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Einführung
ОглавлениеDieses Buch ist allen gewidmet, die unter der gegenwärtigen Situation in der Kirche leiden, insbesondere den Katholiken unter ihnen. Aber vielleicht findet es über den Tellerrand innerkirchlicher Fragestellung hinaus weitere interessierte Leserinnen und Leser. Die Spannung zwischen Loyalität und Widerspruch erleben Menschen schließlich in vielen anderen Zusammenhängen genauso – in Familien, Betrieben, Parteien, nationalen, konfessionellen und religiösen Zugehörigkeiten. Zu widersprechen in einer Gruppe, die einen Anspruch auf Loyalität hat und der man sich selbst loyal verbunden fühlt, ist immer mit innerem Ringen und äußeren Konflikten verbunden. In der Geschichte hat sich jedoch oft genug gezeigt, dass Menschen, die loyal Widerspruch einlegen, ihre Familien, Betriebe, religiösen Gemeinschaften und Nationen wirklich einen Schritt voranbringen. Widerspruch aus Loyalität ist ein Geschenk für alle Beteiligten.
Auslösend dafür, etwas zu schreiben, war für mich die Begegnung mit einem katholischen Elternpaar. Beide waren dankbar dafür, dass ihre drei Kinder über Weltjugendtage und andere Begegnungen in der Kirche eine unbefangene Freude an ihrer Katholizität gefunden hatten. Neben Postern von Fußballstars und anderen Kultfiguren der Jugendszene hingen weiß-gelbe Flaggen und Bilder des Heiligen Vaters in ihren Zimmern. Sie gehörten zu den aktiven Jugendlichen in der Gemeinde, und sie engagierten sich im Sinne der Kirche auch in Schule und Gesellschaft. Doch nun, so berichteten die Eltern mir, haben ihr Sohn und ihre Töchter die Vatikan-Flagge aus ihrem Zimmer abgehängt und die Papst-Poster in den Papierkorb gesteckt. Grund dafür sei der Umgang der kirchlichen Hierarchie und auch des Papstes mit – aus ihrer Perspektive – berechtigter Kritik.
Es gibt das Leiden an der Situation der Kirche, und es gibt das Leiden an diesem Leiden. Es gibt Kreise in der Kirche, die das Wort »Leiden an der Kirche« nicht hören können, ohne schon an diesem Wort und an denen, die es in den Mund nehmen, zu leiden. Damit steht die katholische Kirche vor einem ernsten internen Kommunikationsproblem. Die einen sind entsetzt darüber, dass der Papst exkommunizierte Bischöfe ohne inhaltliche Bedingungen wieder zu den Sakramenten zulässt, die anderen sind entsetzt über das Entsetzen und verstehen die ganze Aufregung nicht. Die einen finden den Anblick einer Kirchenleitung, die sich von einem Holocaustleugner mehr als eine Woche lang vor den Augen der Welt am Ring durch die Arena ziehen lässt, unerträglich, die anderen finden die Berichterstattung über diesen Vorgang unerträglich. Die einen sehen informelle Strukturen hinter wichtigen Personalentscheidungen am Werk und beklagen dies, die anderen haben Zugang zu diesen informellen Strukturen und beklagen sich über die Übermacht von Verfahren und Gremien, die sie behindern. Die einen sind über dieselben Entwicklungen ergrimmt, die bei den anderen Triumphgefühle auslösen. Die einen äußern sich kritisch darüber, die anderen diagnostizieren in der Kritik Feindseligkeit.
Der Vergleich mag gewagt sein, aber vielleicht trifft er doch: Die schlimmsten Kriege sind die Bürgerkriege. Das interne Kommunikationsproblem ist ein ernstes Problem, weil es eine Menge an Gewaltpotential in sich birgt. Meist fängt die Gewalt mit der Schärfe der Sprache an, die übergeht in Handgreiflichkeiten und schließlich in dauerhaften Zerwürfnissen mündet. Das trifft auch auf Religionen zu. Religiös motivierte Gewalt richtet sich in der Regel nicht gegen Mitglieder anderer Religionen, sondern gegen Gläubige der eigenen Religion, die abweichen.
In dieser Situation hilft das, was in der kirchlichen und besonders auch in der ignatianischen Tradition »Unterscheidung der Geister« genannt wird. Denn es ist für die Einheit der Kirche und anderer vergleichbarer Gruppierungen wichtig, zu einer gemeinsamen Sprache zurückzufinden, oder besser: vorzustoßen. Die Unterscheidung der Geister nimmt Gefühle ernst, statt sie einfach abzutun. Die »Bewegungen und Gefühle« sind in den ignatianischen Exerzitien der Stoff der Unterscheidung. Keine Gefühlsbewegung kann ohne den Akt der Reflexion, des »Kostens und Schmeckens« (GÜ 2)1 bewertet werden als Regung des guten Geistes oder des bösen Geistes (vgl. GÜ 314f.). Also ist die geistliche Reflexion die Tätigkeit, bei der wir ansetzen müssen, wenn wir nicht in den Gräben verharren wollen. Traurigkeit kann vom guten oder vom bösen Geist kommen, ebenso das Gefühl, Recht zu haben, oder das Triumphgefühl. Kritik kann vom guten oder vom bösen Geist sein. Entscheiden lässt sich das nur durch die geistliche Unterscheidung selbst, nicht durch verletzten Rückzug ins Schweigen oder durch wilde Polemik gegen die bösen Anderen.
Die ignatianischen Regeln zur »Unterscheidung der Geister« zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie nicht von vornherein bestimmte »Geister« als böse oder gut qualifizieren. Sie bestehen nicht in der Anwendung von abstrakten Prinzipien auf konkrete Situationen. Vielmehr geht es um eine Kunst des »Kostens und Schmeckens«, also um Wahrnehmungskunst. Da Gefühle wahrgenommen werden, lässt sich zunächst nichts verallgemeinern. Der eine ist traurig gestimmt wegen bestimmter Ereignisse, der andere nicht. Es macht keinen Sinn, dem anderen vorzuwerfen, dass er oder sie in derselben Situation anders empfindet als ich. Im Gegenteil, der Verschmelzungswunsch, der hinter diesem Vorwurf oft steckt, ist selbst einer geistlichen Unterscheidung zu unterziehen. Es gibt einen Unterschied zwischen wünschenswerter »Einheit« in der Kirche und Verschmelzung. Genau aus diesem Grund stehen die Regeln der Unterscheidung der Geister auch für einen Freiheitsraum in der Kirche, in dem niemand – außer dem guten und dem bösen Geist selbst – mitreden kann. Einheit steht nicht gegen Freiheit. Deswegen legt ja Ignatius Wert darauf, dass sich der spirituelle Begleiter in allen Dingen, »die der freien Entscheidungsmacht gestattet und ihr nicht verboten« sind (GÜ 23), herauszuhalten hat, also auf der Waage der Seele des anderen wie auf der eigenen Seelenwaage an jenem Punkt zu stehen hat, von dem her er das Ergebnis der Wägung eben nicht beeinflussen kann, nämlich »in der Mitte der Waage« (GÜ 15). Das gilt natürlich auch für die Frage, wann Kritik an Entwicklungen in der Kirche dran ist und wann nicht und nach welchen geistlichen Kriterien ich beurteilen kann, ob mein Impuls zur Kritik vom guten oder vom bösen Geist kommt, also aus Loyalität notwendig ist oder doch eher mit Lieblosigkeit und Illoyalität zu tun hat.
Eine Kirchenleitung, die nicht unterscheiden könnte zwischen loyaler und illoyaler Kritik, liefe Gefahr, sich von der Wirklichkeit zu entfernen und als Blindgänger durch die Welt zu laufen, gefährlich für sich und für andere. Die Enttäuschung der drei oben erwähnten Jugendlichen erreichte ihren Höhepunkt, als sie ihre loyale Kritik als Ausdruck von Illoyalität denunziert sahen, als anti-römischen Affekt und schließlich als Feindseligkeit gegenüber dem Papst. Sie verstanden schließlich auch die Äußerungen des Heiligen Vaters gegenüber seinen Kritikern so, dass er diese Stimmen bestätigte.2
Gewiss, es gibt auch lauernde Kirchenfeinde, die nur auf die Gelegenheit warten, eine Schwäche beim Papst oder bei den Bischöfen zu finden, um zubeißen zu können. Aber daraus folgt nur, dass man eben zwischen diesen »Kirchenkritikern« und den anderen unterscheiden muss. Tut man das nicht, erweist man der Kirche und auch dem Papst keinen Gefallen, auch dann nicht, wenn man sich lautstark als Verteidiger derselben aufspielt. Es gibt Verteidigungsstrategien, die dem Verteidigten mehr schaden als nutzen. Der böse Geist ist wirklich schlau (Gen 3,1).
Ich hoffe, dass die folgenden Überlegungen ein wenig zur Unterscheidung der Geister beitragen und zu loyaler Kritik ermutigen. Die Kirche und der Papst brauchen ebenso wie Familien, Gemeinschaften und Völker diesen Dienst an der Einheit, den der »böse Feind« gerne als Spaltung denunziert. Dabei soll in einem ersten Anlauf versucht werden, die Grundlagen des Verhältnisses von Loyalität und Kritik vor allem an Beispielen aus dem Evangelium zu bedenken. Im zweiten Anlauf geht es um die Frage, wie denn loyale Kritik von falscher Selbstsicherheit zu unterscheiden ist. Der dritte Anlauf handelt – insbesondere auch vor dem Hintergrund der ignatianischen Tradition – von der Vereinbarkeit zwischen Liebe zu und Kritik an der Kirche und am Papst. Der Impuls endet mit zwei Meditationen: eine über den Verdacht, die andere über die Macht des Schweigens und die Kraft des loyalen Widerspruchs.