid noch ahnungslose Dilettanten!” rief die Russin hochmütig. „Es gibt tausend kleine Erfahrungen, die sich kaum beschreiben lassen, unzählige Qualen der verschiedensten Art, viele Schmerzen, immer betrogene Hoffnungen – Monotonie und Ruhelosigkeit des unbehausten Lebens – ein Heimweh, das niemals aufhört –: ach, meine arme Marion, all dies zusammen, und noch manches, was ich jetzt gar nicht andeuten kann, das macht das Exil aus. – Es ist keine Bagatelle”, sagte sie, abschließend, wieder in ihrem lockeren, damenhaften Konversations-Ton. „Durchaus keine Bagatelle.” Dabei schüttelte sie die Manschetten graziös über ihren Händen. Dann goß sie Tee ein.

… Später erschienen Herr Rubinstein und die kleine Germaine. Man speiste zu Abend, es gab Schinken und Eier, dazu wieder Tee und für jeden ein Gläschen Wodka. Herr Rubinstein aß viel und schweigsam. Er war ein weichlicher Koloß mit sehr gutmütigen Augen – Hundeaugen, wie Marion fand – und einer grauen, auffallend porösen Gesichtshaut. Die kleine Germaine war sehr hübsch und ernst. Sie rührte beinah nichts von der Mahlzeit an, was ihre Mutter besorgt tadelte. „Ich habe keinen Hunger”, sagte die kleine Germaine. Nachdem der Tisch abgeräumt war, begann Herr Rubinstein, beinah ohne Übergang, von alten russischen Tagen zu erzählen. Anna Nikolajewna versuchte, das Gespräch auf aktuelle Pariser Ereignisse zu bringen; etwas krampfhaft plauderte sie über einen Ministersturz, eine Opernpremière. Léon aber fand Mittel und Wege, immer wieder auf seine Moskauer Reminiszenzen zu kommen. „Heute habe ich den alten Petroff im Klub getroffen”, berichtete er. „Mein Gott, wenn ich mich erinnere …”

Die kleine Germaine verabschiedete sich ziemlich bald. „Ich habe eine Verabredung”, erklärte sie kurz auf die unruhige Frage der Mutter. Herr und Frau Rubinstein wechselten einen betrübten, ratlosen Blick. Die Tochter, in grausamer Wortlosigkeit, setzte sich vorm Spiegel ihr schickes schwarzes Hütchen auf. Der Rahmen des Spiegels war mit dicken, drolligen Engeln verziert: eine der niedlichen Arbeiten Anna Nikolajewnas, die sich als unverkäuflich erwiesen hatte.

Martin war den ganzen Tag unruhig. ‚Auf was warte ich’, dachte er. Paris interessierte ihn nicht. Er hatte keine Lust auszugehen. Er versuchte zu schreiben. Das Papier vor ihm blieb leer. Auch das Buch, das er angefangen hatte zu lesen, langweilte ihn.

Er wußte, worauf er wartete.

Der Geruch von Staub und einem süßlichen Jasmin-Parfum, der sein enges Hotelzimmer füllte, war ihm ekelhaft. Trotzdem brachte er bis gegen Abend die Energie nicht auf, auszugehen. Er klopfte mehrfach bei Marion an, die im selben Stockwerk wohnte wie er; aber sie schien den ganzen Tag unterwegs zu sein. Es gab auch noch ein paar andere Bekannte im Hotel „National”; Martin hatte keine Lust, sich mit ihnen zu unterhalten. Er schaute auf die Straße hinaus und beobachtete die Leute, die gegenüber im kleinen Bistrot ihren Kaffee oder Apéritif tranken. Einige kauften sich Zigaretten und Briefmarken. Martin konnte ihre Gespräche und Gelächter hören. Plötzlich ertappte er sich dabei, daß er an Berlin dachte.

Als er abends das Hotel verlassen wollte, begegnete er Kikjou vor der Loge des Concierges. „Ich suche Sie”, sagte Kikjou, als ob das eine Selbstverständlichkeit wäre. ‚Haben wir denn ein Rendezvous für heute Abend gemacht?’ überlegte Martin einen Augenblick lang. Er war aber vorsichtig genug, seine Zweifel nicht auszusprechen. Vielmehr sagte er nur: „Das ist nett. Wohin gehen wir essen?”

Kikjou wußte ein kleines Restaurant in der rue de Seine. „Es ist eigentlich gar kein Lokal”, sagte er, „nur eine enge Stube, wo gerade zwei Tische Platz haben. Die Patronne kocht selber, und das Fräulein Tochter bedient. Aber man ißt dort ausgezeichnet und gar nicht teuer.”

Die Unterhaltung, abwechselnd deutsch und französisch geführt, blieb erst bei literarischen Gegenständen. Martin sagte, wie sehr er Rimbaud liebe, Kikjou gestand seine Bewunderung für Hölderlin und Novalis. Er kannte sich gut aus in den Schönheiten deutscher Dichtung. Später erzählte er von seiner Kindheit und von seiner Familie. Martin bekam Einblicke in ziemlich wirre häusliche Verhältnisse. Kikjous Verwandte lebten teils in Rio de Janeiro, teils in Lausanne und auf dem Lande in Belgien. Der Vater, in Brasilien ansässig, war Chef einer großen Firma, und wollte den Sohn dazu zwingen, ins Geschäft einzutreten. Da Kikjou darauf bestand, in Paris zu sein und Gedichte zu machen, statt sich vernünftig zu beschäftigen, grollte der Vater und schickte kein Geld. „Oft ist die Kasse leer”, sagte Kikjou und lächelte betrübt. Manchmal reiste er zu einem Onkel nach Belgien. Der bewohnte ein altes Haus auf dem Lande; Martin bekam den Eindruck, daß es sich um einen etwas wunderlichen alten Herrn handelte; aber Kikjou fand ihn bedeutend. „Onkel Benjamin ist ein gläubiger Katholik”, erklärte er und strahlte Martin aus den vielfarbig schimmernden Augen an. Der Onkel umgab sich mit Heiligenbildern, Reliquien, geweihten Kerzen und lateinischen Büchern. „Er hat seine eigene kleine Kapelle”, berichtete Kikjou stolz. „Ich fühle mich wohl bei ihm; wenn ich nicht fürchten müßte, ihn zu stören, wäre ich immer dort.” Sein Blick schien benommen; es war vielleicht nur die Wirkung des Weines, vielleicht hing es aber auch mit dem Gedanken an Weihrauchduft und mildes Halbdunkel in Onkel Benjamins Kapelle zusammen. „Manchmal hat er auch Visionen”, sagte der Neffe noch, und in seinen Augen war der Glanz beunruhigend. „Engel suchen ihn auf. Er erzählt, daß es immer so ein metallisch klirrendes Geräusch gibt, wenn sie in seine Stube treten. Das kommt von ihren Flügeln, die beständig in Bewegung sind; es ist wie ein nervöser Tick, sagt Onkel Benjamin, aber dabei sehr großartig. Sie müssen immer ihre großen Flügel regen, als kämen sie sonst aus der Übung und würden das Fliegen verlernen; es verhält sich wohl so ähnlich wie bei Rekordschwimmern oder Radfahrern, die auch gleich aus der Form kämen, wenn sie nicht immer trainierten. Ich hätte so gerne einmal einen Engel gesehen. Aber sie zeigen sich nur, wenn niemand im Haus ist außer Onkel Benjamin und der alten Magd. Sogar ich, obwohl ich doch an sie glaube, scheine sie zu vertreiben. Das ist auch der eigentliche Grund, warum ich nie lange beim Onkel bleibe. Er müßte das Gefühl bekommen, daß ich ihm die liebsten Gäste verscheuche. Das wäre mir natürlich sehr unangenehm. Außerdem kränkt mich das Verhalten der Engel ein wenig; ich finde es gar zu spröde.” Nachdem er dies alles geäußert hatte, legte er ruhig seine Serviette zusammen und schlug vor: „Unseren Kaffee trinken wir besser wo anders. Er ist hier nicht besonders gut.”

Sie saßen im Café „Flore” am Boulevard St. Germain. Nun sprachen sie auch über Politik. „Sie sind vor den Nazis geflohen?” fragte Kikjou. „Ich mag sie auch nicht. Neulich habe ich lange mit meinem frommen Onkel über sie gesprochen – er ist ein so kluger Mann. Der deutsche Führer, sagt er, ist vom Teufel geschickt; der leibhaftige Antichrist. In so großer Gefahr wie jetzt, sagt Onkel Benjamin, ist die Christenheit seit ihrem Bestehen noch nicht gewesen. Das Rassen-Dogma bedroht die Grundlagen unseres Glaubens, die Germanen kommen aus den Urwäldern, um die Christliche Kultur zu zerstören, und sind fürchterlicher, als die Hunnen und Türken es waren …”

Sie redeten lange. Aber zwischen ihnen waren die Worte nicht mehr das Entscheidende. Ihre Blicke führten eine andere Sprache.

Der kleine Helmut Kündinger kam vorbei und schaute sie traurig an. „Gefällt es Ihnen in Paris?” erkundigte er sich bei Martin auf seine korrekte und schüchterne Art. „Es ist eine herrliche Stadt. Ich bin den ganzen Tag spazieren gegangen und war auch lange im Louvre. Aber ich mußte immer an meinen Freund denken, der dies alles so genossen hätte …” Da man ihn nicht dazu aufforderte, sich an den Tisch zu setzen, wünschte er schmerzlich einen guten Abend und ging langsam weiter.

Gegen Mitternacht sagte Martin: „Wir könnten noch ein bißchen in mein Hotel gehen. Es ist zwei Minuten von hier. Mir scheint, ich habe sogar noch ein bißchen Whisky …”

Auf der Treppe, im Hotel „National”, begegnete ihnen Marion.

„Weißt du schon das Neueste?” sagte sie zu Martin. „Meine Mama und Tilly sind heute in Zürich angekommen.”

„Nein, sowas!” sagte Martin. „Wie muß es in Deutschland aussehen, wenn sogar Frau von Kammer es nicht mehr erträgt? – Willst du noch einen Schnaps mit uns trinken, Marion?”

„Danke”, sagte Marion. „Ich falle um vor Müdigkeit. Unterhaltet euch gut! Viel Vergnügen!”

Frau Geheimrat Marie-Luise von Kammer hatte mit ihren beiden jüngeren Töchtern, Tilly und Susanne, am 16. April 1933 die deutsche Heimat verlassen: kaum zwei Wochen nachdem ihr ältestes Kind, Marion, nach Paris in die Emigration gegangen war. Frau von Kammer – plötzlich vor die Wahl gestellt, in welchem Lande sie am liebsten wohnen wolle – entschied sich, nach nur kurzem Schwanken, für die Schweiz, wo sie mit ihrem Gatten beinah jedes Jahr die Ferienwochen zugebracht hatte. In der Schweiz wiederum kamen vor allem das Tessin, das Engadin oder Zürich in Frage. Frau von Kammer behauptete, daß sie persönlich einen stillen, ländlichen Platz, etwa Ascona oder Sils Maria, vorziehen würde: „denn ich habe genug von der Welt”, sagte sie in ihrer sonderbar konventionellen, starren Manier, die selbst noch der aufrichtigsten, spontansten Äußerung einen floskelhaft rhetorischen Charakter gab. „Aus Rücksicht auf ihre Töchter”, entschloß sich die Geheimratswitwe dazu, vorläufig in der größeren Stadt, in Zürich, Wohnung zu nehmen. „Ich will, daß meine Mädels von der Gesellschaft empfangen werden”, sagte sie – und es klang, als gäbe es in Zürich einen Kaiserlichen Hof, dessen Zierde die jungen Damen von Kammer nun ausmachen sollten.

Wenn sie, in solchem Zusammenhang, von „meinen Mädels” sprach, machte sie sich einer Übertreibung schuldig, denn wirklich konnte es sich nur um Tilly, die Neunzehnjährige, handeln. Susanne war erst dreizehn Jahre alt und sollte in einem Schweizer Pensionat „für junge Mädchen aus ersten Familien” untergebracht werden. Das Institut war entschieden zu teuer für die finanziellen Verhältnisse der Geheimrätin. „Aber es muß eben reichen!” erklärte die Mutter, fanatisch in ihrer Zärtlichkeit zu dem hochaufgeschossenen, etwas mürrischen Backfisch, wie in ihrem unbedingten Entschluß, sich sozial nicht degradieren zu lassen.

Marion blieb in Paris. Einige Tage nach ihrer Ankunft in Zürich hatte die Mutter, „mit Voranmeldung für Mademoiselle von Kammer”, das Hotel „National”, Paris, rue Jacob, angerufen. „Ich bin froh, deine Stimme zu hören, mein Kind!” sagte sie, und der Klang ihrer Worte war wärmer und belebter als meistens. – „Wie geht es dir denn, Mama?” fragte Marion, glücklich über die ungewohnt einfache, herzliche Art der Mutter. – „Danke, mein Kind: leidlich gut.” Nun hatte sie schon wieder jene damenhafte Verbindlichkeit, unter der Marion heftiger litt als andere Töchter unter den Wutausbrüchen ihrer Mutter. – „Du weißt ja: das Züricher Klima ist eine Wohltat für meine Nerven – natürlich nur so lange es keinen Föhn gibt …” Sie redete, als wäre sie soeben in Baden-Baden oder Bad Gastein eingetroffen und berichtete nun einer entfernten Bekannten über die ersten Erfolge der Kur. Es war der Ehrgeiz der Frau von Kammer, Haltung zu bewahren, auch der Tochter gegenüber –: Haltung um jeden Preis, den Verhältnissen zum Trotz, malgré tout, geschehe, was auch immer.

Das Telephongespräch zwischen Paris und Zürich dauerte nicht sehr lange. Mama berichtete noch, daß sie, mit Tilly und der kleinen Susanne, vorläufig in einem sehr hübschen Hotel am See abgestiegen sei. „Sehr soigniert”, sagte sie anerkennend. „Die Bedienung – tip-top! Aber es ist natürlich nur provisorisch. Auf die Dauer könnte man sich das nicht leisten.”

„Es ist schrecklich traurig”, sagte Marion, nachdem sie eingehängt hatte, zu Martin Korella, der gerade bei ihr im Zimmer war. „Sie kann es einfach nicht zeigen, wie nett sie ist. Hinter ihrer blöden ‚feinen’ Art versteckt sich ihre ganze große Nettigkeit.” Marion sah bekümmert aus. Mit ihren schönen und langen Fingern – den kraftvoll trainierten Fingern einer Pianistin, mußte Martin denken; oder, nein: eigentlich einer Bildhauerin – zerdrückte sie im Aschenbecher eine Zigarette, die sie gerade erst angeraucht hatte. Dabei stieß sie den Aschenbecher – es war eine jener häßlichen, weißen kleinen Schalen, mit dem Reklame-Aufdruck der „Galeries Lafayette” – vom Tisch; mit zornig verfinsterten Augen schaute sie auf Zigarettenstummel und Asche, die nun den Teppich verunzierten. „Dabei ist sie nämlich wirklich ganz besonders nett”, behauptete sie mit einer tiefen, grollenden Stimme und schüttelte – einer gereizten Löwin ähnlich – die lockere Fülle ihres rot-braunen, purpurn schimmernden Haares.– „Zum Beispiel war es doch ganz großartig von ihr, wie sie sich während dieser letzten Wochen benommen hat”, sagte Marion noch, trotzig und aufgebracht, als hätte jemand ihr widersprochen – während Martin doch nur liebenswürdig und etwas schläfrig lächelte. „Längst nicht jede alte Dame bringt es fertig, sich so prima zu halten; die meisten hängen viel zu sehr an ihrer Tischwäsche oder an einer bestimmten Friseuse, um die freiwillige Emigration auch nur zu erwägen. Und für die geborene von Seydewitz sollte es im Nationalsozialismus eigentlich verschiedene Elemente geben, die ihr gar nicht übel gefallen: stramme Haltung, nationales Gefühl, und all so’n Zeug … Aber nein: die geborene von Seydewitz überlegt sichs erst gar nicht lange. In ihrer ulkigen Ausdrucksweise konstatiert sie: Die Nazis sind schlechte Klasse – womit sie freilich auf eine etwas andere Art recht hat, als sie selber meint. Damit ist für sie alles erledigt. Ihr Instinkt hat gespürt: Was jetzt in Deutschland regiert, das ist Dreck. Und sie packt ihre sieben Sachen …”

„Vielleicht”, gab Martin zu bedenken – jedes seiner Worte mit einer selbstgefälligen Langsamkeit schleppend –, „vielleicht ist diese brave Attitüde durch den schönen Einfluß einer gewissen Tochter zu erklären …”

„Vielleicht. Bis zum gewissen Grade.” Marion biß sich in die Knöchel der geballten Faust, wie es ihre Angewohnheit war, wenn sie konzentriert nachdachte. „Aber mein Einfluß” – beschloß sie – „hat gewiß keine entscheidende Rolle gespielt. Die Seydewitz konnte ja gar nicht anders handeln, als sie es getan hat!” Dabei schüttelte sie, wie triumphierend, wieder das prachtvolle Purpur-Gelock. Martin lächelte, sphinxhaft, zärtlich und verschlafen. –

In der Tat: Frau von Kammer, die geborene Baronesse von Seydewitz, konnte gar nicht anders, als sich mit gelassener, hochmütiger Unbedingtheit gegen das suspekte Phänomen des Nationalsozialismus zu stellen. In allen politischen Dingen war sie vollkommen ahnungslos; aber für den neu-deutschen „Erlöser” und seinen Anhang hatte sie nur das angewiderte Achselzucken, mit dem sie einen schlecht gebauten alten Klepper abgelehnt hätte, den man ihr als Rennpferd anzubieten wagte. Ihr Instinkt für biologische Werte – viel schärfer entwickelt als ihr Gefühl fürs Moralische – bewahrte sie davor, auf die Tricks der Demagogen auch nur eine Sekunde lang herein zu fallen. Hinzu kam ihr höchst empfindliches Gefühl für die Würde ihrer Familie, das durch die neue Staats-Religion verletzt wurde.

Denn das Rassen-Dogma beleidigte das Andenken ihres verstorbenen Gatten. Der Geheimrat von Kammer war Jude gewesen; seine Töchter galten, nach neuester deutscher Auffassung, als „Nichtarierinnen”. Den Adelstitel hatte der Geheimrat von seinem Vater, einem einflußreichen Bankier, geerbt. Seit einem halben Jahrhundert unterhielt die Frankfurter jüdische Patrizier-Familie gute Beziehungen zur Aristokratie und sogar zum Kaiserlichen Hof. Marie-Luisens seliger Gatte, Alfred von Kammer – Internist von internationalem Ruf, Chef eines großen Berliner Krankenhauses – hatte das Faktum seiner jüdischen Herkunft niemals verleugnet, sondern es eher, auf seine unpathetische, jovial-scherzhafte Art, zu betonen geliebt. Er war fünfundzwanzig Jahre älter als Marie-Luise, deren Vater, dem General, er die letzten Lebensstunden zwar nicht wesentlich verlängert, aber durch klug gewählte Tropfen und Injektionen doch ein wenig erleichtert hatte.

Familie von Seydewitz lebte in Hannover und hatte kein Geld. Der General war stockkonservativ; verachtete aber die meisten seiner Standesgenossen – wegen ihrer Unbildung und kulturellen Zurückgebliebenheit – womöglich noch mehr als die grauenhaften Sozialdemokraten. Abends, bei der Lampe, las er seiner Frau und den Töchtern aus den Schriften von Goethe, Stendhal, Lord Byron und Theodor Fontane vor. Als er krank ward, bestand er darauf, daß man den berühmten jüdischen Spezialisten rief. Professor von Kammer verliebte sich prompt in das spröde, arme, hochmütige und sehr hübsche Fräulein von Seydewitz. Während einer beinah zwanzigjährigen Ehe wurde er sich niemals darüber klar, ob sie ihn wiederliebte, oder je wiedergeliebt hatte. Vielleicht hatte die kleine Baronesse ihn nur geheiratet, weil er eine gute Partie war. Das Problem – ob Marie-Luise ihn liebte – beschäftigte den großen Arzt zwei Jahrzehnte lang. Als er sich zum Sterben niederlegte, zeigte sie ihm, zum ersten Mal, eine heftige, bewegte Zärtlichkeit. Die Gebärde, mit der sie sich über sein Lager warf, hatte eine Vehemenz, die den Geheimrat an seiner reservierten Gattin verblüffte. „Bitte, bitte – stirb nicht!” flehte Maria-Luise – schamlos, fassungslos in ihrer Angst. Wovor fürchtete sich denn die geborene von Seydewitz? Sie gestand es selbst; denn sie schrie: „Dann wäre ich ganz allein!” Der Geheimrat starb aber doch. Das war im Jahre 1925.

Herr von Kammer hatte schon am 9. November 1918 beschlossen, nun wolle er nicht mehr lang leben. Die Niederlage des Reiches, der Zusammenbruch der Monarchie hatten ihn psychisch und physisch erledigt – übrigens auch finanziell. Er war ein glühender Patriot und fanatischer Anhänger des Hauses Hohenzollern – während Marie-Luise, was vaterländische Gefühle betraf, sich zwar korrekt aber eher kühl verhielt und die Kaiserliche Familie sogar ein wenig verachtete.

Der Geheimrat hinterließ seiner Witwe ein nur geringes Vermögen; den größten Teil seiner stattlichen Guthaben hatte er in Kriegsanleihe investiert – und also verloren. Der immer noch beträchtliche Rest zerschmolz ihm während der Inflation.

Marie-Luise verkaufte, Stück für Stück – und übrigens nicht ohne kommerzielle Geschicklichkeit – die Renaissance-Teppiche, Biedermeierkommoden und die kleine Bildersammlung – Böcklin, Schwind, Spitzweg, Leibl, Hans Thoma –, die den Schmuck ihrer repräsentativen Wohnung in der Tiergarten-Straße ausgemacht hatten. Das geringe Kapital brauchte sie noch nicht anzugreifen. Von den Zinsen und dem Erlös der Verkäufe konnte sie ihre bescheiden gewordene Existenz, samt standesgemäßer Erziehung der Töchter, bestreiten.

Es bedeutete entschieden eine Enttäuschung für die Mama, daß ihre Älteste, Marion, zum Theater wollte. Indessen war Marie-Luise zu intelligent, um Einspruch zu erheben. ‚Wenn sie als Schauspielerin keine Karriere macht, wird sie heiraten’, dachte sie und genehmigte Marion ein paar hundert Mark extra, damit sie mit einem anständigen Garderobe-Bestand ins erste Provinz-Engagement reisen könne. Tilly ihrerseits erklärte, am Tage ihres siebzehnten Wiegenfestes, nicht ohne Feierlichkeit, daß sie sich zur Malerei berufen fühle. Die Mama schlug vor, ob sie es nicht zunächst mit der Herstellung von stilisierten Lampenschirmen und netten Glastieren versuchen wolle; dergleichen hatte mehr praktische Aussichten als Ölgemälde oder Kupferstiche. Tilly ging zur Kunstgewerbeschule. Frau von Kammer hoffte, daß wenigstens bei der kleinen Susanne jener Drang nach künstlerischer Aktivität, der bei den Älteren so heftig schien, ausbleiben werde. Freilich: sogar junge Damen aus erstklassigen und selbst noch wohlhabenden Häusern zeigten heutzutage eine gewisse Neigung, sich „auf eigene Füße zu stellen”. Trotzdem war die geborene von Seydewitz der Meinung, daß arbeitende Mädchen schwerer zu verheiraten seien als faule. Woher hatten Marion und Tilly ihre Talente und ihren unruhigen Ehrgeiz? In der Familie von Seydewitz kam dergleichen nicht vor. Sie mußten es von den Kammers geerbt haben.

Dabei konnte man nicht eigentlich sagen, daß Marion, äußerlich oder als Charakter, dem Vater glich. Ihr vehementer, aggressiver Charme, ihre begabte Nervosität, ihre Unrast, ihr Eigensinn waren weder in der jüdischen Patrizierfamilie, noch in dem preußischen Aristokratengeschlecht vorher dagewesen. Die hohen und schmalen Beine hatte sie von der Mutter; den gescheiten, manchmal grüblerisch sich verdunkelnden Blick vielleicht vom Papa. Aber es blieb, an diesem kompliziert zusammengesetzten und fast beunruhigend reizbegnadeten biologischen Phänomen, genannt „Marion”, ein großer Rest von durchaus fremdartigen Qualitäten; eine Fülle von Zügen, die der Mutter erstaunlich, unverständlich und beinah erschreckend schienen.

Tilly erinnerte auf eine klarere, eindeutigere Art an den Vater: schon durch ihre Neigung zur Rundlichkeit – sie tat gut daran, auf ihre Linie zu achten –; aber auch durch Form und Ausdruck ihres intelligenten, weichen, gutmütig sinnlichen Gesichtes. Tillys Lippen, besonders, ließen Marie-Luise oft an den seligen Geheimrat denken: dieser genußfreudige, ein wenig zu üppige Mund, der immer ein wenig feucht wirkte – als hätte er gerade etwas Leckeres, Fettes, Honigsüßes verzehrt, oder als hätte er sich soeben erst von einem anderen nassen Mund gelöst, an dem er sich mit langem Kusse festgesaugt. Übrigens war es diesem Munde, auf eine überraschende, fast fürchterlichte Art auch gegeben, Schmerz, sogar Verzweiflung auszudrücken. Es geschah zuweilen, daß Tillys Lippen sich tragisch öffneten, wie zu einem stummen Schrei, und ehe die Augen noch Tränen vergossen, schienen die feuchten Lippen zu weinen. –

Von dem Kind Susanne durfte man erwarten, daß eine veritable von Seydewitz aus ihr werde: sie brachte das Zeug dazu mit. Marie-Luise mochte als kleines Mädchen hübscher und wohl auch, auf ihre spröd befangene Art, liebenswürdiger gewesen sein. Gewisse Züge, die bei der Mutter erst jetzt, im Alter, hervortraten, waren bei Susanne schon in zarter Jugend auffallend: etwa das zu lange, hart geformte Kinn; die schmalen, aufeinander gepreßten Lippen und die ein wenig bitteren Falten, von denen die Mundwinkel abwärts gezogen wurden. Das Kind Susanne hatte wasserblaue, streng blickende Augen und frisierte sich das dünne, aschblonde Haar zu steifen kleinen Zöpfen, von denen man den Eindruck bekam, daß sie hart und kühl anzufühlen sein müßten wie Metall. Im Jahre 1931 wollte Susanne Mitglied einer Nationalsozialistischen Jugend-Organisation werden. Frau von Kammer mußte es ihr verbieten und sie auf die jüdische Abkunft ihres Vaters schonend aufmerksam machen. Susanne, die davon nichts geahnt hatte, wurde bleich und verstummte. Dann weinte sie lange. „Du brauchst dich deines Vaters nicht zu schämen”, versuchte Marie-Luise sie zu trösten. „Er hat seinem Lande große Dienste geleistet.” –

Die geborene von Seydewitz war keineswegs gewillt, mit irgendjemandem eine Philosophie und politische Konzeption zu diskutieren, der zufolge ihr verstorbener Gatte zu einem Bürger zweiter Klasse, einem Paria degradiert ward. Sie brach rigoros den Verkehr mit allen jenen unter ihren Bekannten ab, die der Rasse-Dogmatik des Nationalsozialismus anhingen. Ihren Freundinnen – von denen die meisten zum mittleren preußischen Offiziersadel gehörten – erklärte sie: „Diese Nazis sind noch schlimmer als sogar die Kommunisten. Bei denen weiß man doch wenigstens, was sie sind: unsere Feinde. Die Nazis aber spielen sich als die Bewahrer unserer heiligsten Güter auf und sind in Wahrheit doch nur respektlose Plebejer.” Die Offiziers-Gattinnen schwiegen pikiert, wenn die geborene von Seydewitz scharf betonte: „Wer behauptet, ein Jude könne kein guter deutscher Patriot sein, der ist ahnungslos, oder er lügt. Mein seliger Vater – sicherlich ein preußischer Soldat von guter alter Art – zählte einige Juden zu seinen intimsten Freunden. Meine Mädels sind in einem tadellosen Geist erzogen worden. Soll ich es mir nun bieten lassen, daß man sie plötzlich wie Pestkranke behandelt?” Marie-Luise, sonst so fein und still, sprach mit einer vor Indigniertheit beinah klirrenden Stimme.

Was den verstorbenen General von Seydewitz betraf, so war es bekannt, daß er seiner Familie abends aus den Werken deutscher und sogar ausländischer Poeten vorgelesen hatte – was befremdlich genug wirkte –, und daß er, seiner eigenen Kaste gegenüber, von einer sonderbaren Reserviertheit gewesen war. Und nun gar die beiden jungen Fräulein von Kammer angehend: da hatten Marie-Luisens gute Freundinnen recht gemischte – oder eigentlich schon: ganz eindeutige – Gefühle. Untereinander redeten sie, halb mitleidig halb entrüstet, über Marion und Tilly. „Die arme Marie-Luise ist blind”, wurde getuschelt. „Sieht sie denn wirklich nicht, wie anstößig sich die jungen Dinger betragen?! Beide schminken sich ja, daß man meinen könnte, sie seien –, ich will lieber gar nicht sagen, was!” Die Damen schüttelten die Köpfe und schnitten Grimassen, als hätte man ihnen etwas Widriges in den Tee geschüttet. „Kein Wunder”, sagten sie noch. „Die Rasse des Vaters schlägt durch.” –

Frau von Kammer war keineswegs blind für die etwas riskanten Allüren ihrer beiden erwachsenen Kinder. Es schmerzte sie bitter, daß die Mädchen sich nicht ihren Umgang in den konservativen, vornehmen Kreisen suchten, die das Milieu der Mutter waren und um deren Gunst der Geheimrat sich ein Leben lang, mit Zähigkeit und Erfolg, bemüht hatte. Woher kam ihnen nur der unglückselige Hang zur Bohème? Dieser extravagante kleine Pariser – Marcel Poiret –, mit dem Marion fast ihre ganze freie Zeit verbrachte, war durchaus nicht nach dem Geschmack der Mama. Auch Martin Korella, den Marion schon als kleines Mädchen gekannt hatte, kam Frau von Kammer etwas unheimlich vor. Seine schleppende Art zu sprechen, sein verhangener, zu süßer und zu trauriger Blick, die selbstgefällige Ironie seiner Äußerungen –: „es paßt sich nicht für einen jungen Mann”, sagte Marions Mutter, „und überhaupt, er hat so gar nichts Frisches.”

Der Student, den Tilly ihren Bräutigam nannte, Konni Bruck, machte einen sympathischeren Eindruck; aber Frau von Kammer wußte, daß er sich mit Politik beschäftigte, und zwar auf ungehörige Weise. Er war mindestens Sozialdemokrat, vielleicht sogar Kommunist: die Geheimratswitwe wollte es gar nicht so genau wissen. Jedenfalls stand fest, daß er Tilly in politische Versammlungen schleppte – an Orte also, wohin junge Mädchen keineswegs gehören –: ebenso wenig wie in Nachtlokale, die Konni Bruck auch mit Tilly zu frequentieren pflegte.

All dies beschäftigte und betrübte Marie-Luise. Aber der Familienhochmut und ihre Liebe zu den beiden Mädchen verboten es ihr, jemals einem ihrer Bekannten gegenüber solche Sorgen anzudeuten. Schließlich war die Mutter auch stolz darauf, daß Marion und Tilly viele Freunde und Bewunderer hatten. In einer gewissen Gesellschaft spielten die Zwei entschieden eine Rolle – wenngleich es nicht genau die Gesellschaft war, die Frau von Kammer-Seydewitz sich für ihre Töchter gewünscht hätte. –

Als die Nazis zur Macht kamen, war man in Marie-Luisens Kreisen zunächst begeistert. Nur ganz wenige Hellsichtige ahnten schon, daß nun Personen und Tendenzen herrschend wurden, die einem aristokratischen Konservativismus durchaus nicht in allen Stücken freundlich gesinnt waren. Ahnungslos wie die berauschte Masse, die in den Straßen lärmte, jubilierten die Offiziersdamen aus Potsdam oder Ostpreußen darüber, daß nun Schluß sein sollte mit dem Schandvertrag von Versailles und mit dem verhängnisvollen Einfluß der Israeliten.

Marie-Luise stand mit ihrer Bitterkeit und ihrem Haß ganz allein. Sie dachte an ihren Gatten und gab niemandem mehr die Hand, der ein Hakenkreuz im Knopfloch trug oder Heil Hitler rief. Wenn sie einem Trupp von Braunhemden auf der Straße begegnete, hielt sie sich ostentativ die Nase zu, anstatt den Arm zu recken. „Nazis stinken”, behauptete sie, und wäre einmal fast verprügelt worden, weil eine Kleinbürgersfrau, die neben ihr stand, es gehört hatte.

Marion war abgereist, nachdem die Geheime Staatspolizei mehrere ihrer nächsten Freunde verhaftet hatte. Auch Tilly, die sich mit dem jungen Bruck in linken Versammlungen gezeigt hatte, wurde gewarnt: es lägen bei der Gestapo Denunziationen gegen sie vor – anonyme Briefe, wahrscheinlich von den guten Freundinnen ihrer Mutter –; sie sei in akuter Gefahr. Ihren Konni traf sie nur noch in aller Heimlichkeit; ein paar Nächte lang schlief sie nicht mehr zu Haus. Es war ein unhaltbarer Zustand. Marie-Luise empfand es als unter ihrer Würde, in einem Lande zu bleiben, wo ihr Gatte – wenn er noch lebte – Beleidigungen ausgesetzt gewesen wäre, und wo anständige Menschen ihres Lebens nicht mehr sicher sein konnten.

Tilly hatte erwartet, sie werde ihre Mama mit großer Eloquenz zur Abreise überreden müssen. In Wahrheit stand es bei Marie-Luise schon fest, daß im Dritten Reiche ihres Bleibens nicht war, ehe Tilly auch nur angefangen hatte zu sprechen. Ohne irgendwelches Aufheben zu machen, still und umsichtig, hatte die Mutter mit den notwendigen Vorbereitungen begonnen.

Tilly ihrerseits wäre für die Emigration nicht zu haben gewesen, wenn nicht der junge Bruck – dem die Vorstellung unerträglich war, daß die Freundin seinetwegen in Gefahr kommen könnte – sie dazu bestimmt hätte: Er mußte ihr gegenüber wirklich alle jene Überredungskünste anwenden, die bei der geborenen von Seydewitz überflüssig waren. Konni versprach, in ein paar Wochen oder Monaten ins Ausland nachzukommen. Es war das erste Mal, daß er Tilly belog. Seine entschiedene Absicht war es, in Berlin zu bleiben und der illegalen Opposition, die sich gleich nach der „Machtergreifung” zu formieren begann, alle seine Kräfte zur Verfügung zu stellen. Er war zwanzig Jahre alt, studierte Physik und glaubte mit einer Zuversicht, die jedem Widerspruch mit stolzem Achselzucken begegnete, daß die Marxistischen Dogmen und Prophezeiungen in einem ebenso objektiven, indiskutablen Sinne „wahr” seien wie gewisse Naturgesetze oder mathematische Regeln. Man verhaftete ihn, als er versuchte, vor Beginn der Kollegs antifascistische Flugblätter im Universitätsgebäude zu verteilen.

Das geschah kaum einen Monat nachdem Tilly mit ihrer Mutter in Zürich eingetroffen war. Die Beiden saßen am Frühstückstisch – man hatte vom Hotelzimmer aus die schönste Aussicht über den See, auf dessen dunstiger Fläche die Segelschiffe zu schweben schienen –; der Liftboy brachte den Brief, er war von einem Kameraden des jungen Bruck, trug den Poststempel „Prag” und war mit den Initialen „H. S.” gezeichnet. Tilly durchflog die Zeilen. Sie ließ das Papier zu Boden fallen, dabei schrie sie leise und faßte sich mit beiden Händen an die Brust, als hätte jemand ihr einen furchtbar schmerzhaften Schlag versetzt. Sie bekam keinen Atem mehr. Die Mutter dachte, mein Gott, es sind diese asthmatischen Zustände, die hat sie doch seit Jahren nicht gehabt. Tilly keuchte und bearbeitete mit kleinen hilflosen Faustschlägen ihre um Atem ringende Brust. In einem Gesicht, das weiß geworden war wie das Tischtuch, öffneten sich die weichen und nassen Lippen zur Klage. Die Augen waren noch trocken, aber sie schienen nichts mehr zu sehen: ehe noch die Tränen sie blind machten, nahm ihnen der betäubende Schmerz schon den Blick. Bei sehr großen Affekten, in der Wollust oder in der Verzweiflung, bleibt den Menschen nichts übrig, als das festgelegte, klassisch stilisierte Bild zu stellen. Gerade die ungeheuersten Gemütsbewegungen drücken sich in der höchst konventionellen Pose aus. Das Individuelle tritt zurück; was bleibt ist der menschliche Ur-Typ. Tilly von Kammer – am Frühstückstisch in diesem Züricher Hotelzimmer – stellte, sich die Brust schlagend und das Haupt mit den tragisch blicklosen Augen langsam hin und her wiegend, das klassische Bild: Junge Frau, die Trauerbotschaft empfangend.

Auch die Mutter verhielt sich genau so, wie die Zeugin der Jammerszene, die an der Katastrophe primär Unbeteiligte, nur indirekt und nur durch Mitleid Betroffene sich nach den klassischen Regeln der Tragödie benimmt. Marie-Luise flüsterte mit bleichen Lippen: „Was ist dir, mein Kind?”

„Konni …”, brachte das Mädchen hervor. Nun schien sie wirklich keinen Atem mehr zu bekommen. – „Ist er tot?” fragte die Mutter rasch; ihrem temperierten Gefühl hätte einzig und allein eine Todesnachricht Tillys maßlose Reaktion plausibel gemacht.

Tilly konnte noch sagen: „Nein … Es ist beinah schlimmer … Konzentrationslager … Sie haben ihn in ein Konzentrationslager gebracht …”

Frau von Kammer fand es schwierig, dazu irgendetwas zu äußern. Übrigens verband sie mit dem Begriff „Konzentrationslager” keine sehr genauen, plastischen Vorstellungen. Um doch nicht völlig stumm zu bleiben, sagte sie, etwas matt: „Armer Kerl!” Und fügte hinzu – was sie eine Sekunde später bereute –: „Aber warum läßt sich ein begabter junger Mensch auch mit dieser schmutzigen Politik ein? Ich wußte immer, daß es nicht gut ausgehen würde …” – Tilly, die sonst ähnliche Bemerkungen der Mutter zu ignorieren pflegte, war diesmal fassungslos. Während sie schon durchs Zimmer stürzte, auf die Türe zu – in einer Haltung, als fliehe sie aus einem Raum, der in Flammen stand, und als hinge alles, selbst die Rettung Konnis, davon ab, daß sie die Türe in der nächsten Sekunde erreiche – murmelte zwischen den Zähnen: „Und sonst hast du mir nichts zu sagen, Mama?!” Ja, das war wohl Haß, was ihr nun die Züge zu einer schlimmen kleinen Grimasse verzerrte und was als ein flüchtiges, aber intensives Funkeln aus ihren Augen kam. Die Hand hatte sie schon an der Türklinke. Jetzt weinte sie endlich. Der Zorn über die Kränkung, welche die arme, ahnungslose Mutter ihr zugefügt, machte die Tränen frei: nun strömten sie ihr reichlich über die kindlich gerundeten Wangen. „In was für einer Welt lebst du denn?!” rief die Schluchzende noch über die Schulter. Dann war sie hinaus.

Frau von Kammer blieb in sehr aufrechter Haltung am Frühstückstisch sitzen. Sie sah alt aus – älter als sie eigentlich war. Ihr Haar hatte jene unbestimmte, aschblonde Farbe, von der sich kaum feststellen ließ, ob es schon ergraut, oder nur verblichen, glanzlos geworden war. Die Falten zwischen den Brauen und um die gepreßten Lippen hatten sich während der letzten Monate verschärft und vertieft. Der Anblick ihres zu schmalen, zu langen und zu harten Gesichtes, mit den eingefallenen Wangen, der feinen Nase und dem kantigen Kinn, ließ an ein sehr gutrassiges, abgearbeitetes, stolzes und etwas müdes Pferd denken.

Die Mutter stand seufzend auf. ‚Wenn das mit Tillys Asthma-Anfällen nun wieder losgeht’, dachte sie, –: ‚eine schöne Geschichte! – Konzentrationslager … Konzentrationslager … Welch ein Irrsinn!’ – Sie wollte sich selber nicht zugeben, wie sehr es ihr leid tat, daß sie ihr großes Mädchen nicht tröstend in die Arme geschlossen hatte, anstatt sie durch ihre gefühllose Bemerkung noch weiter zu verletzen.

Tilly ging Tage lang schweigsam, mit bleicher, verstörter Miene umher. Sie war beinah dazu entschlossen, nach Berlin zu fahren, um ihrem Konni zu helfen – auf welche Weise, war ihr selber nicht klar. Sie schrieb dem Kameraden des jungen Bruck – dem Mann, der so geheimnisvoll als „H. S.” signiert hatte – an seine Deckadresse in Prag und erkundigte sich bei ihm, was er von ihrem Reiseplan halte. Er erwiderte, kurz und bündig: Das ist Quatsch. Du kannst dem Jungen nichts nützen und bringst dich selbst in Gefahr. – Merkwürdiger Weise nannte der Unbekannte sie „Du”. Tilly wunderte sich darüber; fühlte sich aber auch geschmeichelt und, auf eine fast sinnliche Art, gereizt. Konnis Freund rechnete sie also zu den Zuverlässigen, den Genossen … Dabei hatte sie sich eigentlich nie für Politik interessiert. Nur um die Abende mit Konni verbringen zu können, hatte sie ihn zu den Meetings begleitet – die tödlich langweilig für sie gewesen wären, wenn er nicht neben ihr gesessen hätte. Sie liebte ihn. Jetzt erst, da sie ihn verloren hatte, ermaß sie es ganz, wie sehr sie ihn liebte und brauchte. Sie dachte immer an ihn, und sie weinte viel. Das Ärgste war, daß keine Nachricht von ihm kam – keine Zeile. Erreichten ihn denn die langen Briefe, die sie ihm fast täglich schrieb? Auch der mysteriöse H. S. in Prag hatte seinerseits nichts von Konni gehört: er teilte es Tilly, die ihn brieflich mit Fragen bestürmte, lakonisch mit. – Wie mochte dieser H. S. aussehen? Tilly beschäftigte sich zuweilen mit der Frage. Seine Handschrift war sympathisch, übrigens recht kindlich steif und steil. Er hatte eine unbeholfene, aber kräftig volkstümliche und prägnante Art, sich auszudrücken. ‚Sicher ist er ein sehr anständiger, einfacher Junge’, beschloß Tilly. ‚Ich glaube, daß ich ihn mögen würde.’

Ernst und heroisch gestimmt, wie sie war, gab sie luxuriöse Gewohnheiten auf; zum Beispiel die, in Nachtlokale zu gehen, Whisky zu trinken und fünfzig Zigaretten am Tag zu rauchen. Sie verzichtete auch darauf, weiter die Kunstgewerbeschule zu besuchen. Ihrer Mutter teilte sie mit, daß sie Unterricht im Maschine-Schreiben und Stenographieren nehmen wolle, um möglichst bald selbst etwas zu verdienen. Frau von Kammer konnte nichts dagegen einwenden – obwohl die Vorstellung, eine ihrer Töchter als Sekretärin arbeiten zu sehen, ihr höchst peinlich war. Aber die Geldverhältnisse der Witwe verschlechterten sich rapide. Die Bilder und Kunstgegenstände, die ihr noch geblieben waren, hatte sie zwar, samt ihrer Wohnungseinrichtung und der kleinen Bibliothek, mit in die Schweiz nehmen können. Die besten Stücke aber waren längst verkauft, und von dem Barvermögen hatte sie erhebliche Teile für die „Reichsfluchtsteuer” opfern müssen.

In dem kostspieligen Hotel an der Seepromenade war Frau von Kammer mit ihrer Tochter nur einige Wochen geblieben. Die Dreizimmer-Wohnung, die sie nach langem Suchen gefunden hatte, war immer noch teuer genug. Sie lag in der „Mythen-Straße”, die einen gediegen soignierten Eindruck machte. „Die Lage könnte nicht besser sein”, erklärte Marie-Luise ihren Bekannten, die kleinbürgerliche Enge der dunklen Parterre- Stuben mit der Vortrefflichkeit ihrer topographischen Situation gleichsam entschuldigend. „Man hat nur ein paar Schritte bis zum See, bis zu den guten Geschäften an der Bahnhofstraße, zum Paradeplatz, zum Kursaal und – darauf lege ich ganz besonderen Wert! – man ist nah bei der Tonhalle. Die Konzerte hier sollen ja ersten Ranges sein …” Wirklich hatte sich die geborene von Seydewitz, obwohl sie gar nicht musikalisch war, ein Abonnement für die Symphonie-Konzerte geleistet; dies glaubte sie ihrer gesellschaftlichen Stellung schuldig zu sein. „Wenn man aufhört zu repräsentieren”, versuchte sie Tilly klar zu machen, „ist man verloren. Die Leute sehen einen überhaupt nicht mehr an.”

Der Geheimrat hatte in Zürich viele gute Freunde gehabt – prominente Kollegen, oder reiche Patienten – Marie-Luise durfte meinen, daß sie mit mehreren Damen aus Schweizer Patrizier-Kreisen in den herzlichsten Beziehungen stand. Nun meldete sie sich telephonisch bei ihnen. Man war erfreut, ihre Stimme zu hören; da sie als Adresse zunächst das luxuriöse Seehotel nennen konnte, nahm man an, sie befinde sich auf der Durchreise. Man lud sie zum Tee oder zum Abendessen ein. Sie nahm Tilly mit. „Du wirst sehen, wir werden bald einen reizenden Kreis hier haben”, versicherte sie siegesgewiß der Tochter auf der Taxifahrt zum Villenvorort, wo die lieben Bekannten wohnten.

Indessen erfror das Lächeln auf den Mienen der wohlhabenden Gastgeber, als Frau von Kammer gestand, daß sie diesmal nicht auf einer Vergnügungs- oder Erholungsreise sei, sondern sich hier niederzulassen gedenke. Es war, als hätte man die eben noch respektable Dame bei suspekten, wahrscheinlich kriminellen Machenschaften ertappt. „Ja, wieso denn?! Warum denn nur, meine Liebe?” forschte angstvoll die Hausfrau. Als Marie-Luise aber, artig und gelassen, erklärte, dass man ihr doch wohl kaum zumuten könne, in einem Lande zu bleiben, wo ihr Gatte heute als ein Aussätziger gelten würde, – da fiel es wie ein eisiger Reif auf die gesellige Runde, und die gute Stimmung war weg. Nach einer fürchterlichen Pause bemerkte jemand, mit schonender Behutsamkeit: „Ja, freilich – der gute Geheimrat war ja … Er war ja wohl … hm …”: als müßte man nun endlich den peinlichen Tatbestand zugeben, daß Herr von Kammer Zeit seines Lebens an einer stinkenden Krätze gelitten habe. Tilly bekam schon drohende Augen; sie war im Begriff, Dinge zu äußern, die ihre Mama für immer in diesem Zirkel unmöglich gemacht hätten. Einer der anwesenden Herren ahnte es vielleicht; denn er sagte begütigend: „Gewiß, gewiß, es ist wohl nicht alles, wie es sein sollte im neuen Deutschland. Manche Tendenzen, – an sich vernünftig und lobenswert – werden ins Maßlose übertrieben. Das sind unvermeidliche Kinderkrankheiten …”

Frau von Kammer erklärte, ruhig aber dezidiert: „Von Politik verstehe ich nichts; meine Kinder machen mir zum Vorwurf, daß ich nie Zeitungen lese. Aber soviel weiß ich doch: diese Nazis sind gemeine Plebejer. Man braucht sich nur ihre Gesichter anzuschauen! Sehen gutrassige Leute so aus?! Und benehmen Menschen, die eine Kinderstube haben, sich so, wie die Herren von Deutschland es tun?!”

Einer der Gäste – ein millionenschwerer Industrieller; Mann von strammer Haltung und strammer Gesinnung – räusperte sich schon recht indigniert. „Aber erlauben Sie, gnädige Frau”, ließ er seinen einschüchternden Baß vernehmen. „Aus der Art, wie sie den Ausdruck ‚Plebejer’ verwenden, könnte man fast auf eine sehr rückständige Gesinnung bei Ihnen schließen. Die Männer des Volkes, die jetzt in Deutschland draußen, Gott sei’s gedankt, an der Macht sind, erfüllen eine eminente historische Aufgabe. Die Volksgemeinschaft ist hergestellt, die Hetze zum Klassenkampf gibt es nicht mehr. Wenn Sie die akute bolschewistische Gefahr bedenken, in der das Reich sich tatsächlich befand …”

Die Hausfrau rief flehend: „Aber lassen wir doch die Politik! Frau von Kammer hat ja selbst erklärt, daß sie sich mit dergleichen nicht befaßt! Und es gibt doch so viel andere Gesprächsthemen, die amüsanter sind.” Sie blickte hilfesuchend im Kreise umher.

Eine rechte Gemütlichkeit wollte sich nicht mehr herstellen. Frau von Kammer und ihre Tochter brachen früh auf. Im Wagen blieben sie beide eine Weile stumm. Marie-Luise saß in sehr aufrechter Haltung, den Blick starr geradeaus gerichtet. Tilly – die noch vor einer Viertelstunde sehr ärgerlich auf ihre Mutter gewesen war – spürte jetzt nur noch Mitleid. Sie überwand ihre Scheu und Befangenheit, die sie sonst in Gegenwart der Mama selten los wurde; vorsichtig streichelte sie die magere, harte Hand ihrer Mutter.

Frau von Kammer war leicht zusammen gefahren; beinah hätte sie den Arm weggezogen. Sie hielt aber stille. Die kleine Liebkosung tat wohl. Mit einer ganz weichen, etwas heuchlerischen Stimme sagte sie: „Es war wohl nicht sehr unterhaltend bei Krügis – wie? Mir scheint, sie haben sich recht verändert. Früher ist es viel zwangloser und netter bei ihnen gewesen. Vielleicht war Frau Krügi durch irgend etwas präokkupiert …”

„Sei nur still, Mama!” Tilly schmiegte sich enger an die Mutter. „Wir müssen ja nicht mehr zu den Leuten. Wir wollen überhaupt nicht mehr solche Besuche machen – versprichst du mir das?”

Nun fand Frau von Kammer doch, daß ihre Tochter zu weit ging. Das war wieder jene Neigung zur Hemmungslosigkeit, die Marie-Luise so fremd und sogar beängstigend schien. „Es ist sehr wichtig für uns, daß wir von der Züricher Gesellschaft empfangen werden,” sagte sie, nicht ohne Strenge, und nahm wieder Haltung an. „Morgen sind wir zum Tee bei Wollenwebers.”

Tilly seufzte und ließ die Hand ihrer Mutter los. –

Frau von Kammer war in allen gesellschaftlichen Dingen von Sensibilität und prompt reagierendem Taktgefühl. Jetzt aber dauerte es ziemlich lange, bis sie es verstand und sich klar machte, daß sie in der Gesellschaft, der sie sich, ihrer Herkunft und Erziehung, wie ihrer Neigung nach, zugehörig fühlte, unerwünscht war. Nur sehr allmählich begriff sie, daß es bei den reichen, alteingesessenen, hochachtbaren Familien einfach als anstößig galt, mit der Regierung des eigenen Landes überworfen zu sein. Wenn es sich um ein sozialistisches Regime gehandelt hätte, mit dem man nicht auskommen konnte, wäre dies entschuldbar und selbst ehrenvoll gewesen.

Marie-Luise sah sich fallen gelassen von denen, die sie als „Menschen meinesgleichen” zu bezeichnen pflegte, und sie litt darunter. Keineswegs hatte sie vorgehabt, sich von ihrer eigenen Gesellschaftsschicht zu lösen, als sie Deutschland verließ. Nicht ohne Schrecken mußte sie nun konstatieren, daß genau dies es war, was sie getan hatte. Sie fühlte sich sehr allein, – so allein, wie noch niemals zuvor im Leben. Mit wem sollte sie reden, wenn die „Menschen ihresgleichen” auf die Unterhaltung mit ihr keinen Wert mehr legten? Sie verstand nur ihren Jargon, keinen anderen. Sowohl die Leute „aus dem Volke” als auch die Intellektuellen drückten sich für die Ohren Marie-Luisens in fremden Zungen aus. Manchmal versuchten ein Briefträger, ein Handwerker oder die Gemüsefrau gutmütig, sie ins Gespräch zu ziehen. Sie hatten wohl davon gehört, daß diese deutsche Dame sich mit den neuen Machthabern in ihrem Lande nicht recht vertrug. Die meisten waren geneigt, Frau von Kammer, weil sie Emigrantin war, für eine Jüdin zu halten, trotz ihrem echt von-Seydewitz’schen Aussehen. Der Briefträger und die Gemüsefrau drückten ihre Empörung aus über all das, was man den Israeliten jetzt antat – dort „draußen”, im Reich. Ein Handwerker, der die Wasserleitung in der Wohnung reparierte, ging so weit, zu erklären: „Aufhängen sollte man den Hitler!” Alle waren sich darüber einig, daß es eine Schmach und eine Schande sei, und daß „bei uns in der Schweiz” dergleichen niemals geduldet würde. „Die sollten es nur probieren!” rief drohend die Gemüsefrau mit ihrer behindert-gutturalen Stimme. Es waren sehr brave Leute, von einem ruhigen, anständigen Selbstbewußtsein. Sie gefielen Marie-Luise. Trotzdem wußte sie nicht, in welchem Tone sie ihnen antworten sollte. Sie lächelte starr und befangen. „Ja ja, es ist wohl nicht alles ganz so, wie es sein sollte”, bemerkte sie, konventionell und floskelhaft.

Es war bitter, allein zu sein. Nun empfand Frau von Kammer es mehr denn je, daß zwischen ihr und den beiden Töchtern ein wahrhaft herzliches, spontan vertrauensvolles Verhältnis sich niemals hatte herstellen wollen. Sie schrieb lange Briefe nach Paris, an Marion. Aber diejenigen, in denen von ihren Gefühlen und Nöten die Rede war, schickte sie niemals ab, sondern nur die anderen, welche von der Wohnungseinrichtung oder von einem Abend im Stadttheater erzählten. Marions Antworten – mit einer großen, zugleich energisch beschwingten und fahrigen Schrift bedeckte Zettel – waren selten mehr als ein paar launig-barocke Redensarten, aphoristische Wutausbrüche gegen die Nazis oder wirre Andeutungen, das Pariser Leben betreffend. – Susanne sendete aus dem Internat pflichtgemäß ihre wöchentlichen Berichte; sie waren stets trocken gehalten, ihr Inhalt schien befriedigend, es fehlte ihnen jeder Hauch von Phantasie, jeder Atem von Zärtlichkeit.

Und Tilly? Sie lebte in der Nähe der Mutter, und schien weiter von ihr entfernt zu sein als die beiden abwesenden Töchter. Marie-Luise wußte kaum, mit wem ihr Kind seine Tage verbrachte. Von den Schreibmaschine- und Stenographie-Stunden konnte ihre Zeit keinesfalls ganz ausgefüllt sein. Tilly schien neue Bekannte, vielleicht Freunde zu haben. Frau von Kammer hörte sie am Telephon plaudern und Verabredungen treffen. Es waren wohl Emigranten – Marie-Luise wußte, daß es ihrer ziemlich viele in Zürich gab. Tilly traf sich mit ihnen in den Caféhäusern. Niemals brachte sie einen dieser Menschen in die Mythen-Straße. Frau von Kammer konnte dies als Rücksicht auffassen. Immerhin hätte das Kind ja einmal fragen können, ob die Mama einen ihrer neuen Bekannten bei sich zu empfangen wünsche. Wahrscheinlich würde Marie-Luise abgelehnt haben. Sie empfand kein Bedürfnis, Leute zu sehen, mit denen sie wohl kaum mehr gemeinsam hatte, außer eben ein Gefühl: die Antipathie gegen die Nazis. Fraglich blieb nur – dachte Frau von Kammer –, ob ihr ein Deutschland, das so, wie diese Emigranten sichs wünschten, regiert war, erträglicher gewesen wäre als das Dritte Reich. Man durfte vermuten, daß die meisten jener Exilierten „Radikale” waren –: ein Begriff, mit dem die Geheimratswitwe vage, aber keineswegs erfreuliche Vorstellungen verband. Da traf man sich also abends, in einer Wohnung, wo es gewiß recht unordentlich aussah, oder im Café, und diskutierte bösartig über die Revolution. Ein laut redender, reichlich Alkohol konsumierender Kreis – malte Marie-Luise sich aus –, und eine von der Gesellschaft war also ihre Tochter Tilly. Manchmal mochte es ja recht angeregt zugehen; es wurde gelacht, Frau von Kammer hatte schon so lange nicht mehr laut und herzlich lachen hören. Aber nein: ihr Milieu war dies entschieden nicht … Da war, immer noch, die Einsamkeit besser.

Die Einsamkeit war nicht gut. Auf die Dauer wurde es fast unerträglich, durch die Straßen dieser schönen, sommerlichen Stadt zu gehen und zu niemandem sagen zu können: „Schau, wie die Flügel der Möwen heute wieder in der Sonne leuchten!” Oder: „Mir kommt es vor, als wäre der See heute noch blauer, als er gestern war.”

Das Leben in Zürich war heiter. Die schöne und reiche Stadt schien ihre Bürger – oder die Fremden, die in den gepflegten Hotels an der Bahnhofstraße, an den Seeufern logierten – vergessen lassen zu wollen, was im großen, tragischen Nachbarlande täglich, stündlich an Jammervollem und Bösem, an Schauerlichem und Gemeinem geschah. Zürich strahlte. An den freundlich bebauten, höchst zivilisierten Ufern seines Sees hatten Wohlstand und Biederkeit sich niedergelassen. In diesen besonnten Juni-Wochen meinte man, hier nur glückliche Menschen zu sehen; die Unglücklichen zeigten sich nicht. Die Badeanstalten am See waren überfüllt, wie die eleganten Konditoreien, die Hotel-Terrassen, die Cafés, die populären Biergärten. Wohin man schaute – braungebrannte, lachende Gesichter. Junge Leute gingen in Nagelstiefeln und Leinenhosen umher, schwer beladen mit ihrem Rucksack und doch leichten Schrittes; sie kamen von Bergtouren, oder sie brachen gerade zu Exkursionen auf. Bei „Sprüngli” oder bei „Huguenin”, an der Bahnhofstraße, saßen die Mädchen und ihre Burschen in weißen Segelkostümen neben den alten Amerikanerinnen. Im Garten des Hotels „Baur au Lac” schmachtete die Zigeunerkapelle ihre Nachmittags-Musik; auf dem Parade-Platz klingelten munter die hübsch blau lackierten Trambahnwagen; die großen Limousinen aber glitten in vornehmer Stille über die Avenuen, Plätze, Brücken und Quais; denn: „in Zürich wird nicht gehupt, aber vorsichtig gefahren”–: wie breite Spruchbänder an den Stadteingängen und an einigen Verkehrszentren mahnend verkündeten. Auf die Nerven des Publikums wurde jede erdenkliche Rücksicht genommen …

Liebenswürdig stand der Sommer dieser schönen Stadt zu Gesichte, wie einer hübschen Frau das lichte Kostüm, der breitrandige Strohhut stehen. Die Luft war mild und sehr weich; man meinte sie wie eine Liebkosung auf der Haut zu spüren. Die Konturen der Seeufer verschwammen in einem zart-blauen, fast violetten Dunst. Es herrschte Föhnstimmung. Der warme Wind kam vom Gebirge her. Frau von Kammer hatte ein wenig Kopfschmerzen. Sie konnte den Föhn nicht vertragen.

Seit gestern hatte sie mit niemandem gesprochen, außer ein paar Worte mit dem Mädchen, das vormittags kam, um die Wohnung sauber zu machen. Tilly war verreist: „Ein paar Bekannte” – wie sie sich mit etwas verletzender Ungenauigkeit ausdrückte – hatten sie zu einer Tour eingeladen. Nach dem einsamen Abendessen spazierte Frau von Kammer ziellos durch die Straßen: über den Parade-Platz, die Bahnhofstraße hinunter bis zum Bahnhof; die Bahnhofstraße wieder hinauf bis zum See; über die Quaibrücke bis zum Bellevueplatz. Sie überlegte, ob sie in ein Kino gehen sollte; aber das würde ihre Kopfschmerzen nur noch verschlimmern.

Auf dem Platz vor dem Stadttheater hatte sich ein Lunapark etabliert; ein Miniatur-Prater mit „Attraktionen”, Karussels, einer Bierhalle, Russischem Rad, Achterbahnen, Würstelverkäufern und Schießbuden. Von dort her kam der schöne, erregende Lärm, der immer zu den Rummelplätzen zieht: das Kreischen der Kinder und Frauen von all den schaukelnden, fliegenden, kreisenden, durch Finsternis gleitenden, ins Wasser stürzenden Folterstühlen, auf denen merkwürdigerweise Menschen sich freiwillig und zum Vergnügen niederlassen; die monoton-eindringliche Litanei der Ausrufer und Anpreiser, das Geknatter der Schießgewehre, der gröhlende Chorgesang der Bezechten; die Musik von drei Karussels, unbarmherzig gegen einander ankämpfend. Es kamen auch die unverkennbaren und unwiderstehlichen Rummelplatz-Gerüche: Schmalzgebackenes, Türkischer Honig, Schweiß, Brathuhn, Schießpulver, scharfes Parfüm des Zirkus, Erbrochenes, kleine Kinder, Bier, noch einmal Türkischer Honig –; und es kam, mit Geräuschen, Gerüchen und flirrenden Lichteffekten, der ganze Zauber, den diese Stätten auf den Einfachsten wie auf den Verwöhntesten üben.

Vor dem Russischen Rad war das Gedränge am dichtesten. Marie-Luise floh in eine Nebengasse des Barackendorfes, fand sich vor einer Bude und dachte: Ich kann eben so gut eintreten und die Attraktionen besichtigen. Hier gibt es zu sehen den ‚größten Menschen der Erde’, ‚den finnischen Goliath’ – warum denn nicht, es kostet nur fünfzehn Rappen.

Drinnen herrschte feierliches Halbdunkel. Es befanden sich nur wenig Menschen in dem scheunenartig weiten Raum. Die Stille hier war erstaunlich; eine verwesende Samtportière schien, mit beinah magischer Kraft, jeden Laut von draußen fern zu halten. Die Augen der Besucherin mußten sich erst an das rötliche Dämmerlicht gewöhnen. Nicht ohne Mühe tappte sie sich zu den schmalen, lehnenlosen Bänken. Marie-Luise glaubte zu bemerken, daß außer ihr nur noch zwei Kinder anwesend waren, ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen; sie saßen eng aneinander gerückt und hielten sich an den Händen gefaßt. Ihre Münder waren weit geöffnet wie ihre Augen. Sie sahen gar nicht belustigt aus, sondern eher verängstigt.

In der Tat gab es Anlaß genug, sich zu fürchten. Das Erschreckende an dem jungen Mann, der vor dem öden Scheunen-Parkett auf dem Podium stand, war nicht so sehr seine schier unglaubliche Körperlänge, als die unbeschreibliche, ungeheure, wahrhaft bestürzende Traurigkeit seines Gesichtes. Es war eine sehr runde, sehr kleine, rote, babyhaft verhutzelte, von zahllosen Fältchen melancholisch durchzogene Miene: Marie-Luise meinte noch nie so eine hoffnungslos verzagte gesehen zu haben. Über dem leer-verzweifelten Blick waren die gewölbten Brauen drollig mit dem Kohlestift nachgezogen wie bei einem Clown. Auch die Tracht des Riesen hatte humoristischen Charakter: grünes Tiroler-Hütchen über der gräßlichen Baby-Fratze; grell karierte, zu enge Hosen; kurzes rotes Bolerojäckchen. Umso respektabler war der Herr gekleidet, der neben ihm stand und ihm kaum an die Brust reichte, obwohl er einen Zylinderhut trug. Im Gehrock, mit weißen Gamaschen und weißen Handschuhen, sah er wie ein etwas schäbiger Diplomat aus. Mit einem zierlichen, leichten Stab – wie Dirigenten oder Zauberkünstler ihn benützen – wies er, nachlässig-anmutig, auf den Trauerriesen. „Mein junger Freund ist der größte Mensch der Erde”, erklärte der Herr im Gehrock mit müde näselnder Stimme. „In weitem Abstand”, fügte er verächtlich hinzu, „folgt der sogenannte Riese Jack, zweieinhalb Zentimeter kleiner als mein junger Freund.” – Die Aussprache des Eleganten hatte einen feinen, unbestimmbar exotischen Akzent. „Mein junger Freund”, fuhr er fort, „ … äh’ …” Und nun schien er vor Langerweile schlechterdings nicht weiter zu können. Er gähnte ungeniert und verstummte mehrere Sekunden lang – ehe er einen frischen Anlauf nahm und hastig weiter berichtete: „Mein junger Freund ist zu Helsingfors in Finnland geboren.” Das Wort „Helsingfors” servierte der Gehrock wie eine besondere Delikatesse, alle Vokale auf eine höchst elegante und übrigens völlig willkürliche Art verändernd. „Seine beiden Eltern hatten normale Größe, seine Geschwister waren eher etwas zu klein, er selber war schon im zarten Alten von vierzehn Jahren zwei Meter lang, seine Verlobung mußte auseinander gehen, weil die Braut sich auf die Dauer vor seinem Körpermaß ängstigte, mein junger Freund ist physisch und geistig völlig gesund, seine Lieblingsspeise ist die bekannte dänische rote Grütze, willst du nicht ein Liedchen singen, Gustav?” Der Herr ließ den Zeigestab sinken, wandte sich angewidert von seinem Schützling ab, und, ohne auch nur Goliaths Kopfnicken abzuwarten, verließ er mit hastig trippelnden Schritten, als hätte man ihn beleidigt, das Podium. Der lange Gustav hub zu singen an:

„Muß i denn, muß i denn

zum Städtele hinaus …”

Die Stimme des armen Riesen kontrastierte verblüffend zum Format seines Körpers. Es war eine schrecklich kleine, durchaus verkümmerte Stimme, was sich da hören ließ; eine zwergische Stimme – hoch, dünn und piepsend. Ein mißzufriedener Säugling gibt so winzige, greinende Töne von sich. „Zum Städtele hinaus …” wiederholte weinerlich die Mißgeburt, und Marie-Luise dachte: ‚Warum singt er wohl gerade dieses Lied? Vielleicht ist es seine Lieblingsmelodie, oder er kennt gar keine andere … Schrecklich: er kennt wohl keine andre; dieses Lied ist gewissermaßen alles, was er kann und hat …’

„Und du, mein Schatz, bleibst hier …”

An dieser Stelle kam aus dem dunklen Hintergrund der Scheune ein leiser Schrei. Eine Dame hatte ihn ausgestoßen; nun erhob sie sich hastig; ein klein wenig schwankend bewegte sie sich auf die Ausgangstür zu. Da war es an Marie-Luise, leise zu schreien. Sie erkannte die Dame, es war eine alte Freundin, die schöne Tilla Tibori, eine Schauspielerin.

Auch Frau von Kammer sprang auf, „nicht möglich”, rief sie, „du hier, Tilla!” Marie-Luise küßte Tilla auf beide Wangen, hinter ihnen wimmerte das Wunder von Helsingfors noch einmal: „Und du, mein Schatz, bleibst hier …” Nun sang er also nur noch für die beiden Kinder in der ersten Reihe. Diese übrigens hatten, während Marie-Luise und Tilla sich umarmten, ein schrilles kleines Kichern hören lassen – sei es, weil sie die Kußzeremonie zwischen den Damen drollig fanden; sei es, weil der Riese sie amüsierte. Die Kinder, in der Scheune mit Goliath allein gelassen, rückten noch enger aneinander, und flüsterten sich zu: „Uii … Jetzt wirds fein!” – als sollte der Hauptspaß nun erst beginnen, während die Veranstaltung in Wahrheit doch schon ihrem Ende zuging.

Die Freundinnen standen im Freien; Lärm, Geruch und billiges Gefunkel des Volksfestes empfingen sie. Marie-Luise und Tilla hatten es eilig, den Bezirk des Rummelplatzes hinter sich zu lassen. Zunächst waren sie Beide viel zu überrascht von dieser Wiederbegegnung – nach so vielen Jahren! und in so groteskem Milieu! –, um Zeit zur Gerührtheit zu finden. Als sie aber die stillere Seepromenade erreicht hatten, legten sie sich gegenseitig die Arme auf die Schultern und betrachteten sich. Beide mußten denken: Mein Gott, die Ärmste – sie ist auch nicht jünger geworden. Und ein Übermaß an Verkehr scheint sie auch nicht gerade zu haben, wenn sie sich alleine zu so traurigen Belustigungen begibt …

Marie-Luise und Tilla waren als Schulmädchen in Hannover gute Freundinnen gewesen, obwohl Tilla mehrere Jahre jünger als die kleine von Seydewitz war. Sie hieß damals nocht nicht Tibori – diesen Namen hatte sie sich erst zugelegt, als sie zur Bühne ging –, sondern Hamburger. Ihrem Vater gehörte das größte Warenhaus am Ort. Die Hannoveraner Gesellschaft hatte den intimen Verkehr zwischen den jungen Mädchen – ein Umgang, der vom alten General Seydewitz nicht nur geduldet, sondern geradezu protegiert wurde – als etwas anstößig empfunden. Hamburgers waren zwar respektable Leute, auch wohlhabend; aber die kleine Tilla sah eben doch unerlaubt orientalisch aus mit ihren weiten, mandelförmig geschnittenen, dunklen, verführerisch feuchten Augen. Marie-Luise ihrerseits, spröd und ziemlich ungelenk, wie sie war, adorierte die reizbegnadete Freundin.

Erst als Tilla anfing, in Berlin Erfolge zu haben, und Marie-Luise den Professor von Kammer heiratete, begann die Entfremdung. Wie lang war das her? „Long long ago”, wie die Tibori nun konstatierte. Ihre Stimme hatte noch den vollen, süßen und tiefen Klang; nur schien jetzt ein Unter- und Nebenton von Klage mitzuschwingen. Wie alt mochte die Schauspielerin sein? Marie-Luise rechnete geschwind, mit jener grausamen Genauigkeit, die Frauen stets haben, wenn sie das Alter ihrer Freundinnen kontrollieren. Sie kam zu dem Resultat: mindestens vierundvierzig. Dafür sah sie fabelhaft aus. Immer noch war sie die auffallend attraktive Erscheinung – hochelegant, in ihrem leichten, dunkelblauen, mit schwarzem Schleier etwas phantastisch drapierten Kostüm, la belle Juive, immer noch, bei deren Anblick Herren animiert mit der Zunge schnalzen. Aber gewisse Schärfen gab es nun doch in Tillas schönem Gesicht – wie die aus echter Sympathie und leichter Schadenfreude gemischte Aufmerksamkeit der älteren Freundin konstatierte –: der dunkelrot gefärbte, große, stark geschwungene Mund wurde an den Winkeln von zwei müden kleinen Falten gesenkt; die Haut schien ein wenig angegriffen, matt und flaumig geworden, und die Beweglichkeit der etwas zu großen Nüstern hatte einen nervösen Charakter – den Charakter eines unruhigen, nach erregenden Gerüchen gierigen Schnupperns bekommen.

Sie gingen, Arm in Arm, die Seepromenade entlang, weg von der Stadt. Die Bogenlampen wurden seltener, streckenweis lag der Weg im Dunkel, von den Bänken, die diskret zwischen den Gebüschen verborgen lagen, flüsterten die Liebespaare, ihre gedämpften Gelächter vermischten sich mit dem monotonen, ganz leisen Plätschern des Sees. Die Freundinnen blieben stehen und schauten über das Wasser. „Hübsch, wie drüben, auf dem anderen Ufer die Lichter allmählich ausgehen”, sagte Marie-Luise. „Und wie die letzten sich im Wasser spiegeln …”

Beide mußten daran denken, wie oft sie früher – Arm in Arm, wie jetzt – durch eine milde Nacht wie diese spaziert waren – und Wasser hatte es damals wohl auch gegeben, und Lichter, die sich darin spiegelten. „Es ist wirklich beinah dreißig Jahre her …” sagte eine von ihnen; vor einer halben Stunde hatten sie die erschreckende Zahl einander noch nicht eingestehen wollen. Und Tilla, nach einer großen Pause: „Es ist, um schrecklich sentimental zu werden … Ich fürchte, wir sind es schon. Gehen wir lieber in ein Café.” –

Im Garten des Café „Terrasse” war es noch ziemlich voll. Unter den Bäumen hatte man bunte Lampions angebracht; es sah nach Italienischer Nacht aus, nach „garden-party”, und mondäner sommerlicher Geselligkeit. – „Hier ist es ja wirklich ganz nett”, bemerkte Marie-Luise, die sich neugierig und befangen umschaute. „Warum sollte es denn nicht ganz nett sein?” lachte Tilla. „Bist du denn noch nie hier gewesen?” – Darauf Marie-Luise, etwas beschämt: „Nein – zufällig noch nicht … Ich glaube, meine Tochter kommt manchmal her”, fügte sie mit einem gewissen Stolz hinzu. Tilla wurde vom Nachbartisch gegrüßt. „Es sind Kollegen von mir”, erklärte sie. „Mit einigen von ihnen habe ich noch voriges Jahr in Frankfurt zusammen gespielt. Die sind jetzt hier, am Schauspielhaus, engagiert.” – Da haben wir also die „Emigrantenkreise”, dachte Marie-Luise. So arg sehen sie gar nicht aus. Ob Bekannte von Tilly darunter sind?

Nun erst – sie waren schon über eine Stunde zusammen – begannen die Freundinnen so recht, sich auszufragen: Was treibst du in Zürich? Wie lange bist du schon hier? Tilla berichtete, seit einem Vierteljahr habe sie alle ihre Energien darauf konzentriert, perfekt englisch zu lernen. – In Zürich? wunderte sich Marie-Luise. London sei ihr zu teuer gewesen, erklärte Tilla. „Hier lebe ich – bei einem Freund.” Dabei lief eine leichte Röte über die flaumige, strapazierte Haut ihres schönen Gesichtes. Sie senkte die Lider mit den langen, starren, künstlichen Wimpern und betrachtete interessiert ihre langen, silbrig-rosa gefärbten Fingernägel. Zwischen den Augenbrauen trat plötzlich ein angestrengter, gequälter Zug hervor. „Es ist zu dumm”, sagte sie, leise und dunkel – ihre Stimme hatte jetzt einen seltsam hohlen Ton –, „es ist zu dumm: wirklich. Man hat nichts zurückgelegt, einfach gar nichts. Man hat gut verdient”, rief sie und hatte ein heiseres kleines Lachen. „Man hat noch besser gelebt – und nun sitzt man da!” Mit einer weiten, theatralisch stilisierten Armbewegung, welche durch die schwarze Schleier-Draperie auf ihrem Kostüm besonders effektvoll gemacht wurde, schien sie andeuten zu wollen, wie man nun „dasäße”. Die Kostbarkeit ihrer Toilette, die wunderbare Herrichtung ihres Gesichtes verloren im Zusammenhang mit ihren Worten und dem Klang ihrer Stimme den Charakter des Selbstverständlichen, nachlässig Eleganten, den sie zunächst vortäuschten. Alles, was an Tilla Tibori noch schön war, wirkte nun wie das Ergebnis harter, permanenter Anstrengungen; der Gewinn eines langen, wahrscheinlich oft qualvollen Kampfes. „Ein Agent will mich nach Hollywood bringen, sowie mein Englisch gut genug ist”, sagte sie noch, etwas hastig. „Nun – man muß alles versuchen …”

„Und du?” erkundigte sie sich dann. „Wir reden ja nur von mir, das ist langweilig. Warum bist du denn eigentlich von Deutschland weg, du, mit deiner garantiert reinen Rasse?”

Marie-Luise schwieg ein paar Sekunden lang, als müßte sie sich erst besinnen, warum sie eigentlich von Deutschland fort war. Schließlich sagte sie nur: „Das war doch ganz selbstverständlich. Ich bin die Frau eines Juden gewesen. – Und glaubst du denn, daß ich mich von meinen erwachsenen Töchtern verachten lassen wollte?” – Sie erschrak sofort selber ein wenig darüber, daß sie diesen Satz ausgesprochen hatte. Er war aufrichtiger, als sie jemals zu reden – und als sie meistens zu denken wagte. Tilla hatte ein zweites Glas Portwein für sie bestellt. Frau von Kammer, an Alkohol nicht gewöhnt, spürte die Wirkung.

‚Wie wunderbar hochmütig sie jetzt aussieht!’ – fand ihre Freundin. ‚Genau dieses Gesicht hat sie als junges Mädchen gemacht, wenn eine Lehrerin oder Kameradin sie geärgert hatte und sie mit ihrem vernichtenden Achselzucken zu sagen schien: Was könnt ihr mir anhaben? Was soll ich mich mit euch abgeben? Ich bin die Baroness von Seydewitz!’

„Du mußt mir von deinen Töchtern erzählen”, bat die Schauspielerin. „Marion ist doch sicher schon eine große Dame. Und wie heißt die Zweite?” „Tilly”, sagte Marie-Luise. „Ja, mein guter Alfred mochte den Namen, und mir machte es Freude, sie nach dir zu nennen.” – „Hoffentlich bringt es ihr Glück”, sagte Frau Tibori, plötzlich merkwürdig ernst, den Blick starr geradeaus gerichtet.

Nach einer Pause war es Marie-Luise, die wieder zu sprechen begann. „Haben wir uns denn gar nicht mehr gesehen und nicht einmal korrespondiert, seit Tilly geboren ist?” Beide waren erstaunt, auch beschämt. „Jetzt wird das anders”, versprachen sie sich. „Mein Gott, was muß erst alles passieren, damit zwei alte Dinger wie wir – die wir doch wahrhaftig mal zueinander gehört haben – sich wieder finden!”

„Nächstens werde ich dir meine Tilly vorstellen”, verhieß Marie-Luise. „Ein famoses Mädel. Sie ist gerade für ein paar Tage in Arosa, mit Freunden.”

Tilly war keineswegs nach Arosa gefahren, vielmehr nach Berlin. Ihre Unruhe, ihre Angst um Konni waren übermäßig groß geworden; es kam keine Nachricht von ihm, sie wußte nicht, wo er war, nicht einmal, ob er noch lebte; dies war nicht auszuhalten, keine Folter konnte ärger sein. Den Warnungen ihrer neuen Züricher Freunde zum Trotz, entschloß sie sich zu der Reise.

Es war merkwürdig, am Anhalter Bahnhof anzukommen; den Potsdamer Platz wieder zu sehen, die Tiergarten-Straße, den Kurfürstendamm. Tilly ward das Gefühl nicht los, daß sie träume. Vielleicht, weil sie in so vielen Nächten während der letzten Wochen von all dem geträumt hatte. Wie fremd – wie vertraut schaute die Gedächtniskirche sie an! Das Warenhaus „Kadewe” am Wittenbergplatz, die Kinos und Cafés der Tauentzienstraße, die staubigen Bäume wie traum-fremd, wie traumvertraut! Sie war kaum vier Monate fort gewesen, es hatte sich nichts verändert. – Es hatte sich alles verändert. Sogar der Himmel über Berlin sah anders aus als früher; er war glasig erstarrt – schien es Tilly – und er schickte ein fahles Licht.

Ihr Aufenthalt war kurz und übrigens völlig ergebnislos. Sie logierte bei einer Freundin, die ihrerseits in Beziehung zu den Genossen stand. Mit diesen traf sich Tilly, an dritter Stelle, nachts, unter allen erdenklichen Vorsichtsmaßregeln. Einen der jungen Männer hatte sie schon früher durch Konni kennen gelernt: er war Student der Philosophie und trug eine große Hornbrille im kindlich weichen, rosigen Vollmondgesicht. Der andere schien ein strebsamer, gescheiter Proletarier zu sein; der Anzug kleinbürgerlich-korrekt; die Miene von einem verbissenen, fast drohenden Ernst. Sie stellten sich als Fritz und Willy vor, sprachen mit gedämpften Stimmen – obwohl man sich in einer leeren, vielfach verschlossenen, isoliert gelegenen Wohnung befand –, und hatten die nervöse Gewohnheit, ständig um sich zu blicken, zuweilen, mitten im Satze, jäh aufzuspringen und zur Tür zu eilen, um festzustellen, ob sich hinter ihr jemand verbarg.

Von ihnen erfuhr Tilly, daß Konni sich im Konzentrationslager Oranienburg befinde; der Student mit dem runden Gesicht hatte ihn einmal besuchen können und versicherte: „Es geht ihm leidlich. Man hat ihn verhältnismäßig wenig geprügelt.” – „Verhältnismäßig wenig wiederholte Tilly und schüttelte langsam den Kopf. „Es ist unfaßbar … unfaßbar …” Sie sagte es mit einer ganz leisen Stimme. Dann fragte sie schüchtern: „Wie lange, glauben Sie, wird man ihn dort behalten?” Die jungen Männer, die sich Fritz und Willy nannten, sahen sich an und hatten beide ein kaum merkbares Lächeln, das gutmütigen Spott und etwas Bitterkeit ausdrückte. Endlich sagte der Proletarische: „Wenn man das wüßte …”

Es gab ein Schweigen. Endlich stand Tilly auf, machte ein paar Schritte durchs Zimmer, und erklärte: „Ich muß ihn sehen.” Da erwiderten die Beiden, wie aus einem Munde:

„Das geht nicht.”

Sie könne ihren Konni keinesfalls besuchen –, setzten sie der armen Tilly auseinander. Sie sei der Gestapo sehr wohl bekannt; sei denunziert worden; man argwöhne, daß sie bei der Sache mit den Flugblättern im Universitätsgebäude mitgemacht habe. Tilly warf ein: „Das ist aber Unsinn!” Und der Philosophie-Student: „Darauf kommt es nicht an. – Ich gebe Ihnen den Rat: Hauen Sie ab! Fahren Sie möglichst schnell dorthin, woher Sie gekommen sind!” Es klang barsch, beinah unfreundlich. „Hier können Sie nichts nützen, nur schaden. Die illegale Arbeit ist nicht jedermanns Sache; dazu braucht man mehr als die rechte Gesinnung, und sogar mehr als nur Courage; nämlich: Erfahrung; Training – wie zu einem Sport.” Versöhnlicher fügte er hinzu, da er das Mädchen mit den Tränen kämpfen sah: „Wenn ich den Konni wieder mal sehen sollte, werde ich ihm erzählen, daß Sie hier gewesen sind; daß Sie an ihn denken. – Vielleicht lassen sie ihn doch bald raus …”, sagte er tröstlich, gerührt durch den Anblick von Tillys zitterndem Kinn und ihren Augen, die naß wurden. –

Frau von Kammer wunderte sich darüber, daß ihre Tochter durchaus nicht braungebrannt und frisch, vielmehr recht blaß und erschöpft von ihrem Ausflug zurück kam. – Tilly berichtete dem H. S., nach Prag, über ihre mißglückte Reise. „Du hast also recht gehabt,” – da er sie in allen seinen Briefen „Du” nannte, hätte sie es unhöflich gefunden, ihn mit „Sie” anzureden –, „es war sinnlos. Ich habe den Konni nicht sehen können. Die Nazis zeigen ihre Opfer nicht her. Berlin hat sich schrecklich verändert. Ich war nur drei Tage dort und habe fast die ganze Zeit geweint.”

Während sie das Briefcouvert schloß, dachte sie – zum wievielten Male?–: ‚Was mag das wohl für ein Mensch sein, dieser H. S.? Ist er groß oder klein? Blond oder schwarz? Wie heißt er? Ist er ein intimer Freund von Konni?’

‚Was mag das wohl für ein Mensch sein, dieses Mädchen?’ dachte Hans Schütte. Er wohnte mit seinem Freund Ernst zusammen in einem recht engen Zimmer. Das Zimmer kostete 120 Tschechenkronen im Monat. Es lag unbequem, etwas außerhalb der Stadt, in Koširše. Man brauchte vom Zentrum aus zwanzig Minuten mit der Trambahn. Die Trambahn fuhr eine trostlos lange Vorstadtstraße hinunter: die Pilsener-Straße. Hans und Ernst lernten es allmählich, auch ihren tschechischen Namen auszusprechen; er lautete: Plzenskă.

Hans war fünfundzwanzig, Ernst siebenundzwanzig Jahre alt. Ernst war Sozialdemokrat gewesen und hatte in Berlin ein gutes Auskommen gehabt, erst als Schupo; dann als Privatchauffeur eines sozialdemokratischen Polizeipräsidenten. Er war ein nett aussehender Bursche von slawischem Gesichtstyp, wie man ihn in Berlin häufig findet. Hans war kleiner und stämmiger als Ernst: mit rundem Schädel, auf dem er das dichte, dunkle Haar kurz geschoren trug; runden, gutmütigen, etwas vortretenden braunen Augen.

Er hatte keiner Partei angehört, war aber mit den Kommunisten in Verbindung gewesen und hatte mit ihnen zusammen manchmal „ein Ding gedreht”, wie er es nannte. Das heißt: er hatte sich gelegentlich an kleinen Aktionen gegen die Nazis oder am Saalschutz bei Versammlungen beteiligt. Er war brauchbar und tapfer; aber er konnte sich nicht unterordnen und mußte sich immer wieder sagen lassen, daß er „keine Disziplin” habe. Wenn man ihn aufforderte, in die Partei einzutreten, erklärte er: „Das ist nichts für mich. Ich passe in keine Organisation. Überhaupt bin ich kein Politiker. Mir fällt nur auf, daß es in dieser Welt sehr viel Dreck gibt. Ich weiß noch nicht recht, wie man den am besten wegschafft. Oft möchte ich am liebsten alles zusammen hauen. Es gibt zu viel Scheiße.”

… Im Herbst 1933 kamen sie beide gerade rechtzeitig über die Grenze – illegal, ohne Pässe.

Zu Anfang wurden sie in Prag unterstützt: Ernst von seiner Partei; Hans von einer linken humanitären Organisation, an die kommunistische Freunde ihn empfohlen hatten.

Ihr Leben war ganz erträglich. Beide hatten noch niemals in einer anderen Stadt als Berlin gelebt. Nun lernten sie plötzlich etwas Neues kennen. Sie fanden, daß Prag wundervoll war. Stundenlang konnten sie sich herumtreiben: am Wilson-Bahnhof, auf dem großen Wenzelsplatz, wo es die verführerischen Automaten-Buffets gab, oder am „Graben”, wo sie in die Auslagen der eleganten Geschäfte starrten; auf den Moldau-Brücken, oder am anderen Ufer, auf der geheimnisvollen „Klein- Seite”. Sie stiegen zum Haradschin hinauf und sagten: „Hier wohnt der alte Masaryk: ein sehr anständiger Kerl.” Sie fanden es aufregend im engen Alchymisten-Gäßchen – „da haben sie früher mal Gold gemacht! Junge Junge!” –, und sie tauschten Erinnerungen an die Geschichtsstunden, als sie nebeneinander vor den hohen Mauern standen, die das Wallenstein-Palais umgeben. Vorm Czernin-Palais sagten sie: „Mensch, det is pures Rokoko! So wat Schönes haben wir nich, in Berlin!” Sie waren sehr empfänglich für die mannigfachen Reize der Stadt Prag. Sie lernten auch nette Mädchen kennen, die relativ wenig Geld verlangten. Manchmal nahmen sie sich zwei Mädchen mit, in ihr enges Zimmer; manchmal nur eines, weil das billiger kam.

Jede Woche zwei- oder dreimal trafen sie in einem kleinen Bierlokal ein paar Kameraden aus Deutschland, mit denen sie die politische Situation diskutierten. Sie untersuchten, warum alles so gekommen war, und was man dafür tun könnte, daß es anders würde. Ein Gescheiter, mit Hornbrille auf der Nase, erklärte: „Wir sind selber schuld an dem ganzen Unglück! Wenn die Linksparteien einig gewesen wären, hätte der Hitler es nie geschafft.” Dann nickten sie alle nachdenklich. Aber einer von der Kommune sagte, halb scherzhaft, halb wirklich böse zu Ernst gewendet: „Mit euch Sozialfascisten konnte ein anständiger Mensch doch nicht zusammen gehen!” – Daraufhin Ernst: „Ihr Kommunisten seid gar keine deutsche Partei gewesen, ihr wart doch abhängig von den Russen! Und was habt ihr denn für eine Politik gemacht? Eure schlaue Theorie war: die Nazis sollen nur kommen, die werden bald abgewirtschaftet haben, und dann sind wir an der Reihe. Na, da haben wir die Pastete …” Der mit der Hornbrille lachte bitter: „Da streiten die sich schon wieder!!” – Hans sagte: „Wir hätten eben nur eine große Partei haben dürfen. In die hätte ich vielleicht dann auch gepaßt …” –

… Die Monate vergingen. Hans und Ernst hatten Sorgen; die Unterstützung war ihnen reduziert worden. Sie machten Gelegenheitsarbeiten; aber das war unerlaubt und konnte mit der Ausweisung bestraft werden. Es ging nicht anders, wenn sie ihr Zimmer halten und nicht in eines von den „Lagern” ziehen wollten, wo viele von ihren Kameraden untergebracht waren. Schon das Wort „Lager” war unangenehm; es erweckte Erinnerungen ans Dritte Reich … Hans und Ernst trugen Koffer von den Bahnhöfen in die Hotels; sie halfen in einer Gärtnerei; spülten Teller ab; verkauften deutsche antifascistische Literatur in den Cafés … Nach und nach kam das Heimweh. „Berlin war doch besser”, sagten sie immer häufiger. Die lange Trambahnfahrt vom Wenzelsplatz nach Koširše wuchs ihnen zum Halse heraus. Sie fanden auch, daß die Stadt schmutzig war; der Kohlenstaub machte die Hemden, das Gesicht und die Hände schwarz. „In Berlin ist man nicht so dreckig geworden”, meinten sie verdrossen, wenn sie sich abends wuschen. – Dabei zitterten sie immer davor, ausgewiesen zu werden.

Hans gebrauchte immer häufiger seine alten, grimmigen Redensarten: „Man sollte alles zerschlagen. Es muß ein großer Krach kommen, der alles kaputt macht. Alles ist Scheiße.”

Manchmal aber sagte er zu seinem Freund Ernst: „Ich komme mir selbst schon ganz ulkig vor, weil ich mich an so komische Sachen klammere und über Dinge nachdenke, die in Wirklichkeit sicher ganz unwichtig sind. Dieses Mädel da, die Freundin vom Konni, der ich immer Briefe schreiben muß –: ich habe so ein Gefühl – die ist eine brave Person; die wär vielleicht was für mich; die könnte mir vielleicht helfen …”

„So’n Quatsch”, sagte Ernst.

Kikjou war bei Martin geblieben. Das Zimmer im Hotel „National”, wo es nach Staub und nach Jasmin-Parfum roch, war eigentlich zu eng für zwei Personen. Aber sie merkten es nicht.

Sie sahen fast niemanden, immer nur einer den anderen. Manchmal trafen sie Marion für eine halbe Stunde. „Marion ist wunderbar”, sagten sie, wenn sie sich wieder von ihr getrennt hatten. „Aber ohne sie ist es doch noch besser.”

Wie lange dauerten diese ersten Tage der unendlichen Gespräche und der unendlichen Umarmungen? Eine Woche, oder zwei, oder drei? – In Wahrheit mochten es vielleicht zehn Tage sein.

Als Martin eines Morgens aufwachte, kauerte Kikjou neben ihm im Bett und schaute ihn sinnend an aus den vielfarbigen Augen. Den Unterkiefer hatte er vorgeschoben; mit beiden Händen hielt er einen Strohhalm, an dem er eifrig kaute. Sein bleiches Gesichtchen glich dem Antlitz eines müden, zarten kleinen Affen.

„Mon petit singe!” lachte Martin. „Was ist mit dir los? Du siehst aus wie ein zwölfjähriger Junge, der eine fürchterliche Unart ausbrütet. Was hast du vor?”

„Ich muß wegfahren”, erwiderte Kikjou, immer noch den Strohhalm zwischen seinen Zähnen. Und als Martin sich erschrocken erkundigte: „Wohin?” – sagte er, mit einer sanften Stimme, die aber keinen Widerspruch duldete: „Nach Belgien, zu meinem Onkel. Vielleicht wird er mir verzeihen.” – Was der Onkel denn ihm verzeihen solle, wollte der fassungslose Martin wissen. – „Daß wir so viel gesündigt haben”, war die ernste Antwort des kleinen Kikjou.

Nun ärgerte sich Martin ein bißchen. „Wenn das Sünde ist …”, machte er beleidigt.

Kikjou legte ihm begütigend die Hand auf die nackte Schulter. „Sei nicht böse!” Dabei hatte er die Augen voll Tränen. „Ich weiß nicht, was Sünde ist. Niemand weiß es. Sogar der Onkel weiß es wohl nicht genau. Vielleicht ist dem lieben Gott besonders wohlgefällig, was die Menschen in ihrer Torheit für entsetzlich halten. Uns wird nicht mitgeteilt, wann wir Anstoß und wann wir Freude erregen. – Aber ich brauche ein paar stille Tage, um nachzudenken.” –

Als Kikjou abgereist war, wurde Martin sehr traurig. Wenn er mit Marion, Helmut Kündinger und den anderen Freunden in einem Montparnasse-Café saß, sehnte er sich nach der Einsamkeit seines Zimmers. Dort aber war es noch ärger, und er lief zu Professor Samuel oder zur Schwalbe, weil er es nicht aushielt, allein zu sein. Kikjou hatte die Adresse des frommen Onkels in Belgien nicht verraten. „Ich werde von mir hören lassen – wenn es Zeit ist …”, hatte er beim Abschied geheimnisvoll gesagt. Martin konnte ihm nicht einmal schreiben.

Manchmal dachte er: ‚Es ist vielleicht gar nicht Kikjou, nach dem ich mich sehne. Ich sehne mich nach Berlin. Ich habe Heimweh nach den Straßen von Berlin, nach ein paar Lokalen und ein paar Menschen, und vielleicht sogar nach den alten Korellas … Ich habe mich doch recht an sie gewöhnt in all den Jahren, obwohl sie mir oft entsetzlich auf die Nerven gingen. Es war so angenehm, Menschen zu haben, die sich immer Sorgen um einen machten. Man braucht das, es erhöht das Selbstgefühl …’

‚Nein’, beschloß er dann wieder, ‚in Berlin möchte ich gar nicht sein. Es ist gräßlich dort. Ich bin froh, daß ich diese Stadt nicht mehr sehen muß. Heimweh nach der Stadt habe ich sicher nicht. Es ist die eigene Kindheit, nach der ich Heimweh habe. Ich möchte wieder mit Marion im Garten Murmeln spielen oder Krocket, und mich vom Vater ein bißchen schimpfen lassen, weil ich zu spät nach Hause komme zum Abendessen. Was für gute Zeiten sind das gewesen! Nach ihnen sehne ich mich … Sogar das Krank-sein hatte seine Reize. Die schmeichelhafte Sorge, von der man umgeben wurde, war dann am stärksten und zärtlichsten … Mutter hatte viel Talent zur Krankenpflegerin … Wie alt mag ich gewesen sein, als ich die Nieren-Koliken hatte, die so ungeheuer schmerzhaft waren? … Fünfzehn oder sechzehn Jahre alt … Sonderbar eigentlich: später habe ich nie wieder mit den Nieren zu tun gehabt … Die arme Korella rang vor Entsetzen die Hände, wenn ich mich in Schmerzen wand. Vielleicht krümmte ich mich sogar mehr, als unbedingt nötig war, weil es mir Vergnügen machte, Mutter die Hände ringen zu sehen … Außerdem hatte ich wohl auch noch andre Gründe, meine Qualen zu übertreiben. Denn ich mochte das Mittel sehr gern, das der Hausarzt mir verabreichte. „Da müssen wir wohl etwas Linderndes geben,” sagte der Onkel Doktor und schmunzelte wie der Weihnachtsmann, ehe er die Geschenke auspackt. Dann applizierte er mir eine Spritze ins Bein. Ich hatte erst etwas Angst vor dem Stich; aber bald gewöhnte ich mich daran. So angenehme Gefühle kamen über mich, nach der Injektion … Stundenlang lag ich mit geschlossenen Augen auf dem Bett; aber geschlafen habe ich nicht. Obwohl ich wach war, kamen die Träume. Recht hübsche Träume, wie ich mich erinnere … Die Nieren-Schmerzen, so arg sie waren, nahm ich gern in Kauf, um der reizenden Träume willen …’ –

An diesem Abend besuchte Martin allein eine Music-Hall im Faubourg Montmartre. Dort trat ein Clown auf, über den er sich früher einmal in Berlin amüsiert hatte. Er versprach sich eine Zerstreuung davon, ihn wieder zu sehen. Aber das Programm langweilte ihn. Der berühmte Komiker sollte erst nach der Pause erscheinen. Martin hatte sich eine billige Karte genommen, die ihn nur zum Aufenthalt im „Promenoir”, dem Steh-Parterre, berechtigte. Die Luft dort war heiß und stickig. Martin fühlte sich müde und angewidert. Im Zwischenakt trank er einen doppelten Cognac am Buffet. Dann verließ er das Theater und ging zum Boulevard Clichy hinauf.

Er trank noch mehrere Cognacs in mehreren kleinen Bars, und schließlich blieb er in einem stillen Café, nahe der Place Blanche, sitzen. Er bestellte sich einen Pernod Fils; dann noch einen. Der Kopf wurde ihm ziemlich schwer. ‚Hier ist es relativ angenehm’, dachte er und legte die heiße Stirn in die Hände. ‚Hier bleibe ich eine Weile. Wenn ich sehr spät nach Hause komme und ziemlich viel Pernod getrunken habe, werde ich vielleicht schlafen können.’

Es gab fast keine Gäste im Lokal. Das elektrische Klavier spielte die Ungarische Rhapsodie von Liszt. Der Barmixer – ein sehr magerer, bleicher Bursche mit tiefen Schatten um die trostlos blickenden Augen – unterhielt sich, über die Theke weg, mit einem Mann, der Martin den Rücken zudrehte. Es kam dem Einsamen vor, als ob die beiden über ihn sprächen. Der Mixer schaute mehrfach zu ihm hin, und der Mann an der Bar drehte sich einmal um, um ihn schnell und scharf zu fixieren. Aber Martin war nicht neugierig auf die Geheimnisse der Zwei. ‚Vielleicht überlegen sie sich, ob sie mir ein Mädchen verkaufen können’, dachte er verächtlich. ‚Wahrscheinlich die dicke Alte, die dort drüben in der Ecke schlummert.’ Er schloß die Augen. ‚Diese Ungarische Rhapsodie ist ein hundsordinäres, aber immer wieder effektvolles Stück. Komisch, wie mich das rührt … Jetzt könnte ich weinen. Aber das wäre ein zu idiotisches Benehmen: einsam in einer kleinen Montmartre-Bar sitzen, diese gemeine Musik hören und Tränen vergießen … Wenn ich nur Kikjous Adresse wüßte, dann könnte ich ihm gleich ein paar Zeilen schreiben – das wäre jetzt die beste Beschäftigung … Seine Geheimnistuerei mit dem katholischen Onkel ist etwas kindisch … Ob er wirklich an den lieben Gott glaubt? … Alter Herr Korella wurde immer ein bißchen gereizt, wenn Mama den lieben Gott erwähnte. Liebe Hedwig, sagte er, der Junge ist wirklich schon zu groß, um ihm Ammenmärchen zu erzählen. Du weißt doch, ich mag das nicht. – Ein sehr aufgeklärter Mann!’ Martin kicherte höhnisch in sich hinein. ‚Alter Herr Korella ist Freidenker. Das hat auch etwas Drolliges. Schade, jetzt ist die Rhapsodie zu Ende. Die alte Hure dort drüben schnarcht aber wie drei besoffene Kutscher. Ich sollte mir noch einen Pernod kommen lassen. Der Mixer hat seltsame Augen. Es muß ja auch melancholisch stimmen, die ganze Nacht hier zu sitzen. Wahrscheinlich schläft er tagsüber. Martin, es ist ungesund, tags im Bett zu liegen –, hat alte Frau Korella mir oft versichert. Wieso eigentlich? … Ob meine alten Herrschaften sehr unter diesen Nazis zu leiden haben? Papa ist ein so guter Patriot. Als ich abreiste, hat Mama mir gesagt: Wir haben nichts zu fürchten, mein Sohn. Unser Gewissen ist rein. Rührende alte Frau! Vielleicht werde ich sie nie wieder sehen; das würde mir doch leid tun, ganz entschieden.’ – „Garçon, un autre Pernod, s’il vous plaît!” rief Martin und schlug die Augen auf. Da bemerkte er, daß der Mann, der sich vorhin nach ihm umgedreht hatte, neben ihm am Tische saß. – „Bon soir, Monsieur”, sagte der Mann.

Er sah sehr ramponiert aus und war wohl noch ziemlich jung. Sein gedunsenes, schlaffes Gesicht zeigte grau-weiße Färbung. Die Pupillen in den nah beieinander liegenden, dunklen und engen Augen waren auffallend klein: glitzernde schwarze Punkte, winziger als ein Stecknadelkopf. „Bon soir, Monsieur”, sagte auch Martin, und er dachte: ‚Wieso habe ich ihn nicht gehört, als er an den Tisch kam? – Mein Gott, der Mensch will sich mit mir unterhalten! Das hat mir gerade noch gefehlt!’

Wirklich begann der andere eine Konversation über gleichgültige Gegenstände. Er sprach über das Wetter, die Fremdensaison, die Kriegsgefahr und die hohen Preise. Martin antwortete, so gut er konnte, in seinem noch recht ungewandten, stockenden Französisch. ‚Worauf will er hinaus?’ überlegte er sich. ‚Der führt doch irgend etwas im Schilde …’ – Sein Nachbar hatte eine merkwürdig prüfende, fast lauernde Art, ihn zu beobachten. Zuweilen lächelte er, plötzlich und überraschend, als wollte er sagen: ‚Wozu machen wir uns gegenseitig etwas vor, lieber Freund? Es wird allmählich Zeit, daß wir zur Sache kommen!’ – ‚Zu welcher Sache?’ erwiderte Martin ihm stumm, nur durch Blicke. ‚Ich habe wirklich keine Ahnung, was Sie meinen, mein verehrter, ungesund aussehender Monsieur.’

Es gab im sinnlosen Gespräch eine Pause. Nach dem kleinen Schweigen erkundigte sich der Fremde, bedeutungsvoll grinsend: „Schmecken Ihnen die Drinks?”

„Ja – warum?” machte Martin erstaunt. „Es ist guter Pernod.”

„Sie sehen nicht wie ein Alkoholiker aus”, sagte der Mann.

„Es kommt auch ziemlich selten vor, daß ich trinke”, sagte Martin.

„Ach so”, nickte der Mann. Und, nach einer Pause, besonders hinterhältig: „Wahrscheinlich haben Sie gerade nichts – anderes?”

Martin deutete durch erstauntes Achselzucken an, daß er nicht begriff. Der andere, statt sich zu erklären, fragte nebenbei: „Wer hat Ihnen denn diese Adresse empfohlen?”

Welche Adresse? – wollte Martin wissen. „Ich bin zufällig hierher gekommen.”

„So so”, sagte der Fremde. „Da haben Sie Glück gehabt. Sie sind an der richtigen Stelle.”

Nun begann Martin sich zu interessieren. An was für einer Stelle denn? – fragte er gierig.

„Stellen Sie sich nicht dumm!” bat ihn der Bleiche, nun seinerseits etwas enerviert und gelangweilt. „Ich weiß doch, worauf Sie aus sind. Ich habe Blick für sowas.”

Und er flüsterte heiser, den Oberkörper vorgeneigt, das fahle dicke Gesicht mit den brennenden kleinen Augen unheimlich in Martins Nähe gerückt: „Ich bin Pépé.”

„Sehr erfreut”, sagte Martin. „Mein Name ist Fritz Meier.”

„Haben Sie noch nie von mir gehört?” Pépé schien enttäuscht. „Es ist ein Vertrauensbeweis, daß ich mich vorgestellt habe. Aber mein Instinkt trügt mich nie. Sowie ich Sie gesehen habe, wußte ich: Das wird ein Kunde für mich.”

„Was verkaufen Sie denn?” – Martin fing an, zu verstehen.

Pépé lachte wie bei einem guten Witz. Nachdem er sich genug amüsiert hatte, erklärte er, wieder ernst: „Ich habe eine ganz neue Sendung. Prima Ware. Heute erst aus Marseille gekommen.”

„Was ist es denn?” forschte Martin.

Pépé rückte noch näher an ihn heran. „Sie meinen – K. oder H.?” fragte er, anzüglich grinsend.

Martin erkundigte sich naiv: „Was ist das, – K. oder H.?”

Pépé lachte wieder ein bißchen, ehe er flüsterte: „Kokain oder Heroin! Sie scheinen aber wirklich noch ein rechtes Kind zu sein! Ein Anfänger, wie ich sehe! Deshalb gefallen Sie mir gerade. Sie sind sicher ein besserer Mensch – ein Intellektueller; sowas merke ich doch. – Man muß immer vorsichtiger werden! Die Polizei ist überall hinter uns her. Gestern ist wieder eine Razzia gewesen. Kommen Sie mal mit mir auf die Toilette!”

Er erhob sich und schlenderte zu der Türe, wo „Messieurs” stand. Martin zögerte eine Minute, ehe er folgte.

Es war eine recht primitiv eingerichtete Lokalität. Nicht einmal eine Sitzgelegenheit gab es; sondern, neben dem Abtritt, nur zwei Stützpunkte für die Füße. Übrigens roch es garstig.

Pépé hatte schon die Brieftasche gezogen. Er entnahm ihr ein Päckchen aus starkem, roten Papier. „Eine Qualität wie für Prinzen!” verhieß er noch, ehe er das Päckchen öffnete, und küßte sich, selbst entzückt von der Feinheit dessen, was er zu bieten hatte, die Fingerspitzen. „Schauen Sie mal, wie das funkelt! Wie lauter kleine Kristalle!” – Martin blickte neugierig hin; was er in der kleinen roten Hülle entdeckte, war ein grauweißes Pulver. „Es sind drei gute Gramm”, erklärte Pépé und wog seinen leichten Schatz liebevoll auf der Handfläche. „Ich lasse es Ihnen für 200 Francs.”

Martin, seinerseits ziemlich heiser flüsternd, brachte hervor: „Ich weiß aber gar nicht – ob ich Kokain überhaupt mag …” Und war doch schon fast entschlossen, dem verdächtigen Gesellen sein Zeug jedenfalls abzukaufen.

„Dummerchen!” Pépé sagte es beinah zärtlich, mit den gedunsenen, fahlen Lippen nah an Martins Ohr. „Ich sehe doch, daß du kein Typ für Koks bist. Koks ist eine Droge für kleine Huren. Du hast ein Gesicht wie ein Philosoph. – Es ist Heroin, feinste Sorte!” Martin spürte seinen Atem an der Wange; er ekelte sich, wandte sich aber nicht ab. „Wenn du mir nicht so sympathisch wärst”, raunte der Händler, „würdest du das gute Zeug gar nicht kriegen! Hast du denn eine Vorstellung, was ich riskiere, indem ich dir sowas anbiete? – Aber ich kenne dich, ich kenne dich schon … Du bist ein feiner Kerl, du hast Weltschmerz, vielleicht ist eine Geliebte dir weggelaufen, da brauchst du ein bißchen Trost. Der Pernod genügt dir nicht, du mußt etwas Besseres haben. Da ist etwas Besseres … Da flüsterte er verlockend. „Ich lasse es dir, für nur 200 Francs, weil ich weiß: du wirst ein guter Kunde von mir. Du kommst wieder, und oft – da habe ich gar keine Zweifel …” Pépé legte ihm einen schweren, weichen Arm um die Schulter. Martin spürte, daß ihm gleich übel werden würde: vom Gestank des Aborts und von der Nähe dieses Menschen.

„Gut. Ich nehme es”, sagte er mühsam und langte schon nach dem Geld. Dann zögerte er noch einmal: „Wie konsumiert man solches Zeug eigentlich?”

„Mach nur schnell, nimm endlich das Päckchen”, drängte Pépé. Er schien weniger gierig danach, das Geld zwischen seinen Fingern zu spüren, als er drauf aus war, das Pülverchen in der Hand seines Kunden zu sehen. ‚Er ist wie der Satan’, mußte Martin plötzlich denken. ‚Wie der Teufel, der es nicht erwarten kann, die Bluts-Unterschrift seines Opfers unter dem verhängnisvollen Vertrag zu haben …’

„Auf welche Art man es konsumiert?” kicherte der Böse. „Ganz wies beliebt, Herzchen, ganz wie es dir Spaß macht, du wirst’s schon noch lernen – wenn du es wirklich noch nicht weißt. Du kannst es durch die Nase hochziehen: so!” Er nahm eine kleine Prise auf den Handrücken und schnupfte sie mit Genuß. „Oder du kannst es in Wasser auflösen und dir einspritzen. Darauf kommst du bald genug, mein Schatz!”

Martins Hände zitterten, als er die Fünfzig-Francs-Scheine hinzählte und das Päckchen zu sich steckte. Pépé ließ ihn noch wissen: „Mich findest du immer hier, das ist mein Stammlokal. Mittags zwischen elf und zwölf, und abends ab zehn Uhr kannst du mich garnicht verfehlen – solange ich die Adresse nicht aus Vorsichtsgründen ändere. – Au plaisir, mon vieux, à bientôt. Ich bleibe noch einen Moment auf dem Lokus.”

Martin kam leicht taumelnd in die Bar zurück.

„Ich zahle zwei Pernods Fils”, sagte er zum Mixer, und versuchte, sich ein würdig unbefangenes Aussehen zu geben. Der Bursche musterte ihn mit einem Lächeln, das höhnisch aber nicht ohne eine gewisse gutmütige Mitleidigkeit war, von oben bis unten. „Sonst zahlen Sie nichts?” fragte er. Jetzt fiel es Martin auf, daß auch der Mixer in seinen dunklen, hungrigen Augen die winzig kleinen, stechenden, Pupillen hatte. –

Martin nahm sich ein Taxi an der Place Blanche und ließ sich zum Hotel „National”, rue Jacob, fahren.

In seinem Zimmer zog er das Päckchen aus der Tasche, ehe er noch seinen Hut abgelegt hatte. Das dunkelrote, starke Papier war kunstvoll zusammen gelegt; kein Stäubchen des Pulvers konnte verloren gehen. Martin schüttete sich ein wenig von der weißlichen Substanz auf den Handrücken, wie er es Pépé hatte machen sehen. Er trat vor den Spiegel, führte die Hand vorsichtig zur Nase und zog das Pulver hoch. Es kitzelte in der Nase, reizte die Schleimhäute und ließ die Augen feucht werden. Gleichzeitig spürte er einen bitteren Geschmack, hinten am Gaumen und in der Kehle. ‚Wahrscheinlich ist das Ganze ein Schwindel’, dachte er ärgerlich. ‚Ich bin irgend einem kleinen Halunken hereingefallen, und meine 200 Francs bin ich los …’

Er setzte sich aufs Bett und wartete. Würde sein Zustand sich ändern? ‚Ich verlange ja gar kein Glück’, dachte er, ‚ich beanspruche keine plötzlichen Wonnen. Was ich möchte, ist nur ein wenig Erleichterung. Daß diese Last weg wär von meiner Brust! Daß diese fürchterliche Spannung sich löste! Daß ich ruhig würde! Mehr erhoffe ich nicht …’

Und während er es dachte, war er schon ruhig geworden. Das Wohlgefühl, das sich einstellte, war unbeschreiblich. Es enthielt Frieden und eine schöne Erregung zugleich. Es war Entrückung und gesteigertes Leben. Übrigens brachte es auch etwas physische Übelkeit und leichten Brechreiz mit sich. Aber das störte kaum. Die Annehmlichkeit war zu groß. ‚Welch magische Pulver-Substanz hat dieser Pépé mir da für 200 Francs kredenzt!’ dachte Martin benommen. ‚So wohlig war mir nicht mehr zu Mute – seit wann? Seit mir der Onkel Doktor Injektionen gegen Nieren-Kolik verabreichte. Seit damals habe ich soviel Wohligkeit nicht gekannt … Jetzt möchte ich arbeiten … Ich habe unendlich zahlreiche und sehr gute Gedanken im Kopf … Ich werde mich nicht an den Tisch setzen, davon würde mir schlecht. Ich hole mir den Schreibblock ans Bett …”

Nicht umsonst, nicht zufälliger oder ungerechtfertigter Weise haben die Deutschen den Ruf, das gründlichste Volk der Erde zu sein. Ihre Emigration dauerte erst ein paar Monate lang, sie hatte gerade begonnen; es ließ sich noch gar nicht absehen, welchen Umfang sie annehmen, welche Kreise und Typen sie in sich einbeziehen würde –: da gingen exilierte deutsche Intellektuelle schon daran, sich über die „Soziologie der Emigration” zu unterhalten. David Deutsch – Kulturkritiker und Nationalökonom – erklärte, daß er eine größere Arbeit über diesen Gegenstand vorbereite. „Ein sehr faszinierendes Thema”, behauptete er. „Faszinierend gerade deshalb, weil die Menschengruppe, um die es sich hier handelt, durchaus kein einheitliches Gebilde, keine Gruppe also im eigentlichen Sinn des Wortes darstellt; vielmehr ein höchst zufälliges Gemisch von Individuen, denen durch sehr verschiedenartige Umstände ein ähnliches Schicksal aufgezwungen wurde.”

Man saß in dem kleinen Lokal, das die Schwalbe in einer engen Nebenstraße des Boulevard Montparnasse, ein Schritte vom „Café du Dôme” und der „Coupole”, eröffnet hatte. Es gab hier recht gutes Bier; billige Mahlzeiten deutschen oder österreichischen Stils; man traf alte Freunde, machte Bekanntschaften, besprach die politischen Neuigkeiten und bekam Kredit bis zu einer gewissen Grenze, die durchaus willkürlich und je nach ihren unberechenbaren Sympathien von der Schwalben-Wirtin bestimmt wurde. Die Stammgäste waren fast sämtlich Deutsche. Zuweilen brachten sie ihre französischen Freunde mit; Marion etwa erschien mit Marcel Poiret, oder Martin führte Kikjou ein.

„Ich glaube kaum, daß es jemals eine so uneinheitliche Emigration gegeben hat wie unsere”, sagte David und machte beim Sprechen seine schiefen, sinnlosen kleinen Verbeugungen vor Ilse Proskauer, die ihm aufmerksam lauschte. „In fast allen anderen historischen Fällen war die Zusammensetzung der Exilierten bestimmt durch soziale, nationale oder gesinnungsmäßige Charakteristika: ebenjene psychologischen oder ökonomischen Eigenschaften, die ihren Trägern den Aufenthalt in der Heimat unter gewissen politischen Umständen unmöglich machten. Was uns betrifft, so ist ein solches einigendes Moment, ein solcher Generalnenner kaum festzustellen.”

David Deutsch war sehr animiert. Auf seinem geisterhaft bleichen, wächsernen Gesicht wurden zarte rosa Farbtöne sichtbar; mit den dünnen, nicht eigentlich hageren, aber wie aus einer gewichtslosen, un-irdischen Materie gebildeten Fingern fuhr er sich durch das blau-schwarze, dichte, starre, negroid gekrauste Haar: das Einzige an ihm, was von einer soliden, haltbaren, sturm- und wetterfesten Substanz zu sein schien.

„Hallo!” machte er plötzlich schreckhaft – so, als hätte sich jemand einen kleinen Scherz mit ihm erlaubt: ihn etwa mit einem kalten Metall am Nacken gekitzelt. „Hallo! Nun habe ich aber etwas Riskantes gesagt, etwas Schlimmes!” Er drohte sich selbst mit dem Zeigefinger, zugleich erheitert und schaurig berührt von der Gewagtheit seiner eigenen Bemerkung. „Ei weh!” sagte er noch und wiegte schelmisch-klagend den Oberkörper, während Fräulein Proskauer ihn ernsthaft und interessiert beobachtete. „Wenn das stimmte, daß bei uns ein ‚einigendes Moment’ nicht vorhanden ist; wenn das Wort für Wort wahr wäre, was ich gerade unbedacht genug war, anzudeuten – dann hätte der Hitler ein verdammt leichtes Spiel. Natürlich gibt es etwas, was wir alle gemeinsam haben – und wäre es zunächst nur der Haß.” Er war nun wieder ganz ernst geworden. In der Geisterblässe seines Gesichtes hatten die dunklen, kurzsichtigen Augen einen wilden Glanz. „Und sei es zunächst nur der Haß!” wiederholte er drohend, den schmalen Oberkörper schief nach vorne gereckt. „Beim Haß aber bleibt es nicht, und übrigens hat es mit ihm nicht angefangen.” Er sprach jetzt in einem heftigen Flüsterton; gleichsam raunend, beschwörend. „Angefangen hat es mit der Liebe. Wir haben alle unser Land geliebt –: wie hätten wir sonst so fürchterlich betroffen sein können von seiner Heimsuchung, seiner Entwürdigung, seinem Sturz? – Nur haben wir es leider auf gar zu viel verschiedene Arten geliebt; hier liegt die Wurzel zu großem Unglück. Der eine verstand die Liebesform des anderen nicht; er beschimpfte sie wohl gar als Verräterei. So erklärt sich, daß die Dinge treiben konnten, wohin sie trieben.” Er atmete schwer und schien recht erschöpft. Die Hand hatte er an die Stirne gepreßt, als wäre dort eine Wunde und er müsste das rinnende Blut auf halten. – „Wir werden lernen müssen, alle gemeinsam eine Zukunft zu lieben”, sprach er schwer atmend, beinah keuchend weiter. „Das wird zunächst nicht leicht für uns sein; aber die Feinde jeder besseren Zukunft, die deutschen Herren, erleichtern es uns.” Er versuchte noch einmal, zu lächeln. Es mißlang; die imaginäre Wunde auf der Stirne tat ihm wohl gar zu weh. „Sie erleichtern es uns: indem sie uns nämlich das exakte Gegenteil zeigen von dem, was wir alle lieben wollen. Der Haß, durch den wir nun hindurch müssen, ist eine gute Schule. Haben wir sie erst hinter uns, so werden wir kundiger geworden sein – in der Liebe …”

Wußte er noch, daß die häßliche Proskauer ihm zuhörte? Es war deutlich, daß er monologisierte; daß er tausendmal Gedachtes, Überlegtes, Durchlittenes im raunenden Flüsterton aussprechen mußte, gleichgültig, in wessen Gegenwart. Freilich gab es niemanden, – bei der „Schwalbe” nicht, und nirgendwo sonst –, der es so verstand wie die Proskauer, sich selber auszuschalten, gleichsam unsichtbar zu werden, nur Gehör zu sein. Die kleinen, runden, goldbraunen Augen, deren kluger Blick behindert schien durch die ungeheure, gebogene Nase, hingen andächtig und gerührt an den beweglichen Lippen des David Deutsch.

Der besann sich plötzlich, daß er nicht alleine war, und wovon er hatte sprechen wollen. Einem Dozenten ähnlich, der vom Thema seines Vortrages abgeschweift ist und nun das Auditorium um Verzeihung bittet, sagte er, die rechte Schulter schief nach vorne drehend – wobei er endlich die Hand von der Stirne nahm: man war erstaunt, sie blank und unversehrt zu finden –: „Aber wohin lasse ich mich entführen? Warum unterbrechen Sie mich nicht, liebe Dora?” „Die Abweichung hat sich gelohnt”, konstatierte die Proskauer, ruhig und sachlich; ihre Worte kamen unter der enormen Nase hervor wie ein gleichmäßig plätscherndes, nüchtern freundliches Bächlein unter einer jäh vorspringenden Felszacke.

„Das Problem unserer Emigration”, – David Deutsch sprach nun in einem Ton und mit einer Mimik, als wendete er sich an eine größere Versammlung – was wiederum nur eine andere Form des Monologisierens war –, „das Problem unserer Emigration wird kompliziert, fast möchte ich sagen: korrumpiert, durch den Umstand, daß ein erheblicher Teil unserer Leidensgenossen nicht aus Überzeugung, sondern nur durch Zwang ins Exil gekommen ist. Ich rede von den Juden.”

Er machte eine effektvolle kleine Pause. Die Proskauer nickte ihm aufmunternd zu. David rückte nervös die Schulter, räusperte sich und fuhr fort:

„Wie viele deutsche Juden würden sich mit dem infernalischen Phänomen ‚Nationalsozialismus’ herzlich gern abfinden – wenn der Nationalsozialismus nicht antisemitisch wäre?” Der Redner stellte die Frage mit unheilverkündender Strenge. „Die totale Barbarei, die der Nationalsozialismus bedeutet – und von welcher der Antisemitismus nur ein besonders krasses, fast möchte ich sagen: besonders pittoreskes Symptom ist –: wie viele deutsch-jüdische Bankiers, Theaterdirektoren oder Feuilletonredakteure würden denn nun wirklich Anstoß an ihr nehmen – wenn sie nicht eben dazu gezwungen wären?! –”

Er verstummte, und sein Oberkörper zuckte besorgniserregend. Dann – mit der edlen Geisterhand flüchtig durch die Luft fahrend, als gäbe es dort etwas wegzuwischen –: „Die jüdischen Exilierten sind für den politisch, den revolutionär Denkenden nur interessant, wenn wir von ihnen wissen, oder doch annehmen dürfen: sie würden die Feinde dieses Regimes auch bleiben, wenn das Regime auf einen seiner schandbaren Tricks verzichten würde, auf den Antisemitismus. – Nun ist freilich festzustellen, daß aus manch deutschem Juden, der zunächst keineswegs aus Gesinnungsgründen, vielmehr unter dem Druck der Umstände ins Exil gegangen ist, allmählich ein bewußter und aktiver Antifascist werden kann. In vielen Fällen hat dieser bedeutsame Verwandlungsprozess wohl schon begonnen … Denn natürlich sind in den jüdischen Traditionen, in der jüdischen Geistigkeit die Widerstände gegen den militanten Barbarismus, das aggressive Neuheidentum besonders stark; stärker oft, wollen wir hoffen, als ein Klasseninteresse, welches dem Wohlhabenden ratsam scheinen ließ, mit den Unterdrückern gegen die Unterdrückten zu stehen. Eine Jahrtausende lange Leidensgeschichte hat unser Volk doch wohl den Wert einiger Begriffe und Ideale sehr tief begreifen lassen – etwa die Begriffe und Ideale der Toleranz; der Gerechtigkeit. – Und wenn sie es noch nicht begriffen haben,” fügte er hinzu, plötzlich in einem leichteren, verärgerten Ton, so als ginge das Ganze ihn nicht sehr viel an –, „tant pis pour eux. Dann werden sie es eben noch lernen müssen. Es ist doch so klar, so selbstverständlich”, – er sagte es ungeduldig, als langweilte und enervierte es ihn, begriffsstutzigen Schülern die gleichen einfachen Dinge gar zu oft wiederholen zu müssen –, „es liegt doch so auf der Hand: Wir Juden gehören auf die Seite der Unterdrückten, einfach, weil wir selbst Unterdrückte sind. Es ist ungemein in unserem Interesse, daß die Menschen etwas aufgeklärter, zivilisierter, etwas menschlicher werden; während der Fascismus es doch gerade darauf anlegt, sie immer mehr zu entmenschlichen. – Aber entschuldigen Sie, daß ich Sie mit diesen Banalitäten ennuyiere”, wendete er sich – ein pedantischer, aber doch gefallsüchtiger Dozent – an das unsichtbare Auditorium.

Überraschender Weise ließ an dieser Stelle des Vortrages die Proskauer das verständige Murmeln ihrer Stimme hören. „Man muß heute wieder den Mut zu gewissen Banalitäten haben”, bemerkte sie und blickte freundlich an ihrer Nase vorbei. „Übrigens ist es noch sehr die Frage, ob man das Selbstverständliche weiter als banal bezeichnen darf. Es stößt überall in der Welt – nicht nur in Deutschland – auf einen derartigen Widerspruch, daß es beinah den Reiz des Neuartigen und Gewagten bekommt.”

David schien ein wenig erstaunt darüber, daß sein Publikum es sich plötzlich herausnahm, das Kolleg durch Zwischenbemerkungen zu unterbrechen. Sein Gesicht verfinsterte und verzog sich nervös. Er beherrschte sich aber, lächelte verzeihend, winkte beinah fröhlich mit der gewichtslosen Hand – als wollte er sagen: Ein wenig keck, meine Liebe! Aber lassen wirs gut sein –, und fuhr, unbeirrbar, fort:

„Wir tun also gut daran, innerhalb der jüdischen Emigration jene Typen-Gruppe, die in der Tat nur aus geschäftlichen Gründen das Land verlassen hat und in keinerlei politischer oder moralischer Opposition zum Regime steht, scharf von den anderen zu trennen, die entweder von vorneherein auch Gesinnungsemigranten waren, oder sich doch zu Gesinnungsemigranten entwickeln.”

„Was hat Davidchen denn da eigentlich zu erzählen?” wollte die Schwalben-Wirtin, etwas mißtrauisch, wissen. Sie trat, die Zigarre im Mund, Arme in die Hüften gestemmt, neugierig näher, um dem temperamentvoll Dozierenden zu lauschen.

Auch andere wurden aufmerksam. Marion, die an einem Tisch mit dem Mediziner Dr. Mathes, dem ährenblonden „Meisje” und der kleinen Germaine Rubinstein saß, brach ihr Gespräch ab. „David ist groß in Form”, sagte sie lachend. Und während die Schwalben-Wirtin sich mit leisem Ächzen zwischen der Proskauer und David Deutsch auf einem Stuhl niederließ, der viel zu schmächtig schien, um ihre Leibesfülle zu tragen, bemerkte das „Meisje”, den leuchtend veilchenblauen Blick sinnend auf den Redenden, Gestikulierenden gerichtet: „Ich weiß nicht … für mich hat er etwas Ergreifendes … Er leidet so viel, und er denkt so viel nach … Sieht er nicht aus wie ein junger Priester?” fragte sie schüchtern und wurde ein wenig rot, als hätte sie sich zu weit vorgewagt. Sie paßte nicht ganz in den Kreis; in Berlin war sie Gärtnerin gewesen, sie hatte Kakteen gezüchtet. Weil ihre Mutter Holländerin war, nannte man sie „Meisje”, was das niederländische Wort für Mädchen ist. – „Es klingt ja etwas verstiegen”, fügte sie nun geschwind hinzu. „Aber sieht er nicht wirklich wie ein Priester aus?” – Marion, ohne sich nach Meisje umzudrehen, den Oberkörper nach der Richtung, wo David Deutsch saß, gewendet; den Arm um die Stuhllehne geschlungen; die Beine übereinander geschlagen, nickte ernst und freundlich: „Du hast ganz recht, Meisje. In anderen Zeiten wäre er wohl ein frommer Schriftgelehrter geworden.” Und auch die ernste kleine Germaine, Anna Nikolajewnas etwas widerspenstige Tochter, bestätigte: „Elle a tout à fait raison.” – Herr Nathan-Morelli aber, der an einem anderen Tisch, ganz im Hintergrund des Raumes, mit Fräulein Sirowitsch speiste, schnitt eine gequälte Grimasse: „Der junge Herr dort drüben scheint mir zur Abwechslung über Deutschland und die Emigration zu plaudern. Ich wußte gleich, daß wir besser in ein anderes Restaurant gegangen wären. Deutschland – Deutschland – Deutschland …: wenn ich nur das Wort nicht mehr hören müßte!!” Sein Gesicht hatte den starren, blasierten Ausdruck plötzlich verloren; der Mund verzerrte sich, und auf der Stirne ließen sich die Spuren ausgestandener Leiden erkennen. Er nahm sogar die Zigarette aus dem Mund, während er sich weit zu seiner Dame vorneigte und mit ganz leiser, gepreßter Stimme sagte: „Dieses Wort, dieser Begriff, dieses Schicksal, das ‚Deutschland’ heißt, hat mir mehr zu schaffen gemacht als irgend etwas anderes auf der Welt. Was glauben Sie, daß ich durchmachen mußte, ehe ich bis zu der kühlen Verachtung gegenüber allem Deutschen gekommen bin?! Aber einmal muß man sich frei machen können! Man geht zu Grunde, wenn es nicht gelingt! Ich habe mich frei gemacht! Oder glauben Sie mir nicht …?” fragte er mit einer jähen Gereiztheit. Die Sirowitsch betrachtete den erregten Nathan-Morelli und lächelte zärtlich, mütterlich und etwas spöttisch.

David, der endlich etwas wie ein Auditorium hatte und sofort befangen wurde, stellte sich, als ob er gar nicht merkte, daß man auf ihn aufmerksam war, und richtete nun, zum ersten Mal, seitdem sie hier beisammen saßen, seine Worte wirklich an die Proskauer. „Es würde ebenso komplizierte wie fesselnde Statistiken geben”, sagte er, „wenn man versuchen wollte, auszurechnen, wie viele unter den jüdischen Emigranten auch Gesinnungsemigranten sind. Außerdem wäre festzustellen, ein wie großer Prozentsatz der jüdischen oder nicht-jüdischen Gesinnungsemigranten aus rein politischen Gründen gegen die Nazi-Diktatur opponiert. Dieses dürfte vor allem bei den berufsmäßigen Politikern, Parteiführern, Funktionären, politischen Journalisten und bei den proletarischen Exilierten der Fall sein. Aber wie viele proletarische Exilierte gibt es? Auch dies sollte errechnet werden! Über alles müßte unsere Statistik Auskunft geben: Welche Berufe in der Emigration am häufigsten vorkommen; welche Lebensalter; ob es unter den Christen mehr Katholiken oder mehr Protestanten gibt …

„Unsere Statistik hat viele Rubriken; das Werk, welches ich plane, wird viele Kapitel haben. Die religiöse Opposition wird zu behandeln sein, und es ist darzustellen, wie der christliche Glaube, mit dem atavistischen Neuheidentum konfrontiert, in sich selber seine humanitären, sozialen, ja sozialistischen Elemente wieder-entdeckt, oder doch wieder-entdecken könnte. Darzustellen ist, wie das liberale Pathos angesichts der Greuel, zu denen eben die Schwäche eines falsch verstandenen, heimlich reaktionären Liberalismus geführt hat, sich radikalisiert, kämpferisch aggressiv wird; wie die Stellung der wirklichen Demokraten zum Problem der Gewalt-Anwendung, ja, zu einer – unter bestimmten Prämissen notwendigen – Intoleranz sich mählich verändert. Darzustellen ist anderseits, wie die Anhänger einer linken, sozialistischen Diktatur – von der Katastrophe erschüttert, die nun eine Partei-Tyrannis für unsere Heimat bedeutet – ihre Stellungnahme zu dem gesamten Themen-Komplex ‚Diktatur’ zu revidieren beginnen; in harter Schule den Wert der Freiheit neu, und diesmal hoffentlich gründlich, begreifen lernen.”

David warf, in einer Art von trockener, intellektueller Begeisterung, das leuchtend bleiche Gesicht in den Nacken. ‚Wie sieht er denn aus?’ dachte Marion, die immer noch in ihrer ziemlich unbequemen Haltung saß, den Körper im Sitzen seitlich gewendet; die Arme um die Stuhllehne geschlungen. ‚Wem gleicht er denn? … Sein Gesicht müßte gerahmt sein von einem dunklen und harten Bart. Ganz entschieden: ein nachtschwarzer Bart, steif wie Holz, wäre stilvoll um diese Miene. Er würde unserem David ganz das Aussehen unseres Jochanaan geben. Ich sehe sein Haupt auf der Silberschüssel der sündigen Prinzessin Salomé kredenzt …’

„Wie viel Typen!” rief David mit merkwürdig fliegenden Gesten. „Wie diese moralischen, politischen, artistischen Konzeptionen dialektisch gegeneinander stehen; sich ergänzen, begegnen, überschneiden; sich widersprechen, gegenseitig aufzuheben scheinen – und doch alle zusammen, in eine Synthese, zu der wir erst allmählich vordringen werden, einmünden; in das wahrhaft Neue, die Zukunfts-Form des Humanismus … Jeder trägt sein Teil dazu bei; jede Rubrik in unserer komplizierten Statistik hat ihre besondere, wesentliche Funktion.

„Um nur irgend einen Fall herauszugreifen: mein alter Professor Abel, bei dem ich in Bonn Kollegs über den Faust und die deutsche Romantik hörte; bourgeoiser Intellektueller, gutmütiger Liberaler, ausgesprochen historisch-konservativ orientiert; der unpolitische, antirevolutionäre Deutsche par excellence: wer hätte gedacht, daß er jemals mit der Macht in akuten Konflikt kommen würde? Mein alter Abel – die Harmlosigkeit in Person – wird ins Exil getrieben. Als Exilierter entwickelt er sich vielleicht zum Repräsentanten klassischer deutscher Traditionen – gegen jene Verfälschung und Verfratzung deutschen Wesens, die Nietzsche schon in Bismarcks Reich seherisch erkannte, anprangerte, bekämpfte …”

Mutter Schwalbe stand seufzend auf. Es wurde ihr zu gebildet.

Marion erkundigte sich – das Gesicht in die Hand geschmiegt, die auf der Stuhllehne ruhte –: „Wo ist dieser Abel jetzt?”

Ihre Stimme, leuchtend zugleich und dunkel, hatte die Macht, sofort die gespannte Aufmerksamkeit aller im Raum wie durch einen Zaubertrick zu gewinnen. David, schreckhaft von Natur, warf, in jäher Drehung zuckend, den Oberkörper herum. Statt zu antworten, bedeckte er die Augen mit der Hand, als hätte zu starkes Licht ihn geblendet. Marion wiederholte:

„Wohin ist denn dieser Abel verschlagen worden?”

Der Vulkan

Подняться наверх