Читать книгу Mephisto. Roman einer Karriere / Мефистофель. История одной карьеры - Клаус Манн - Страница 5

III
Knorke

Оглавление

Die Saison ging weiter, es war keine schlechte Saison für das Hamburger Künstlertheater. Oskar H. Kroge war entschieden ungerecht gewesen, als er gesagt hatte, Höfgen werde überzahlt mit tausend Mark Monatsgehalt. Ohne diesen Schauspieler und Regisseur hätte das Institut gar nicht auskommen können; er leistete Enormes, war so unermüdlich wie einfallsreich. Er spielte alles, jugendliche Rollen und alte: nicht nur Miklas hatte Anlaß, auf ihn eifersüchtig zu sein, sondern auch Petersen, und sogar Otto Ulrichs hätte ihn gehabt; aber der war mit ernsteren Dingen beschäftigt und nahm den bürgerlichen Theaterbetrieb nicht ganz ernst. Höfgen gewann sich die Kinderherzen als witziger und schöner Prinz im Weihnachtsmärchen; die Damen fanden ihn unwiderstehlich in französischen Konversationsstücken und in den Komödien von Oscar Wilde; der literarisch interessierte Teil des Hamburger Publikums diskutierte seine Leistungen in» Frühlings-Erwachen«, als Advokat in Strindbergs» Traumspiel«, als Leonce in Büchners» Leonce und Lena«. Er konnte elegant sein, aber auch tragisch. Er hatte das» aasige «Lächeln, aber auch den Leidenszug an den Schläfen. Er bezauberte mit übermütigem Esprit, er imponierte mit herrisch gerecktem Kinn, abgehacktem Kommandoton und stolz-nervösen Gebärden; er rührte durch Demut, hilflos irrenden Blick, weltfremd zarte Verstörtheit. Er war gütig oder gemein, hochfahrend oder zärtlich, schneidig oder gebrochen – ganz wie das Repertoire es verlangte. In Schillers» Kabale und Liebe «spielte er abwechselnd den Major Ferdinand und den Sekretarius Wurm – den überschwänglichen Liebhaber und den ruchlosen Intriganten – : dabei hätte er es kaum nötig gehabt, seine Wandlungsfähigkeit, an der niemand zweifelte, solcherart kokett zu betonen. Vormittags hatte er Proben zum» Hamlet«, nachmittags zu einer Posse» Mieze macht alles«. Die Posse kam zum Sylvesterabend heraus und wurde ein starker Erfolg, Schmitz konnte zufrieden sein; über den» Hamlet «raste Kroge, der noch auf der Generalprobe die Aufführung untersagen wollte.»Eine solche Schweinerei habe ich noch niemals geduldet in meinem Hause!«empörte sich der alte Vorkämpfer des literarischen Theaters.»Hamlet erledigt man nicht nebenbei wie einen Reißer!«Höfgen erledigte ihn; sah sehr eindrucksvoll aus in seiner hochgeschlossenen schwarzen Tracht, mit rätselhaft schielenden Augen und fahlem Leidensgesicht, und bekam am nächsten Vormittag von der Hamburger Presse versichert, daß es eine interessante Leistung gewesen sei, nicht ganz durchgearbeitet vielleicht, etwas improvisiert, aber doch voll packender Momente. Angelika Siebert hatte die Ophelia spielen dürfen und war auf jeder Probe schier zerflossen vor Tränen; bei der Premiere hatte sie wegen heftigen Weinens kaum auftreten können. Übrigens fanden dann einige Kenner, ihre Leistung sei eigentlich die beste gewesen in dieser bedenklichen Inszenierung.

Höfgen arbeitete sechzehn Stunden am Tag und hatte jede Woche mindestens einen Nervenzusammenbruch. Diese Krisen traten stets sehr heftig und in abwechslungsreichen Formen auf. Einmal fiel Höfgen zur Erde und zuckte stumm; das nächste Mal hingegen blieb er zwar stehen, schrie aber grauenhaft, und dies fünf Minuten lang ohne jegliche Unterbrechung; dann wieder behauptete er auf der Probe, zum Entsetzen aller, er bekomme plötzlich seine Kiefer nicht mehr auseinander, ein Krampf habe eingesetzt, es sei scheußlich, nun könne er nur noch murmeln, und das tat er denn auch. Vor der Abendvorstellung, in der Garderobe, ließ er sich von Böck – der seine sieben Mark fünfzig noch immer nicht wieder hatte – die untere Gesichtshälfte massieren, stöhnte und murmelte mit aufeinander gepreßten Zähnen. Eine Viertelstunde später, auf der Bühne, gehorchte ihm sein Mundwerk wie je; er benutzte es mit Geschicklichkeit, strahlte und hatte Erfolg.

An dem Tage, als Prinzessin Tebab ihn versetzt hatte, weinte, schrie und zuckte er gleichzeitig: es war ein gräßlicher Anfall, scheu und eingeschüchtert umstand ihn das Ensemble, das doch manches von ihm gewohnt war; schließlich begoß Frau von Herzfeld den Tobenden mit Wasser. Übrigens gab Juliette ihrem Freund nur selten Anlaß zu so viel Verzweiflung; meistens erschien sie zur ausgemachten Stunde pünktlich in seiner Wohnung und leistete genau das, was er von ihr erwartete. Gestärkt und erfrischt, noch einfallsreicher, herrschsüchtiger und zäher, ging er hervor aus diesen anstrengenden Nachmittagsunterhaltungen. Er sagte zu Juliette, daß er sie liebe, daß sie das Zentrum seines Lebens sei. Manchmal glaubte er, was er sagte. Büßte er nicht bei der Schwarzen Venus seinen Ehrgeiz, erniedrigte er nicht vor ihr seine Eitelkeit? Liebte er sie nicht wirklich? – Es konnte geschehen, daß er darüber nachgrübelte, nachts, auf dem Nachhauseweg vom H. K. Dann sagte er sich: Ja, ich liebe sie, es ist sicher. Eine noch tiefere Stimme ließ sich vernehmen: Warum belügst du dich selber? Aber es gelang ihm, sie verstummen zu lassen. Die tiefste der Stimmen schwieg. Hendrik durfte glauben, daß er fähig wäre zur Liebe.

Die kleine Angelika litt, Höfgen kümmerte sich nicht darum. Frau von Herzfeld litt; er speiste sie ab mit intellektuellen Konversationen. Rolf Bonetti litt, um der kleinen Angelika willen, die spröde blieb, wie eigensinnig und eifrig er sich auch um sie bewarb; so mußte sich der schöne junge Liebhaber mit Rahel Mohrenwitz trösten: dieses tat er widerwillig und ohne daß darum die angeekelten Züge verschwunden wären aus seinem Gesicht. Hans Miklas haßte; hungerte – wenn die Efeu ihm nicht gerade Butterbrote schenkte – ; schimpfte mit seinen politischen Freunden auf Marxisten, Juden und Judenknechte; trainierte zäh, bekam kleine Rollen und unterhalb der Backenknochen immer schwärzere Löcher.

Mit seinen politischen Freunden steckte auch Otto Ulrichs viel zusammen. Gerade vor ihnen war es ihm peinlich, daß die Eröffnung des Revolutionären Theaters immer wieder hinausgeschoben wurde. Jede Woche erfand Höfgen eine andere Ausrede. Es geschah häufig, daß Ulrichs nach der Probe den Freund beiseite nahm, um zu flehen:»Hendrik! Wann fangen wir an!«Dann redete Höfgen, schnell und leidenschaftlich, von der Verwerflichkeit des Kapitalismus, vom Theater als politischem Instrument, von der Notwendigkeit einer kraftvollen, durchgearbeiteten, künstlerisch-politischen Aktion, und versprach schließlich, unmittelbar nach der Premiere von» Mieze macht alles «mit den Proben für das Revolutionäre Theater zu beginnen.

Jedoch ging die stimmungsvolle Sylvesterpremiere vorüber; viele andere Premieren folgten, die Saison nahte sich ihrem Ende, sie war fast vorbei: vom Revolutionären Theater gab es noch immer nicht mehr als das schöne Briefpapier, auf dem Höfgen eine hochgestimmte und verzweigte Korrespondenz mit prominenten Autoren sozialistischer Gesinnung führte. Als Otto Ulrichs wieder einmal bat und drängte, erklärte Hendrik ihm, für diese Saison sei es, tief bedauerlicher Weise und infolge eines Zusammenkommens von fatalsten Umständen, zu spät geworden: man müsse leider bis zum nächsten Herbst warten. Diesmal verfinsterte sich Ulrichs Miene; Hendrik aber legte dem Freund und Gesinnungsgenossen den Arm um die Schulter und redete auf ihn ein mit jener durchaus unwiderstehlichen Stimme, die erst sang und bebte, dann heftig und schneidend wurde; denn nun geißelte Höfgen die moralische Verkommenheit der Bourgeoisie und pries die internationale Solidarität des Proletariats. Ulrichs war zu versöhnen. Man trennte sich mit langem Händedruck.

Damals wurde eben die letzte Novität für diese Spielzeit vorbereitet: in Theophil Marders Komödie» Knorke «sollte Hendrik Höfgen die Hauptrolle spielen. Das gesellschaftskritisch-dramatische Werk Marders hatte großen Ruhm; alle Kenner priesen seine höchst persönlich geprägte Form, seine unfehlbare Bühnenwirksamkeit und geistvoll unbarmherzige Bosheit. Zu der» Knorke«-Uraufführung würden die Kritiker aus Berlin herbeigereist kommen. Übrigens erwartete man auch den Autor – nicht ohne Herzklopfen; denn Marders unerbittlich hohe Meinung von sich selber war ebenso bekannt wie seine grimmige Schnoddrigkeit und seine Neigung zu jäh aus dem Nichts geholten heftigen und dauerhaften Streitigkeiten.

Bei aller Angst aber freute sich Höfgen auch auf die Ankunft des berühmten Dramatikers; er zweifelte kaum daran, daß dem Hellsichtigen und Erfahrenen seine Leistung auffallen werde. ›Ich muß gut werden in Knorke!‹ schwor Hendrik sich.

Damit er sich nur ganz der Rolle widmen konnte, überließ er dieses Mal die Regie dem Direktor Kroge, der ein alter Spezialist für die Komödien des Theophil Marder war.»Knorke «gehörte in einen Zyklus von satirischen Stücken, die das deutsche Bürgertum unter Wilhelm II. schilderten und verhöhnten. Held der Komödie war der Emporkömmling, der mit dem zynisch verdienten Geld, mit dem ordinären Elan seines Wesens und einer skrupellosen, niedrigen, selbstbewußten Intelligenz sich Macht und Einfluß in den höchsten Kreisen erobert. Knorke war grotesk, aber auch imposant. Er repräsentierte den parvenuhaft emporschießenden, vitalen, ganz dem Geist entfremdeten bourgeoisen Typus. Höfgen versprach großartig zu werden in dieser Rolle. Er hatte ihre grausam schneidenden Akzente und zuweilen ihre beinah rührende Hilflosigkeit. Alles brachte er mit: die unsichere, aber zunächst blendende Grandezza der Haltung und der Gebärde; die gemeine, grauenhaft geschickte Rhetorik dessen, der alle hineinlegt, um nur selbst nach oben zu kommen; die fahle, starre, fast heroische Miene des vom Ehrgeiz Besessenen, und sogar noch den entsetzensvollen Blick auf den eigenen Aufstieg, der gar zu schwindelnd ist und jäh enden könnte. Keine Frage: Höfgen mußte Sensation machen in diesem Stück.

Seine Partnerin, Knorkes Lebensgefährtin, die nicht weniger skrupellos ist als er selber, und schwächer nur dadurch, daß sie liebt: daß sie Knorke liebt – seine Partnerin in der genialen Komödie spielte ein junges Mädchen, das von Theophil Marder in energisch oder beinah zornig abgefaßten Briefen dringend empfohlen worden war. Nicoletta von Niebuhr besaß noch wenig praktische Theatererfahrung – nur ganz selten war sie aufgetreten, und dies in kleineren Städten – ; aber ein selbstsicheres, beinah einschüchterndes Wesen. Marder hatte dem armen Oskar H. Kroge in krassen Ausdrücken mit dem gräßlichsten Skandal gedroht, falls die Direktion des Künstlertheaters Fräulein von Niebuhr nicht für ein erstes Fach engagieren würde. Kroge, der vor des Dramatikers fürchterlicher Diktion klein und ängstlich wurde, ließ Nicoletta in» Knorke «probeweise gastieren. Sie kam angereist, mit vielen Handkoffern aus rotem Lackleder, einem breitrandigen schwarzen Herrenhut zu einem brennend roten Gummimantel, einer großen gebogenen Nase und leuchtenden Katzenaugen unter einer hohen, schönen Stirn. Alle bemerkten sogleich, daß sie eine Persönlichkeit war: die Motz konstatierte es mit ehrfurchtsvoll bewegter Stimme im H. K., und niemand mochte ihr widersprechen, selbst Rahel Mohrenwitz nicht, obwohl diese sich über die Ankunft der Neuen ärgerte; denn ganz entschieden war auch Nicoletta eine dämonische junge Dame, sie brauchte weder Monokel noch lange Zigarettenspitze, um es der Welt zu beweisen.

Rolf Bonetti und Petersen diskutierten darüber, ob Nicoletta schön zu nennen sei. Der enthusiastische Petersen fand sie» einfach blendend«; der vorsichtige Kenner Bonetti wollte sie nur als» interessant «bezeichnet wissen.»Von schön kann doch gar nicht die Rede sein, bei der Nase!«sagte er wegwerfend. -»Aber ihre Augen sind herrlich«, schwärmte Petersen, wobei er um sich blickte, ob die Motz nicht in der Nähe war.»Und wie sie sich hält! Majestätisch, möchte man beinah sprechen!«– Draußen ging Nicoletta vorbei, Arm in Arm mit Höfgen, was viel bemerkt ward. Ihr Kopf mit der kühnen Nase, dem leuchtenden Blick und der großen Stirn, glich dem eines Renaissance-Jünglings: dies stellte, mit leidvoller Einsicht, Frau von Herzfeld fest, die das Paar eifersüchtig verfolgte. Nicoletta hielt sich sehr gerade. Ihre grell geschminkten, scharfen Lippen formten die Worte mit einer schneidenden Präzision; jeder Satz klirrte vor Akkuratesse; die Vokale sprach sie ganz weit vorn, so daß sie blank und flach klangen, kein Konsonant ging verloren, noch die beiläufigste Floskel wurde zum Triumph der Sprachtechnik.

Gerade war Nicoletta dabei, mit dämonischer Sorgfalt zu betonen, daß sie ehrgeizig sei, und, wenn es sein müsse, auch intrigant.»Natürlich, mein Liebling!«sagte sie schneidend zu Höfgen, den sie seit ein paar Stunden kannte.»Vorwärts kommen wollen wir alle. Man muß Ellenbogen haben. «Hendrik, der sie sich neugierig von der Seite beschaute, dachte darüber nach, ob sie in diesem Augenblick aufrichtig sei oder posierte. Es war schwer zu entscheiden. Vielleicht war gerade dieser radikal entschlossene Zynismus die Maske, hinter der sie ein ganz anderes Gesicht verbarg. Wer wußte aber, ob dieses andere versteckte Gesicht auch eine so kühne Nase und einen so scharfen Mund hatte wie die Miene, die sie jetzt mit Stolz zur Schau trug?

Hendrik konnte sich nicht verhehlen, daß die Frau an seiner Seite ihm Eindruck machte. Ohne Frage, sie war die erste, seitdem er Juliette kannte, für die er einen beteiligten, interessierten Blick hatte. Er beichtete es der Schwarzen Venus noch am selben Tage, und bekam furchtbare Schläge – die diesmal nicht aus rituellen Gründen und weil es so zum Spiel gehörte verabreicht wurden, sondern aus Überzeugung und mit echter Leidenschaft; denn Prinzessin Tebab ärgerte sich. Hendrik litt, stöhnte, genoß und versicherte am Ende seiner Prinzessin, daß sie die eigentliche Herrin und Geliebte bleiben würde. Als er aber Nicoletta wiedersah, faszinierten ihn wieder ihre schneidende Sprechweise, ihr blanker, durchdringender Blick und ihre stolz zusammengenommene Haltung.

Ihre Beine waren nicht eigentlich schön, sondern eher etwas zu dick; aber sie präsentierte sie in schwarzen Seidenstrümpfen auf eine triumphale Manier, die jeden Zweifel an ihrer Schönheit kategorisch verbot – so wie Hendrik seine unedlen Hände zu halten wußte, als wären sie spitz, fein und gotisch. Nicoletta schlug die Beine übereinander, blickte leuchtend, lächelte rätselhaft und schob den Rock bis übers Knie zurück. Hendrik durchschaute natürlich die ganze Veranstaltung, war aber gerade deshalb von ihr entzückt. Übrigens konnte er sich an diesen Beinen, auf die nun sogar schon der Kenner Bonetti scharf war, sehr wohl grüne Schaftstiefel vorstellen – ein Umstand, der ihm das Mädchen Nicoletta noch attraktiver machte. Hendrik legte das fahle Gesicht in den Nacken und ließ die Juwelenaugen begehrlich wandern. Nicoletta gefiel ihm.

Es gefiel ihm auch, was sie ihm in präziser Sprache über ihre Herkunft und Vergangenheit anvertraute. Ihm imponierte das Exzentrische, abenteuerlich-Fragwürdige, da er selbst aus den bürgerlichsten Verhältnissen kam. Nicoletta erzählte, daß sie ihre Eltern nicht gekannt habe.»Mein Papa war ein Hochstapler«, konstatierte sie erhobenen Hauptes, fröhlich und stolz.»Mama ist eine kleine Tänzerin an der Pariser Oper gewesen, sehr dumm, wie ich höre; aber sie soll die himmlischsten Beine gehabt haben. «Sie blickte herausfordernd auf ihre eigenen, mit denen sie nur angab, als wären sie himmlisch.»Papa war ein Genie. Immer verstand er es, auf größtem Fuß zu leben. Er ist in China gestorben, wo er siebzehn Teehäuser und enorme Schulden hinterließ. Das einzige Andenken, das ich an ihn besitze, ist seine Opiumpfeife. «In ihrem Hotelzimmer wies sie Hendrik die Reliquie vor. Mit einer Korrektheit, hinter der man lauter Teufelei vermuten mußte, fragte sie ihn, ob er Tee haben wollte oder Kaffee. Die Bestellung rief sie durch das Telephon dem Kellner zu wie einen fürchterlichen, mit eisiger Mitleidlosigkeit vorgebrachten Urteilsspruch. Dann erzählte sie ausführlich von ihrer Jugend.»Gelernt habe ich gar nicht viel«, sagte sie.»Aber ich kann auf den Händen gehen, auf einer rollenden Kugel laufen und wie eine Eule schreien. «Ihre Fibel sei die sehr empfehlenswerte Zeitschrift» La Vie Parisienne «gewesen. Aufgewachsen war sie teils in französischen Internaten, aus denen man sie wegen fürchterlicher Ungezogenheit stets bald wieder entfernt hatte; teils im Hause des Geheimrats Bruckner, den sie einen Jugendfreund ihres Vaters nannte.

Vom Geheimrat Bruckner hatte Höfgen schon gehört. Die Werke des Historikers waren berühmt; übrigens kannte Hendrik sie nicht. Hingegen wußte er, daß des Geheimrats gesellschaftliche Stellung eine ebenso bedeutende wie ungewöhnliche war. Der Forscher und Denker war nicht nur eine der exponiertesten und meist besprochenen Figuren der deutschen und europäischen akademisch-literarischen Welt; man sagte ihm auch intime und einflußreiche Verbindungen zu politischen Kreisen nach. Seine Freundschaft mit einem sozialdemokratischen Minister war bekannt; andererseits hatte er Beziehungen zur Reichswehr: seine verstorbene Frau war die Tochter eines Generals gewesen. Viel Anlaß zu Kommentaren hatte eine Vortragstournee des Geheimrats durch Sowjetrußland gegeben. Damals war von der nationalistischen Presse die große Hetze gegen ihn eröffnet worden. Seitdem stellte man gerne mit Erbitterung fest, die Geschichtsbetrachtung Bruckners sei marxistisch beeinflußt. Es geschah, daß die Studenten lärmten, als er das Katheder betrat. Seine Weltgeltung und seine ruhige, überlegene Haltung schüchterten die Aufgeregten ein. Der Geheimrat ging siegreich hervor aus den Skandalen. Er blieb unantastbar.

«Der Alte ist wundervoll«, sagte Nicoletta von ihm.»Er versteht auch etwas von Menschen; an Papa zum Beispiel hatte er eine große Anhänglichkeit. Deshalb ließ er sich von mir immer alles gefallen – und ich meinerseits hatte Geduld mit seiner feinen Langweiligkeit. «Nicolettas beste Freundin, ihre eigentliche Schwester, war Barbara, Bruckners Tochter.»Ein so schönes Geschöpf! Und so gut!«Nicolettas Blick wurde weicher, während sie dies sagte; aber auf die klirrend exakte Aussprache konnte sie nicht verzichten. – Zu der» Knorke«-Premiere wurde nicht nur Theophil Marder erwartet, sondern auch das Mädchen Barbara.»Ich bin neugierig, ob du sie mögen wirst«, sagte Nicoletta zu Hendrik.»Vielleicht liegt sie dir nicht besonders. Aber sei bitte nett zu ihr, mir zu Gefallen. – Sie ist etwas scheu«, stellte Nicoletta fest und schmetterte die Vokale.

Am Tag der großen Premiere traf Barbara Bruckner ein; Marder kam erst gegen Abend, mit dem Berliner Schnellzug. Höfgen machte Barbaras Bekanntschaft, als er, unmittelbar vor Beginn der Vorstellung, einen Cognac in der Kantine trank. Nicoletta sprach mit musterhafter Deutlichkeit und greller Stimme:»Dieses ist meine liebste Freundin, Barbara Bruckner!«– wozu sie eine zeremonielle Geste unter dem schwarzen, steif plissierten Cape vollführte. Hendrik war zu aufgeregt, um sich das junge Mädchen genauer zu betrachten. Er stürzte seinen Cognac hinunter und verschwand. In der Garderobe fand er zwei große Blumensträuße: weißen Flieder von Angelika Siebert, und von der Herzfeld zart teegelb getönte Rosen. Um sich durch ein gutes Werk die Gunst des Himmels zu sichern, überreichte Höfgen dem kleinen Böck – der vor Premieren stets etwas weinerlich aussah – mit großer Geste fünf Mark, wodurch freilich die sieben-Mark-fünfzig-Schuld noch immer nicht völlig getilgt war.

Die Uraufführung der Komödie» Knorke «verlief glänzend: Marders beißende Pointen schlugen knallend ein, die steile Führung des Dialogs kitzelte das Publikum zu halb entsetzten, halb beglückten Gelächtern, vor allem aber begeisterte das exakte, schnoddrig-pathetische, in jeder Hinsicht blendende Zusammenspiel zwischen Höfgen und der neuen Kraft, Nicoletta von Niebuhr, die» auf Engagement gastierte«. Nach dem zweiten Akt mußten die beiden Hauptdarsteller sich dem animierten Saal häufig zeigen. In der Pause erschien Theophil Marder bei Höfgen, Nicoletta geleitete ihn.

Marders unruhiger, aber durchdringender Blick musterte alle Gegenstände in der Garderobe, zuletzt Hendrik selbst, der erschöpft vorm Spiegel saß. Nicoletta war, respektvoll schweigend, an der Türe stehen geblieben. Nach langer Pause sagte Marder mit einer penetranten Kommandostimme:»Sie sind ja 'ne dolle Type!«Seine grausam fixierenden Augen wichen nicht von Hendriks schön geschminktem Gesicht.

«Sind Sie zufrieden, Herr Marder?«Höfgen suchte den Satiriker durch Juwelenblicke und angegriffenes Lächeln zu bezaubern. Theophil aber sagte:»Na ja…«und fügte unverschämt hinzu:»Na ja, Herr – wie war doch der Name?«Nun war Hendrik doch etwas beleidigt; trotzdem nannte er seinen Namen mit der singend-werbenden Stimme. Daraufhin machte Marder:»Hendrik – Hendrik – ulkiger Name, muß ich schon sagen – sehr ulkig!«-: so höhnisch, daß es Höfgen eisig über den Rücken lief. Plötzlich aber rief der Dichter mit einer beängstigenden Fröhlichkeit:»Hendrik! Wieso Hendrik?! Natürlich heißen Sie eigentlich Heinz! – Heißt eigentlich Heinz, nennt sich Hendrik! Hahaha, das ist aber mal gut!«Er lachte gellend, herzlich und ausführlich. Höfgen, aus Entsetzen über so viel böse Hellsicht, war bleich geworden unter seiner rosigen Maske und zitterte. Nicoletta, ohne einzugreifen, schaute mit blanken Katzenaugen amüsiert vom einen zum andern. Theophil war schon wieder ernst. Er schien nachzudenken; dabei bewegte er ununterbrochen den bläulichen Mund unter dem schwarzen Schnurrbart. Das erregte Spiel seiner Lippen erinnerte auf eine unheimliche Art an das gierige Saugen fleischfressender Pflanzen oder schnappender Fischmäuler. Abschließend sagte Marder:»Sind aber 'ne dolle Type. Starkes Talent – rieche das, habe verdammt feine Nase. Sprechen uns noch. Essen nachher zusammen. Komm, Kind!«Er nahm Nicoletta am Arm und verließ die Garderobe. Höfgen blieb im Zustand völliger Konsterniertheit zurück.

Er gewann seine Fassung erst wieder, als er auf der Bühne und im Rampenlicht stand – dort freilich völlig. Im dritten Akt übertraf er alles, was er an bravourösem Elan bis dahin jemals öffentlich gezeigt hatte. Das Auditorium raste, nachdem der Vorhang gefallen war. Nicoletta, die Arme voll Blumen, fiel Höfgen um den Hals und sagte:»Theophil hat wieder mal das rechte Wort gefunden! Du bist wirklich eine tolle Type!«Kroge trat hinzu, um Anerkennendes zu murmeln. Er versicherte Fräulein von Niebuhr, daß es ihm ein Vergnügen sein werde, weiter mit ihr zu arbeiten; sie möchte sich morgen vormittag ins Bureau bemühen, damit man die Bedingungen bespreche. Nicoletta machte sofort ihr hinterhältig korrektes Gesicht, verneigte sich feierlich und gab in scharfen Worten ihrer Befriedigung über diesen Entschluß des Direktors Ausdruck.

Theophil Marder hatte die beiden jungen Damen und den Schauspieler Höfgen in ein sehr teures, mehr bürgerlich solides als mondänes Lokal eingeladen. Hendrik war hier noch niemals gewesen, was Marder Anlaß gab, schneidend festzustellen, dies sei die einzige» Bude «in Hamburg, wo Genießbares auf den Tisch komme – solide Kost, guter alter Stil, wenn man dem Dramatiker glauben durfte; überall sonst gebe es ranziges Fett und stinkende Braten, hier aber verkehrten feine alte Herren, die noch zu leben wüßten; auch sei der Weinkeller gepflegt.

Wirklich saßen in der braun getäfelten Stube, an deren Wänden Jagdbilder und schöne Teppiche hingen, nur bejahrte Väter, die nach Millionenvermögen aussahen. Noch würdevoller freilich als sie alle wirkte der Oberkellner: in dem Respekt, mit dem er Theophils Bestellungen entgegennahm, ließ sich ein klein wenig Ironie vermuten. Marder schlug vor, man möge mit Langusten beginnen.»Was meinen Sie, bester Heinrich?«erkundigte er sich bei Höfgen mit jener hinterhältigen Korrektheit, die Nicoletta bei ihm gelernt haben mochte. Hendrik hatte nichts einzuwenden. Übrigens fühlte er sich etwas unsicher und befangen in dem herrschaftlichen Lokal. Ihm wollte es scheinen, als habe der Oberkellner mit Geringschätzung seinen Smoking gemustert, der fleckig war und an einigen Stellen speckig glänzte. Unter dem taxierenden Blick des feinen Kellners ward Hendrik sich, flüchtig aber mit Heftigkeit, seiner umstürzlerischen Gesinnung bewußt. ›Ich gehöre nicht in dieses Lokal für kapitalistische Ausbeuter‹, dachte er zornig, während er sich Weißwein eingießen ließ. Nun bereute er es, die Eröffnung des Revolutionären Theaters immer wieder hinausgeschoben zu haben. Von Marder aber war er enttäuscht. Dieser unbarmherzige, hellsichtige und gefährliche Kritiker der bourgeoisen Gesellschaft zeigte sich, da man ihm nun von Mensch zu Mensch gegenübersaß, als ein Herr mit bedenklich reaktionären Neigungen. Er hatte eine schnarrende Kommandostimme, einen tückischen Blick, trug einen viel zu tadellos gearbeiteten dunklen Anzug mit sorgfältig gewählter Krawatte, und von den Langusten, die nun serviert wurden, suchte er mit einer fatalen Kennerschaft die schönsten aus. Hatte er nicht mit jenen Figuren, die er in seinen Stücken verhöhnte, viele Eigenschaften gemeinsam? Nun lobte er die gute alte Zeit, in der er jung gewesen und mit der die neue, oberflächliche, verkommene in keinem Punkte sich messen könne. Dabei hielt er fortwährend die kalten, unruhigen und gierigen Augen auf Nicoletta gerichtet, die ihrerseits nicht nur den Mund schlängelte, sondern auch den Körper in einem metallisch glitzernden Abendkleid. Barbara saß still dabei. Hendrik, degoutiert durch Nicolettas provokant betonten Flirt mit Marder, vielleicht auch nur eifersüchtig, wandte seine Aufmerksamkeit endlich Barbara zu. Da bemerkte er: ihr Blick war forschend auf ihn gerichtet gewesen. Hendrik Höfgen erschrak.

Mitten in seinem Herzen erschrak er darüber, daß er Barbara Bruckner begnadet fand mit einem Reiz, den er noch an keiner anderen Frau je wahrgenommen hatte. Ihm waren schon vielerlei Frauen begegnet, aber noch keine wie diese. Während er diese anschaute, erinnerte er sich, in geschwinder, aber genauer Zusammenfassung – so, als gälte es, einen Schlußstrich zu ziehen unter eine lange und beschmutzte Vergangenheit – aller jener weiblichen Geschöpfe, mit denen er je zu tun gehabt hatte. Er ließ sie Revue passieren, um sie alle zu verwerfen: Die handfest munteren Rheinländerinnen, die ihn, ohne viel Umstände und ohne viel Raffinement, eingeführt hatten in die derbe Wirklichkeit der Liebe – reifere, aber noch stramme Damen, Freundinnen seiner Mutter Bella; junge, aber keineswegs sehr zarte Dinger, Freundinnen seiner Schwester Josy; die erfahrenen Berliner Straßenmädchen und die kaum weniger tüchtigen der deutschen Provinz, die ihm jene besonderen Dienste zu leisten pflegten, nach denen er verlangte, und ihn solcherart den Geschmack verlieren ließen an weniger scharfen, weniger speziellen Lustbarkeiten; die kunstvoll hergerichteten, routinierten und stets gefälligen Kolleginnen, denen er jedoch seine Huld nur in den seltensten Fällen gewährte, die sich vielmehr mit seiner launenhaften, manchmal zur Grausamkeit, manchmal zur verführerischen Koketterie aufgelegten Kameradschaft zufrieden geben mußten; die Schar der Verehrerinnen – schüchtern-mädchenhafte oder pathetisch-düstere oder ironisch-kluge. Sie präsentierten sich alle noch einmal, zeigten alle noch einmal ihre Mienen und ihre Gestalten, um dann zurückzutreten, sich aufzulösen, zu versinken, angesichts von Barbaras soeben erst entdeckter, außerordentlicher Beschaffenheit. Selbst Nicoletta, interessante Tochter des Abenteurers und faszinierend präzise Sprecherin, fiel ab, wurde beinah komisch mit all ihrer Korrektheit und Verworfenheit. Hendrik opferte sie, er gab sein Interesse für sie auf – aber was opferte er nicht sonst noch alles in diesem mit Schicksal geladenen, entscheidungsvollen, süßen Augenblick? Verübte er, während er auf Barbara schaute, nicht den ersten großen Verrat an Juliette, der finsteren Geliebten, die er das Zentrum seines Lebens genannt hatte und die große Kraft, an der seine Kräfte sich erneuerten und erholten? Mit Nicoletta, an deren Beinen man sich grüne Schaftstiefel vorstellen konnte, hätte er Juliette niemals ernsthaft betrogen; sie wäre, im allergünstigsten Fall, ein Ersatz für die Schwarze Venus gewesen, gewiß nicht ihre Gegenspielerin. Die Gegenspielerin aber saß hier. Sie hatte Hendrik forschend betrachtet, während er sich noch mit Marder und Nicoletta beschäftigte. Da er sie nun seinerseits anstarrte – nicht verführerisch schielend, nicht rätselhaft schillernd, sondern mit der echten Ergriffenheit, die hilflos macht – senkte sie den Blick und wandte den Kopf halb zur Seite.

Ihr sehr einfaches, schwarzes Kleid, dem der Kenner seine Herkunft von der kleinen Hausschneiderin angemerkt hätte und zu dem sie einen weißen, schulmädchenhaft steifen Kragen trug, ließ den Hals und die mageren Arme frei. Das empfindliche und genau geschnittene Oval ihres Gesichtes war blaß; Hals und Arme waren bräunlich getönt, golden schimmernd, von der reifen und zarten Farbe sehr edler, in einem langen Sommer duftend gewordener Äpfel. Hendrik mußte angestrengt darüber nachdenken, woran ihn diese kostbare Farbe, von der er noch betroffener war als von Barbaras Antlitz, erinnerte. Ihm fielen Frauenbilder Lionardos ein, und er war etwas gerührt darüber, daß er hier, in aller Stille, während Marder mit seiner Kenntnis alter französischer Kochrezepte prahlte, an so vornehme und hohe Gegenstände dachte; ja, auf gewissen Lionardo-Bildern gab es diese satte, sanfte, dabei spröd empfindliche Fleischesfarbe; auch einige seiner Jünglinge, die den gekrümmten, lieblichen Arm aus einer schattenvollen Dunkelheit hoben, zeigten sie. Jünglinge und Madonnen auf alten Meisterbildern hatten solche Schönheit.

An Jünglinge und Madonnen ließ der Anblick Barbara Bruckners den begeisterten Hendrik denken. Nach dem Ideal geformte Knaben hatten diese schöne Magerkeit der Glieder; Madonnen aber hatten dieses Gesicht. So schlugen sie die Augen auf, genau so wie Barbara es jetzt tat: Augen unter langen, schwarzen und starren, aber ganz natürlichen Wimpern; Augen von einem satten Dunkelblau, das ins Schwärzliche spielte. Solche Augen hatte Barbara Bruckner, und sie schauten ernst forschend, mit einer freundschaftlichen Neugier, und zuweilen beinah schalkhaft. Überhaupt war das edle Gesicht nicht ohne schalkhafte Züge: kein weinerliches, auch kein gebieterisches Madonnenantlitz, vielmehr ein durchtriebenes. Der ziemlich große und feuchte Mund lächelte versonnen, aber nicht ohne Witz. Dem träumerischen Frauenhaupt gab es eine fast kecke Note, daß der Knoten des reichen aschblonden Haares im Nacken ein wenig schief saß. Der Scheitel hingegen war genau und in der Mitte gezogen.

«Warum schauen Sie mich so an?«fragte Barbara schließlich, da der entzückte Hendrik den Blick nicht von ihr ließ.

«Darf ich nicht?«fragte er leise zurück.

Sie sagte mit einer burschikosen Koketterie, hinter der ihre Befangenheit sich verbarg:»Wenn es Ihnen Vergnügen macht…«

Hendrik fand: Ihre Stimme war für das Ohr der nämliche Genuß, wie die Farbe ihrer Haut für das Auge. Auch ihre Stimme schien gesättigt von reifem und zartem Ton. Auch sie schimmerte, hatte den kostbar nachgedunkelten Glanz. Hendrik lauschte mit derselben Hingegebenheit, die er vorhin gehabt hatte beim Schauen. Damit sie nur weiterspräche, stellte er Fragen. Er wollte wissen, wie lange sie in Hamburg zu bleiben gedächte. Sie sagte, während sie mit einer Ungeschicklichkeit, die den Mangel an Gewohnheit verriet, an ihrer Zigarette sog:»So lange Nicoletta hier spielt. Es hängt also vom Erfolg des ›Knorke‹ ab.«-»Jetzt freut es mich erst, daß das Publikum heute abend so lange geklatscht hat«, sagte Hendrik.»Ich glaube, auch die Presse wird gut sein.«– Er erkundigte sich nach ihren Studien – Nicoletta hatte erwähnt, daß Barbara die Universität besuchte. Sie sprach von soziologischen, historischen Kollegs.»Aber ich betreibe ja all das viel zu unregelmäßig«, sagte sie, versonnen und etwas spöttisch. Dabei stützte sie den Ellenbogen auf den Tisch und das Gesicht in die schmale, bräunliche Hand. Ein nicht so wohlwollender Beobachter, wie Hendrik es in diesem Augenblick war, hätte ihre Bewegungen, die ihm von schöner, rührender Befangenheit schienen, ungeschickt und beinah plump finden können. Die Steifheit ihrer Haltung verriet die junge Dame aus der Provinz, die nicht durchaus gewandte Professorentochter, und kontrastierte zu der klugen und heiteren Offenheit ihres Blickes. Sie hatte die Unsicherheit eines Menschen, der in einem bestimmten, eng begrenzten Milieu viel geliebt und verwöhnt worden ist, außerhalb dieses Milieus aber zu Minderwertigkeitsgefühlen neigt. Besonders in Nicolettas Gegenwart schien Barbara es gewöhnt zu sein, eine zweite Rolle zu spielen. Sie war deshalb erfreut und ein wenig belustigt darüber, daß dieser wunderliche Schauspieler, Hendrik Höfgen, auf eine so demonstrative Art sich ihr widmete, und sie setzte das Gespräch mit ihm nicht ungern fort.

«Ich mache so alles Mögliche«, sagte sie nachdenklich.»Eigentlich zeichne ich… Mit Theaterdekorationen habe ich mich viel beschäftigt. «Dies war ein Stichwort für Hendrik; er ließ die Unterhaltung lebhafter werden. Mit fliegendem Eifer, auf den Wangen eine helle Röte, sprach er von Wandlungen des dekorativen Stils, von all dem, was es auf diesem Gebiete neu zu entdecken oder wieder zu verwenden, zu verbessern gäbe. Barbara lauschte, antwortete, blickte prüfend, hatte Lächeln, rührend ungeschickte Gebärden der Arme, schalkhaft und versonnen tönende Stimme, die verständige, durchdachte Urteile sprach.

Hendrik und Barbara plauderten leise, angeregt, nicht ohne Innigkeit. Nicoletta und Marder inzwischen funkelten sich verführerisch an. Beide ließen alle ihre Künste spielen. Nicolettas schöne Raubtieraugen waren noch blanker als sonst; die Akkuratesse ihrer Aussprache bekam triumphalen Charakter. Zwischen den grell gefärbten Lippen leuchteten, wenn sie lachte und sprach, die kleinen und scharfen Zähne. Marder seinerseits ließ intellektuelles Feuerwerk sprühen. Sein beweglicher, zuckender Mund, dessen bläuliche Färbung äußerst ungesund wirkte, redete fast ununterbrochen. Übrigens hatte Marder die Neigung, mit größter Intensität immer wieder dieselben Dinge zu sagen. Vor allem bestand er mit einer passionierten Hartnäckigkeit darauf, daß die heutige Zeit, deren aufmerksamsten und berufensten Richter er sich nannte, die denkbar schlechteste, verkommenste und hoffnungsloseste aller Epochen sei. Es existierte in ihr keine geistige Bewegung, keine allgemeine Tendenz oder besondere Leistung, die sein fürchterlicher Anspruch irgend hätte gelten lassen. Vor allem fehlten in ihr, seiner Meinung nach, die Persönlichkeiten; er, Marder, war die einzige weit und breit, und er wurde verkannt. Das Verwirrende war, daß der Beobachter und Richter europäischen Verfalls dieser trostlosen Gegenwart keineswegs das Bild einer Zukunft entgegensetzte, die zu lieben und um derentwillen das Bestehende zu hassen wäre; daß er vielmehr, um das Seiende herabzusetzen, eine Vergangenheit pries, die doch gerade er durchschaut, verhöhnt und kritisch erledigt hatte. Die fiebrig animierte Nicoletta war nicht dazu geneigt, sich über irgend etwas zu wundern; sonst hätte es ihr wohl erstaunlich scheinen können, daß eben der Mann, der sich selbst den klassischen Satiriker der bürgerlichen Epoche zu nennen liebte, nun Offiziere der alten deutschen Armee und rheinische Industrielle zu Idealfiguren verklärte, die tadellose Disziplin und kühne Persönlichkeit sieghaft in sich vereinigten. Der alte Spötter, dessen selbstherrlicher, aber geistig richtungsloser Radikalismus ins Reaktionäre abgeglitten und entartet war, deklamierte schnarrendes Lob für die physischen und moralischen Qualitäten preußischer Generale und höhnte mit der gereizten Stimme eines Unteroffiziers die schlappe Weichlichkeit des heutigen Geschlechts.»Nirgends Zucht! Nirgends Disziplin!«schrie er so laut und zornig, daß die alten Herren, die bei ihren Rotweinflaschen saßen, erstaunt die Köpfe herdrehten. Auch die Frauen hatten jede Disziplin verloren, behauptete der aufgebrachte Marder. Sie verstanden nichts mehr von der Liebe, aus der Hingabe machten sie ein Geschäft, wie die Männer waren sie oberflächlich und vulgär geworden. Hier lachte Nicoletta so herausfordernd, daß Marder galant hinzufügte:»Ausnahmen gibt es natürlich!«

Mephisto. Roman einer Karriere / Мефистофель. История одной карьеры

Подняться наверх