Читать книгу Die klare Sonne bringts doch an den Tag - Klaus Scheidt - Страница 8
ОглавлениеErster Teil
Fundsache
Freie und Hansestadt Hamburg,
Bezirk Altona, Stadtteil Altona-Altstadt, Fischmarkt
Sonntag, 26.08.2001, 6:30 Uhr
»Ich werd‘ noch bekloppt wegen euch!«
Karl Stormann horchte auf und reckte den Hals, um nach dem Brüllenden zu fahnden. Er sah von fern, wie Wurst-Achim zu einer ellenlangen armdicken Salami griff und beidhändig mit ihr auf den hölzernen Verkaufstresen einprügelte, als habe dieser Schuld an seiner Misere.
»Darauf wartet ihr doch schon die ganze Zeit, während ich euretwegen mir den Mund fusselig rede. Und jetzt bin ich‘s wohl, denn nur ein Bekloppter macht so etwas wie ich.«
Der bullige Marktschreier warf die malträtierte Salami hinter sich; beidhändig raffte er zwei Handvoll Bockwürste zusammen und warf diese in hohem Bogen über die Menschenmenge. Die vor dem Stand dicht an dicht versammelten Leute staunten, lachten, schnappten nach den fliegenden Würsten und hatten ihren Spaß. Und Wurst-Achim tobte weiter in seinem Wurstladen auf Rädern wie auf einer Showbühne. Schließlich hatte er Erfolg, denn eine Gruppe von Touristen kaufte in Mengen Pfeffersalamis sowie andere Würste, herübergereicht in etlichen vollgestopften braunen Tüten aus Kraftpapier.
»Ihr macht‘s richtig!«, schrie er ihnen lauter hinterher als ein Brüllaffe. »Denn Wurstesser sind die besten Liebhaber. ‘Ne Dauerwurst und ordentlich Butter helfen dem Vater endlich wieder auf die Mutter.«
Während Stormann langsam umherging und das geschäftige Treiben um sich herum aufmerksam verfolgte, lächelte er gönnerhaft, denn seit einem seiner Mordfälle wusste er, wie hart die Jobs der Marktschreier waren. Seit einigen Wochen war er Rentner und kam häufiger hierher, was ihm leichtfiel als Frühaufsteher. Außerdem blieb er hier unter Menschen und konnte deren Tun und Lassen beobachten. So schien die Zeit schneller zu vergehen und er vermisste seine anspruchsvolle Tätigkeit als Kriminalhauptkommissar weniger als allein zu Hause.
Eine Bö fegte über die Elbe und den Fischmarkt hinweg. Die meisten Besucher zogen die Köpfe ein und blickten missbilligend empor zum wolkenverhangenen Himmel, denn das Wetter war keineswegs sommerlich und die meisten Leute waren angezogen wie im Herbst.
Mit der rechten Hand fasste Stormann rasch an die Krempe seines einfachen Panamahuts – er hatte noch einen naturfarbenen aus Ecuador von der Marke Montechristi-Fedora, den er nur trug, wenn er sicher war, dass kein Hanseat ihn damit ertappen konnte. Flugs wandte er sich von der Richtung des kühlen Windes ab. Sein stets wacher Blick erfasste eine Notlage und im Reflex eilte er zur Hilfe, gerade noch rechtzeitig, um mit seiner Linken einen Stapel loser Blätter am Davonfliegen zu hindern.
»Danke schön!«, bekam er zu hören, hastig gesprochen aber höflich im Ton, denn der junge Mann war beschäftigt, den Rest seines Sammelsuriums auf einem wackeligen Tapeziertisch aus Sperrholz zusammenzuhalten.
»Gern geschehen.« Mit seiner linken Schuhspitze stieß Stormann seitlich gegen einen der beiden Unterständer, damit dieser einrastete und der Tisch stabiler stand. Mit der rechten Hand nahm er ein altes Buch von einem Stapel und pfiff anerkennend, denn es war ein richtiger Wälzer. Um dessen Gewicht zu schätzen, hielt er ihn waagerecht auf der flachen Hand, bevor er das Druckwerk auf den Stapel loser Blätter legte. Dann entspannte er sich und sah zu, wie der junge Mann hinter dem Tisch seine Bücher, Militaria, Porzellan sowie allerlei Andenken auf knapp drei Meter Breite zurechtrückte.
Kein Krempel dabei. Anerkennend nickte Stormann mehrmals, während er die Rückentitel der längs und hochkant gestellten Bücher studierte. Nur gute Bücher und kostbare Sachen.
Er musterte den schlanken Verkäufer, der ihn um etwa zehn Zentimeter überragte, folglich über einen Meter neunzig groß sein musste. Der Mittzwanziger machte einen redlichen Eindruck und stammte wohl aus der gehobenen Hamburger Bürgerschaft, obwohl seine Kleidung etwas unordentlich arrangiert war. Dies lag wohl daran, dass er sichtlich unter Zeitdruck stand und entsprechend nervös agierte; außerdem schien er erstmalig einen Stand für einen Flohmarkt aufgebaut zu haben.
»Sie haben sich für Ihre wertvollen Sachen aber keinen guten Platz ausgesucht, mein Herr.« Stormann schüttelte den Kopf und blickte skeptisch, dann richtete er seine grünen Augen unverwandt auf des Gegenübers seit etlichen Tagen nicht rasiertes Gesicht. »Die gehören nächstes Wochenende auf den Collectors Antique-Market in den Colonnaden. Da sind Sie mit Ihren Kleinodien besser aufgehoben.«
Der junge Mann senkte seine Lider und sah verlegen lächelnd über seine Antiquitäten hinweg. Dann breitete er mit resignierender Geste die Arme aus. »Und ob ich dort besser aufgehoben wäre, da haben Sie völlig recht, mein Herr. Aber ich kann nicht so lange warten, weil es dann zu spät ist.«
»Zu spät für was?«
»Das ist viel zu spät sogar, denn meine finanzielle Deadline ist morgen schon um zehn Uhr. Bis dann muss ich in bar eingezahlt haben, sonst bekomme ich mächtig Ärger.«
»Von Seiten eines Gläubigers?«
»Nein, nicht was Sie denken, es wäre viel schlimmer.« Mehrmals wedelte der junge Mann mit beiden Händen, die Finger fächerförmig gespreizt, und spitzte den Mund wie zu einem stummen Pfiff. »Mein alter Herr macht mir die Hölle heiß, wenn ich morgen früh in Bremen nicht zur Abschlussprüfung zugelassen werde, denn er hat das Geld fürs Studium und die Prüfungsgebühren bereits vorgeschossen.«
»Dann haben Sie wohl Ihren Etat überzogen«, stellte Stormann fest, blickte aber verständnisvoll. »Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist besser; vor allem wenn man weiß, dass es in Hamburg einige Ecken gibt, an denen man sein Geld leicht loswerden kann, wie zum Beispiel ...« Mit dem Kopf machte er eine Bewegung in Richtung des bergauf liegenden Viertels Sankt Pauli.
Der junge Mann folgte mit fragendem Blick dieser Kopfbewegung, dann begriff er. »Nicht doch!« Abwehrend hob er beide Hände, jedoch rötete sich sein Teint über beide Backen hinweg sowie seitlich am Hals bis zu den Ohren. »Da gehe ich nicht hin.«
»So ist‘s recht, ein echter Hanseat liebt lieber in Sankt Georg.«
Noch heftiger schüttelte der Student den Kopf.
»Schon gut, das geht mich ja auch nichts an. Was studieren Sie denn eigentlich?«
»Seerecht.«
Stormann richtete sein sonnengebräuntes Gesicht wieder auf den Studenten. »Dann wollen Sie wohl mal ans Seegericht ...«
»Nein, bloß das nicht. Ich will Kapitän werden, aber mein Alter hat darauf bestanden, dass ich erst einmal Seerecht studiere, denn das wäre gewinnbringender für unser Unternehmen.«
»Das ist zufällig eine Reederei?«
»Volltreffer!« Der junge Mann hob grinsend den rechten Daumen. »Von Jügesen & Söhne.«
»Das hört sich nach einem Familienbetrieb an.«
»Richtig. Ich bin der Junior, Malte Jügesen.«
»Sehr schön für Sie, dann sind Sie ja schon im Geschäft. Aber wieso ...« Verwundert zeigte Stormann auf einige der besten Stücke. »Wieso müssen Sie dann ...«
»Weil ich überhaupt nichts zu melden habe, denn mein alter Herr schenkt mir kein Vertrauen.« Malte Jügesen druckste ein wenig herum, bis er mit der Begründung herausrückte. »Er ist der Meinung, ich wäre leider noch nicht soweit, ich sei ein … Luftikus.«
Stormann lachte herzlich, jedoch verhalten und er sprach leise, weil er nicht brüskieren wollte. »Eigentlich führen Sie gerade den Beweis für seine Einschätzung.« Um vom unangenehm werdenden Thema abzulenken, hob er mit drei Fingern der rechten Hand eine Ecke eines vergilbten Tuchs aus weißem Leinen sacht an und beugte sich hinab, um darunter zu lugen. Sein Verdacht bestätigte sich: Er erblickte den metallenen Lauf einer Pistole. Kopfschüttelnd sah er auf, während er den zerschlissenen Zipfel losließ.
»Herr Jügesen, hat jemand gesehen, dass Sie eine Waffe hier hingelegt haben?«, flüsterte Stormann.
»Bestimmt nicht, kaum hatte ich sie abgelegt, erfolgte schon der Windstoß.«
»Das ist gut für Sie.«
»Wieso denn?« Verständnislos hob Jügesen die Brauen.
»Weil Sie von allen guten Geistern verlassen worden sind: Das ist eine Waffe!«
»Natürlich weiß ich das, aber es ist doch bloß eine Walther PePeKa, schon uralt, eine Antiquität aus dem Zweiten Weltkrieg.«
»Bloß? Antik? Sie ahnen ja nicht im Geringsten, wie viele Ihrer Mitmenschen mit solchen ‚Antiquitäten‘ schon umgebracht wurden.« Behutsam tastete Stormann mit der flachen Rechten die Konturen der Walther PPK unter dem Tuch ab: Der Sicherungshebel befand sich in der unteren Position und der Ladestift an der Rückseite des Verschlusses war nicht zu spüren.
»Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen, mein Herr, dieses uralte Dingsda ist gesichert und das drinsteckende Magazin ist leer.«
»Gesichert ja, sonst könnte ich den Ladestift ertasten, aber das Magazin müsste ich nachsehen.«
»Das habe ich vorhin schon gemacht«, sagte Jügesen leise, den Tonfall des Gesprächs beibehaltend, aber der Klang seiner Stimme war nicht überzeugend.
Im Blick von Stormann funkelte sogleich der Zweifel. »Eine Waffe ist und bleibt eine Waffe und ich bin mir so gut wie sicher, dass man mit dieser Pistole noch schießen kann.«
»Und ob, bis kurz vor seinem Tod hat mein Großvater noch damit geschossen. Seit Kriegsende schon bestanden seine beiden Halbbrüder die ganzen Jahre über geradezu verbissen darauf, dass er mit ihnen um die Wette ballert – alle drei waren nämlich bei der eSeS. Mein Vater jedoch fasste sie niemals an und ich will sie erst gar nicht erben. Deswegen verkaufe ich sie heute. Hoffentlich.«
»Da machen Sie sich mal keine Hoffnungen, in keinster Weise. Im Gegenteil. Seien Sie heilfroh, dass ich Ruheständler bin, sonst hätte ich die Pistole längst konfisziert.«
»Ups!« Konsterniert blickend hielt Jügesen die linke Hand vor den Mund.
»Also so was von unbekümmert habe ich nun schon ganz lange nicht mehr erlebt. Ich drücke aber mal beide Augen zu, wenn Sie diese Waffe sofort wegpacken, wieder mit nach Hause nehmen und mir hoch und heilig versprechen, nie wieder so eine Riesendummheit zu machen.«
Dieses Mal röteten sich auch die Ohren des jungen Mannes und er fühlte sich wie ein Schwerverbrecher, so eindringlich hatte ihn sein Gegenüber angeblickt. Hastig griff er nach dem Leinenbündel und schubste es durch eine Ausstanzung in die unterste Kiste eines Stapels weißer Kartons, die rundum bedruckt waren mit blauen Emblemen und gelben Bananen.
»Apropos Dummheit.« Der vor kurzem erst pensionierte Kriminalhauptkommissar blickte ein wenig milder. »Ich habe den Eindruck, Sie wollen unersetzbares Familiensilber verscherbeln.«
»Ach was, dies hier ist nicht der Rede wert. Sie sollten mal sehen, wie viel wir hab...« Jügesen zog die Brauen zusammen. »Ähm, Moment!« Er gebot Einhalt, indem er mit beiden Handflächen eine imaginäre Barriere zu errichten schien, und blickte sein Gegenüber scharf an. »Jetzt möchte ich aber auch mal etwas wissen. Machen Sie das immer so mit dem Ausfragen?«
Nun war es Karl Stormann, der verlegen wurde. »So? Wirklich?« Mit der rechten Hand hob er seinen Hut ein wenig an und fuhr sich mit den Fingern der Linken durch das dunkelbraun gelockte, auf Streichholzlänge frisierte Haar. »Falls ich darauf nicht geachtet habe, liegt das wohl an meinem Beruf. Bis vor Kurzem war ich noch Kriminalpolizist und das Vernehmen von Verdächtigen war für mich sozusagen das Gelbe vom Ei.«
»Aha!« Malte Jügesen senkte seine Hände. Er beugte sich vor und zwinkerte vertraulich »Aber Sie sind doch nicht etwa hinter mir her?« Jedoch grinste er beim Sprechen – seine Reaktion war die eines unbescholtenen Bürgers.
»Ach was, wie ich schon sagte, bin ich Rentner.«
»Aber wegen Ihres langen und bestimmt erfüllten Arbeitslebens werden Sie sich nur schwerlich an Ihr frei gewordenes Leben gewöhnen, nicht wahr?«
»Das ist nur zu wahr.« Bedauernd zuckte Stormann mit den Schultern und ließ seinen Blick schweifen bis zum Versteck der Pistole. »Bestimmt werden noch mehr Leute bemerken, dass es mich immer noch reizen würde.«
»Einhundert De-Mark!« Malte Jügesen witterte seine Chance, die Waffe doch loszuwerden.
»Hören Sie sofort auf damit! Das kommt überhaupt nicht in Frage. Ich würde Ihnen höchstens ein nettes Geschenk abkaufen für meine erwachsenen Kinder oder die Enkel.«
»Ihre Enkel? Richtig wäre dann genau dieses Buch, welches Sie zum Beschweren genommen haben.«
Stormann blickte hinab auf den Blätterstapel mit dem Buch obendrauf. »Dieser schwere Wälzer? Mein ältester Enkel ist zehn Jahre jung und kann solch ein Buch kaum heben.«
»Aber das braucht er gar nicht, er kann es auf den Fußboden legen und darin blättern – so wie ich damals. Das reicht und der Inhalt ist bestimmt das Richtige für sein Alter.«
Ein wenig übertrieben seufzend packte Stormann das Buch an der Vorderkante und legte dafür mit der Linken ein anderes edles Druckwerk auf den Stapel loser Bögen; anschließend las er den Rückentitel halblaut vor: »Die schönsten Märchen der Gebrüder Grimm.«
»Na, was habe ich Ihnen gesagt?«
»Das soll ich verschenken? Sehen Sie doch selbst: Die Ränder des Einbands sind abgestoßen, einige Seiten sind angerissen, überall Eselsohren und sonstige Missbrauchsspuren.«
»Das war ich. Damals. Aber ich habe keine Blätter rausgerissen.« Hastig hob der junge Jügesen seine rechte Hand und beeidete mit drei gestreckten Fingern. »Ehrlichschwör! Und ich habe auch nicht darin herumgeschmiert.«
»Tja. Ein altes Buch ist nun mal gebraucht.« Stormann wog es mit der Rechten. »Und dieses hier ist trotz der rüden Attacken eines respektlosen Bücherwurms immer noch ein stattliches Exemplar.«
»Einhundert De-Mark.« Die Backen von Malte Jügesen blieben rot, dieses Mal wegen des Handelseifers, denn er musste ja noch seine Mission erfüllen.
»Na, na, so gut hat es Ihre exorbitante Lesebegeisterung nun auch wieder nicht überstanden.«
»Neunundneunzig.«
»Zehn.« Zweimal spreizte Stormann alle Finger der Linken.
»Achtundneunzig.«
»Einen Moment mal, lieber Herr Jügesen, wenn Sie so weitermachen, schaffen Sie Ihre Deadline nicht. Wir machen es kurz und treffen uns in der Mitte – fünfzig.«
»Fünfundfünfzig! Sie haben bei zehn angefangen.«
»Na gut, meinetwegen, aber nur weil Sie es nötig haben – fünfundfünfzig.« Begütigend hob Stormann die linke Hand, während er mit der anderen das Buch ablegte und seine Brieftasche aus der inneren linken Brusttasche seines Jacketts holte. »Bitte gut einpacken, ich gehe noch nicht nach Hause.«
Hastig umwickelte Jügesen das Buch mit mehreren Zeitungsbögen des Abendblatts; von seinem extrabreiten Paketbandabroller zog er hellbraunes Klebeband ab, rundherum und kreuz und quer. »Wetterfest!« Er beugte sich vor und legte das Werk auf den beschwerten Stapel loser Blätter.
»Na na, ein seriöser Paketdienst würde das ganz bestimmt nicht annehmen«, brummelte Stormann, während er die noch sichtbare Titelzeile der Wirtschaftsnachrichten las: ‚Der Euro kommt – ganz sicher‘. »Aber bis zur Außenalster hält es wohl, da treffe ich meinen Kollegen.«
»Ex-Kollegen.«
»Auch daran muss ich mich erst noch gewöhnen.«
Karl Stormann reichte Malte Jügesen drei Zwanzig-Deutsche-Mark-Scheine, winkte mit der Linken gönnerhaft ab, während er die nun freie rechte Hand zum Abschied bereit hielt. Er drückte so kräftig, dass er den wesentlich Jüngeren sogar ein wenig in die Knie zwang, denn dieser war längst nicht so athletisch wie er selbst. »Ich drücke Ihnen beide Daumen, dass Sie erfolgreich sind.« Er klemmte sich den Packen unter die linke Achsel, zwinkerte aufmunternd und wandte sich ab Richtung Innenstadt, um an die Alster zu gelangen.
Abrupt wandte er sich noch einmal um und unauffällig imitierte er mit rechtem Daumen und Zeigefinger Hahn und Lauf eines Revolvers. »Wirklich keine Dummheiten mehr! Ja?«
»Neiiin! Ehrlichschwör!«
Beruhigt ging er weiter.
»Ich werd‘ ganz bestimmt noch mal so richtig bekloppt wegen euch!«, schallte es zum wiederholten Mal in seine Ohren, unterlegt von rhythmischem Knallen, verursacht von Vollkontakten zweier Hartwürste mit zwei Holzbrettern eines Verkaufstandes.
*
Freie und Hansestadt Hamburg,
Bezirk Eimsbüttel, Stadtteil Rotherbaum, Alstervorland,
Westufer der Alster, nähe Fährdamm/Alsterschiffanleger
Sonntag, 26.08.2001, 8:00 Uhr
Clemens Brüwer, über zwei Zentner schwer, saß auf einem mit signalrotem Stoff bezogenen Klappstuhl aus Aluminium, die großen Hände umfassten das Knie seines linken Beins, welches er übers andere geschlagen hatte. Sein Blick schweifte über die sich kräuselnde Wasserfläche der Außenalster sowie die luftigen Fassaden der gegenüber stehenden Stadtvillen.
Gelegentlich beobachtete er die leicht durchhängende Angelschnur und ersehnte das Untergehen des Schwimmers, hinabgezogen vom größten Fisch, der je in diesem Gewässer gelebt hatte. Jedoch bewegte sich das über zwanzig Meter entfernte knallrote Hütchen stets nur im Rhythmus winziger Wellenlinien, verursacht von der Fähre, die nach Uhlenhorst abgefahren war.
»Ich dachte, wir gehen eine flotte Runde um die Außenalster, stattdessen schlägst du hier Wurzeln.«
Diese Stimme kannte Brüwer wie keine andere; er wandte ruckartig seinen Kopf und sah den Rufer näher kommen. Sogleich fiel ihm das wirre Päckchen auf, welches unter der linken Achsel von Karl Stormann klemmte.
»Moin, Kalli! Wo bleibst du denn schon wieder?« Mit hochgezogenen Brauen sah Brüwer dem Ankömmling entgegen. Mit rechtem Zeige- und Mittelfinger schob er die Schiebermütze ein wenig nach hinten, sodass der Ansatz seiner Stirnglatze sichtbar wurde. »Du wolltest viel früher hier sein.«
»Guten Morgen, Klemmi. Ich war sogar noch früher auf wie sonst. Deswegen habe ich einen Abstecher zum Fischmarkt gemacht; jedoch habe ich dort mehr Zeit verbracht, als ich dachte.« Verstohlen linste Stormann nach dem Packen. »Aber es scheint sich gelohnt zu haben.«
»Meinst du?« Erneut hob Brüwer die Brauen. »Das muss es! Denn mich hier einfach sitzen zu lassen ...«
»Wieso nicht, was sonst noch macht denn ein Angler?«
»Er denkt über das Leben, die Welt und den Rest des Universums nach. Zum Beispiel erinnere ich mich gerade an einen unserer Mordfälle, jenen damals im Angelcenter in Schnelsen. Weißt du noch, was für ein Gesicht du gezogen hast, als wir die nackte Leiche in der mannsgroßen Metallkiste fanden, randvoll mit satten Tauwürmern?«
»Hör sofort auf!«
»Du guckst schon wieder genau wie damals.« Brüwer lachte dermaßen, dass rund um seine Gürtellinie herum der Wohlstandsspeck wabbelte. »Und was hast du dich geschüttelt und auch noch fast reingekotzt. Aber die Leiche hatte ja auch ausgesehen wie ...«
»Klemmi, bitte! Hör sofort auf mit diesem Horror, sonst verschwinde ich auf der Stelle.«
»Ja, ja, schon gut. Nur fällt mir beim Angeln partout nichts Besseres ein.«
»Dann wird es höchste Zeit, dass du auf andere Ideen kommst: Nämlich mit deiner herzallerliebsten Ehefrau endlich wieder mal etwas zu unternehmen.«
»Hör sofort auf!«
»Ja, jetzt schüttelst du dich.« Stormann blickte angriffslustig. »Ich stelle mir gerade vor, wie du mit ihr einen wundervollen Ausflug machst nach ...«
»Kalli, bitte! Hör sofort auf mit diesem Horror, sonst werfe ich dich in die Alster. Meine Frau geht doch noch jahrelang arbeiten und hat gar keine Zeit mehr für mich, weil sie mich als Rentner erst recht nicht für voll nimmt. Das weißt du ganz genau.«
»Und du weißt ganz genau, wovor ich mich ekle. Also sind wir jetzt quitt.«
»Ausnahmsweise mal«, murmelte Brüwer und winkte mit routinierter Geste ab, dann bückte er sich und nahm die Angel aus der Halterung.
»Nein, sondern stets wie gehabt.« Stormann wedelte wie üblich mit dem Zeigefinger. »Du hoffst wohl immer noch, du könntest mich jemals verbal übertrumpfen.«
»Einmal schaffe ich es. Wetten wir?«
»Wir werden sehen und ich wette nie.«
»Schon gut. Also was hast du da drin?« Mit seinem linken Daumen wies Brüwer auf das Paket. »Die erste Lieferung vom Großhändler mit zum Anbeißen verführenden Tauwürmern für mein allerneuestes Hobby?«
»Die können warten, bis ich sie auf dich kippe, wenn du in der Kiste liegst. Dann siehst du auch so aus wie ...«
»Du bist ein Scheusal!« Brüwer schüttelte sich, während er begann, die Angelschnur zurück auf die Rolle zu kurbeln. »Ittigitt. Aber die würden sich an mir den Magen verderben.«
»Falls du von deiner Frau vergiftet worden wärst, ja.«
»Ich gebe mich geschlagen. Also, was ist in dem Paket?«
Noch steckte Angriffslust in Stormann. »Zuerst wollte ich einen wunderschönen großen und ganz frisch in der Außenalster gefangenen Fisch für dich kaufen ...«
»Mit deinem Gequatsche schlägst du selbst Wurst-Achim aus dem Feld.« Brüwer hielt die Rute schlagbereit wie eine Baseballkeule. »Da konntest du noch nicht wissen, dass ich ab heute Morgen meinem allerneuesten Hobby fröne.«
»... stattdessen jedoch habe ich ein wundersames antikes Buch erstanden und ...«
»Ein Buch auf‘m Fischmarkt?« Mit scheelem Blick sah Brüwer seinen Ex-Kollegen an. »Bist du sicher, du warst nicht schlafwandeln, sondern wirklich auf ...«
»... werde es meinem Enkel schenken. Vorher jedoch schaue ich selber mal rein.«
»Harry Potter, Band Fünf?« Die grau gewordenen buschigen Brauen hochgezogen, kurbelte Brüwer das letzte Stück der Polyamidschnur auf die Rolle.
»Ich sagte doch: antik! Eine Liebhaberausgabe der schönsten Märchen der Brüder Grimm, bestimmt wertvoll, erstanden jedoch zu einem günstigen Preis von einem sich in Geldnot befindenden Reederei-Erben, welcher neben den Fischmarktständen einen wackeligen Tapeziertisch aufbaute, um einen Teil des Familiensilbers zu verscherbeln.«
»Erben kommt erst nach‘m es-te von sterben und deswegen wird manchmal ein wenig nachgeholfen. Dies gegebenenfalls herauszubekommen haben wir ja wie aus dem Effeff beherrscht.« Wehmütig seufzte Brüwer, während er ergeben abwinkte. »Na, welche Märchen sind‘s denn?«
»Auf jeden Fall ist die Geschichte vom armen Fischer Brüwer un’ sinner Fru drin.«
»Hä, hä, sehr witzig.«
»Würde schon passen, weil deine Frau Ilse heißt.« Stormann grinste anzüglich, aber schon einen Wimpernschlag später folgte die besänftigende Geste. »Der Buchtitel fiel mir auf, ansonsten habe ich es nur flüchtig durchgeblättert. Ich sehe es mir in Ruhe an, bevor ich es für meinen Enkel hübsch einpacke. Eigentlich könnte ich mir die Mühe sparen, denn mein Lieblingsenkel wickelt nichts aus, sondern zerfetzt jede Umhüllung voller Vorfreude auf das neueste Pokémon-Sammelalbum.«
»Dann wirst du ihn schwer enttäuschen. ‚Bäääh!‘, wird er schreien, ‚ein altes Buch‘. ‚Ich will keine blöden Märchen lesen, sondern mit Pikachu und Mewtu und Bisasam, meinen Lieblingspokémons, spielen‘. Dann wirft er sich auf die Erde und traktiert mit Füßen und Fäusten das Parkett.«
»Nun mach mal halblang, mein Enkel ist schon zehn Jahre alt, außerdem hat er sich noch nie hingeschmissen, denn er gehört zu jenen Kindern, die redlich erzogen werden.«
»Aber losheulen wird er.« Mit prüfendem Blick zur Spitze der Rute holte Brüwer weit aus.
Stormann hastete außer Reichweite und duckte sich leicht. »Heulen würde meine Enkelin, wenn sie nicht den neuesten Harry Potter bekommt. Der Junge steht neuerdings auf Indianer und die kennen bekanntlich keinen Schmerz.«
»Du weißt ja gut Bescheid über deine Enkel. So wie ich.«
»Na klar. Wir sind doch jung gebliebene Großväter der neuesten Generation – immer auf dem aktuellen Stand der Enkelvorlieben.«
»Warum willst du‘s ihm antun, wenn du schon weißt, wie er darauf reagiert?« Kopfschüttelnd konzentrierte Brüwer sich auf den Wurf.
»Er liest ja eigentlich gern, nur reizen muss es ihn. Darum ist es mir einen Versuch wert. Genau wie du mit deinem Angeln ja auch noch eine klitzekleine Hoffnung hast auf ...«
»Was heißt hier klitzekleine Hoffnung?« Empört senkte Brüwer die Rute und richtete ihre Spitze gegen seinen Ex-Kollegen. »Das ist keine klitzekleine Hoffnung, die mich heute Morgen hierhergeführt hat, sondern die riesengroße Gewissheit, den dicksten Stör der Alster zu fangen.«
»Leider muß ich deine riesengroße Gewissheit wieder zu einer klitzekleinen Hoffnung machen, denn in der Außenalster gibt es keine Störe.«
»Jetzt pass mal auf, du Besserwessi. Nun kommt mein durchtrainierter Angelrutenweitwurf bis mitten in die Alster, wo der dickste Wels auf meinen Köder wartet.«
Brüwer holte mit der Rute so weit aus wie möglich und tatsächlich gelang ihm ein passabler Schwung. Der Haken platschte in die Alster, weiter als ein weltrekordverdächtiger Kugelstoß vom Ufer entfernt. Die beiden Ex-Kommissare hätten den roten Schwimmer kaum noch erkannt, wäre er nicht von jedem Wellenkamm emporgehoben worden.
»Na, Kalli, hast du gesehen?« Freudestrahlend blickte Brüwer über die gesamte Wasserfläche der Alster hinweg. »Mit meinem Schwung könnte ich glatt bei der Weltmeisterschaft im Weitwerfen mitmachen.« Dann rammte er das Ende der Rute schräg ins Erdreich unter hohem Gras und legte den golden glänzenden Stielgriff in die bereits steckende Gabel der Halterung.
Mit feinem Lächeln verfolgte Stormann die ungelenken Bemühungen und verbalen Übertreibereien seines Ex-Kollegen; längst hatte er sich an dessen Schrullen und keineswegs ernst gemeinte Sprüche gewöhnt.
»Ich schätze mal, das waren gute fünfundzwanzig Meter«, murmelte Stormann und nachdenklich blickend zwickte er sein rechtes Ohrläppchen, »und soviel ich weiß, wirft ein guter Sportangler über acht Mal so weit.«
»So?« Brüwer wiegte den Kopf und kniff das rechte Auge zu. »Aber wahrscheinlich nur mit mindestens zehnfachem Anlauf.« Dann winkte er ab und wies mit dem Daumen über die Schulter. »Jetzt pack doch mal aus, wir haben ja Zeit bis ...«
»... der Riesenwels anbeißt.«
»Du hast das jetzt gesagt.«
»Ist ja schon gut. Ich zeige dir liebend gerne das Buch, denn die Verpackung trete ich ohnehin gleich in die Tonne, nachdem ich zuhause bin.«
Nach einigem Ratschen und Geraschel zog Stormann das wuchtige Druckwerk aus der seitlich offenen Verpackung, trotz aller Sorgfalt jedoch glitt es ihm aus der linken Hand.
»Vorsicht!«, rief Brüwer und erwischte das beim Fallen aufklappende Buch gerade noch an einer Ecke. Nachdem er zugepackt hatte, rutschte ein etwa DIN-A5-großer Zettel heraus und schwebte hinab auf die breitgetretenen Grashalme der flachen Uferböschung.
Hastig bückte sich Stormann danach, fasste den Wisch mit drei spitzen Fingern und richtete sich wieder auf. Ein Blick auf die verblasste Tinte genügte ihm. »Aha«, murmelte er und ahmte unwillkürlich den Schauspieler Erich Ponto nach, denn die ‚Feuerzangenbowle‘ von 1944 war einer seiner Lieblingsfilme, »das ist aus einem Schoolheft gerissen ...«
Mit beiden Händen hielt Brüwer das aufgeschlagene Buch und musterte die zwei offenen Seiten. Auf der linken stand nach einigen Zeilen schon ‚Ende‘, aber auf der rechten fing ein neues Märchen an, dessen Überschrift es ihm sogleich angetan hatte; halblaut las er sie vor: »Die klare Sonne bringt’s an den Tag.«
Voller Eifer stellte er sich dicht neben seinen Ex-Kollegen, griff mit der Linken unter das Buch und tippte mit dem nun freien rechten Zeigefinger auf die in Fraktur fett gedruckte Überschrift. »Das passt ja zu uns wie die Faust aufs Auge. Wir haben ja auch immer alles rausbekommen.«
»Fast alles.«
»Nun sei mal nicht so pingelig.« Brüwer meinte es todernst. »Unsere Erfolgsquote war die allerbeste überhaupt.«
»Kunststück, wir waren ja auch im richtigen Dezernat, denn bei Mord und Totschlag ist die Aufklärungsquote ohnehin die höchste.«
»Weil da waren wir.« Mehrmals tippte Brüwer den rechten Daumen gegen sein Brustbein, drückte die Lendenwirbel durch und erreichte sein Gardemaß von einem Meter achtundachtzig.
»Nun ja, wir waren schon nicht schlecht.« Stormann mühte sich, mit Hilfe des anderen Arms die Verpackung unter der linken Achsel zusammenzustauchen.
»Abgesehen von der Leiche in der Kiste mit den ...«
»Hör bloß auf, sonst werfe ich deine Angel in die Alster.«
»Schon gut, was steht denn nun auf dem Wisch?«
Stormann wedelte mit dem Zettel. «... und das hier scheint ein Corpus Delicti zu sein oder sogar ein Geständnis. Bei einem Kommentar zu so einem Titel ahne ich schon den letzten Satz, ohne die Story zu kennen: »... und die Moral von der Geschicht’, erwischt wird jeder Bösewicht!«
»Was steht denn nun drauf?«
Nun fasste Stormann auch mit der rechten Hand das Papier und hielt das Blatt nah vor seine Augen. »Das scheint tatsächlich ein Stück aus einem Schulaufsatz zu sein ... wohl geschrieben von dem aufs Erbe wartenden Buchverkäufer. Als Krakelloge, ähm, Graphologe würde ich diese wackelige Schrift und den Ausdrucksstil einem elf- oder zwölfjährigen Jungen zuordnen.
Also, der hat geschrieben: Gestern habe ich als Vorleseübung meiner Familie das Märchen ‚Die klare Sonne bringt’s an den Tag‘ von den Gebrüdern Grimm vorgelesen. Das Märchen, das ich lesen üben soll, hat mein Opa ausgesucht, er hat einen Fingernagel in das Buch reingesteckt und aufgeklappt und gelacht und gesagt ‚Nun lies mal schön vor‘. Ich habe das Märchen vorgelesen und alle haben gut zugehört, nur mein Opa regte sich auf und sagte ‚Das kommt nicht alles raus, nee, nee. Sowas gibt’s, Gott sei Dank, nur im Märchen, sowas.‘ ,Opa, was kommt nicht raus?‘, habe ich gefragt und meine Eltern haben sich nur angeschaut. Und mein Opa hat sich noch mehr aufgeregt und ist weggegangen und Papa hat gesagt ‚Dein Opa hat was, was ihn bedrückt, ich weiß nicht was, aber er stöhnt nur und sagt nichts und ich soll ihn nie mehr fragen danach und nicht mehr daran denken‘ und es geht mir aber immer noch im Kopf rum und ich schreibe das auch hier und frage nicht weiter. ‚Malte, komm mal her!‘, rief mein Großvater einige Tage später und ich ...«
Stormann ließ mit der Linken das Blatt los und wedelte damit hin und her. »... und der Rest des Aufsatzes fehlt leider.«
Brüwer sah vom Buch auf. »Wohl mit einer schlechten Note bewertet und darum abgerissen und verbrannt worden.« Stirnrunzelnd schlug er eine Seite um. »Tja, dieser Opa scheint ordentlich Dreck am Stecken zu haben. Vielleicht ‘ne alte Jugendsünde. Was meinst du? Wieder reinlegen und das Buch zuklappen?«
»Ich glaube ja auch nicht, dass etwas Besonderes daran ist.« Stormann ließ den rechten Arm sinken und schaute lange auf den Zettel hinab. »Mir geht es eher darum, ob es für unseren Studenten ein Erinnerungsstück sein könnte. Darum würde ich es ihm gerne wiedergeben.«
Ohne das Buch loszulassen, blickte Brüwer auf seine Armbanduhr. »Noch würdest du ihn auf dem Fischmarkt antreffen, ansonsten kannst du ihn suchen wie eine Nadel in einem Heuhaufen namens Hamburg.«
»Es gibt einen Anhaltspunkt: Reederei Jügesen und Sohn. Die darf er eines Tages erben.«
»So? Dann bist du ja schon auf dem richtigen Weg.« Schräg über den Wasserspiegel der Außen-Alster hinweg zeigte Brüwer auf einige Uhlenhorster Stadtvillen. »Dieser Schifffahrtsgesellschaft gehört weiter hinten am Kanal ein rötliches höheres Haus; von hier aus siehst du noch das Glasdach. Das ist der Stammsitz der Firma, und die Familie des Inhabers wohnt oben im Loft. Das weiß ich, dort war ich nämlich mal wegen mehrerer Zeugenbefragungen. Da hast du sogar heute noch eine Chance, obwohl Sonntag ist.«
Stormann schob die Seite des Schulhefts zwischen die nächsten beiden Blätter der märchenhaft geschriebenen Parabel über höhere Gerechtigkeit, nahm Brüwer das Buch ab, klappte es zu und schob den Wälzer wieder in die Umhüllung. Entschlossen wandte er sich um. »Dann gehe ich erst mal weiter statt zurück. Kommst du mit oder willst du hier Wurzeln schlagen?«
»Falls du die Fähre nimmst ...«
»Das dauert mir viel zu lange, bis die wieder hier ist, außerdem war ein Spaziergang um die ganze Außenalster abgemacht. Aber bleib getrost hier, denn ich komme auf meiner Runde sowieso bei ‚Fisch Böttcher‘ vorbei und werfe einen Bestellzettel in den Briefkasten ein. Als Spende von mir an dich sollen sie am Dienstagmorgen einen wunderschönen riesengroßen und erst montags frisch in diesem Gewässer gefangenen Fisch zu dir nach Hause bringen.«
Mit solcher Wucht riss Brüwer die Angelrute aus dem Rasen, dass ein Stück Soden am Griff hängen blieb. »Mach dich jetzt auf die Socken, sonst gibt‘s gleich einen frisch gefangenen Stormann-Stör!«
»Störe gibt es hier nicht. Das habe ich dir schon gesagt. Welse erst recht nicht.«
Mit beiden Händen packte Brüwer die Rute wie einen Spieß und versuchte, seinen Ex-Kollegen mit dem stumpfen Ende ins Alsterwasser zu stupsen. »Dann sorge ich jetzt dafür, das es endlich hier einen gibt.«
Jedoch wich Stormann geschickt aus und schmunzelnd deutete er einen Salut an, indem er mit dem rechten Zeige- und Mittelfinger an die Krempe seines Panamahuts tippte. Während des Fortgehens wandte er sich noch einmal um. »Übrigens ist Angeln ohne Schein hier verboten. Pack ein und komm mit, wenn du dein ganzes Angelzeug nicht gleich wieder loswerden willst.«
»Bah, das wird schon gut gehen.« Mit Hingabe widmete sich Brüwer wieder seinem Hobby. »Zisch endlich ab.« Abrupt wandte er sich noch einmal um. »Übrigens wird dein Enkel diese alte Frakturschrift gar nicht lesen können. Du wirst schon sehen.«
*
Schleswig-Holstein, Kreis Herzogtum Lauenburg,
Herrenhaus von Jügesen im Billetal
am Nordrand des Sachsenwaldes
Freitag, 3. Mai 1918 – nachmittags
Banner- und Reichsfreiherr Otto von Jügesen nähert sich zu Fuß der Einfahrt zum Gutshof seiner Familie. Er keucht unter der Last seines Seesacks und der großen Umhängetasche, außerdem trägt er einen wetterfesten Ledermantel über seiner Offiziersuniform. Am gusseisernen, haushohen Torgitter angelangt, stellt er sein Gepäck ab und verschnauft; zum wiederholten Mal verflucht er in Gedanken seinen Wagen, dessen Motor nur drei Kilometer vor dem Ziel elendig verreckt ist. In der freien Natur, mitten auf dem einsamen Weg nach Hause, ist an eine Reparatur nicht zu denken; die ‚Karre‘ samt hilflosem Chauffeur lässt er einfach stehen. ‚Popel-Kiste‘ tauft er seinen nagelneuen ‚Opel 9/25 PS Doppelphaeton‘ sogleich und tritt vorm Fortgehen mit Wucht gegen das linke Vorderrad.
Der 26 Jahre alte Oberleutnant zur See zieht einen handspannenlangen, eisernen Schlüssel mit breitem Bart aus der rechten Manteltasche und steckt ihn ins metallisch glänzende Schloss. Er öffnet, zieht sein Gepäck hinein und schließt hinter sich wieder ab. Ein letztes Mal schultert und hebt er seinen Ballast. Aber das Schreiten auf der knapp einen Kilometer langen Allee zum Herrenhaus fällt ihm bei jedem Ausholen leichter, denn er ist sicher, seine Ehefrau wartet auf ihn; Gertrud von Jügesen ist erst seit vier Monaten mit ihm verheiratet.
Eine Überraschung will er ihr nun bereiten, schleicht sich hinein in die gute Stube und sieht sie nebenan nahe dem Fenster sitzen. Sie beugt sich über eine Stickerei und schaut nicht hinaus, denn sie geht davon aus, das Knattern des Motors zu hören, bevor der Wagen über die viertelbogenförmige Rampe hinauf bis vor die weitgeschwungene Steintreppe des Haupteingangs gelenkt wird. Eine Strähne ihres blonden Haars hat sich aus dem Dutt gelöst und reicht hinab bis auf den Rahmen der Stickerei. Sie schwingt ihren Kopf zur Seite, damit die Strähne nicht bei der Arbeit stört. Ottos Herz schlägt schneller und er würde sich am liebsten zu ihren Füßen niederstürzen.
Jedoch besinnt er sich, geht rücklings bis zum Haupteingang zurück, schließt von außen und klopft ans hölzerne Gebälk, erst sacht, dann fester; klingeln will er nicht, denn der Ton der Schelle ist ihm zu schrill. Jedoch ist ein Dienstbote zuerst an der Tür, verbeugt sich tief und abgetaucht bleibend nimmt er die vor der Tür abgestellten Mitbringsel an sich. Eilends zieht er sich zurück, als Gertrud von Jügesen, geborene von Reinern, ihrem Ehemann entgegenkommt und ihn so innig, wie der Anstand es zulässt, in die Arme schließt.
Die junge Baronesse hätte einen Mann von noch höherem Stand heiraten können, ihre Familie jedoch drängte sie zur Verbindung mit dem einzigen Sohn der steinreichen Reedereifamilie von Jügesen. Außerdem erhoffte sich ihr Vater, ein mit finanziellen Widrigkeiten ringender Baron, eine nützliche Beziehung zur Familie von Bismarck. Denn Otto von Bismarck, der ehemalige Reichskanzler, und Ottos Großvater Tormud von Jügesen waren seit ihrer Studentenzeit in Göttingen Korpsbrüder und blieben freundschaftlich verbunden bis zu ihrem Lebensabend.
Nachdem Otto von Bismarck sich zur Ruhe gesetzt hatte, wurden sie sogar gute Nachbarn und in den letzten Lebensjahren des ehemals eisernen Kanzlers besuchte die Familie von Jügesen ihn häufig in Friedrichsruh im Sachsenwald. Tormuds einziger Enkel wurde dem ehemaligen Reichskanzler zu Ehren auf den Namen Otto getauft; selbstverständlich nahm der alte Bismarck die ihm angebotene Taufpatenschaft an.
Der kleine Otto erinnert sich kaum an seinen berühmten Paten, denn dieser verstarb wenige Jahre nach der Taufe. Nur noch vage entsinnt er sich, dass er von ihm häufig auf den Arm genommen wurde und ihm viele Altersweisheiten ins Ohr geflüstert wurden. Aber eine davon hat er für immer und ewig behalten: ‚Was du anfängst, mein Junge, mache auch zu Ende; wenn du fehl gehst, stehe dazu und bring‘s in Ordnung!‘.
Nun ist Otto in den besten Jahren und gerade nach Hause gekommen. Er bedrängt seine Ehefrau, fasst ihre Hände und zieht sie mit sich, denn er will sofort ins Schlafzimmer – gleich nach den Flitterwochen nämlich musste er wieder nach Kiel zur Hochseeflotte und war drei Monate auf See, denn das kaiserliche Deutschland führt Krieg.
»Am helllichten Tag?« Sein gesittetes Eheweib reagiert zutiefst empört. Zwar hat sie sich monatelang nach ihm gesehnt, jedoch ist das für sie partout kein Grund, die Etikette zu missachten – darauf achtet sie penibel. »Es ist Teezeit.«
»Zum Kuckuck mit dem Tee, ich war drei Monate auf See!«
»Jetzt bist du aber nicht mehr im Seekrieg, Otto von Jügesen! Rede wieder anständig und benimm dich endlich, wie es sich als Reichsfreiherr gehört. Du wirst dich wieder gedulden und aushalten lernen müssen. Ich jedenfalls hatte überhaupt keine Umstände damit, für längere Zeit auf die Erfüllung meiner ehelichen Pflichten zu verzichten.«
Ihm bleibt nichts anderes übrig, als betrübt blickend loszulassen und, sich der Etikette ergebend, darauf zu warten, bis sie die Zeit für gekommen hält.
Abends jedoch wird ihr, wie seit Tagen, wieder übel und sie klärt ihn darüber auf, dass sie wohl ein Kind von ihm erwartet, was die Erfüllung ehelicher Pflichten ohnehin auf längere Zeit überflüssig mache. Die Freude über den möglichen Nachwuchs hält sich bei ihm in Grenzen, denn ihn treibt gerade anderes um.
Während die Gattin bereits tief schläft, steht er auf, um in den Weinkeller zu gehen. Er braucht jetzt einen Schlaftrunk. Elektrisches Licht gibt es bei ihm im Keller noch nicht, aber bald, das schwört er sich. Mittels einer Laterne findet er den Weg zu den Fässern und stutzt, als er die eichene Tür zum Flüssigkeitsdepot nur leicht angelehnt sieht. Geräusche dringen durch den Spalt, Gläserklingen und leises Kichern sind zu vernehmen. Er zieht am Griff, schwenkt das Türblatt bis zur Wand, stellt sich in Positur und reckt die Laterne ins Dunkle.
»Was geht hier vor?«, schnarrt er, ganz der Offizier. Breitbeinig mit in die Hüfte gestemmter linker Faust blickt er hinab in den Kellerraum. Was er im Licht der Laterne und den flackernden Flämmchen von zwei Kerzen auf einem winzigen Tisch sieht, verschlägt ihm die Stimme: Zwei in Wolldecken eingemummelte Frauen hocken dort unten und scheinen sich am flüssigen Schatz des Hauses zu laben.
Als junge Mädchen traten die Schwestern Willmersen ihre Stellen als Dienstmägde bei den Herrschaften von Jügesen an, lange bevor der von Deutschland durchaus gewollte Krieg ausbrach. Obwohl nun im besten Heiratsalter wirtschaften sie immer noch im Herrenhaus. Zutiefst erschrocken sind sie jetzt und blicken bänglich auf. Im nächsten Augenblick jedoch erkennen sie die Gunst der Stunde, denn der schneidige Oberleutnant mit dem nach beiden Seiten gezwirbelten hellblonden Oberlippenbart und den gegelten glatt nach hinten gekämmten Haarsträhnen gefiel ihnen schon, als er noch in der Pubertät steckte.
»Huch, da haben Sie uns aber einen gehörigen Schrecken eingejagt, Herr Oberleutnant von Jügesen.« Die Martina sagt das, die Jüngere. Sie schmeißt den ganzen Haushalt, ist die geistesgegenwärtigere und hübschere von beiden. Außerdem macht der Alkohol intus sie schon etwas mutiger. »Unsere Arbeitstage sind so anstrengend, da brauchen wir mal hin und wieder etwas zum Ausgleich.«
»Ihr sauft meinen Wein!«
»Nur ein klitzekleines Gläschen war‘s, wir haben nämlich etwas noch Besseres.«
»Auch aus meinem Lager? Auch geklaut?«
Geübt macht die Martina ein Schnütchen. »Aber Herr Oberleutnant von Jügesen, sein Sie doch nicht so streng zu uns. Sie wissen doch, wie fleißig wir für Sie jeden Tag zu Werke gehen. Gönnen Sie uns doch diese kleine Belohnung.« Jetzt schnurrt sie sogar ein wenig.
Recht hat sie, die Martina, denkt er sich, die beiden sind eilfertig. Jedesmal sieht er das, aber er weiß nicht, dass sie nur so flott sind, wenn dies von ihm bemerkt werden kann. Trotzdem müsste er nun den Freiherren herauskehren und für Zucht und Ordnung sorgen. Lust dazu hat er nicht, denn deswegen hat er sich nicht hierher geschlichen.
»Was Besseres soll ich denn noch auf Lager haben als meinen edlen Wein?«, fragt er lauernd, während er das Türblatt hinter sich sacht ins Schloss zieht und die Stufen hinabgeht.
»Das hier!«, meldet sich zum ersten Mal die Josefa zu Wort; die Ältere herrscht über die Küche. Sie umfasst eine kantige, nachtdunkle Flasche und hebt sie ein wenig an. »Dieser ganz feine Likör, Herr Oberleutnant von Jügesen.« Dumm ist sie nicht; sie hat darauf geachtet, wie ihre Schwester mit dem Herrn umgeht, und macht es ihr nach. Josefa schnalzt mit der Zunge, verzückt auf die Flasche blickend.
»Das habe ich hier im Keller?« Otto tritt an den niedrigen eichenen Tisch, nimmt der Köchin die verstaubte Flasche ab, hält diese gegen das schummrige Licht der Laterne und mustert das stockfleckige Etikett. »Nanu, dieses Zeugs kenne ich ganz bestimmt nicht.«
»Hat Ihr hochverehrter Vater stets besorgen lassen und gerne getrunken«, flüstert die Martina ihm ins Ohr, denn er steht vorgebeugt neben ihr. Hastig richtet er sich auf und blickt düster, denn der Vater ist erst ein Jahr tot, in Frankreich während der Schlacht an der Aisne heldenhaft gefallen fürs hehre deutsche Vaterland. Erschrocken hält die jüngere Schwester die Hand vor den Mund. »Nun kann er‘s nicht ja mehr. Das tut mir ja immer noch so leid.«
»Schon gut«, murmelt Otto von Jügesen. Seine Trauer hält sich in Grenzen, denn seinem Erzeuger trägt er nach, ihn zum Militärdienst auf hoher See gezwungen zu haben. Er wäre lieber Kunstmaler, frei schaffend hoch oben auf irgendeiner Bergalm. »Es ist zu dunkel hier, die Schrift kann man kaum lesen.«
»Aber schmecken kann man‘s selbst im Finsteren«, säuselt die Martina, nimmt ihm kurzerhand die Flasche ab und gießt ein in ihr Wasserglas, halbvoll. »Probeschlückchen gefällig?«
»Ist denn hier kein Glas übrig?«
»Ach was, Herr Oberleutnant von Jügesen, von meinen Mundabdrücken werden Sie doch wohl nicht krank.«
»Na gut, meinetwegen.« Im Grunde macht es ihm gar nichts aus, denn auf See unter seinesgleichen ist er raue Sitten gewöhnt, aber hier muss er den feinen Herrn geben. »Ich erlaube mir diesen einen Schluck.«
Im Kerzenlicht mustert er mit skeptischem Blick den gläsernen Rand, dreht das Glas, bis er die sauberste Stelle findet, und nippt. Der Likör brennt auf der Zunge, erhitzt den Rachen und rinnt spürbar hinab zum Magen. »Aaah.«
»Na bitte, haben wir zu viel versprochen?«
Er schüttelt den Kopf, setzt ab und nimmt sich vor, zu gehen, obwohl er lieber einen zweiten Schluck nehmen würde.
»Das war doch noch gar nichts, der Geschmack kommt doch erst mit den nächsten paar Schlückchen.«
»Hm«, brummt er nur, hebt das von der Martina hastig nachgefüllte Glas an die Lippen. Während des Trinkens reckt er den Kopf immer weiter nach hinten, sodass der Bodensatz der Flüssigkeit direkt den Hals hinab träufelt. »Aaah.«
»Schmecken Sie‘s, Herr Oberleutnant? Ist nicht von schlechten Eltern, stimmt‘s?«
Anerkennend hebt Otto von Jügesen die hellblonden Brauen und zwirbelt mit linkem Daumen und Zeigefinger den Schnurrbart beidseitig. »Ein feines Schnäpschen habe ich da, ohne es zu wissen.« Aber er nimmt sich sofort wieder zusammen und droht beiden mit ausgestrecktem linken Zeigefinger. »Hatte! Bestimmt raubt ihr nicht zum ersten Mal davon.«
»Aber es wäre doch wirklich jammerschade«, säuselt die Martina und formt routiniert ihr Schnütchen, »wenn er uralt und ungenießbar würde, nur weil Ihr hochverehrter Vater ihn nicht mehr trinken kann.«
Gekonnt füllt ihre Schwester beide Gläser nun randvoll. »Darum sollten wir ihn trinken, bevor er verdirbt. Das nächste Gläschen lässt Sie bestimmt besser schlafen, Herr Oberleutnant. Darum kamen Sie doch runter, nicht wahr.« Die Josefa kann sich ein vertrauliches Zwinkern nicht verkneifen.
Recht hat sie, die Josefa, denkt er sich, deswegen bin ich hier. Ein Gläschen in Ehren will er sich noch gönnen, dann aber Kehraus machen. Otto nimmt das Glas und kippt den Inhalt in sich rein. Auf einmal wird ihm ganz anders und ...
»Setzen Sie sich doch erst mal hin, Herr Oberleutnant, Sie stehen ja die ganze Zeit wie im Dienst und halten die Laterne hoch wie ein Nachtwächter. Nehmen Sie meinen Stuhl.« Josefa streift ihre Decke zurück, schiebt ihm die Sitzgelegenheit unter und schnappt sich einen freien Hocker.
Ohne Widerspruch lässt er sich behutsam auf dem Schemel nieder und stellt die Laterne neben dem Tisch ab. Immer seltsamer wird ihm zumute und es ist ihm sogar gleichgültig, dass er auf Augenhöhe nur noch mit dem Gesinde ist. Hauptsache er kommt dazu, sich müde zu trinken. Angenehm vorgewärmt ist das Holz, auf dem er sitzt, zusehends fühlt er sich entspannter. Er hat nichts dagegen, das Glas wieder gefüllt zu bekommen, und beim vierten Mal ist ihm es immer noch recht. Er beginnt, mit den Frauen zu schäkern, die abwechselnd aus dem zweiten Glas trinken, sein geweiteter Blick erfasst deren Weiblichkeit. Hatte er denn keine Augen dafür gehabt? Sein Begehren erwacht.
»Trinken wir Freundschaft?«, fragt die Martina frech und schält sich aus ihrer Decke – ihre Hemmschwelle ist überflutet.
»Hm«, brummt er nur, während er ihre Oberkörper anstiert. Ihm ist längst egal, dass dies kein Umgang für ihn sein sollte.
»Aber mit Kuss!«, fordert die Josefa, obwohl die Kühnheit ihrer Schwester sie noch ein wenig erschreckt.
»Hm«, murmelt er nur, nickt der Josefa zu und greift nach dem Glas, aber die Martina zieht er erst einmal vor.
»Otto.«
»Martina.«
Dann ist die Josefa dran, nicht so hübsch wie ihre Schwester, dafür aber mit Rundungen gesegnet, an denen selbst gespreizte Hände nicht abrutschen.
»Otto.«
»Josefa.«
Während er sie küsst, greift er ihr an die linke Brust. Sie ziert sich überhaupt nicht, sondern macht sich frei, überraschend geschwind trotz der unhandlichen Kleidung. Während er mit der Josefa beschäftigt ist, spürt er, wie die Martina mit ihrer rechten Hand über seinen geknöpften Hosenschlitz streichelt. Wie wohl tut ihm das, dieses Mal muss er nicht werben, nicht warten, weder betteln noch barmen, um das Mindeste wenigstens noch zu erreichen. Seine Manneskraft ist nicht mehr zu bändigen und er will sich auch nicht mehr zurückhalten.
Ohne wenn und aber darf er alles mit ihnen machen und einiges mehr, was er noch gar nicht kennt. Dass er sich in beider Leiber ergießt, mehr als einmal, und dies unangenehmste Folgen haben kann, ist ihm nun gleichgültig. Auch den Schwestern ist alles längst einerlei. Der leeren Flasche folgt eine volle, gesoffen wird nun ohne Umweg von Hals in Hals, denn die beiden Gläser waren nach dem zweiten Freundschaftsritus rücklings in irgendwelche Ecken geworfen worden. Nach jedem Umtrunk wird die Flasche in eine Lücke zwischen zwei Fässern zurückgestellt, denn auch der Tisch wird für andere Zwecke gebraucht.
Am nächsten Morgen wacht der Herr des Hauses erst gegen Mittag auf, der Kopf dröhnt, alles dreht sich vor seinen Augen.Der Diener hat seit Stunden vergebens versucht, ihn zu wecken, die Frühstückstafel ist immer noch gedeckt, der Kaffee neu gekocht, neue Brötchen frisch aufgebacken. Er windet sich aus seinem Bett, schwankt ins Bad und steckt seinen Kopf mehrmals, lange den Atem anhaltend, in die von ihm randvoll mit eiskaltem Wasser nachgefüllte Waschschüssel. Er hört unzählige Tropfen herunterplätschern und spürt an seinen nackten Füßen die Wasserlachen, die sich rund um das Gestell mit dem Becken ausdehnen – sein Zustand ist ihm ein Rätsel, denn er erinnert sich nicht. Erst im Lauf des Tages, während er zwei seiner weiblichen Bediensteten beobachtet, wie vertraulich sie ihn mit ihren verquollenen Augen ansehen, dämmert es ihm. Dann will er nur noch weg, aber wie?
Am darauf folgenden Tag fälscht er einen hoheitlichen Brief und zeigt ihn so traurig wie möglich blickend seiner Frau: Der restliche Urlaub ist gestrichen aufgrund sofortiger Einberufung wegen des bevorstehenden Auslaufens zu einer Feindfahrt – die vor zwei Monaten besetzten Åland-Inseln müssen gegen eine feindliche Flotte verteidigt werden.
Zu Tode betrübt wirkt die Baronesse jedoch nicht, erst recht nicht, als die ‚Feindfahrt‘ sich schon monatelang hinzieht. Nun schwant ihr etwas, denn zwei ihrer Dienstmädchen sind ersichtlich in guten Umständen. Sie stellt die beiden Schwestern zur Rede, jedoch ist nichts aus ihnen herauszubekommen. Darum hält sie es nicht mehr auf dem Gut aus und hochschwanger reist sie nach Norden zu ihren Eltern auf Schloss Lütjenstein. Ende Oktober 1918 gebiert sie einen Jungen und sofort benennt sie ihn Hans, ohne ihren absenten Otto wegen dieses Namens um Einverständnis zu befragen.
In diesem Herbst 1918 erklärt die Oberste Heeresleitung den Krieg für verloren und befürwortet Waffenstillstandsverhandlungen, der Kaiser wird entmachtet, in Kiel meutern die Matrosen, die arbeitende Bevölkerung revoltiert, der Kaiser wird zur Abdankung genötigt, die Republik wird ausgerufen, gleich zweimal, aber nur die vom Kasseler SPD-Politiker Scheidemann ausgerufene regiert und lässt Staatssekretär Erzberger die bedingungslose Kapitulation unterschreiben.
Otto von Jügesens Pflicht wäre eigentlich, dafür zu sorgen, dass die Soldaten für die alte Ordnung kämpfen. Sein neues Motto jedoch lautet ‚ohne Leutnants kein Krieg‘ und er fährt nach Hause. Dieses Mal hat sein Opel-Landaulet keine Panne, sondern kutschiert ihn mit 28 Pferdestärken bis vor den Haupteingang. Ihm ist mancher scheele Blick seines Fahrers nicht entgangen. Darüber wundert er sich aber nicht mehr lange, denn als auch die beiden Schwestern auf der Treppe vor ihm Aufstellung nehmen und einen artigen Knicks tun, sieht er ihnen die Bescherung an, die offensichtlich er ihnen bereitet hat.
Auf der Stelle macht Otto kehrt, zerrt den Fahrer aus dem Wagen, setzt sich hinter das Lenkrad seines flotten Opels, gibt Vollgas und rast mit 65 Stundenkilometern Höchstgeschwindigkeit auf und davon. Vor den eisernen Gattern des Außentores legt er eine Vollbremsung hin bei der die Bremsbänder qualmen, denn das haushohe Portal ist geschlossen und den Schlüssel dafür hat sein Fahrer noch in der Tasche.
Während er tobend vor Wut wieder und wieder den Handblasebalg des Signalhorns zusammenquetscht, steigt in ihm eine Erinnerung auf: ‚Was du anfängst, mein Junge, mache auch zu Ende; wenn du fehl gehst, stehe dazu und bring‘s in Ordnung!‘ Lange sinnt er nach, dann lässt er den Balg los, wendet und fast im Schritttempo lässt er den Wagen zurückrumpeln, um sich dem Schicksal zu ergeben.
Anfangs reißt er sich noch am Riemen, übernimmt Verantwortung und sorgt sich um Hab und Gut. Den ohnehin ungeliebten Dienst in der Marine quittiert er; die Geschäfte der Reederei führt nach wie vor ein Vertrauter seines Vaters. Jeden Abend belohnt er sich für sein Durchhalten mit einem Likör – nun weiß er auch, wie die Marke heißt, die ihn im Handumdrehen in des Teufels Küche brachte: ‚Stichpimpulibockforcelorum‘.
Trotzdem hofft er noch, seine Frau wiederzusehen, nachdem er ihr einen Brief geschrieben hat, in dem er ihr seine Fehltritte gesteht. Obwohl er wortreich barmt und zutiefst bereut, erblickt er sie nie wieder; seinen Sohn lernt er gar nicht erst kennen, denn ihm wird strengstens verboten, nach Schloss Lütjenstein zu kommen. Des Abends ertränkt er seinen Kummer nun mit mehr als einem Glas Likör.
Die Martina gebiert ihm den Hilmar und die Josefa einen Tag später die Theresia. Dabei bleibt es nicht, denn nicht nur den Likör braucht er immer häufiger, auch die Weiber sollen ihm jederzeit die einzigen Freuden bereiten, die er noch hat. Das tun sie gern, denn dies sichert ihnen ihren Einfluss. Sie sorgen auch dafür, dass der Fahrer sowie alle anderen Diener von ihm entlassen werden, damit sie ungestört mit ihm und den Kindern allein zu Hause sind.
Die Martina wird noch zweimal Mutter mit der Svenja sowie der Saskia und die Josefa bekommt sogar Zwillinge – den Hendrick sowie den fünf Minuten jüngeren Horst.
Längst ist dem hochwohlgeborenen Banner- und Reichsfreiherrn Otto von Jügesen im wahrsten Sinn der Worte ‚alles scheißegal‘. Hauptsache es ist genüg Likör im Haus und seine Frauen bleiben willig, sonst macht er gar nichts mehr. Die Willmersen-Schwestern schmeißen den Herrenhaushalt, sorgen für Likör-Nachschub und halten ihn mit ihren Leibern bei Laune. Das ist auch nötig, denn er verändert sich, auch äußerlich lässt er sich gehen; außer ihnen und seinen Bälgern will er niemanden mehr sehen und verlässt seinen Besitz kein einziges Mal mehr. Es ist ihm auch egal, dass die Nachbarn über seine Lebensweise lästern und ihn höhnen als ‚Baron Stichpimpulibock und sein Forkelorumharem‘. Alles rundum auf der Welt ist ihm egal, aber wenn der Likör auszugehen droht oder seine Weiber nicht sofort bereit sind, dann wird er fuchsteufelswild.
Den Schwestern jedoch ist dieses ‚alles rundum auf der Welt‘ überaus wichtig, denn sie sind darauf bedacht, das unerwartet Errungene zu erhalten, zu verteidigen und womöglich zu mehren, vor allem ihrer Kinder wegen. Das Erbe nämlich ist ihr Problem: Stirbt ihnen der Otto weg, dann gehört ihnen nichts, sondern dem Hans, seinem unbekannten Sohn auf Schloss Lütjenstein.
Ihren Otto heiraten geht jedoch nicht, denn Gertrud von Jügesen lässt sich nicht scheiden. Daran scheitert ihr Plan: Erst heiratet ihn die Martina mit anschließender Scheidung, dann soll die Josefa drankommen. Daher bedrängen und umgarnen sie ihren Otto, er solle seine unehelichen Kinder adoptieren, es wäre doch das Mindeste, was er für sie tun könnte. Macht er auch, Hauptsache ...
Als die Leber zu schmerzen beginnt, ist ihm das auch vollkommen egal, dann säuft er so viel, bis nichts mehr weh tut. Otto kommt kaum noch aus dem Keller, obwohl es dort erbärmlich kalt ist, er hustet und kuriert sich mit Likör, bis eines Tages in den ‚Goldenen Zwanzigern‘ die Josefa ihn zwischen zwei Fässern eingepresst findet – bereits mausetot. Beim volltrunkenen Erklettern eines mannshohen Fasses, um an das offene Spundloch zu gelangen, war er ausgerutscht, hatte eingeklemmt das Bewusstsein verloren und erstickte elendiglich. Schlicht und ohne Anteilnahme wird er beerdigt unter einer uralten Eiche in der Nähe der Auffahrt und das Leben geht weiter.
Die Sorgen der Schwestern jedoch werden größer: Was wird aus ihnen? Wann nimmt Ottos Ehefrau Gertrud das Erbe in Anspruch? Oder vertreibt Hans von Reinern sie erst später vom Gut, wenn er volljährig und Baron geworden ist? Nichts dergleichen geschieht, denn die Familie von Reinern will den Gutshof nicht. Selbst die Reederei tasten sie nicht an, sondern begnügen sich mit dem Ertrag – den sie nach wie vor dringend brauchen und welcher ja auch der Zweck der Heirat war. Dies wissen die Schwestern aber nicht und sie streben nach einer Gelegenheit, ihren Status zu verbessern.
Schon Mitte der zwanziger Jahre treten sie der NSDAP bei, melden ihre Jungs in der Hitlerjugend an, sobald sie 14 Jahre alt werden, die Mädels werden schon mit 10 Jahren Mitglied im Deutschen Jungvolk. NSDAP- und SA-Funktionäre geben sich im Herrenhaus von Jügesen die Klinke in die Hand, denn die beiden Weiber bieten ihnen mehr als nur Wein und Gesang.
Mit feinem Gespür setzen sie auf das richtige Pferd, indem sie zusehends Alfred Naujocks hofieren. Dieses Raubein ist Mitglied der Schutzstaffel, einer Gruppierung im Schattendasein unterhalb der mächtigen SA. Der nimmt die Jungs in seine Staffel auf und steckt sie unter seine Fittiche.
Nach Ausschaltung der SA-Führung in der Nacht vom 30. Juni zum 1. Juli 1934 befinden sich die Schwestern auf der Gewinnerseite. Später sind sie hellauf begeistert, dass am frühen Morgen des 1. Septembers 1939 Polen überfallen wird. Besonders stolz sind sie darauf, dass ihre Jungs tags zuvor beim fingierten Angriff auf den Sender Gleiwitz von ihrem Förderer Naujocks eingesetzt wurden. Erzählen dürfen sie das aber niemandem.
Mit diesem Beginn der Angriffe auf die europäischen Nachbarn ergibt sich endlich die Gelegenheit, einiges zu ändern. Als auch ihre Jungs in den Kampf gegen den Rest der Welt ziehen, schärfen sie ihnen ein, dass es immer noch einen Erben gibt, der ihren nachfolgenden Besitzansprüchen im Weg steht. Womöglich sorgt nun der Krieg von selbst dafür, dass sich etwas daran ändert, und wenn nicht, dann sollen sie sich gefälligst mal selber darum kümmern.
*
Freie und Hansestadt Hamburg,
Bezirk Hamburg-Nord, Stadtteil Uhlenhorst,
Stammhaus der Reederei Jügesen & Söhne, Entree
Sonntag, 26.08.2001, 9:30 Uhr
Das mitten in einem kleinen Park stehende vierstöckige Geschäftsgebäude mit Flachdach sowie einer Loftwohnung obendrauf beeindruckte Stormann nicht sonderlich, während er auf die massive Eingangstür zusteuerte; deren zwei eingefasste Glasscheiben waren trübe und die Abdichtungen rundum verwittert. Er vermutete, dass die Besitzer schon lange nicht mehr in ihre Residenz investiert hatten, entweder aus Sparsamkeit oder wegen fehlendem Kapital. Oder sie kannten nicht die Redensart: ‚Es gibt keine zweite Chance für den ersten Eindruck‘.
Weder eine Klingel noch eine Gegensprechanlage konnte er entdecken, daher drückte er die Klinke und prüfte, ob die Tür sich öffnen ließ. Das schwere Türblatt gab nach; mit Mühe drückte er es nach innen und betrat den sechs Meter im Geviert messenden Vorraum. Stormann ging auf den Pförtner zu, der hinter seinem halbrunden, weit über einen Meter hohen Tresen saß und unbeirrt auf einen hinter der Blende befindlichen kleinen Monitor blickte.
»Guten Tag, Herr ...« Mit raschem Blick musterte er die Gravur des messingfarbenen Tischaufstellers auf dem Tresen. »... Harters. Mein Name ist Karl Stormann und ich hätte da ein Anliegen. Vielleicht ...«
»Meyer!«
»Hier steht Harters, Herr Meyer.«
»Na so was«, grummelte Lorenz Meyer und mit einer raschen Bewegung drehte er den Tischaufsteller um, sodass sein Name für Besucher sichtbar wurde. »Das hat er natürlich wieder mal vergessen, dieser Blödel.«
Stormann schwieg und lächelte nachsichtig über den Versuch des Pförtners, seinen Dienstvorgänger für seine eigene Vergesslichkeit verantwortlich zu machen.
»Ich helfe Ihnen gerne weiter, wenn ich kann. Worum geht’s denn?«
»Es geht um diesen Zettel mit einem handschriftlichen Text«, sagte Stormann und zog ihn aus dem Buch. »Ich vermute, geschrieben hat ihn ein Kapitänsanwärter, der mit Vornamen Malte heißt, sich jetzt auf eine Prüfung für Seerecht vorbereitet und später hier Chef der Jügesen-Reederei sein könnte. Wohl versehentlich hat er ihn mit diesem Buch hier mitverkauft, vielleicht aber Interesse daran, ihn zu behalten.«
»Der Malte? Jawoll, der könnte Chef werden. Hoffe ich sogar stark. Aber warum sollte ich Ihnen dabei weiterhelfen können?«
»Weil Herr Clemens Brüwer, der ebenso wie ich Kriminalhauptkommissar war, – wir sind beide nun im Ruhestand – mir vorhin erst erzählte, dass er hier eine Zeugenbefragung ...«
»Das war ich.« In das schmale faltige Gesicht von Lorenz Meyer kam Leben. »Da haben‘s doch glatt den Mordkerl überführen können. Wegen mir.«
Dem war nicht so gewesen, aber Stormann lächelte nachsichtig, während er anerkennend nickte.
»Warum sagen‘s denn nicht gleich? Natürlich helfe ich Ihnen weiter.« Er zwinkerte vertraulich. »Könnte ja sein, dass viel mehr dahintersteckt und Sie diesen Wisch nur als Vorwand mithaben.« Er beugte sich weit vor bis zur Blende des Tresens, um flüsternd schon gehört zu werden.
Aus alter Gewohnheit neigte Stormann seinen Kopf nach vorn und zur Seite, um sein rechtes Ohr, mit welchem er etwas besser hörte, näher zum Redner zu bekommen.
»Denen da oben traue ich alles zu«. Meyer wiegte sein ergrautes Haupt und zog ein grimmiges Gesicht. »Aber solange die mich ordentlich bezahlen, mache ich hier meine Arbeit.«
Er blickte prüfend auf den Zettel, welchen Stormann ihm vor die Nase hielt.
»Aha, da haben wir‘s schon, das kann nur der Sohn vom Alten gewesen sein.« Meyer erschrak leicht, beugte sich wieder weit vor und versuchte, Stormann ins Ohr zu flüstern. »Erzählen Sie das aber nicht weiter, das mit dem Alten, das hört er nämlich gar nicht gerne, wissen Sie. Ich danke Ihnen schon mal.«
Dann richtete Meyer sich wieder auf und reckte den rechten Arm, um den Zettel in Empfang zu nehmen. »Na schön, dann geben Sie mal den Zettel her und ich steck ihn dem jungen Burschen zu; übrigens stehe ich mit dem auf du von klein auf. Hoffentlich wird der Malte nicht so lange Kapitän auf See sein, sondern bald hier im Haus das Ruder führen, weil ...« Meyer beugte sich wieder weit vor und hielt die hohle Rechte neben den Mund. »... der Junge mal ordentlich Geld in die Hand nehmen würde, statt wie der Alte darauf sitzen zu bleiben. Erzählen Sie das aber ja nicht weiter.«
Wieder richtete Meyer sich auf und hob den Arm, um endlich den Zettel in Empfang zu nehmen.
»Den möchte ich unbedingt persönlich überreichen.«
Meyer verharrte einige Sekunden und blickte ins Nirgendwo über sich, irgendwo dort wähnte er seinen Arbeitgeber; zögernd legte er dann die Hand auf den grünen Telefonhörer. »Warum nicht, wenn’s so persönlich ist. Der junge Jügesen ist aber die ganze Woche nicht mehr im Haus und immer schwer zu erreichen. Da müßte ich den Alten – hoppla, schon wieder! Erzählen Sie‘s bloß nicht weiter, der hört das nämlich nicht gerne, wissen Sie. Also da müsste ich jetzt mal den Chef anrufen ...«
»Den Vater vom jungen Jügesen? Nun, der soll ja gar nicht wissen, das sein Sohn ...« Stormann überlegte. »Na ja, dann muss ich dem mal ein kleines Märchen erzählen. Gut, dann melden Sie mich doch bitte bei Herrn Jügesen an, Herr Meyer.«
»Von Jügesen senior!« Der Pförtner hob den Telefonhörer ab, wählte die Hausdurchwahl und wartete.
»Was gibt es denn, Herr Meyer?«, tönte es sonor aus der Hörmuschel.
Ein Ruck ging durch den Pförtner und er nahm Haltung an. »Guten Tag nochmals, Herr von Jügesen senior, bei mir befindet sich ein Herr in den allerbesten Jahren, der früher bei der Kripo war. Der hat etwas für Sie. Aber mir gibt er’s nicht. Es wär‘ was Persönliches, sagte er mir, und möchte es Ihnen unbedingt selber geben.«
»Kripo? Wieder eine Befragung wie damals?«
Lorenz Meyer presste den linken Handballen auf die Hörmuschel und wandte den Kopf zu Stormann. »Tschuldigung, Herr Stormann. Das ist jetzt kein Vorwand für eine Befragung? Wirklich nur etwas Persönliches?«
Stormann zog die Brauen hoch, während er nickte.
»Also nicht.« Meyer nahm die Hand vom Hörer und sprach weiter. »Ist zwar ein Kriminaler, äh Pardon, ein Kripobeamter, schon im Ruhestand, aber privat hier, hat er versprochen. Stormann heißt er, Karl.«
»Was will er mir denn unbedingt selber geben?«
»Einen Zettel.«
»Einen Zettel? Wirklich? Nur ein Zettel?«
»Jawoll, Herr von Jügesen.« Der Pförtner versteifte sich noch mehr. »Ein handgeschriebener. Der Herr meint, Ihr Sohn wohl habe ihn verfasst und ...«
»Wollen Sie mir etwa mitteilen, das wäre eine Art Schuldverschreibung oder etwas Ähnliches?«
»Nee, ist nicht«, beschwichtigte Meyer, nachdem er Stormann angeblickt hatte und ein Kopfschütteln als Bestätigung erhalten hatte. »Es geht wohl nur um einen Zettel, der in einem dicken Buch steckte.«
»Um mehr nicht, wirklich? Na ja, ... meinetwegen. Herr Meyer, bitte geleiten Sie ihn bis auf die Terrasse.«
Erst nachdem er fest aufgelegt hatte, wagte der Pförtner es, tief Luft zu holen und kräftig wieder auszustoßen. »Na ja, begeistert war er nicht gerade«, murmelte er, atmete noch einmal durch und sah Stormann mit leichtem Vorwurf im Blick an. »Haben Sie ja gehört. Hoffentlich lohnt es sich wirklich, sonst kriege ich noch einen Riesenanschiss, weil ich Sie ihm nicht vom Leibe gehalten habe.«
Mit einem kleinen orangefarbenen Schild in der Hand ging Meyer um den Tresen herum bis zur Eingangstür. In Augenhöhe hängte er den Hinweis seiner baldigen Rückkehr an den winzigen Metallhaken eines auf der oberen Glasscheibe haftenden transparenten Saugnapfs. Dann versperrte er das Portal mit einem mächtigen Riegel.
»Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen, wo‘s lang geht.« Mit gönnerhaftem Blick winkte er dem Ex-Hauptkommissar, ihm zum Treppenhaus zu folgen, und ging vor, den Oberkörper durchgestreckt, weil seiner Wichtigkeit sich wieder mal bewusst.
*
Freie und Hansestadt Hamburg,
Bezirk Hamburg-Nord, Stadtteil Uhlenhorst,
Stammhaus der Reederei Jügesen & Söhne, Loft
Sonntag, 26.08.2001, 9:45 Uhr
Malte von Jügesen senior empfing Karl Stormann am Ausgang zur Dachterrasse, gab ihm einen kräftigen Händedruck und nickte dem Pförtner vor dessen Abgang kurz zu. Freundlich blickte er seinen Gast an, führte ihn ins Loft und umgehend zu einer Tür, an welcher ein vergoldetes Schild angebracht war mit eingravierten nachgeschwärzten Lettern: ‚Reederei von Jügesen & Söhne – Büro‘.
Der Senior war genauso schlank und fast so hochgewachsen wie sein Sohn, jedoch tadellos gekleidet wie ein Geschäftsmann, obwohl er einen freien Tag haben müsste. Statt zum Schreibtisch dirigierte er seinen Gast zu einer kleinen Sitzecke vor der bis zum Boden reichenden Fensterfront und bot ihm einen der drei weiß bespannten Wippsessel an. Vorsichtig nahm Stormann Platz auf dem luftigen Freischwinger. Obwohl es sich um einen von Ludwig Mies van der Rohe entworfenen Thonet S 533 handelte, schien ihm, dass mehr Wert auf das Design als auf die Stabilität gelegt worden war. Jedoch federte das kalt gebogene Stahlrohr so elastisch wie am ersten Tag, sodass er ihm doch sein Gewicht anvertraute.
Er streckte die Beine aus unter den ovalen Tisch mit der gläsernen Platte und entspannte sich sogar ein wenig, während er sich kurz umblickte. Das gesamte Mobiliar war von auserlesener Qualität und wirkte gepflegt, obwohl dessen Bestand seit Jahrzehnten nicht mehr verändert worden zu sein schien.
»Ich helfe Ihnen gerne weiter, wenn ich kann. Worum geht es denn?«, lautete die Frage des Reedereibesitzers, welcher seinen Freischwinger derart in der Ecke platziert hatte, dass er den Raum überblicken konnte. »Kaffee?«
»Nein danke.« Mit einem feinen Lächeln – dieses freundliche Anerbieten hatte er gerade eben erst wortwörtlich gehört, und wer hier wen nachahmte, konnte er sich denken – hob Stormann das Buch ein wenig höher. »Darum bin ich hier. Dieses Buch hat mir Ihr Sohn verkauft, aber wohl übersehen, dass noch etwas Persönliches sich darin befindet.«
»Verkauft? Das Buch?« Empört blickend schüttelte von Jügesen senior heftig den Kopf. »Behalten soll er es gefälligst und selber mal vererben, schließlich gehört dieses seltene Exemplar von ‚Grimm‘s Märchen‘ zum unveräußerlichen Familienbesitz.«
»Sollte, gehörte«, stellte Stormann richtig. Während er das Buch aufschlug, um den Zettel herauszunehmen, sprach er weiter. »Und das Wort leider muss ich wohl an Ihrer Stelle hinzufügen, denn ich habe es immerhin legal erworben und gedenke, es zu behalten. Aber die Notiz darin könnte einen persönlichen Wert haben und war nicht Teil des Handels.«
»Na gut«, murmelte von Jügesen senior und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht können wir ein andermal darüber reden. Jetzt würde mich interessieren, was es mit diesem Zettel auf sich hat.« Er beugte sich vor, um das hinübergereichte Blatt in Empfang nehmen zu können.
Mit beiden Händen hielt er sich den Text dicht vor die Augen; den Aufwand, sich seine Lesebrille zu holen, scheute er. »Also die Handschrift könnte diejenige meines Sohnes sein. Ja, das könnte von ihm in jüngeren Jahren geschrieben worden sein ... hm, die Geschichte, die hier geschildert wird, kommt mir irgendwie bekannt vor ... ja, da dämmert mir etwas ... hm, tatsächlich. Ich erinnere mich an diese Begebenheit. Das stimmt, mein Vater hat sich damals tatsächlich sehr aufgeregt. Aber ich vergaß es bald, denn er verhielt sich wieder normal, das heißt, was wir als normal bei ihm kannten.«
Von Jügesen hielt inne und massierte kurz mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel. »Zeit meines Lebens hatte ich das Gefühl, er leide unter einer seelischen Last, vor allem fürchtete er sich vor seinen beiden jüngeren Stiefbrüdern ...«
»Stiefbrüder?«
»Sieben Stiefgeschwister insgesamt, ja das war wirklich eine verrückte Sache ...«
»Was, sieben Stück ... auf einen Streich etwa?« Unwillkürlich zog Stormann die Beine an, während er sich gestenreich entschuldigte. »Pardon, das ist mir rausgerutscht; das war ein Freudscher Versprecher, weil ich gerade mit Märchen beschäftigt bin und so das tapfere Schneiderlein gedanklich ins Spiel brachte.«
Ein Glucksen entwich von Jügesens Kehle, während er generös abwinkte. »Sie wissen ja gar nicht wie nahe Sie an der Wahrheit dran sind, wenn auch sieben auf einen Streich wirklich des Guten zu viel gewesen wären.« Er zuckte mit den Schultern. »Nun gut, das ist eine alte Familiengeschichte, an die wir ungern zurückdenken und am liebsten nie von erzählen. Mein Sohn zum Beispiel hat, nachdem er seine Herkunft erfuhr, das von aus seinem Namen streichen lassen. Sehr konsequent, zu konsequent meiner Meinung nach, aber auch sehr rechtschaffen, so wie ich. Zumindest versuche ich es.« Sein Lächeln wirkte sardonisch.
»So gesehen geht mich es nichts mehr an. Das lose Blatt ist abgegeben und ich kann mich verabschieden ...«
»Halt, warten Sie. Ich weiß ja noch nicht, wie Sie an diesen Aufsatz gekommen sind. Das möchte ich nun gern wissen.«
»Das erzähle ich Ihnen lieber nicht.« Stormann hob beide Handflächen wie zur Abwehr. »Ich bin sicher, dass Ihr Sohn das ganz bestimmt nicht möchte.«
Mit einer energischen Bewegung beugte von Jügesen sich vor. »Nun will ich es erst recht wissen und darum mache ich Ihnen einen Vorschlag.« Er räusperte sich. »Ich erzähle Ihnen unsere Geschichte mit den sieben Stiefgeschwistern und Sie mir, wie Sie an dieses Blatt gekommen sind. Ich verspreche Ihnen auch, dass ich meinem Sohn auf keinen Fall deswegen Vorhaltungen machen werde. Eigentlich verschafft er mir mit seiner zurückhaltenden Art ohnehin Bestätigung und Genugtuung. Aber er muss endlich lernen, unser Vermögen zusammenzuhalten. Ein Hanseat muss er werden.«
»Wenn es ihm wirklich nicht schadet – abgemacht. Und ehrlich gesagt, ich bin durchaus neugierig geworden.«
Malte von Jügesen senior lehnte sich zurück. »Wir stammen ab von den Banner- und Reichsfreiherren von Jügesen mit Sitz im Billetal. Diese riesige Anlage mit einem wunderbaren Herrenhaus gehört heute noch unserer Familie; sie liegt in Nachbarschaft von Friedrichsruh im Sachsenwald, dem Alterssitz von Fürst Otto von Bismarck, der ja auch Herzog zu Lauenburg war. Der ‚Eiserne Kanzler‘ war sein Leben lang ein guter Kamerad von meinem Ururgroßvater. Dessen Enkel, also mein Großvater Otto, hat als kleines Kind den Fürsten noch erleben können.
Mein Großvater stieg als Juniorchef in die Reederei ein, aber nur formell, denn er musste auf Geheiß seines Vaters zur Kaiserlichen Marine, um die Seeoffizierslaufbahn einzuschlagen. Während des Ersten Weltkrieges vereinbarten die Väter der Familien von Reinern und von Jügesen die Hochzeit zwischen meinem Großvater Otto und der Baronesse Gertrud von Reinern. Gefragt wurde das Brautpaar nicht, sondern vor vollendete Tatsachen gestellt. Trotzdem schienen sich die beiden zu mögen und alles hätte durchaus gutgehen können.«
Der Hausherr unterbrach seine Erzählung und rang sich ein ironisches Lächeln ab. »Allerdings würde es mich dann nicht geben. Sei‘s drum, die Flitterwochen des Paars waren kurz aber erfolgreich, wenn ich mich mal salopp ausdrücke, denn neun Monate später wurde Hans von Reinern geboren und sofort von seinem Großvater adoptiert, darum der andere Nachname. Allerdings erblickte er das Licht der Welt auf Schloss Lütjenstein, weil seine Mutter Gertrud von Jügesen unser Gut längst auf Nimmerwiedersehen verlassen hatte.«
Für einige Augenblicke schwieg Malte von Jügesen senior, dann hob er ergeben blickend die Schultern und sprach weiter. »Mein Großvater Otto musste drei Monate auf See bleiben, bevor er erstmalig Urlaub bekam. Nach seiner Ankunft auf dem Gut erfuhr er, dass er Vater würde; allerdings war die Freude kurz, denn seine Frau verweigerte ihm deswegen den Beischlaf. Erregt wie er wohl war, konnte er nicht einschlafen und ging in den Keller, um sich etwas Wein zu holen. Dort erwischte er zwei Frauen vom Gesinde, Schwestern, die sich heimlich an den Vorräten ergötzten. Warum er sie nicht maßregelte, sondern sich auf einen Umtrunk mit ihnen einließ, weiß der Kuckuck. Jedenfalls blieb es nicht ohne Folgen, sie gebaren ihm eine Tochter sowie einen Sohn, meinen Vater nämlich.«
Die glatt rasierten Wangen des Reedereibesitzers röteten sich leicht. Er überlegte, dann stand er auf und ging zu einer Vitrine. Nachdem er sie geöffnet hatte, beugte er sich zum untersten Fach und ergriff den Hals einer ungewöhnlich geformten Flasche. Mit ihr kam er zurück und hielt sie schräg nach vorn, damit Stormann das stockfleckige Etikett lesen konnte.
»Stich-pim-pu-li-bock-for-ce-lo-rum.« Diesen Namen sprach Stormann langsam mit Pausen zwischen den einzelnen Silben. »Was für ein seltsamer Begriff. Wofür steht er denn?«
»Für Stichos, Pimpernuss, Pulque, Liebstöckel, Bocksdorn, Forle, Cerealien, Lotus und Rum vor allem. Dieser Mischmasch ist schuld, dass ich jetzt vor Ihnen stehe.« Eher unwillkürlich nahm der Reedereibesitzer eine aufrechte Haltung an.
»Originell, sowas gab‘s also damals ...«
»Gibt es immer noch, diese Flasche jedoch ist aus seiner Zeit, die letzte, die er für sich kaufen ließ. Gehört auch zum Familienerbe, weil er es nicht mehr geschafft hat, sie vor seinem Tod noch zu leeren. Jedoch nicht zum angenehmen Erbteil, welcher mit Sicherheit niemals getrunken werden wird, denn er ist gedacht als Mahnung gegen den Konsum von Alkohol und anderer Drogen. Ich bin deswegen aktives Mitglied in der Gemeinschaft der Guttempler und entscheide mich bewusst, frei von diesen toxischen Substanzen zu leben.«
»Eigentlich löblich«, murmelte Stormann. »Sehr sogar.«
»Mein Sohn hat einen Tag nach seiner Volljährigkeit das ‚von‘ aus seinem Namen streichen lassen, nachdem ich ihn vor seinem achtzehnten Geburtstag darüber aufgeklärt hatte. Einen guten Tropfen schätzt er jedoch sehr, zu sehr zu meinem Bedauern.« Hilflos blickend breitete er die Arme aus. »Er kauft sogar die neuen Flaschen von dieser Marke. Davon habe ich auch eine hier, welche auch nie getrunken werden wird. Ich hole sie mal, damit Sie die sich auch einmal ansehen können.«
»Stichpimpulibockforkelorum, köstlicher Likör«, wiederholte und ergänzte Stormann, dann schüttelte er den Kopf. »Und dieser anstößige Ziegenbock vor der rothaarigen Dame, die wegen ihm ihren kurzen Rock festhält. Das passt ja wirklich wie die Faust aufs Auge.« Spontan legte er den Kopf nach hinten, klatschte die flache Hand auf die Stirn und begann schallend zu lachen. Wenige Augenblicke später jedoch besann er sich und gestikulierte besänftigend. »Bitte entschuldigen Sie vielmals, Herr von Jügesen, ich wollte Sie wirklich nicht brüskieren.«
»Schon gut.« Malte von Jügesen senior trug die Kräuterliköre zurück zu ihrem Aufbewahrungsort und setzte sich wieder. »Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Damit leben wir nun schon sehr lange und glücklicherweise denkt nur noch die Familie daran. Und mir tut es schon leid, dass ich Ihnen das alles erzählt habe.« Er sah Stormann streng an. »Sie werden das für sich behalten.«
»Ich schweige wie ein Grab«, beeilte sich Stormann mit der Antwort, beugte sich geflissentlich vor und hob besänftigend die offenen Handflächen.
»Das hat sehr lange gedauert, bis wir durch untadelige Arbeit diesen Ruf tilgen konnten und unser Unternehmen wieder vergrößert haben, ein Verdienst vor allem von meinem Vater.«
»Entschuldigen Sie bitte, Herr von Jügesen, im Sinn bin ich gerade wieder Kommissar: Bisher habe ich drei Stiefgeschwister mitgezählt, einschließlich dieses Hans von Reinern.«
»Das habe ich von Anfang an schon gemerkt: Der Kommissar treibt sich nach wie vor in Ihrem Oberstübchen herum, derzeit befindet er in der Abteilung Recherche.« Mit mildem Spott im Blick betrachtete der Reeder sein Gegenüber, dann winkte er generös ab. »Ist ja auch zu toll, diese Geschichte, denn mein Großvater hat wohl nach der Devise weitergelebt: ‚Ist der Ruf erst mal ruiniert, lebt’s sich ungeniert‘. Er zeugte noch vier weitere Kinder, einmal Zwillingssöhne mit der älteren und zwei Töchter mit der jüngeren der beiden Schwestern. Eins und drei und drei macht nach Adam Riese sieben.«
»Den Kriminalbeamten in mir werde ich wohl nicht los, über dreißig Jahre war ich bei der Polizei.« Lächelnd steckte Stormann die Spöttelei weg und kam wieder zur Sache. »Das hört sich nach einer größeren Sippschaft an. Heutzutage werden Sie jede Menge Teilhaber in Ihrer Reederei haben.«
»Nein, im Gegenteil, wir sind nur zu dritt.« Von Jügesen senior schüttelte den Kopf. »Vier sind im Krieg und in der Zeit kurz darauf samt ihren Nachfahren gestorben, nur die beiden jüngeren Zwillingssöhne leben jetzt ... leider ..., und das muss ich wirklich und aufrichtig nicht nur einmal sagen, leider immer noch. Wenigstens habe sie keine Nachkommen.«
»Dann ist Ihr Erbhof ja doch nicht übervölkert.« Stormann schmunzelte, dann hob er die Brauen. »Aber wieso leider?«
Von Jügesen senior seufzte, als wäre ihm gerade eine schwere Last aufgebürdet worden. Er zögerte und lehnte sich weit zurück, bevor er weitersprach. »Meine verstockten und absolut unverbesserlichen Onkel sind vor etlichen Jahren ausgewandert.« Wieder zögerte er. »Nach Chile.«
»Wieso haben die denn nicht das Gut als Alterssitz gewählt?«
»Das haben sie nicht!« Die Antwort kam rasch und heftig, der Reeder schluckte kurz, bevor er fortfuhr. »Nur ich und meine Familie genießen dort unsere Freizeit. Ansonsten kümmert sich ein Hausmeister um das Anwesen.« Er hob beide Hände wie zur Abwehr, um das Ende des Themas zu signalisieren. »Was haben Sie denn nun über meinen Sohn zu erzählen?«
Etwas verlegen zuckte Stormann die Achseln und blickte wie jemand, der wesentlich weniger zu bieten hat als der andere. »Meine Geschichte ist schneller erzählt: Ihr Sohn brauchte Geld als Anmeldegebühr für seine Abschlussprüfung in Seerecht. Er wollte Ihnen gegenüber nicht zugeben, dass er seinen Etat gesprengt hatte, und hat mir das Märchenbuch der Brüder Grimm verkauft, wo eben dieser Zettel drin war. Warum sein Geld nicht gereicht hat, hat er mir natürlich nicht gesagt. Aber ich verspreche Ihnen, Ihre Geschichte für mich zu behalten.«
»Bestimmt hat er wieder einmal sein Geld für nichts Gescheites ausgegeben.« Ruckartig erhob sich von Jügesen senior und blickte unwirsch. »Dieser Luftikus!«
Auch Stormann stand rasch auf, denn er verstand, dass dieses Gespräch beendet war. »Eine Frage noch, mehr ein Anliegen.« Er zeigte zum Fenster. »Das Fernrohr ist doch auf die Außenalster gerichtet? Ich würde sehr gerne mal kurz hindurchschauen.«
»Bitte sehr. Eigentlich gehört es auf die Brücke eines unserer Schiffe. Es ist für einen auswärtigen guten Kunden als Demon- stration für ein paar Tage hier aufgestellt worden.«
Auf diese Gelegenheit hatte Stormann schon gewartet und beeilte sich, das Beobachtungsgerät einzurichten. Er stellte das System scharf auf den Alster-Anleger und schwenkte das Rohr behutsam nach links, bis er seinen Ex-Kollegen entdeckte. Er zentrierte ihn im Fadenkreuz und verfolgte die stumme Szene, die sich ihm bot: Zwei Hamburger Polizisten auf Fußstreife flankierten den auf seinem Klappstuhl hockenden Brüwer; der eine nahm ihm soeben die Angelrute weg, der andere hob einen enzianblauen 20-Liter-Plastikeimer hoch, trug ihn rasch zur Alster und schüttete, inmitten eines Wasserschwalls, einen klitzekleinen Fisch zurück in sein Element.
Zurückgekommen ermahnte dieser mit erhobenem Zeigefinger den Fischwilderer, der nun, im Bewusstsein seiner Schuld, zu einem Zwerg zusammengeschrumpft schien. Der hochrote tief eingezogene Kopf von Brüwer sowie sein eifriges Nicken schienen die beiden Streifenbeamten jedoch zu besänftigen. Derjenige, welcher ihm die Angelrute fortgenommen hatte, schrieb weiter auf seinem Notizblock, während der andere nun Anstalten machte, den ehemaligen Kriminalhauptkommissar zu ...
»Ahem«, ließ sich der Hausherr vernehmen, lauter nun als beim ersten nicht wahrgenommenen Räuspern. »Dauert es noch lange?«
Ruckartig richtete Stormann sich auf. »Schon gut, Herr von Jügesen.« Bedauernd blickend nahm er die Hände von den Rädern zum Justieren. »Ich habe genug gesehen.« Hastig drehte er das Fernrohr in die Ausgangsposition zurück und arretierte es. »Und vielen Dank, dass Sie mir zu diesem wirklich ergötzlichen Ausblick verholfen haben.«
»Na ja. Wenn es sie ein wenig erfreut hat.« Von Jügesen senior nickte gönnerhaft. »Bitte schön.« Jedoch änderte sich sein Blick und wurde bestimmter. »Aber nun ...«
»Ich habe ohnehin noch etwas Wichtiges zu erledigen.« Stormann wandte sich zum Gehen.
Am Abgang zum Treppenhaus verabschiedete sich der Hausherr von seinem Gast. »Wegen des Rückerwerbs von dem Buch melde ich mich ganz sicher bei Ihnen«, rief er ihm noch nach.
*
Freie und Hansestadt Hamburg, Bezirk Hamburg-Mitte,
Stadtteil Sankt Georg, Tavérna Drákon
Sonntag, 26.08.2001, 20:45 Uhr
»‘N Abend, Kalli. Wo bleibst du denn schon wieder?« Mit vorwurfsvollem Blick sah Brüwer auf und stellte seinen halb vollen und bereits schaumfreien Bierkrug ab. »Wolltest du nicht ausnahmsweise mal pünktlich hier sein?«
»Guten Abend, Klemmi.« Stormann wiegelte ab mit besänftigenden Handbewegungen und schob sich gegenüber auf die hölzerne Sitzbank hinter den am Boden festgeschraubten Tisch mit blauer Marmorplatte. Schon seit vielen Jahren bevorzugten sie diesen Erker, denn hier konnten sie unter sich bleiben. »Ich habe mich sogar beeilt, denn ich hatte nach dem Gespräch mit Malte von Jügesen senior, der Vater heißt wie der Junior, aber mit von – warum, das erkläre ich dir später –, erneut einen Abstecher zum Fischmarkt gemacht. Heute Abend habe ich mich nur verspätet wegen einer überpünktlichen eS-Bahn, die mir vor der Nase weggefahren ist.«
»Kein Wunder bei deinem Schneckentempo.«
»Erstens kann ab und zu etwas schiefgehen und ...«
»Ich weiß: Shit happens!«
»... und zweitens bin ich nun Rentner.« Immer noch gelassen winkte Stormann ab, dann tastete er die Ausbeulung seiner rechten Manteltasche ab und blickte vielsagend. »Aber es scheint sich heute schon zum zweiten Mal gelohnt zu haben.«
»So?« Brüwer hob die Brauen, während er mit der freien Linken abwedelte. »Das muss es auch! Denn mich schon wieder einfach sitzen zu lassen ...«
»Was ist denn schon groß dabei. Du machst doch beim Biertrinken sowieso nichts anderes.«
»Und ob. Man denkt über das Leben, die Welt und den Rest des Universums nach. Man kann sich an einen unserer Mordfälle erinnern, die ja immer in der Zeitung standen. Zum Beispiel an die große Sache im Angelcenter von Schnelsen, wo du auf sämtlichen Fotos der Pressefritzen käseweiß aussiehst. Ich hatte schon Sorge, dass du einen Magenstrahl auf eine der Kameralinsen schießt. Dabei hatten wir bloß eine nackte Leiche gefunden in der mannsgroßen Metallkiste randvoll mit pappsatten Tauwürmern und ...«
»Hör bloß auf!«
»Ja! Jetzt siehst du genauso aus wie damals!« Brüwer lachte bollernd. »Aber die war ja auch zugerichtet wie ...«
»Hör sofort auf, sonst gehe ich wieder.«
»Ja, ja, schon gut. Nur fällt mir nichts anderes ein, wenn ich mal ein Bierchen trinke.«
»Du brauchst nur zu wollen. Zum Beispiel hättest du gerade eine wunderschöne Reise mit deiner Frau planen können.«
»Hör bloß auf!«
»Ja, ja, jetzt schüttelst du dich.« Stormann lachte leise und blickte gönnerhaft. »Zum Beispiel könntest du mit ihr nächstes Wochenende einen Flug nach ...«
»Hör sofort auf, sonst sage ich Georgios, dass er dir Hausverbot erteilt! Meine Frau geht doch noch jahrelang arbeiten und hat nie Zeit für mich, weil sie mich als Rentner nicht mehr für voll nimmt. Das weißt du ganz genau.«
»Und du weißt ganz genau, wovor ich mich ekle. Also, sind wir jetzt endlich mal quitt?«
»Endlich mal? Ausnahmsweise. Geooorgiooos!« Hinter dem Tresen der Bar hantierte der griechische Inhaber des Restaurants. Als dieser nun erfreut aufblickte, schnippte Brüwer mit den Fingern. »Ein großes kühles Blondes für meinen allerbesten Freund. Und für mich auch noch eines.«
So unauffällig wie möglich zog Stormann ein handtellergroßes Bündel aus der rechten Tasche seines Mantels, legte den in einen weißen Lappen gewickelten Gegenstand sacht auf den Tisch und schob ihn langsam hinüber.
»Hoppla!«, murmelte Brüwer und hob wie elektrisiert die buschigen Brauen. »Was schleppst du denn da an?« Er hob rasch die rechte Hand. »Halt!« Dann senkte er sie und tastete mit allen Fingerspitzen das Leinentuch ab. »Das bekomme ich selber heraus, ich kann‘s mir sogar schon denken.«
»Nur zu.«
»Ein kurzer Lauf, ... ein Griff, ... ein Abzugsbügel. Das kann nur eine Faustfeuerwaffe sein, eine Pistole würde ich sagen, denn ich spüre keine Trommel.«
»Treffer: Eine Walther PePeKa, sehr gut erhalten, obwohl aus dem Zweiten Weltkrieg. Mit dieser Waffe wurde bis vor kurzem sogar noch geschossen.«
»Gesichert? Entladen?« Vorsichtig fasste Brüwer einen Zipfel des Leinentuchs.
»Gewiss.«
»Na, dann wollen wir doch mal nachsehen.« Obwohl in dieser Ecke kaum jemand sie beobachten und abhören konnte, reckte Brüwer seinen Hals und vergewisserte sich mit einem unauffälligen Blick rundum, dass wirklich keiner der anderen Gäste etwas mitbekam; dann packte er aus. »Alles blank poliert, wie neu. Nur der Griff ist schon ganz schön abgenutzt, also wurde mit der Waffe viel hantiert.«
»Ertappt«, flüsterte Georgios und grinste dermaßen, dass sein pechschwarzer Vollbart rechtwinklig von den dicken Backen abstand. Er hatte es genossen, sich gelegentlich anzuschleichen und die beiden Kommissare während ihrer zumeist konspirativen Sitzungen ein wenig zu erschrecken. »Dabei dachte ich, ihr seid pensioniert.«
»Sind wir auch.« Nachdem Brüwer sich von seinem Schrecken erholt hatte, nickte er mit Nachdruck und zeigte mit dem rechten Zeigefinger anklagend auf Stormann. »Der da ist schuld.« Danach wies er auf den Wohlstandsbauch des Griechen. »Wie immer hast du weder etwas gesehen noch gehört! Du weißt, du bist und bleibst unser einziger Mitwisser, Vertrauter und Freund in Hamburg, im Norden, in Deutschland, in Europa und dem Rest der Welt.«
Diese ins globale ausufernde Schmeichelei ging Georgios runter wie Öl aus frisch gepressten Oliven, geerntet von den Hängen des Olymp. Selig lächelnd stellte er die beiden mit hohem Schaum gekrönten gläsernen Krüge mit einem Doppelknall auf der marmornen Tischplatte ab. Als er sich neugierig vorbeugte, rann ein Schweißtropfen über seine feuchte Stirn, entlang einer verklebten schwarzen Haarsträhne. »Ist jemand damit ermordet worden?« Der Tropfen löste sich und platschte auf den metallenen Griff der Pistole.
»Kann sein, mein Guter, kann auch nicht sein. Im Augenblick weiß ich nicht mehr als du«. Kopfschüttelnd blickte Brüwer auf, tupfte mit der Spitze des Lappens die geriffelte Oberfläche trocken und sah Stormann an. »Also, was hat es mit dieser Pistole nun auf sich?«
»Dem Opa von dem jungen Mann, von dem ich dir erzählt habe, gehörte diese Waffe zuerst, dann erhielt sie der Vater, und der Sohn nahm sein Erbe vorweg, um sie zu ...«
»Also vom Vater geklaut, ähm, gestohlen.« Brüwer drohte mit dem Finger. »Und du hast sie gekauft, also bist du ein Hehler.«
»Ach was. Ich mache doch kein Geschäft damit, sondern sichere ein mögliches Beweisstück, präventiv handelnd«, murmelte Stormann und hob beschwichtigend beide Hände. »Nachdem ich also bei seinem Vater gewesen war, ließ mir diese Geschichte nämlich keine Ruhe, sondern ...«
»Ähm, Georgios.« Brüwer blickte auf. »Mein Lieber, du kannst deine anderen Gäste nicht länger im Stich lassen.«
»Ach was, die kommen schon ein Weilchen ohne mich klar«, protestierte der vom steten Abschmecken rundlich gewordene Gastronom, welchem die Neugier im fülligen Gesicht geschrieben stand. Er beugte sich hinab zum rechten Ohr von Brüwer. »Ich gebe auch einen aus«, säuselte er in einer Tonlage, welche selbst die schöne Helena hätte betören können.
»Nein, nein, mein Allerbester, es tut mir wirklich leid. Auch wenn du uns damals bei der Sache mit dem Angelcenter den entscheidenden Tipp gegeben hast, du kannst nicht einfach mithören.« Brüwer wedelte mit dem rechten Zeigefinger. »Und bestechen lassen wir uns schon gar nicht.«
Den Herrn im Himmel anflehend legte Georgios den Kopf in den Nacken, verdrehte die Pupillen und breitete seine kräftigen Arme aus zur allumfassenden Frage, womit er das verdient habe. Weil ihm keine Antwort der höheren Mächte zuteil wurde, ergab er sich in sein Schicksal und schlurfte mit hängenden Schultern zur Theke zurück.
»Nun schieß endlich los.«
»Bevor ich das Märchenbuch kaufte, entdeckte ich unter diesem Lappen diese Waffe. Jügesen junior, durchaus ein Luftikus, wie sein Vater meint, wollte sie verscherbeln, aber ich habe ihn zurechtgestutzt. Wegen diesem merkwürdigen Aufsatz von ihm aus dem Märchenbuch und dazu noch diese abstruse Geschichte um den Urgroßvater jedoch ...«
»Die musst du mir noch erzählen. Und von dem Treffen mit dem alten Jügesen berichten.«
»Von Jügesen senior. Da legt er Wert darauf, im Gegensatz zu seinem Sohn.« Stormann grinste belustigt. »Wenn du deren Familiengeschichte hörst, haut‘s dich vom Hocker.«
»Dann trifft es sich gut, dass ich mit dieser Sitzbank fast verwachsen bin.« Brüwer pochte mit den Fingerknöcheln gleichzeitig links und rechts aufs Holz. »Los, weiter.«
»Also bin ich vom Stammhaus gleich wieder zum Fischmarkt marschiert, um für alle Fälle die Pistole an mich zu bringen, bevor er sie doch gegen jede Vernunft an irgendjemanden auf Nimmerwiedersehen verhökern konnte. Ich kam rechtzeitig an, denn er hockte immer noch dort, obwohl rund um ihn herum schon alle fort waren oder gerade am Abbauen.«
»Dann hatte er sicherlich noch nicht genug eingenommen.«
»Das stimmt, aber mit dem Preis für die Pistole hat es dann doch gereicht.«
»Daher kombiniere ich: Dein zweiter Kauf war kein Schnäppchen, weil dein butterweiches Herz dich ganz gewiss dazu getrieben hat, dieses Mal nicht zu handeln, sondern sogar noch so viel draufzulegen, bis es für ihn endlich gereicht hat.« Mit wahrheitswissendem Blick griff Brüwer nach seinem Krug und saugte Schaum, während er ihn neigte, um auf den Bierpegel zu stoßen.
»Wie kommst du denn darauf?«
»Der saß doch schon ganz alleine da und wäre ganz bestimmt nichts mehr losgeworden. Außerdem kenne ich dich ja nun mehr als lange genug.«
Stormann hob ein wenig die Schultern an und blickte leicht verlegen. »Das war es mir dann doch wert.«
»Siehst du.« Brüwer setzte den Krug ab, erhob den Zeigefinger der anderen Hand. »Daran erkenne ich meine Pappenheimer.« Dann beugte sich weit über den Tisch und tippte energisch auf die Steinplatte. »Warum eigentlich bist du nicht gleich am Angelplatz umgekehrt und hast ihm den Zettel zurückgebracht?« Er zwinkerte heftig, legte den rechten Zeigefinger sacht aufs rechte Unterlid und zog ein wenig daran. »Ich folgere: Du hattest deine Nase schon zu tief drin in der Sache und wolltest dir diese einmalige Gelegenheit nicht entgehen lassen, das Stammhaus dieser Reederei mal – natürlich nur für alle Fälle – unter die Lupe zu nehmen.«
»Du hast recht, wie immer, außerdem wollte ich meine Runde um die Alster herum nicht abbrechen.«
»Zurückbringen wäre aber einfacher gewesen und außerdem hat der Alte, ähm«, Brüwer verdrehte die Pupillen, »der von Jügesen senior bestimmt gefragt, wie du Buch und Zettel erworben hast. Das gibt doch Ärger für den Jungen, oder?«
»Ich habe ihn sehr darum gebeten,« Stormann blickte so insistierend wie zuvor beim Gespräch mit dem Reeder, »seinen Sohn nicht darauf anzusprechen, außerdem kann ich das Buch noch zurückgeben. Herr von Jügesen senior wollte es mir auf der Stelle abkaufen; sein Angebot gilt noch.«
»Dann nimm‘s lieber sofort an, sonst verdirbst du es dir endgültig mit deinem Enkel.«
»Ich versuche es aber erst einmal bei ihm. Ich denke, das wird schon schiefgehen.«
»Ha, von wegen Enkelversteher.« Mit beiden Händen wiegelte Brüwer ab. »Du wirst dich noch wundern. Wetten dass?«
»Ich wette nie!« Mahnend richtete Stormann seinen Zeigefinger auf den Ex-Kollegen, aber dann begann er, zu schmunzeln. »Übrigens hat die Inspektion der Reederei noch eine schöne Nebengeschichte generiert: Ich habe auf die Schnelle eine Tagesangelkarte besorgt für die Bille und die umliegenden Seen nördlich des Sachsenwaldes. Unser Ziel morgen früh ist ein winziger Teich, der unter passionierten Anglern aber als echter Geheimtipp gilt.« Während des Sprechens schob Stormann seine Linke in die rechte Innentasche des Jacketts und beförderte ein Dokument in der Größe DIN A6 zutage, welches in eine Folie eingeschweißt war. Diesen Ausweis hielt er seinem Ex-Kollegen dicht vor die Nase.
»Hä?«, murmelte Brüwer und schielte verdutzt auf die unleserliche Unterschrift und den verwischten Stempel des wasserdicht versiegelten Kärtchens. »Was soll ich denn damit?«
»Angeln, und zwar legal. Einen prachtvollen Edelfisch fangen für die größte Bratpfanne zuhause.«
»Für zu Hause? Nee, nee, das kommt gar nicht in Frage. Wenn schon, dann lasse ich von Georgios zwei Riesenhappen zubereiten für uns. Den Rest schenke ich ihm, damit kann er seine Gäste noch wochenlang beköstigen.« Brüwer stutzte und sah sein Gegenüber schief an. »Und was meintest du eben mit legal?«
»Hinter der Fensterfront des Lofts stand das Fernrohr von einem Schiff. Es war gegen die Außenalster ausgerichtet und da habe ich nach dem Gespräch mit Herrn von Jügesen ihn einfach mal gefragt, ob ich durchschauen darf. Ich wollte unbedingt nachsehen, ob du noch angelst. Genau in diesem Augenblick verwarnten dich die Polizeibeamten. Aber du scheinst Glück gehabt zu haben, denn ich hatte den Eindruck, dass sie dein Angelzeug nicht einkassiert haben.«
»Wie bitte? Du hast mich heimlich beobachtet? Hast du dir dabei auch ins Fäustchen gelacht? Ganz bestimmt!« Brüwer hieb mit der rechten Faust so heftig auf die marmorne Platte, dass sämtliche Gäste im Lokal sich erschrocken umsahen. »Na sowas! Das erinnert mich doch glatt an meinen ganzen Ärger damals mit dem guten alten VauEBe Horch und Guck!«
Mit größter Bestürzung im Blick eilte Georgios herbei. Mit hastigen als Beruhigung gedachten Gesten überzeugte Brüwer den Wirt, dass dieser sich keine Sorgen um seine Lieblingsgäste zu machen brauche. Georgios rollte vorwurfsvoll mit den Augen, dann ging er kopfschüttelnd zur Theke zurück. Stormann beeilte sich nun, die Pistole wieder einzuwickeln und zurückzustecken.
Aber die Angriffslust steckte noch in ihm und mit gutmütigem Spott in der Stimme klärte er auf seine Art und Weise den Kumpan auf: »Als ich dein unglückliches Gesicht erblickte, zerriss es mir dermaßen das Herz, dass ich mir gleich eine topografische Kreiskarte von Segeberg, Stormarn und dem Herzogtum Lauenburg besorgte. Dann erkundigte ich mich bei einem Angelverein, wo es die wirklich dicksten Fische gibt und du garantiert kein Anglerpech haben wirst.«
»Erzähl mir bloß nicht, du tust irgendetwas mir zuliebe. Du heckst doch bestimmt etwas ganz anderes aus.«
»Erstens doch, gerne sogar, zweitens Treffer. Anhand der Körpersprache von Jügesen senior erkannte ich, dass er nicht die Wahrheit sagte, als er über seine Onkel und das Gut sprach. Ich bin eben ein alter Hase, genau wie du.« Stormann beugte sich weit vor. »Ich flüstere dir was: Da ist etwas faul im Sachsenwald!«
»Noch ist das nur dein Verdacht. Und du willst wirklich extra hinfahren und nach dem Rechten sehen?«
»Ach was, deswegen fahren doch nicht hin, sondern wir wollen nur ein bisschen angeln. Bloß rein zufällig ist das Gut ganz in der Nähe dieses Sees und daher kann ich bei dieser Gelegenheit ja gleich mal nach den Rechten sehen.«
»Dem!« Mit dem rechten Zeigefinger mahnte Brüwer.
»Den!« Stormann blickte unbeirrt. »Von Jügesen senior bezeichnete seine Onkel als unverbesserlich. Das ist eine typische Klassifizierung ehemaliger Nationalsozialisten, welche trotz allem bis zu ihrem Lebensende von dritten Reich schwärmen werden.« Nun kniff er das rechte Auge zu.
»Wir werden sehen. Und der See liegt gleich neben dem Gut?« Brüwer legte den rechten Zeigefinger sacht auf das rechte Unterlid und zog ein wenig daran. »Du und Zufall, soll ich das glauben? Im Ernst?«
»Doch, doch, das ist tatsächlich Zufall.« Stormann schob die rechte Hand in die linke Innentasche des Jacketts und beförderte eine korrekt zusammengefaltete Landkarte zutage.
»Siehst du dieses Eselsohr?« Brüwer stupste den linken Zeigefinger darauf und schüttelte triumphierend den Kopf. »Neu ist dieser Plan ganz bestimmt nicht, höchstens gebraucht gekauft.«
»Ertappt. Der lag hinten im Kartenschrank, weil ich lange nicht in der Gegend war.« Stormann lächelte hintersinnig, während er den Plan zurechtlegte, bis dieser zwischen den beiden Bierkrügen noch auf den Tisch passte. »Zunächst fahren wir auf der A-Vierundzwanzig bis zur Abfahrt Nummer fünf, Witzhave, und dann die Möllner Landstraße in nordöstlicher Richtung.«
»So, so, wollen wir etwa zum Till?«
»Nicht bis Mölln. Der Teich ist hier«, murmelte Stormann und tippte auf ein cyanblaues Pünktchen, »im Billetal, am Nordrand des Sachsenwaldes.« Er schob seine Zeigefingerspitze auf der Karte etwa zwei Zentimeter nach links. »Und hier, etwa zwei Kilometer entfernt, mitten auf dem Gutsgelände, befindet sich das Herrenhaus, welches ich mir unbedingt einmal näher ansehen will. Du hältst die Stellung beim Angeln, während ich mich auf den Weg mache.«
»Stellst du dir neuerdings so die Arbeitsteilung zwischen uns beiden vor?« Brüwer kreiselte mit den gespreizten Fingern seiner rechten Hand über dem Plan. »Du gehst mit mir um wie mit einer Schachfigur. Oder etwa nicht?«
»Nicht doch, du bist nur nicht mehr mein Vorgesetzter. Das ist alles.« Stormann zwinkerte, dann beugte er sich vor und starrte sein Gegenüber insistierend an. »Nun, mein lieber Klemmi, bist du dabei?«
»Mensch Kalli, aber na klar. Ich fliege ja schon auseinander vor Neugier. Berichte mir endlich, was der Alte, ähm, du weißt schon wer, dir eigentlich erzählt hat.«
»Morgen, auf der Hinfahrt. Heute würde es zu spät dafür; ich will auch kein Essen mehr bestellen, sondern mich in ein paar Minuten auf den Weg nach Hause machen. Ich muss nach einigen recht speziellen Utensilien suchen, sie überprüfen und zum Mitnehmen einpacken.«
»Geeeooorgiiiooos!«, posaunte Brüwer und winkte mit seinem rechten Arm, als wolle er mehrere Streifenwagen herbeikommandieren. »Mein so richtig Oberguter, ruf uns mal ‘n Minicar und bring zwei Ouzo als krönenden Abschluss.«