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I.KAPITEL – Wenn die bunten Fahnen wehen

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Jugendzeit in Dresden - 1928-34

I-1

„Wenn die bunten Fahnen wehen, geht die Fahrt wohl übers Meer, woll´n wir ferne Lande sehen, fällt der Abschied uns nicht schwer.“

Singend saßen die elf Mädel der 63. Volksschule Dresden-Blasewitz, Höhere Mädchenabteilung, mit ihrem Lehrer Dr. Weißflog in einem Abteil des Sonderzuges nach Gmunden im Salzkammergut. Ziel war die Tagung des „Vereins für das Deutschtum im Ausland (V.D.A.)“. Mit ihren prall gepackten Rucksäcken fuhren Delegationen aus allen Schulen Dresdens am 25. Mai 1928 voller Erwartung zu diesem Ereignis. Nicht viele konnten sich in dieser Zeit eine Urlaubsreise leisten, und schon gar nicht ins Ausland. Die Fahrt ging durch Thüringen nach Plauen, wo ein kurzer Aufenthalt genutzt wurde, um den Würstelmann mit seinen herrlichen „Hofer Würsteln“ zu umlagern. Endlich, nach 13 Stunden Fahrt war Passau erreicht und alle sanken todmüde auf ihr Lager in der Jugendherberge.

Marie tuschelte noch ein wenig mit ihrer Freundin, bevor auch sie in das Land der Träume hinüberglitt. Sie war ein lebenslustiges Mädchen von gerade 16 ½ Jahren und wuchs unbeschwert aber behütet in einem harmonischen Elternhaus auf. Ihr Vater, ein gelernter Böttcher, war inzwischen Polizeianwärter und die Familie wohnte im Gärtnerhaus eines reichen Weinhändlers, der selten in seiner großen Villa wohnte. Marie war Pauls Liebling und er tat alles in seiner Macht, um sie glücklich zu machen. Jetzt schlief sie fest und träumte von den kommenden Abenteuern.

Schon sechs Uhr am Morgen musste man aufstehen und eine müde Truppe trabte zum Kaffee beim Stockbauer. Das Frühstück war einfach, aber der Blick auf die Donau und das heiße Getränk hoben die Stimmung. Die konnte auch durch den Dauerregen nicht getrübt werden und alle redeten durcheinander. Wie junge Mädchen eben so sind.

In Gmunden schien die halbe Stadt auf den Beinen zu sein. Der Bahnhof glich einem Heerlager. Wie eine Schlange bewegte sich ein Wimpel und Standarten schwenkender Zug deutscher Jugendlicher und Erwachsener auf die Stadt zu. Von 14 Jahren aufwärts waren sie aus allen deutschen Sprachgebieten, aus Südtirol, aus dem Baltikum, aus Siebenbürgen, dem Banat, aus dem besetzten Saarland und allen deutschen Landen angereist. Sie wurden in Privathäusern und Scheunen untergebracht. Marie und ihre Schulfreunde kamen in die Büroräume eines Fabrikanten. Dort war es warm und sie hatten einen herrlichen Ausblick auf den See und Schloss Orth. Erschöpft sanken sie in die Betten.

Am nächsten Tag wurde die Stadt erkundet. Fast jedes Haus war mit Reisiggirlanden und reichsdeutschen und österreichischen Fahnen geschmückt. Im Laufe des Vormittags fanden Gottesdienste und verschiedene Sitzungen statt. Am Mittagstisch saßen Marie und ihre Freundinnen dann mit bayerischen „Buam“ zusammen, aber von ihren Reden verstanden sie nicht viel. Trotzdem wurde jede Menge gelacht und geschäkert.

Als sie nach dem Essen so ganz ohne Plan auf dem Markt herumstanden, kam der Direktor, bei dem sie logierten, vorbei und lud sie zu einer Spazierfahrt in die Umgebung ein. Das Auto war ein Sechssitzer, aber alle 11 Mädels wurden eingeladen. Das war ein Gaudi. Sie erregten überall Aufsehen. Sie fuhren durch die schneebedeckte Alpenwelt, tief unten die Traun, zu der Stelle, wo sich der Fluss mit ungeheurem Getöse in die Tiefe stürzt.

Gerade rechtzeitig kamen sie zu der Sieben-Uhr-Abendfeier zurecht, die für die Sachsen auf dem Moosberg stattfand. Die Feierstunde wurde eingeleitet von dem Choral:

„Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten. Er waltet und haltet ein strenges Gericht. Er lässt von den Schlechten nicht die Guten knechten; Sein Name sei gelobt er vergisst unser nicht.“

Der Vorstand bedankte sich für die Einladung und danach sprach ein Wiener. Unter großem Applaus bat er darum, dass die Österreicher wieder zum deutschen Mutterland gehören dürften. Er erinnerte daran, dass in Südtirol, in dem seit dem Weltkrieg von Italien okkupierten Teil, seit einem halben Jahr die deutsche Sprache in Schulen und auf Schildern verboten sei. Es folgten Ansprachen von Herren aus Litauen, dem Elsass und Westpreußen, die Not und Elend der Deutschen in den Grenzstaaten hervorhoben. Dazwischen sang und tanzte eine Zipfer Gruppe zur Violine. Die Flammen eines großen Holzstapels loderten zum Himmel. Zum Abschluss wurde gemeinsam das Deutschlandlied gesungen.

Die Berge ringsum waren stimmungsvoll beleuchtet und allen war sehr feierlich zumute. Das Trauntor zeigte ein beleuchtetes Monogramm mit den Buchstaben VDA, Scheinwerfer ließen das Schloss erstrahlen und auf dem See fuhren bunt illuminierte Boote.

Der nächste Morgen weckte die Mädchen mit Sonnenstrahlen und als man sich noch im Bett räkelte, klopfte das Hausmädchen an die Tür. „Herr Doktor lässt fragen, ob Sie fertig seien.“

Jetzt musste alles ganz schnell gehen. Liesel und Käthe hatten mit ihrem Bubikopf wenig Probleme, aber Maries lange Haare zeigten sich widerspenstig. Doch dann waren alle Punkt 8 Uhr aufbruchbereit. Der Tag begann mit einer Morgenfeier der 15 000 Teilnehmer auf der Satoriwiese. Ein im Wald versteckter Chor sang einen Choral als Einleitung für die Rede eines greisen Priors aus Innsbruck. Der katholische Priester sprach von Pflichten, die die Jugend gegenüber Herrgott, Heimat und Volk habe, danach sprach ein evangelischer Bischof aus Siebenbürgen. Er beschwor die Teilnehmer, Träger des Einheitsgedankens zu sein. Zum Abschluss sangen alle

„Großer Gott wir loben dich, Herr, wir preisen deine Stärke. Vor dir neigt die Erde sich und bewundert deine Werke.“

Und natürlich das Deutschlandlied.

Am Nachmittag bewunderten alle einen Festumzug. Die Südtiroler trugen eine Tafel mit Trauerflor. Plötzlich ein Böllerschuss. Alles stand still und Musikkapellen spielten „Ich hatt' einen Kameraden…“ von Ludwig Uhland. Dann begannen sämtliche Glocken in Gmunden zu läuten und jeder nahm seine Kopfbedeckung ab. Nach einem erneuten Böllerschuss setzte sich der Zug wieder in Bewegung.

Als weiterer Programmpunkt fand ein Singwettstreit auf dem Hochkogel statt. Dabei lernten Marie und ihre Freundinnen eine lustige Wiener Gruppe kennen und man verabredete sich für den Abend. Beim Seefeuerwerk traf man sich wieder, und während die anderen am Fackelzug teilnahmen zogen sich drei Mädel und fünf Wiener an den Waldrand zurück. Sie sangen „Weaner Liadln“, die zuerst lustige Stimmung verbreiteten aber dann immer schwermütiger wurden. Die Unterhaltung drehte sich um Volk und Heimat, Sitten und Gebräuche. Einer von ihnen war bereits mit 19 von den Ungarn verhaftet worden, weil er sich dort zu sehr für das Deutschtum eingesetzt hatte. Später konnte er fliehen. Er war recht melancholisch. Sein Bruder dagegen war lustig und immer zu Späßen aufgelegt.

„Ein Herr Pavlitschek trifft die Hausbesorgerin und sagt: ‚Stellen Sie sich vor, Frau Pollak, in New York wird alle fünf Minuten ein Mann überfahren’. ’Nein’, sagt die, ‚der arme Mann.’“ Alle Mädel waren begeistert von ihm, vom Ernstl, und Marie wurde direkt etwas eifersüchtig, denn ihr gefiel er besonders.

Man trennte sich nach zwei Stunden mit dem üblichen „Heil!“ und die Burschen fuhren noch in der Nacht nach Wien zurück, nicht ohne sich dort mit den Mädchen zu verabreden. In ihrem Bett konnte ein junger Backfisch lange nicht einschlafen, weil er dem Treffen entgegenfieberte.

Am frühen Morgen saßen alle wieder im Zug und nahmen mit einem weinenden und einem lachenden Auge Abschied von dem gastfreundlichen Gmunden. Weinend, weil es so wunderschön gewesen war, und lachend, weil es nach Wien ging. Dr. Weißflog war heilfroh, dass er den Bienenschwarm bis dahin ohne Zwischenfälle durchgebracht hatte.

Die Fahrt ging am Traunsee entlang durch das Salzkammergut und alle hingen an den Fenstern um die atemberaubende Landschaft zu bewundern. Am offenen Fenster flog so manches schwarze Rußkorn ins Auge, aber das tat der Begeisterung keinen Abbruch. In Bad Aussee war der Anschluss weg, daher musste man dort übernachten. Im „Herzog Johann“ fand Dr. Weißflog Quartier für seine Mannschaft. Später traf man sich mit den anderen Gruppen und verbrachte im „Kleinen Prater“ den Abend bei Musik und Tanz.

Am anderen Morgen kamen die Mädchen kaum auf die Beine, denn schon um fünf Uhr war Wecken. Es reichte gerade für einen Schluck Kaffee, denn wie immer war man zu spät dran. Im Fiaker ging es im Galopp zur Bahn und der Zug wurde gerade noch erreicht. Alle waren erschöpft und der Doktor vergaß sogar die bereits gefürchtete Strafpredigt. Weiter ging es mitten durch die Alpen, hohe Felsen zu beiden Seiten, zum Teil noch mit Schnee bedeckt, Gletscher und tief im Tal buntgefleckte Rinder. So etwas hatten die Mädchen noch nicht gesehen. Schließlich erklomm der Zug die berühmte Semmeringhöhe. Er wand sich mit vielen Kurven schnaufend, Funken und Rauch ausstoßend durch Tunnel, über Brücken und Viadukte, und wieder klebten alle an den Fensterscheiben.

Endlich lief der Zug in Wien ein und die Bekannten aus Gmunden standen schon da, winkten und jodelten. Alle wurden fest umarmt – Marie etwas fester? – und zum Quartier „Zum Goldenen Tor“ begleitet. Nachdem sich die Gruppe frisch gemacht hatte, brach man zu einem Stadtbummel auf. Alles schien hier beschwingter und sorgloser zu sein, fand Marie. Alles so „g’müatlich“, selbst der Straßenbahnschaffner. Dr. Weißflog gab ihm 28 Fahrscheine, die hier „Billets“ hießen, und der fragte nur ob’s stimmt. Dann knipste er ohne nachzuzählen, was ein preußischer Beamter mit Sicherheit getan hätte. Überall auf dem „Trottoir“ standen kleine Tische und man trank erst mal einen Mokka, Braunen, oder Einspänner nach jedem Einkauf. „Deutsche Eile wirkt störend", erläuterte Ernstl. „Wien ,Wien nur du allein, sollst stets die Stadt meiner Träume sein“, sang er unbeschwert auf der Straße und Passanten nickten dazu.

Nachdem Belvedere, Karlskirche, Oper, Hofburg und die Ringstraße abgehakt waren ging’s auf zum Prater. Das Herz von Wien, wie Marie fand, die sich einfach bei Ernst eingehakt hatte. Als das Riesenrad auf dem höchsten Punkt eine Weile ausruhte, sagte sie „Mir ist kalt“, was nur ungenau stimmte. Es hatte aber den gewünschten Effekt, dass Ernst sie an sich drückte. Die neidischen Blicke der Freundinnen ignorierte sie.

Nachdem alle Attraktionen des „Wurstelpraters“ ausprobiert waren, versammelte sich die Gesellschaft in einem Lokal und erfreute sich an „Stelzen“ und Bier. Dr. Weißflog drückte ob des Alkohols ein Auge zu. Schließlich fielen alle spät aber glücklich ins Hotelbett.

Am nächsten Morgen stand Ernst schon wieder bereit, um die Mädchen nach Schloss Schönbrunn zu begleiten. Er hatte bereits etliche Vorlesungen seines Architekturstudiums geschwänzt und auf ein paar mehr kam es jetzt auch nicht mehr an. Er gestand es sich noch nicht ein, aber er hatte angebissen. Das dunkelhaarige fesche Maderl war ein Leckerbissen. Er ließ sich aber nichts anmerken. Nur Marie fiel auf, dass sein Blick immer wieder zu ihr hin schweifte, während er die Schönheiten der Anlage erläuterte. Von der Gloriette aus konnte man weit nach Wien hineinblicken und wie zufällig ergab sich die Gelegenheit, der Marie einen flüchtigen Kuss auf den Nacken zu geben. Danach mischte er sich wieder unter die anderen und freute sich insgeheim, dass die so Ausgezeichnete kräftig errötete.

Zu Fuß gelangte man über die Wienzeile zur Kärntner Straße. Alles war hier noch größer und prächtiger als im wunderschönen Dresden und Marie konnte sich gar nicht satt sehen. Die vielen Ausländer, geschminkt und gepudert, störten zwar ihre Vorstellung vom gemütlichen Wien, aber es gab noch genügend Einheimische in ihren schönen Trachten.

Der Stephansdom überwältigte alle. Natürlich wollte jeder auf den Turm, aber bei 762 Stufen ging doch schnell die Puste aus. Das letzte Stück bis zur Spitze war nur für jeweils eine Person über eine einfache Leiter zugänglich, aber keine wollte Schwäche zeigen. Ernst gab vor, die Leiter halten zu müssen, aber der eigentliche Grund war der Blick nach oben, der ihm die Aussicht auf lange Mädchenbeine ermöglichte.

Von oben sahen die Menschen wie Puppen aus und Wien lag ihnen zu Füßen. Als Marie wieder herunterstieg streckte Ernst die Hände aus und sie ließ sich von der letzten Sprosse in seine Arme gleiten. Nur einen kurzen Moment waren ihre Körper aneinander gepresst, doch der genügte, dass sie sich minutenlang wie im Trance bewegte.

Jetzt wollten alle zum Quartier, um sich von den Strapazen etwas auszuruhen, aber Ernst bestand darauf, ihnen noch das Strauß-Denkmal im Stadtpark zu zeigen. Dort nahm er Marie in die Arme und drehte mit ihr ein paar Tanzschritte, den Donauwalzer summend. Sie hätte sich so gern in seinen Armen weiter gewiegt, aber die anderen hatten Hunger und waren müde. Spielverderber.

Am Nachmittag stand ein Ausflug nach Grinzing auf dem Programm. Die Schrammelmusik, die aus den Türen klang, lud zum Verweilen ein, aber dazu reichte weder die Zeit noch das Geld. Stattdessen stieg die bunte Schar zum Cobenzl empor, um den herrlichen Ausblick zu genießen. Der Doktor vorweg, die andern hinterher und ganz zum Schluss Ernst und Marie. Man hatte sich ja so viel zu erzählen, und wollte sich schreiben und ganz sicher auch treffen und … Vieles blieb ungesagt.

Dann musste es schnell gehen. Auf dem Weg zum Kai waren alle traurig, auch wenn sich Ernst bemühte, fröhliche Stimmung zu erzeugen. Mit dem Schiff sollte es bis Linz gehen. Alle waren schon auf dem Dampfer, die Sirene mahnte zur Abfahrt, der Doktor gestikulierte, aber da standen noch zwei am Ufer und hielten sich das erste Mal fest umschlungen. In letzter Sekunde gab Marie dem Ernstl einen herzhaften Kuss auf den Mund, riss sich los und stürmte über den Steg aufs Schiff. Langsam bewegte es sich vom Ufer weg, winken, winken und ein paar Tränen, dann war die einsame Figur am Kai außer Sichtweite.

Die Freundinnen hatten Marie einen Platz im Damensalon frei gehalten, aber immer mehr Mädchen wollten hinein. So gab man es schließlich auf und verstaute nur die Rucksäcke im kleinen Zimmer. Schade um den schönen Raum, der sah sonst vornehmere Gesellschaft. Inzwischen war es schon elf Uhr geworden und keiner dachte ans Schlafen.

„Wir wollen die ganze Nacht aufbleiben. Wir sind überhaupt nicht müde“, versicherten sie dem Doktor. Aber der bestand auf Schlaf, wenigstens ein paar Stunden. So fügten sich Marie und ihre Freundinnen, hüllten sich in warme Decken und suchten sich eine geschützte Ecke oben auf Deck. Dort lagen überall vermummte Gestalten, die unten keinen Platz mehr gefunden hatten. Der Doktor selbst gönnte sich keinen Schlaf, er bewachte seine Schäfchen. Immer wieder kam er auf seinem Rundgang vorbei, nur am Glühen seiner ständigen Zigarette auszumachen. Diese Leidenschaft war scheinbar sein einziger Fehler und die Mädchen machten ihre harmlosen Scherze über ihn. „Aus gutem Grund ist Juno rund, es glüht der Stengel zu jeder Stund“ dichteten sie.

Es war lausig kalt. Dazu der Fahrtwind und die Schiffsgeräusche. Und es war neblig. Dafür gab es einen wunderschönen Sonnenaufgang. Nach dem Frühstück im Speiseraum spielte eine Musikkapelle und alle genossen die vorbeiziehende Landschaft. Die mächtige Ruine Aggstein, dann Dürnstein und Krems glitten vorüber. Während die anderen Gruppenführer zusammenhockten saß Dr. Weißflog immer bei seinen Schützlingen. Nur einmal wurde er ihnen untreu, als die anderen ihn mit einem Skatspiel lockten.

In Linz war Zeit für eine kurze Stadtbesichtigung, dann brachte sie der Zug wieder nach Passau, wo sie in der Jugendherberge Schlaf suchten. Aber leider war alles besetzt. Wie die Sperlinge hockten sie jetzt auf der Bordsteinkante und hatten trotz der misslichen Lage einen Mordsspaß, bis der treu sorgende Doktor endlich ein Hotel gefunden hatte.

Katzenjammer am nächsten Morgen, weil die schönen Tage in der Gemeinschaft vorbei waren. „Alles ist vergänglich, nur der Kuhschwanz, der bleibt länglich“. Der Humor blieb.

„Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei“. Dumme Sprüche gab es zuhauf, um sich gegenseitig die schlechte Laune zu vertreiben. Auch Dr. Weißflog versuchte sein Bestes. „Nun steckt eure mummligen Gesichter in den Rucksack, sonst fliegt ihr alle miteinander in die Donau."

Nach dem Kaffee beim „Stockbauer Gasthäusle“ wurden die Lebensgeister wieder wach und in freudiger Erwartung auf die Heimat bestieg man den Sonderzug. Im Abteil ging es wieder hoch her. Alle waren in patriotischer Stimmung. Was hatten sie in den 10 Tagen nicht alles erlebt. Deutsches Wesen und deutsche Art in deutschem Land.

Unterwegs gab es einen größeren Aufenthalt und alle strömten hinaus in die Sonne. „Raus mit der Maus in die Frühlingsluft!“

Der Doktor hatte sich mit seiner unvermeidlichen Zigarette an einen Zaun gelehnt und genoss mit geschlossenen Augen die warmen Strahlen. Heimlich wurde ein Bild geschossen. Als es ihm später gezeigt wurde, sagte er: „Kinder, das habt ihr wieder mal echt blasewitzerisch gemacht.“ Andere Klassen beneideten sie um ihren Lehrer, der so viel Verständnis für „seine Kinder“ hatte.


I-2


Marie hatte eine glückliche Jugend erlebt. Das Gartenhaus, im Park des Weinfabrikanten in Dresden-Blasewitz, glich eher einem kleinen Schlösschen und das Gelände lud zu allerhand Aktivitäten ein. Paul, ihr Vater, durfte hier frei wohnen und das ganze Grundstück nutzen. Er fungierte als eine Art Hausmeister ohne besondere Pflichten, da der Besitzer nur wenige Wochen des Sommers im Hauptschloss wohnte. Allerdings vermisste Marie hier anfangs Spielgefährten. Nur wenn die sechs Buben des Weinhändlers da waren, wurden im Park wilde Räuber- und Gendarm- oder Indianerspiele veranstaltet.

Mit Puppen hatte sie nichts im Sinn. Sie besaß eine wunderschöne, in Babygröße, mit Porzellankopf, rollenden Augen, klappenden Augenlider und langen braunen Echthaaren, dazu viele prächtige Kleider. Die zog sie aber lieber ihrer Katze an, die sich alles gefallen ließ. Angezogen und mit Häubchen versehen lag sie unbeweglich auf dem Rücken, mit den Pfoten auf der Decke und wurde spazieren gefahren. Das war interessanter als eine leblose Puppe. Seit tausenden Jahren waren Katzen Begleiter der Menschen. Ohne Katze, das war doch gar nicht vorstellbar und der Mensch konnte froh sein, bei ihr wohnen zu dürfen. Der Korbwagen wurde ihr so vertraut, dass sie später sogar ihre Kinder darin gebar.

Auch ein weißer Spitz gehörte neben Kaninchen, Ziegen, Hühnern und einem Schwein zur Menagerie. Als Marie aber versuchte, den Hund mit Vaters Rasiermesser zu rasieren, gab es die erste Dresche. So was tut man ja auch nicht. Bauz, so hieß der Spitz, war ein richtiger Schlawiner. Als er sich mal an der Pfote verletzt hatte, wurde er viel herumgetragen. Er hinkte auch noch, als die Wunde längst verheilt war. Allerdings nur, wenn jemand hinsah.

Als später die Schule begann, hatte Marie endlich viele Freundinnen. Deren Eltern waren zwar durchweg vermögender, aber das herrliche Grundstück zog alle an und Paul verstand es immer wieder, entzückende Gartenfeste zu veranstalten. Da konnte man so laut sein, wie man wollte, denn das Gelände grenzte auf der einen Seite an einen Friedhof und auf der anderen an eine Gärtnerei. Die Toten und die Blumen beschwerten sich nicht. Der kleine Park lag direkt an der Elbe und die Kinder machten sich einen Spaß daraus, versteckt im Gebüsch, die auf der Elbpromenade spazierenden Liebespaare zu belauschen. Danach wurden dann die tollsten Geschichten um das Erlauschte gesponnen.

Nach vier Grundschuljahren ging Marie in die Höhere Mädchenschule. Ihre Mitschülerinnen kamen aus der „besseren“ Gesellschaft, Marie wurde aber sofort integriert. Nicht nur wegen des Parks und der vom Vater organisierten Feste. Zwei adlige Mädchen waren Flüchtlinge aus Russland. Die Väter erschossen, die Güter beschlagnahmt, brachten die Mütter sie mit Nachhilfestunden durch. Nina sprach zuhause jeden Tag eine andere Sprache und in der Schule war sie ein Ass. Eine andere Klassenkameradin, Traute, war das einzige Kind eines Fabrikanten. Sie hatte alles, nur keine schlanke Figur, denn sie aß und naschte für ihr Leben gern. Deshalb fuhr sie jedes Jahr mit ihrer Mutter nach Karlsbad in die Tschechoslowakei, um dort für viel Geld ihre Pfunde abzuhungern. Sie kam schlank zurück und hatte nach drei Monaten wieder alles aufgeholt. Sie musste deshalb mit dem Fahrrad zur Schule fahren, aber ein Chauffeur begleitete sie im Auto, einem Maybach.

Die Schule hatte gute Ausbilder. Die Fremdsprachenlehrer mussten zuvor zwei Jahre im Ausland unterrichtet haben und der Chemielehrer war ein Experte, aber zu gut für diese Welt. Er wurde der Backfische nicht Herr. Marie war seine Hilfskraft, und wenn er im Nebenraum Unterrichtsmaterial holte, durchstöberte sie sein Zensurenbüchlein. Wenn man es gar zu arg trieb, wurde man gelegentlich zum Schulleiter beordert. Der sah die Sünderin nur lange eindringlich an, das genügte, um in Reue zu zerfließen. Da stand sie nun, zerknirscht am modisch kurzen Röckchen zupfend. „Ziehen hilft nicht, länger machen!“

Pauls Aktivitäten waren sehr vielseitig. Die Arbeit im Haus, im Garten und mit den Tieren blieb allerdings an der geduldigen Mutter Selma hängen. Das karge Beamtengehalt musste aufgebessert werden und zu Feiertagen kam auch noch die weite Verwandtschaft zum Essen und Feiern. Immerhin hatte er eine sichere Stellung, Polizei brauchte man immer, im Gartenhaus konnten sie umsonst wohnen und zu essen gab es genug. So mussten sie dank der eigenen Haustiere keine Eier zum Stückpreis von 320 Milliarden RM kaufen. Das kostete ein Ei zu Zeiten der Hyperinflation Ende 1923. Auch Fleisch, Gemüse, Obst und Ziegenmilch gab es aus eigener Produktion. Paul musste damals für eine Straßenbahnfahrt 600 RM hinblättern und es gab viele andere Kosten. Deshalb arbeitete Selma von der Früh bis zum Abend in Haushalt und Garten und beklagte sich nicht. Wenn sie mal einen hübschen Stoff für ein neues Kleid bekam, bettelte Marie es ihr oft ab. Die Mutter hätte auch ihr letztes Hemdchen gegeben, wie im Märchen vom Sterntaler. Dabei sang sie von früh bis abends.

Die schweren Zeiten waren dann nach der Währungsreform im November 1923 Gott sei Dank vorbei und man konnte sich wieder einige Vergnügungen gönnen. Jedenfalls der gehobene Mittelstand und die Beamtenschaft.

Zu der Zeit wurde Radfahren modern und Paul war sofort dabei. Er brachte sich als Vergnügungsvorstand ein und organisierte fast jeden Sommersonntag Ausflüge in die schöne Umgebung. Picknick im Freien – die Jugend saß meist etwas abseits. Das Trio Marie, Gretel und Ilse war unzertrennlich. Die Freundinnen scherzten: Marie die Kluge, Gretel die Reiche und Ilse die Hübsche. Auch Tanzvergnügen organisierte Paul und Marie lernte solche Gesellschaftstänze wie Menuett und Konter. Wenn ihr Vater im Beisein des älteren Reigenpartners dann in der Straßenbahn Fahrscheine für drei Erwachsene und ein Kind verlangte, wäre Marie fast im Boden versunken.

Als Weltkriegsteilnehmer war Paul selbstverständlich auch im Militärverein. Alljährlich fanden in allen Räumen des Dresdner Ausstellungspalastes Bälle statt. Das hatte den Vorteil, dass man tanzend den Eltern entschwinden konnte. Bei den schicken Fähnrichen brauchte Marie nie Mauerblümchen zu sein. Hier tanzte man modern, Charleston zum Beispiel.

„Das ist keine Kunst“, erklärte sie dem Vater, „Man muss sich nur vorstellen, dass man einen Floh im Rücken hat und die Schlüpfer verliert.“ „Na danke“, sagte Paul.

Spätestens um Mitternacht stand er mit dem Mantel an der Tür, ein stummer Mahner, manchmal geduldig und schwitzend eine ganze Stunde lang. Dann wurde es aber ernst. Gewöhnlich gingen sie per pedes nachhause und Marie hinkte in ihren hohen Absätzen lahm hinterher. Vaters Worte „Beim Tanzen warst du aber nicht so schlecht zu Fuß“ marterten ihre Seele.

Beim „Verein christlicher junger Männer“ war Paul Ehrenmitglied. Die bliesen Posaune. Zu Festtagen oder zu Pauls Geburtstag stellten sie sich am Tor auf und brachten ein Ständchen. Am Straßenrand standen die Zaungäste. Natürlich hatte er damit gerechnet, auch wenn er sehr erstaunt tat. Drinnen gab es Kartoffelsalat von Selma und dann wurde eine Holztanzdiele im Garten aufgebaut. Die Zaungäste staunten immer noch. Erich, ein posauneblasender Bankbeamter, verdiente schon eigenes Geld und war im heiratsfähigen Alter. Zur Silberhochzeit seiner Eltern saß Marie neben dem Jubelpaar an seiner Seite und wurde von der ganzen Verwandtschaft begutachtet. Sie aber hatte noch keinen Sinn fürs Heiraten. In ihrem Kopf war zurzeit nur Platz für schöne Kleider, ein Zustand, den ihre Eltern mit Geduld ertrugen.

Dann wurde sie Mitglied im Ruderverein, der nur fünf Minuten vom Haus entfernt sein Vereinsheim hatte. Die Periode des Radfahrens war vorbei, jetzt stieg man jeden Sonntag ins Boot. Meist bildete sich eine Gruppe von Zweisitzern, die elbauf bis in die Sächsische Schweiz ruderte. Dort gab es in einem kleinen Lokal Apfelstrudel und dann Tanztee im Freien. Am Abend ließ man sich hinter einem Raddampfer von der Strömung heimwärts treiben.

Im Winter war Schneeschuhlaufen angesagt. Bis Tharandt fuhr man mit dem Zug, dann wurden die Bretter mit vielen Lederschnüren vor dem Bahnhof befestigt. Die immer zu kurzen Abfahrten mussten mit mühsamen Aufstiegen errungen werden. Das machte nur in der Gruppe Spaß. Zu Mittag gab es Brote aus dem Rucksack.

Die Reise zum Treffen des VDA nach Gmunden mit drei Mädeln aus ihrer Klasse und sieben weiteren aus der Schule war der Abschluss und Höhepunkt des unbeschwerten Lebens gewesen. Sie wurden sorgfältig vorbereitet, eine Karte mit Darstellung des Deutschtums im Ausland wurde ausgiebig besprochen. Nach der Reise widmete sich Marie den Vorbereitungen für die Reifeprüfung.


I-3


Im März 1929 hielt Marie ihr Schulentlassungszeugnis in den Händen. Jetzt begann der Ernst des Lebens. Nach einer fünfmonatigen kaufmännischen Kurzausbildung bewarb sie sich für die Stelle als Chemielehrling an der Hochschule. Die Zeugnisse waren gut, die Vorstellung beim Professor schien erfolgreich zu sein, dann kam der Bescheid: „Ich habe noch ein Eisen im Feuer, es ist ein junger Mann. Sie sind ein hübsches Mädel. Da werden Sie sicher bald weggeheiratet, und dann fange ich von vorne an.“

So war das überall. Schließlich erhielt sie eine Anstellung als Telefonistin in der Funk- und Fernmeldezentrale des Polizeipräsidiums Dresden, die ihr der Vater, der jetzt Polizeiwachtmeister war, vermittelt hatte. „Da bist du später pensionsberechtigt.“

In diesen unruhigen Zeiten war das ein großes Glück. Gerade war der vierte Reichsparteitag der NSDAP beendet worden, Straßenschlachten mit den kommunistischen und sozialdemokratischen Parteigängern waren an der Tagesordnung und erste jüdische Geschäfte wurden zerstört. In Deutschland führte der „Schwarze Freitag“ an der New Yorker Börse haufenweise zu Konkursen und überall wurde jetzt Kurzarbeit eingerichtet. Die Arbeitslosenzahl näherte sich der fünf-Millionen-Grenze. Da war es Gold wert, dass der Vater Beamter war und die Tochter eine feste Anstellung hatte, wenn auch mit geringem Verdienst.

Mit Wien wurde eifrig korrespondiert, aber eine Einladung hatte der Vater nicht gut geheißen. Es sollte eine Reise durch Tirol nach Rom sein. Ein 18-jähriges Mädchen allein in der Bahn und bei einem Mann, das ging nun wirklich nicht. „Wie kann ich mein Mädel zu einem Mann reisen lassen, den ich nicht kenne?“ Marie war traurig und heulte stundenlang, aber sie war sich nicht ganz im Klaren, ob wegen Ernstl oder wegen des Verlustes der schönen Reise. „Wenn er Interesse an dir hat, soll er gefälligst nach Deutschland kommen!“ Pauls Schnurrbart zitterte dabei. Nun ja, so war das eben. Erst mit 21 war man volljährig. Und die Etikette war wichtig. Also blieb es vorerst beim Briefe schreiben.

Marie stöpselte weiter die fernmündlichen Gespräche der Dresdner Polizei und Ernst bereitete sich auf das Diplom für sein Studium vor. So ging auch das nächste Jahr dahin. Die politischen Verhältnisse in beiden Ländern waren nach wie vor chaotisch. Bei der Reichstagswahl am 14.9.1930 gewann eine sich radikal gebärdende NSDAP schon 107 statt bisher 12 Sitze, aber noch war die SPD mit 143 Sitzen stärkste Partei. Die neue „FOX Tönende Wochenschau“ berichtete in dramatischen Bildern davon. Selbst im sächsischen Landtag wurde die NSDAP zweitstärkste Fraktion.

Für Paul war das unverständlich, er gehörte keiner Partei an, aber man machte sich doch so seine Gedanken. Wer war das denn, der da so großsprecherisch auftrat und das Heil verkündete. Adolf Hitler, ein staatenloser Gefreiter. Gesessen hatte er, Festungshaft. Und der wollte Deutschland wieder zu neuer Größe führen, Versailles revidieren und die 116 Milliarden Reparationen annullieren, den fünf Millionen Arbeitslosen Lohn und Brot geben und womöglich die Kolonien zurückholen? Ein Phantast, ein Scharlatan, Großmaul. Paul hatte wie immer die DVP[i] gewählt, der auch der sächsische Ministerpräsident Bünger angehörte. Nun hoffte er, dass die Regierung unter Brüning den verfahrenen Karren wieder aus dem Schlamassel ziehen würde.

Ernst schrieb aus Wien, dass ihm ein Adolf Hitler unbekannt sei. Dabei soll er doch Österreicher gewesen sein. Und bei den Nationalratswahlen wurden die Sozialdemokraten stärkste Partei, die Nationalsozialisten erhielten keinen einzigen Sitz. „Das wird sich auch bei uns geben“, meinte Maries Vater, der inzwischen Polizeihauptwachtmeister geworden war.

Seine Tochter träumte zwar weiter von ihrem Prinzen aus Wien, aber das hinderte sie nicht, das Leben zu genießen und sich von den zahlreichen Verehrern den Hof machen zu lassen. Im Ruderklub gab es zahlreiche Gelegenheiten dazu. Es schaffte aber keiner, ihr Herz zu erobern. In den Lichtspielhäusern lief der Film „Die Drei von der Tankstelle“ mit der Harvey und den Lieblingen Willy Fritsch und Heinz Rühmann. Das war der Schwarm aller Mädchen. So einer müsste es sein.

Fritz, ein Gartenbaustudent, hatte gute Chancen. Er wurde Fuchsmajor seiner Verbindung und Marie stickte ihre heißen Gedanken in seine Coleurbänder hinein. Sie machten gemeinsame Radtouren, kletterten im Elbsandsteingebirge herum und gingen auf Bälle. Der Vater war immer dabei. Marie fand das nicht als Bevormundung oder Gängelei. Das war eben so. Dafür organisierte Paul herrliche Gartenfeste und eine verschwiegene Bank im großen Park, mit Blick auf die Elbe, sah so manchen Kuss.

Dann hatte Fritz sein Studium als Bester des Jahrganges abgeschlossen und suchte eine Anstellung. Das war aber so gut wie aussichtslos. Die Regierung kürzte mit Notverordnungen die Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst, und das Ausland hielt sich mit Investitionen zurück, weil die Politik der erstarkten NSDAP beunruhigte. Als Arbeitslosenunterstützung bekam Fritz gerade mal 53 RM, aber für Grundnahrungsmittel waren 66 RM erforderlich. So gab er entnervt dem Werben der einzigen Tochter des größten Gartenbaubetriebes nach, der durch den Tod des Vaters einen Nachfolger brauchte. Fritz heiratete Lilo und nicht Marie. Aus der Traum.

Umso mehr verklärte sich ihr Bild vom Ernstl in Wien. Im August 1931 sollte es endlich zu einem Treffen kommen. In Begleitung der Eltern fuhr Marie mit der Bahn nach Plauen, wo man im „Kurfürst“ übernachtete. Um drei in der Früh hieß es schon wieder aufstehen und vor lauter Angst, die Ankunft von Ernst zu verpassen, saß Marie frierend eine Stunde im Wartesaal.

Der Zug aus Wien kam mit 20 Minuten Verspätung. Endlich. Zischen, quietschen, Türen aufschlagen, aber kein Ernst. Was nun? Plötzlich fasste sie jemand am Arm. „Marie, Grüß Gott!“ Vor Aufregung hatte sie ihn übersehen. Zurück im Hotel wurden die Eltern begrüßt und Kaffee geordert. Paul schlurfte behaglich, aber Ernst schüttelte sich. „Das soll Kaffee sein?“ In Wien ist eben alles anders.

Ein schnaubendes Dampfross brachte sie nach Jena. Hier tauchte die kleine Gesellschaft in das bunte Leben der Studenten ein, die auf dem Marktplatz ihren Konvent abhielten. Tisch an Tisch, unter Bäumen oder Sonnenschirmen, tranken und sangen die „Burschen“ mit den „Füchsen“, wohlwollend überwacht und gesponsert von den „alten Herren“

„O alte Burschenherrlichkeit wohin bist du entschwunden Nie kehrst du wieder gold´ne Zeit so froh und ungebunden!“

Weiter ging es nach Weimar. Ernst stand lange am Zaun zu Goethes Gartenhaus. „Wenn ich hier ein paar Jahre wohnen könnte, würde mich sicher wie Goethe die Muse küssen und ich würde dichten“, sagte er in einer Anwandlung von Größenwahn. Marie nahm ihm alle Illusionen. „Die arme Menschheit!“ rief sie und rannte weg.

Der Zug fuhr schon wieder in aller Herrgottsfrühe. Unterwegs servierte Selma das Frühstück. In einer Hand die Schnitte, in der anderen eine Birne. Ernst amüsierte sich, dass eine Scheibe Brot hier „Bemme“ hieß. So erreichten sie Eisenach und stürmten sofort auf die Wartburg. Zu Anfang wurden noch Lieder gesungen, dann nur noch gekeucht. Paul ließ sich mitten im Grünen fallen. „Bis hierher und nicht weiter!“

Zur Mittagsrast gab es Äpfel, Birnen, Brot, Wurst und Butter aus dem Rucksack. Der war danach viel leichter. Auf der Burg andächtiges Staunen. Sängersaal, Lutherstube, Rüstsaal mit allen Rüstungen und Uniformen der Zeit um 1500. Ernst schoss mit seiner neuen Leitz-Leica – "Kleine Aufnahmen - Große Bilder" – viele Fotos und achtete darauf, dass Marie möglichst oft mit aufs Bild kam. Dann wurde es schon wieder höchste Zeit, den Bahnhof zu erreichen. Zum Glück fuhr ein Bus, der dank Ernstls Charme fünf Minuten eher abfuhr.

Der Reiseplan war von Paul auf die Minute genau ausgearbeitet worden. Kaum saßen sie im Abteil rief schon der Bahnhofsvorsteher: „Abfahrt!“ So eine Hetze. Alle waren total erschöpft und sammelten ihre letzten Lebensgeister zusammen. Alle außer Ernst. Der kam mit einem echten „Weaner“ ins Gespräch, der vor 30 Jahren hierher gezogen war.

In Kelbra ging es singend zu Fuß weiter. In einem Gasthof gab es Butterbrote und frische Kuhmilch, die in Wirklichkeit von Ziegen stammte. Paul und Selma kannten sich da aus. Ein zehn Kilometer langer Marsch zur Höhle „Heimkehle“ schloss sich an, auf dem alle bekannten Fahrtenlieder erklangen.

„Wir sind die Herren der Welt, die Könige auf dem Meer.“

Inzwischen war es sechs Uhr abends und man wollte noch nach Nordhausen, noch einmal so weit. „Am besten durch den Wald“, riet ein freundlicher Bergmann. Langsam wurde es dunkel und kein Wegweiser weit und breit. Mit lautem Gesang kämpfte man gegen die Dunkelheit an.

„Im Wald im grünen Walde, da steht ein Försterhaus. Da schauet jeden Morgen, so frisch und frei von Sorgen, des Försters Töchterlein heraus…“

Endlich ein Dorf. „Nach Nordhausen? Da laufen Sie hier in die verkehrte Richtung.“

Große Enttäuschung und im ganzen Dorf kein Gasthaus. Das nächste Dorf eine Stunde entfernt. „Na, ich habe die Ehre“, maulte Ernst, „also weiterhatschen.“

Die Sommernacht war lau und angenehm, so reifte der Wunsch, sich einfach im Wald niederzulegen. Ernst hatte ja seine Zeltplane im Rucksack dabei. Aber noch hielten die Lieder wach. „Lore, Lore, Lore, Lore, schön sind die Mädchen von siebzehn, achtzehn Jahr...“

Gegen zehn Uhr in der Nacht erreichte man Görsbach, weit ab von Nordhausen. Nur ein Gasthof hatte noch Licht und Paul klopfte an die Fensterscheibe. Sie hatten Glück, der Wirt war ein Dresdner, der froh war, etwas von seiner Heimat zu erfahren. Er tischte reichlich zu essen auf, Marie entdeckte ein Klavier und so kehrte bald die Fröhlichkeit zurück. „Dös is a Hetz!“ sagte Ernst und alle lachten. Um Mitternacht sank die Gesellschaft endlich ins Bett.

Morgens um halb fünf war schon wieder Wecken, es galt einen Zug nach Nordhausen zu erwischen. Das klappte wieder mal gerade so. Dort stand die Brockenbahn bereit, ein Bähnle mit fauchender Lokomotive und vier Wagen. Ernst bewährte sich als Zugbegleiter. „Alles fertig – los!“ rief er und das fauchende Ungeheuer gehorchte ihm.

In Drei-Annen-Hohne musste man umsteigen mit einer Stunde Aufenthalt. Alle hatten Hunger, aber im Ort gab es außer dem Bahnhof nur einen Gasthof und drei Häuser. Das Gasthaus konnte nichts erübrigen, „Das Brot ist für die Gäste!“ Blieb nur das Bahnhofsrestaurant. Auch hier zögerte der Wirt, aber als er hörte, dass da ein Wiener und eine Dresdnerin vor ihm standen war er so erstaunt, dass er Brötchen und Wurst herbeizauberte. „Dass sich so etwas zusammengefunden hat!“ Er konnte es gar nicht fassen.

Schließlich kam der Zug zum Brocken aus Wernigerode. Er ächzte aus allen Nähten aber schaffte es schließlich zur Spitze. „Nein, diese Aussicht! Wie herrlich.“ Der Sturm zerrte an den Sachen, aber dieser Blick. „Hier hatte auch Goethe gestanden.“

Gern hätten Marie und Ernst noch eine Weile in die Weite geschaut und sich Hexengeschichten erzählt, aber der Vater mahnte bereits wieder zum Aufbruch. Bergab ging es über quer liegende Äste und Felsblöcke, steil, ohne Wegweiser. Die Blaubeeren am Weg mussten daran glauben und landeten in begierigen Mündern. Tief im Wald fanden sich eine Quelle und einen prima Rastplatz. Das Schild: „Abkochen im Walde streng verboten!“ hatte man bewusst übersehen und ließ sich am Feuer auf der Zeltbahn nieder. Selma deckte den provisorischen Tisch, Paul war Koch, Ernst Wasserträger und Marie spähte in die Runde, damit sie keiner überraschte. Bald saßen sie im Kreis und löffelten die Erbsensuppe. Danach gab es Kaffee, extra stark, um bei Ernst bestehen zu können. Aber der schüttelte sich wieder und verschmähte das „Gesöff“. Ein „Einspänner“ sei ihm lieber.

Die Sonne meinte es gut und die letzten Tage war der Schlaf zu kurz gekommen. Bald lagen Paul und Ernst ausgestreckt im Gras, Selma und Marie auf der Zeltplane. Nach zwei Stunden gab es noch einen Kaffee, alle erfrischten sich an der Quelle, dann ging es bergab Richtung Bad Harzburg. Der Weg war steinfrei, also leicht zu begehen, und schon klangen wieder Lieder durch des Waldes Stille. „Das Wandern ist des Müllers Lust…“, und „Im Frühtau zu Berge wir zieh’n Valera…“Alles was man so drauf hatte. Zwischendurch erzählte Ernst von seinem Beruf, seiner Mami, den Mitmenschen und dem Garten. Es war eigentlich das erste Mal, dass sie ernsthaft miteinander redeten. Dabei verloren sie die Eltern aus den Augen. Erst ein Jodler von Ernst führte sie wieder zusammen.

Im „Molkenhaus“ gab es erfrischende Buttermilch. Dann ertönte zartes Glöckchengebimmel. Braune Kühe, alles braune, strebten von den saftigen Wiesen dem Abhang zu. Der Viehhirt in seiner Kutte stapfte gemächlich hinterher, sein Schäferhund an der Seite. Jede Kuh fand ganz allein den Weg zu ihrem Stall.

In Bad Harzburg war schon wieder Eile geboten, der Zug nach Goslar fuhr um Sieben. Dort kam man im Dunkeln an und musste sich doch noch ein Nachtlager suchen. Durch das Rosentor betraten sie die Stadt und gingen suchend die Bahnhofstraße entlang. Da sprach sie ein Mann an; „Suchen die Herrschaften Quartiere?“ Ein freudiges „Jaaa“ scholl ihm entgegen. Er führte sie zu einem neuen Einfamilienhäuschen. „Bitte sehr, das ist mein Heim. Ich kann Ihnen zwei Zimmer anbieten, 2 RM pro Bett.“ Da gab es kein Überlegen. Der Mann war ohne Arbeit und versuchte durch Zimmervermietung über die Runden zu kommen. In der Veranda servierte die Hausfrau Kaffee, und Selma packte die Brote aus. Endlich konnten sie mal wieder duschen. Es wurde halb zwölf, ehe Ernst im ersten Stock verstaut wurde. Die Familie war in Erdgeschoss untergebracht. Es gab keine Diskussion darüber, dass Marie bei den Eltern schlafen musste. Trotz ihrer 20 Jahre.

Am nächsten Morgen wurde Marie vom Plätschern des Vaters am Waschtisch munter. Die Sonne schien ins Zimmer, aber sie war noch sehr müde. Erst die strengen Worte des Herrn Papa: „Hau’n bisschen hin. Es ist schon sieben!“ brachten sie auf die Beine. Auch Ernst war schon munter. „Deine Guckerln schaun noch ganz trüb aus“, begrüßte er sie.

Nach dem Frühstück führte sie der Gastgeber durch die alten Gässchen Goslars, zur Kaiserpfalz und zum Rathaus. Im Huldigungszimmer wurde die silberne Bergkanne aus dem Jahr 1477 bewundert. Auf einem Teich beim Festungsturm am Zwingerwall glitten majestätisch zwei Schwäne über das Wasser. Beim Anblick der Menschen änderten sie ihren Kurs und schwammen lautlos auf sie zu. Leider umsonst, sie bekamen keine Mahlzeit und schwammen beleidigt davon. Es gab noch sehr viel zu sehen, aber wieder musste ein Zug erreicht werden.

Während die Eltern schon die Plätze belegt hatten, standen Ernst und Marie noch Händchen haltend und lachend auf dem Bahnsteig. Ein älterer Herr beobachtete sie eine Weile und sagte dann bärbeißig: „Nun nehmt doch endlich Abschied. So schwer wird das wohl nicht sein:“ Er erntete nur ein weiteres Lachen und die zwei stiegen erst ein, als der Bahnhofsvorsteher die Kelle hob.

In Hannover nutzte man die vier Stunden Aufenthalt zu einem kurzen Stadtbummel durch die Knochenhauerstraße mit den schönen mittelalterlichen Fachwerkbauten, bestaunte Markt und altes Rathaus. Die Zeit war wieder mal zu kurz. Außerdem hatten alle Hunger. In einem vornehmen Restaurant fielen sie in ihrer Wanderkluft auf, Ernst in kurzen Lederhosen, Marie im Dirndl, Selma mit Strickjacke und Paul in Knickerbockern. Aber immerhin mit Schlips. Den band er selbst bei größter Hitze um. „Für einen Polizisten in Zivil gehört sich das.“

Weiter ging es mit dem Zug nach Soltau, wo eingekauft wurde. Die Leute waren verschlossen und redeten nur das Nötigste. Die Fremden wurden von den Heidemenschen argwöhnisch beobachtet. Hier gab es nicht viele Touristen, schon gar nicht solche mit solch komischer Kleidung und der eigenartigen Sprache. Zuhause würden sie was zu erzählen haben.

Nächstes Ziel war Wintermoor. Im Zug schliefen alle. Die Strecke war auch zu eintönig. Im „Heidehof“ konnte man sich endlich mal wieder waschen. Das tat gut, auch wenn das Wasser durch das Moor ganz braun war. Im Garten gab es Abendbrot mit Käse und Westfälischem Schinken. Paul genehmigte sich eine Zigarre, einen „Friedhofsspargel“, wie Ernst despektierlich bemerkte.

Ein Abendbummel schloss sich an. Die Weite und das Rauschen der Birken und Heidebüsche legten sich auf die Gemüter. Hier konnte man Löns erst so richtig verstehen. Ganz leise klang ihr Gesang, voller Schwermut, aber in inniger Umarmung. „Es dunkelt schon in der Heide, nachhause lasst uns geh’n …“ Und schon an der Haustür sangen sie gedämpft: „Steh‘n zwei Stern am hohen Himmel, leuchten heller als der Mond…“ Das konnte nur mit einem Kuss enden. Einem? Ernstl wollte noch ein Busserl und noch eins. Dann verschwand jeder in seinem Zimmer, aber am offenen Fenster dachte Marie noch lange an ihn und versuchte sich über ihre Gefühle klar zu werden.

Am nächsten Morgen war die Schwermut verflogen. Ein lustiges „Grüß Gott“ von Ernst brachte die Heiterkeit zurück. Am Horizont zogen Wolken auf und verhießen Regen. Paul schaute besorgt aus dem Fenster, hatte er doch auch für heute ein großes Wanderprogramm. Ernst, der Schelm, fragte mit ernster Miene: „Herr Wirt, wie schaut’s mit dem Wetter aus?“, wo doch alle selbst das Unheil sehen konnten.

Unverdrossen marschierte das Quartett los, den Rucksack mit Broten und Äpfeln auf dem Rücken. Ringsum rosenrotes Heidekraut, so weit man sehen konnte, Blüte an Blüte. Es duftete schwer und süß. Die Füße versanken mit jedem Schritt im feinen gelben Sand. Ernst war der erste, dann folgten alle seinem Beispiel und zogen Schuhe und Strümpfe aus. Kein Mensch begegnete ihnen, es war ja auch mitten in der Woche. Natürlich erschollen wieder fröhliche Lieder „… leuchtet die Sonne, ziehen die Wolken, klingen die Lieder weit übers Meer.“

Als es dann anfing zu regnen, war man froh über einen kurzen Schauer, der die Schwüle nahm, aber als er stärker wurde rettete sich die kleine Wandergruppe unter einen großen Kugelbaum auf einer Anhöhe. Die Unterbrechung wurde genutzt um zu frühstücken.

Nachdem Frau Holle sich ausgeweint hatte ging es weiter mit Schnaderhüpferln. Jeder sang einen Text und alle den Refrain. Auch Ernst hatte einen Beitrag.

„Juchhe und Juchhu, weil ma’s Leb’n no ham, seids lusti, mir komma so jung nimma zam! Holladihia, holladiho, a echter Weaner is allweil so.

Und mit Blick auf Paul

„Zwölf Polizisten und fufzehn Schandarm, san siemzwanz’g Spitzbuam wann’s zamkettelt warn.

Oben auf dem Wilseder Berg stand an einer Orientierungstafel eine andere Wandergruppe. Griesgrämige alte Damen, ein Taschentuch über den Kopf gebunden. Sie konnten sich über den Weg nicht einigen. Ein „Grüß Gott. Kemma aushelfen“ von Ernst erhellte die Gesichter. Er kam halt mit seiner Art überall gut an.

Dann ging es bergab, bei glühender Sonne. Die schweren Rucksäcke auf dem Buckel. Vor einem Haus schälte eine Frau Kartoffeln. „Erdäpfel“ nannte sie Ernst und alle lachten. „Wasser? Ja da aus dem Ziehbrunnen!“ Es war köstlich frisches und kaltes Wasser. Das Mittagsmahl, Brote und Äpfel, wurde am Waldesrand eingenommen. Paul war „Speerwerfen“. Er musste es nicht erklären. Die Frauen und Ernst konnten länger aushalten.

Dann kam die letzte Tagesetappe, zur Bahnstation nach Hützel. Heide so weit das Auge blicken konnte. Nach einiger Zeit kamen Höfe in Sicht, aber nirgendwo Menschen. Nur die vielen Bienenstöcke zeugten von Leben. Marie deklamierte Storm:

„Es ist so still. Die Heide liegt im warmen Mittagssonnenstrahle … Kein Klang der aufgeregten Zeit, drang noch in diese Einsamkeit.“

Es hatte sich nichts verändert seit 1852. Auch in Hützel war alles ausgestorben, selbst im Gasthof öffnete niemand auf das Klopfen. Also zogen die vier Wanderer am Bach entlang zum Dorf hinaus und lagerten auf der Wiese. Vater kochte Kaffee mit trockenem Reisig zwischen vier Steinen, die Beine baumelten im kühlen Nass, das Gesicht wurde der Sonne entgegen gestreckt.

Plötzlich verschwand Ernst hinter Bäumen und kam in Badehose zurück. Kurz entschlossen sprang er ins Wasser, der Bach hatte dort eine tiefe Stelle. Die anderen wuschen sich so gut es ging, um den Schweiß der Wanderung wegzuspülen. Danach frisierten sich die Damen, um wieder in der Zivilisation aufgenommen zu werden. Die Herren nutzten den Rest des heißen Wassers, um sich zu rasieren.

Gerade wollten sie aufbrechen, da kamen zwei Handwerksburschen den Bach entlang gewatet, Bündel unterm Arm, Pfeife im Mund. Knietief standen sie im Wasser. „He, ist’s hier tief?“, rief einer. „Nö, überhaupt nicht“ kam es wie aus einem Mund. Beim nächsten Schritt hatten sie den Boden unter den Füßen verloren. Aber sie verstanden Spaß und schwammen mit all ihren Sachen weiter, die Pfeife über Wasser haltend. Wie begossene Pudel kamen sie heraus, schüttelten sich und stimmten in das allgemeine Lachen mit ein.

Mit dem Heidebähnle ging es weiter bis Lüneburg. Während draußen dunkle Wolken aufzogen kuschelte sich jeder in eine Ecke und döste. Es wurde immer dunkler, es grollte, es blitzte, und als der Zug in Lüneburg hielt, goss es in Strömen. Er hatte aber keine Einfahrt, hielt also außerhalb des Bahnsteiges. Trotzdem stiegen die Leute aus und rannten das Stück zum Bahnhof. „Wir warten“, sagte Paul. Doch plötzlich setzte sich der Zug wieder in Bewegung, aber rückwärts. Paul und Selma sprangen schnell ab, aber Marie zappelte noch drin und suchte ihren Ernstl. Der Zug wurde immer schneller. „Spring ab!“, schrie Papa. Marie warf den Rucksack von Ernst zum Fenster hinaus und sprang mit Todesverachtung aus dem fahrenden Zug. Inzwischen war Selma nach vorn gelaufen und schrie dem Lokführer zu: „Da ist noch einer drin!“ Quietschend kam der Zug wieder zum Stehen. Da stieg Ernst vergnügt und langsam die Trittbretter herunter.

Jetzt waren alle klitschnass und strebten der Wartehalle zu. Wenigstens gab es hier Kaffee. Überall standen Leute, die auf den Anschlusszug nach Hamburg warteten. Ernst und Marie wollten so gern dem Plattdeutschen lauschen, aber wo immer sie sich hinstellten, hörten die Leute auf zu reden. „Eigenartiger Menschenschlag“, flüsterte Ernst.

Gegen Neun fuhr der Zug ein. Paul reservierte zwei Abteile. In einem bereitete Selma das Abendbrot, im anderen tanzten Marie und Ernst Walzer. „Donau so blau, so schön und blau, durch Tal und Au wogst ruhig du hin …“ Dann wurde nur noch „lala, lala“ gesungen. Bis Paul sich energisch Ruhe ausbat, um ein Nickerchen zu halten. Die Jugend schaute zum Fenster hinaus.

In Hamburg wurden sie von Pauls Bruder Fritz abgeholt, der durch Telegramm verständigt worden war. Mit der Straßenbahn fuhren sie zum Stadtteil Bergedorf, zu Fritz' komfortabler Wohnung oberhalb seines Geschäftes. Es gab ein Radio, Ledergarnitur, einen großen Schreibtisch im Herrenzimmer, ein Bücherschrank mit unzähligen Büchern, eine moderne Küche. Es war die Wohnung eines erfolgreichen Geschäftsmannes. Tante Grete, eine gebürtige Polin, hatte Klöße mit Sauerbraten aufgetischt, und zum Nachtisch Eis mit Früchten. Bis ein Uhr wurde gequatscht, dann fielen allen die Augen zu. Sohn Fritzi, ein aufgeweckter „Hamborger Jung“ war schon lange im Bett. Ernst schlief im Herrenzimmer auf dem Ledersofa.

Am nächsten Morgen brachte sie die Bahn nach Aumühle, dann ging es weiter zu Fuß durch den Sachsenwald zur Waldsiedlung Dassendorf, wo Fritz ein Wochenendhaus besaß. Das Grundstück war sehr groß, bewaldet und hatte einen Karpfenteich, an dem Paul sofort die Rute auswarf und nach fünf Minuten das Mittagessen herausfischte. Danach sollten Pilze gesammelt werden, aber die Jugend rannte nur herum, durch Gestrüpp und Büsche, und spielte „Hasch“. Sie kamen ohne Pilze, aber mit etlichen Schürfwunden zurück. Zum Glück waren Paul und Selma ernsthafter gewesen und hatten fleißig gesammelt.

Zum Abendbrot gab es beim Schein einer Petroleumlampe köstlich geschmorte Pilze, „Schwammerln“, wie Ernst sie nannte. Dann mussten die Enten, der ganze Stolz von Onkel Fritz, in ihr Häuschen gescheucht werden. War das geschafft, kamen sie vergnügt quakend auf der anderen Seite wieder hinaus und schwammen noch eine Runde.

Am Abend wurde erzählt. Man sprach über die Situation in Deutschland. Die völkisch-bündische Jugend hatte sich der HJ und dem BDM angeschlossen., die Hälfte der fünf Millionen Erwerbslosen war auf die Wohlfahrt angewiesen, während in Kiel ein neuer Panzerkreuzer vom Stapel lief. „Dafür ist Geld da“, kommentierte Selma die Zeitungsmeldung.

Auch in Wien gab es rechtsextreme Tendenzen, aber Ernst wäre nicht er selbst, wenn er nicht wieder einen Witz auf den Lippen gehabt hätte. „Die neureichen Pollaks gehen in die Oper, um ihr erworbenes Vermögen zur Schau zu stellen. An der Garderobe wird die Frau von der Garderobiere gefragt: ‚Wünschen Frau Baronin ein Opernglas?’ ‚Nein danke’, sagt die, ‚wir trinken aus der Flasche’“ Mit Blick auf Grete entschuldigte sich Ernst schnell, Pollak sei kein Schimpfwort, sondern ein Name. „Wollt ihr noch einen? Da trifft Graf Bobby auf dem Opernring einen Dienstmann, der auf seinem Rücken eine große Standuhr schleppt. Bobby geht auf ihn zu und sagt: ‚Lieber Herr, das ist doch zu unpraktisch.’ Er zeigt auf seine Armbanduhr. ‚Kaufen’s so ane, dös is praktischer.’“

Waschen musste man sich draußen an der Quelle. Am Morgen stand in jeder Ecke einer mit Handtuch und Seife. Dann sollten Marie und Ernst zum Krämer laufen. Es fehlte das Salz. Kaum waren sie zurück: „Ihr könntet auch noch ein paar Eier holen, das wäre doch toll zum Frühstück. Also rannten die zwei abermals los.“ Endlich saßen alle am Tisch. Später baute Paul mit Fritz eine Tür aus Birkenholz und die beiden Jungen waren überall, meist jedoch dort, wo sie nicht gebraucht wurden. Sie streiften durch die Siedlung und beobachteten das Sonntagsleben. Dort drei Mann beim Kartenspiel, eine Frau klopfte Decken aus, Kinder spielten im Sand. Fast überall stand ein Auto vor der Tür der gutsituierten Hamburger Geschäftsleute. Was für eine friedliche Zeit.

I-4

Am Montag hieß es Abschied nehmen vom kleinen Paradies. Ernst verscheuchte mit einem flotten Spruch die Abschiedsgrillen. „Auf, auf, sprach der Fuchs zum Hasen, hörst du nicht den Jäger blasen?“ Fritz führte sie an Hünengräbern und uralten Bäumen vorbei zum Bismarck-Mausoleum Friedrichsruh. Dort stiegen sie in den Zug nach Hamburg und im Rest des Tages wurde unter Fritzis Führung die Innenstadt mit der Straßenbahn erkundet. Rathaus, Jungfernsteg, Uhlenhorster Fährhaus, Landungsbrücken. Die „Deutsche Werft“ lag still, kein Kran bewegte sich. Deutschland am Abgrund.

Der Dienstag war der Höhepunkt der Reise. Alle waren zeitig auf den Beinen, erwartungsvoll und aufgeregt. Tante Grete aber war noch früher in der Küche und hatte Unmengen Brote, Fleisch, Schnitzel und Obst für jeden zurechtgemacht. Das Essen auf Helgoland war teuer. Jeder bekam noch warme Kleidung mit auf den Weg, dann betraten die vier Feriengäste das Seebäderschiff, den Turbinen-Schnelldampfer „Cobra“.

Für die Landratten war das, als würden sie eine Weltreise beginnen. Matrosen rannten zwischen den an Deck stehenden Passagieren hin und her, Kommandos erschollen, ein Pfiff, dann wurde der Landungssteg eingezogen. Das Schiff schwankte etwas und manche blickten schon jetzt ängstlich. Der Dampfer fuhr mit stampfenden Maschinen los, Punkt sieben Uhr. Zugleich spielte eine Bordkapelle „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus …“

Taschentücher winkten, am Kai und auf dem Schiff. Tante Grete wurde immer kleiner. Langsam glitt der Dampfer an den Vororten Hamburgs vorbei, die Kapelle spielte flotte Weisen und die Menschen strahlten. Alle waren sie Vergnügungsreisende. Paul und Selma ließen sich drinnen nieder und betrachteten die vorbeiziehende Landschaft durch das Fenster. Marie und Fritz dagegen liefen von vorn nach hinten und wieder zurück, alles bewundernd und sinnend auf die weite Wasserfläche blickend. Das war doch etwas anderes als die kleinen Raddampfer auf der Elbe. Sie stöberten in allen Ecken und drangen bis in den Maschinenraum vor.

Draußen wehte ein steifer Wind. Hüte auf und Kragen hoch. So viel gab es zu sehen. Fischdampfer, Segelboote, Bugwellen mit Schaumkronen. Möwen umschwärmten das Schiff und fingen die zugeworfenen Bissen im Fluge auf. Als ein Regenschauer aufkam, verzogen sich auch die Letzten unter Deck. Dort wurde sogar nach den Klängen der Kapelle getanzt. Auch Marie und Ernst versuchten zu tanzen, aber das Schiff tanzte auch und ließ das Paar aus dem Takt geraten. Was für ein Spaß. Jeder schien sich zu kennen, lächelte dem anderen freundlich zu und machte Scherze. Urlaubsstimmung eben.

In Cuxhaven legte das Schiff an und neue Passagiere kamen an Bord. Die Gelegenheit wurde genutzt, um eine Postkarte mit der Schiffsansicht „Auf hoher See“ an die Telefonzentrale in Dresden zu schreiben. Der Stempel würde Eindruck machen. Dann wurde es stürmischer, der Seegang stärker und das Schiff tauchte stark in die Wellen ein. Matrosen schlenderten gemächlich mit Eimer und Besen hin und her und schrubbten fallen gelassenes über Bord. Je stärker das Schiff schwankte, umso schneller rannten sie. Manche Leute konnten das Auf und Ab und das seitliche Rollen eben nicht ab.

Die Frage, welche Windstärke das wohl sei beschäftigte Marie und Ernst sehr. Gelegenheit, mal mit einem der schneidigen Offiziere ins Gespräch zu kommen. Gemeinsam gingen sie nach unten. Beim Offiziersspeisesaal stand „Eintritt verboten“, aber Marie übersah das Schild. So’n oller Seebär schaute sie fragend an. “Na min Deern, wat wist ju dor?” Sie fasste sich ein Herz: „Bitte können Sie mir sagen, welche Windstärke wir haben?“ Der Bärtige lachte übers ganze Gesicht. „Windstärke? Gor keen!“ Marie schaute enttäuscht. „Nu, Frollein, sechs sind’s schon, aber bei uns beginnt Wind erst bei Stärke Acht!“, erläuterte er auf Hochdeutsch, damit die Landratte das auch verstand.

Das war natürlich übertrieben und Marie kam sich auf den Arm genommen vor. Gern hätte sie mit vielen Windstärken geprahlt. Die Tür nach draußen ließ sich nur mit zwei Mann öffnen und an Deck musste man sich gegen den Wind stemmen. Stärke sechs, lächerlich. Ihr Seidentuch flatterte davon. Es waren fast nur Männer draußen, aber Marie wollte sich keine Blöße geben. Ab und an kamen noch mehr zur Reling, ziemlich blass, die dann lebhafte Zwiesprache mit dem Meer hielten.

Marie hielt sich tapfer, aber als neben ihr eine Dame ihren Geist aufzugeben schien, wurde auch ihr mulmig und sie rannte nach unten zu Muttern. Nur ein paar Minuten setzen. Dann ging’s wieder. Oben kam sie gerade zurecht, als Ferngläser gezückt wurden, um die Wasserfläche abzusuchen. Dann ein vielstimmiger Ruf: „Helgoland in Sicht“. Ein kleiner dunkler Fleck der sich schnell zu einem mächtigen Felseneiland entwickelte. Alle waren in Hochstimmung. Ein Hamburger erklärte den Greehorns die Bedeutung des Gedichtes:

„Grün ist das Land, rot ist die Kant,

weiß ist der Sand. Das sind die Farben von Helgoland.“

Die Fahrt wurde langsamer, die Ankerkette rasselte, dann schwiegen die Kolben und das Schiff stand. Weit vor der Insel. Was nun? Aber schon kamen kleine Motorboote, und gingen längsseits, um die Landratten zur Felseninsel überzusetzen. „Die heißen ‚Börteboote’ informierte der Hamburger, „und die Insel auch ‚Das Heilige Land’, wegen des guten Klimas.“ Er selbst blieb bis Sylt an Bord, wo er seinen Urlaub gebucht hatte. Das Ausbooten machte viel Spaß, den älteren weniger. So manches „Huch!“ entfuhr den älteren Damen, die dann todesmutig am Arm von abgehärteten Seebären den Sprung in das schwankende Boot wagten.

Die Sonne schien gnädig, es war zwei Uhr. Sie hatten zweieinhalb Stunden Zeit, die Insel zu erkunden. Sofort wandten sie sich dem Oberland zu, die senkrechte Felswand vor sich. Die Eltern nahmen den Fahrstuhl, die Jungen rannten den Zickzackweg nach oben, zwei Stufen auf einmal. Sie waren sogar schneller oben als Selma und Paul, wenn auch außer Atem. Die hatten auf den nächsten Aufzug warten müssen.

Kinder boten Muscheln und Seesterne an. „Nur 10 Pfennige das Stück!“ Ernst wurde weich. Von oben ein zauberhafter Blick, tiefgrünes Wasser ringsum, die Sanddüne mit dem Badestrand, die Hafenanlagen. Auf dem Ankerplatz große Schiffe, von den kleinen Booten eifrig besucht, die Leute hin- und hertransportierten.

Die Zeit reichte nur für ein kurzes Picknick im Gras. Ernst musste noch mit dem Beefsteak in der Hand seinen Rucksack schultern, dann noch ein kurzer Weg entlang der schmalen Straße direkt am Abgrund, dem Falm, noch ein Foto, und schon ging es wieder abwärts, die Treppe hinunter. Auf dem Unterland kleine Fischerhäuschen, die großen Netze am Zaun zum Trocknen aufgehängt. An der Kaiserstraße war das Angebot an preiswerten Waren in den vielen kleinen Läden sehr verlockend. Jeder kaufte noch schnell ein Andenken oder Wollwaren. Marie zog ihren Pullover gleich über, aus Angst vor der Zollrevision.

Die Landungsbrücke war mit den Fahnen aller Nationen geschmückt und von allen Seiten kamen Menschen, die auf das Schiff zurück wollten. Ein letzter Blick. Kräftige Hände halfen beim Einstieg. Einer umfasste Maries Hüfte und hievte sie mit Schwung ins Boot, das taten sie gern bei jungen Mädchen. Draußen wartete schon der Dampfer, es war der „Kaiser“, die Cobra war weiter nach Sylt gefahren.

Schon an Bord, gerade wollte man zum Oberdeck hinaufsteigen, empfing sie ein donnerndes „Halt! Zollrevision!“ Marie mit ihrem kleinen Rucksäckchen ließ man mit einer Handbewegung passieren, aber Ernst erregte mit seinem Riesengepäck auf dem Rücken ihre Aufmerksamkeit. Er beteuerte hoch und heilig, nichts schmuggeln zu wollen, und wirklich, die Beamten ließen ihn vorbei. Er behauptete später, das sei seinem sympathischen Dialekt zu verdanken. „Ein Wiener ist halt überall gern gesehen.“ Auch Paul kam mit seiner kleinen Packung Zigarren in der Innentasche der Jacke ungeschoren davon.

Die vier ergatterten eine schönen Fensterplatz. Paul bestellte ein Bier, Selma und Marie bekamen einen Kaffee und Ernst eine Schokolade. Die Kapelle intonierte einen schneidigen Marsch und langsam setzte sich das Schiff in Bewegung. Die Insel wurde zusehend kleiner, dann blieben auch die Möwen weg. Man war wieder allein mit Neptun auf hoher See. Alle waren jetzt müde, genossen die Ruhe im Liegestuhl oder schrieben Postkarten. Marie und Ernst standen auf dem Achterdeck und schauten in die Wogen. Jeder mit seinen Gedanken, die baldige Trennung vor Augen. Große Frachtdampfer mit zwei oder gar drei Schornsteinen zogen vorbei, dicke Rauchfahnen ausstoßend. Nach dem vierten Feuerschiff kam Cuxhaven in Sicht.

Marie und Ernst wollten hier einen Tag allein verleben, während die Eltern zu Onkel Fritz in Hamburg weiterfuhren. Paul gab seinem Herzen einen Stoß, nachdem Selma ihn ihrerseits angeschubst hatte und Marie hoch und heilig versichert hatte, brav zu bleiben. Das Winken nahm kein Ende, als gelte es für Monate Abschied zu nehmen. Dann waren die zwei allein.

Das Abendbrot nahmen sie in einer Fischbratküche ein, dann gingen sie auf Quartiersuche. Hier erfuhren sie, dass am Strand die alljährlich am 11. August vom Reichsbanner organisierten Verfassungsfeiern stattfänden. Zwar waren sie müde von der ungewohnten Seeluft, aber das wollten sie sich nicht entgehen lassen. Die Straßen wimmelten von Menschen, hauptsächlich junge fesche Marineschüler mit ihren weißen Mützen und blauen Bändern. Marie äugte mal hier mal da hin, während Ernst sachkundigen Blickes die einheimischen Mädel begutachtete. Im Pavillon spielte eine Militärkapelle, die zum Tanzen einlud. Die Umzüge interessierten sie weniger, da sie zu sehr politisch aufgezogen waren. Zehn Uhr mussten sie im Quartier sein und jeder ging brav in sein Zimmer, um sofort einzuschlafen.

Am Tag darauf wanderten sie zum Strand nach Duhnen und auf dem Weg dorthin passierten sie etliche Truppenübungsplätze. „Photographieren streng verboten!“ Es fanden gerade Feldübungen mit leichten Geschützen und schweren Kanonen statt, die im Sand teilweise eingegraben waren. Sie sahen eine Weile zu, dann wanderten sie weiter. In Dunen herrschte lebhafter Badebetrieb, Strandkörbe wurden herangeschleppt und die ersten Badegäste breiteten ihre Handtücher aus. Das Motorboot zur Insel Neuwerk war leider schon weg und der Pferdewagen fuhr erst am Nachmittag. Langsam und still liefen sie weiter am Strand entlang. Das plätschern der Wellen war der einzige Laut, der die Stille unterbrach.

Sie legten die Zeltplane hinter einem Holzstoß aus, windgeschützt. Die Flut ging langsam zurück und hinterließ einen kahlen Strand. „Du, Marie, kommst du mit baden?“ „Nö, das ist mir noch zu kalt, aber ich werde dich ein Stück begleiten.“ Sie wanderten über eine halbe Stunde lang, ohne das davoneilende Wasser einzuholen. Nur tote Fische, Krabben und Muscheln hatte es zurückgelassen und die Möwen zankten sich darum. Dann hatte Marie keine Lust mehr und ließ Ernst allein weiterziehen, der unbedingt einmal im Meer schwimmen wollte.

Sie ging zurück und ließ sich am Holzstoß in der prallen Sonne braten. Wieder schweiften ihre Gedanken um ihr Verhältnis zu Ernstl. Ein guter Kamerad war er, aber als Mann? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Mentalität und Charakter waren doch zu verschieden. Sie hatten es durch Alberei überspielt. Vielleicht war sie auch einfach noch zu jung. Noch nicht einmal volljährig. Papa hatte ihr erklärt, als sie mal allein waren, dass Ernst zwar riesig nett sei, aber Alltag und Urlaub seien ein paar verschiedene Schuhe. In Wien würde sie in einen völlig anderen Kulturkreis kommen. Ob das wohl gut ginge? Er hatte ja Recht. Das Leben lag noch vor ihr. Die Gedanken verlangsamten sich… sie musste wohl eingeschlafen sein.

„Hallo, melde mich gehorsamst zurück! Das Wasser war wundervoll, gar nicht kalt und erfrischend.“ Jetzt hatte er Hunger und die salzige Luft hatte auch Maries Appetit angeregt. Die mitgebrachten Vorräte waren bald aufgefuttert. Alles wurde eingeräumt und verschnürt, dann ging es zurück nach Duhnen und Cuxhaven. Am Bahnhof mussten sie feststellen, dass der nächste Zug nach Hamburg erst in drei Stunden ging, also war noch Zeit, das Nachmittagskonzert am Strand aufzusuchen, der Musik zu lauschen und aufs Meer hinaus zu schauen. Schiffe zählen. Möwen füttern. Im Sand Figuren ritzen.

Am nächsten Tag, dem letzten, durchstreiften die zwei noch einmal Hamburg. Sie gingen in den „Michel“, Hamburgs Hauptkirche und Wahrzeichen, die nach dem verheerenden Brand von 1906 in alter Form wieder aufgebaut war. Danach besuchten sie das Museum „Alt Hamburg“ und bestaunten die Sammlung alter Trachten, Schiffs- und Hausmodelle. Mit der Hochbahn fuhren sie für 20 Pfennig um die ganze Stadt herum und landeten schließlich im Hafen. Es war ein trauriges Bild, all die vielen Schiffe müßig und arbeitslos vertäut. Nur ein Dampfer, die „Antonio Delfino“ verließ mit Schlepperhilfe den Ankerplatz. Zum Schluss fuhren sie bei einer Hafenrundfahrt bis dicht an die großen Überseeschiffe heran.

Am Abend gab es eine Abschiedsbowle für Ernst bei Tante Grete und es wurde noch einmal sehr lustig. Der Alkohol ließ keine Abschiedsstimmung aufkommen und im Bett glitt jeder sofort in einen tiefen Schlaf hinüber.

I-5

Marie versah weiter ihren eintönigen Dienst. „Ja bitte? – Sofort, einen Moment bitte“ Stecker ziehen, Stecker einstöpseln. „Bitte sprechen Sie!“ Neben ihr die vier Kolleginnen. Jede tat dasselbe, tagein, tagaus. Acht Stunden lang in wechselnden Schichten. Pensionsberechtigt. In 40 Jahren. Wozu hatte sie die höhere Schule besucht? Es gab Momente, da wollte sie alles hinwerfen. Wenn nicht die netten Kolleginnen gewesen wären. Nur hin und wieder gab es kleine Abwechslungen.

Nachtdienst. Fünf junge Frauen kämpften gegen Schlaf und Langeweile. Marie war inzwischen 21 Jahre alt. Mechanisch wurden die Verbindungen hergestellt und heimlich die Stunden bis zur Ablösung gezählt. Endlich war es soweit. Da erschien ein Bote aus einem nahen Blumengeschäft mit fünf entzückenden kleinen Sträußchen aus rosa Alpenveilchen. Er hatte keine Karte dazu und wusste nur, dass er sie hier abgeben solle. Fünf Sträuße. Wem sollten sie gelten als ihnen? Tags zuvor hatten sie besonders viel für einen Geschäftsmann zu tun gehabt, nun schickte er anscheinend einen zarten Gruß als Dank. Fünf Frauen gingen beschwingt nachhause, in der Tasche die Blumen sorgsam verpackt, im Herzen einen Sonnenstrahl. Derweil saß im Amt eine Kollegin und weinte Zornestränen. Sie hatte Geburtstag und die Blumen als Tischschmuck für ihre Gäste bestellt.

So eintönig der Dienst war, außerhalb tat sich so manches, was im Familienkreis zu Diskussionen führte, nicht immer Erfreuliches. Die Arbeitslosenzahl stieg auf über sechs Millionen, in Berlin wurden jüdische Geschäfte geplündert und Personen verletzt, in Altona gab es 18 Tote bei schweren Unruhen, wobei Hitlers[ii] Rabauken, die SA, maßgeblich beteiligt gewesen seien.

Auch in Wien gäbe es Unruhen und Schießereien, schrieb Ernstl, mit dem Marie nach wie vor in freundschaftlichem Kontakt war. Die Regierung sei zurückgetreten, da sie keine Unterstützung der „Großdeutschen Partei“ erhalten habe. „In Gmunden waren wir doch so hoffnungsvoll gewesen“, schrieb er. „Und jetzt ist alles noch viel schlimmer.“„Was ist das für eine Welt geworden“, stöhnte Selma, Maries Mutter.

Überhaupt der Hitler, der war inzwischen deutscher Staatsbürger und Regierungsrat von Braunschweig. Paul witzelte, das sei wegen der braunen Farbe geschehen, die Hitlers Gefolgschaft als Uniform trage. Und dann war dieser Kerl plötzlich in aller Munde. Bei der Reichspräsidentenwahl im April erhielt er nach

Hindenburg[iii] die zweitmeisten Stimmen. Die Zeitungen berichteten fast täglich von ihm und seinem Marktschreier, einem Josef Goebbels.[iv]

„Man weiß wirklich nicht mehr, wem man noch vertrauen soll.“ Paul war immer mehr verunsichert. „Da verspricht doch jeder das Blaue vom Himmel“. Die einen plakatierten: „Freiheit“ und die anderen „Deutschland erwache!“. Bei der Reichstagswahl im Juli 1932 erhielt die NSDAP 37,4 %, die SPD nur 21,6 %. Hitlers eitler Gefolgsmann Göring wurde Reichstagspräsident. „Der ist im ersten Weltkrieg mit dem Pour-le-Mérite-Orden ausgezeichnet worden, steht hier in der Zeitung. Das hat dem Gefreiten Hitler sicher die Stimmen der Reichswehr eingebracht“, war Pauls Erklärung.

Dann wurde es immer chaotischer in Deutschland. Es gab Streiks wegen Lohnkürzungen, Straßenkämpfe mit der SA, Tote, Sondergerichte und immer wieder Notverordnungen, 1932 allein 66, aber nur sechs Gesetze. „So kann es doch nicht weitergehen“, sagte Paul und begrüßte die Entscheidung von Reichspräsident Hindenburg, den General Schleicher nach nur 57 Tagen abzusetzen und Hitler zum neuen Reichskanzler zu ernennen. Es war der dreizehnte. „Das ist wie bei einer Wandergruppe, da muss einer das Sagen haben, sonst quasseln alle durcheinander und keiner weiß, wo’s langgeht“ war Pauls Kommentar

Bei der Polizei herrschte gute Stimmung. Jetzt wehte ein frischer Wind, und man musste nicht mehr gegen zwei Fronten kämpfen. Aus Anlass der Machtübernahme paradierten in Berlin etwa 15.000 Mitglieder von SA, SS, und „Stahlhelm“ mit einem Fackelzug durch das Brandenburger Tor.

„Kameraden, wir marschieren in die neue Zeit hinein. Adolf Hitler soll uns führen, wir sind stets zum Kampf bereit.“

Sein Buch hieß „Mein Kampf“, die KPD rief zum Generalstreik. Alle wollten kämpfen. „Was für eine schreckliche Zeit“, jammerte Selma. „Pass bloß auf dich auf, Paul“. Er war jetzt Kommissar der Schutzpolizei. Immer in vorderster Front.

Die Morgenblätter berichteten am 28.2.1933 in riesigen Schlagzeilen: „Der Reichstag brennt!“ und die nationalsozialistische Presse ergänzte: „Das ist das Werk der Kommunisten und Juden!“ Kurz darauf wurden in einer neuen Notverordnung die Reichstagsmandate der KPD aufgehoben, und schon knapp einen Monat später wurde ein „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ vom Reichstag gegen die Stimmen der SPD verabschiedet.

„Art. 1. Reichsgesetze können außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehenen Verfahren auch durch die Reichsregierung beschlossen werden.

Art. 2.…können von der Reichsverfassung abweichen.“

Hitler hatte zu einer „Entscheidung über Frieden oder Krieg“ aufgerufen. Er hatte den Fortbestand der unabhängigen Justiz und der Länder, die Respektierung der Rechte der christlichen Konfessionen, den Fortbestand des Reichstags und des Reichsrats versprochen. Nach der Abstimmung und begeisterten Ovationen wurde stehend das Deutschlandlied gesungen.

Marie brachte von einer Kollegin ein Flugblatt des „Vorwärts“ mit, des bereits verbotenen Organs der SPD, das Paul sofort verbrannte. „Kind, willst du mich unglücklich machen? Ich bin Beamter!“ Sie verstand nicht ganz, was das miteinander zu tun hatte, noch nicht. Vor der Vernichtung hat er das Blatt aber doch noch gelesen. Es informierte über das Zustandekommen des „Ermächtigungsgesetzes“, dass die Kroll-Oper mit der Hakenkreuzfahne geschmückt war, draußen hatte die SS den Saal abgeriegelt und die SA stand drinnen in langen Reihen um die kleinen Parteien einzuschüchtern. 26 Abgeordnete der SPD und 81 der KPD waren vorher inhaftiert worden oder geflohen. Sie galten als unentschuldigt abwesend.

Den Boykott jüdischer Geschäfte und von Ärzten und Rechtsanwälten betrachtete Paul noch als Übertreibung, als Ausrutscher des braunen Mobs, aber das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ betraf ihn persönlich. Ob er wollte oder nicht, jetzt musste er sich zu Hitler bekennen. Unter Briefen stand jetzt „Heil Hitler“ statt "Vorzügliche Hochachtung" und so war auch zu grüßen. Das war jetzt der „Deutsche Gruß.“

Bei den alten Römern sagte man: „Heil Caesar!“ spottete Marie und machte sich zuhause lustig darüber. Aber auch sie musste im Büro so grüßen. „Volksgenosse trittst Du ein, soll Dein Gruß ‚Heil Hitler’ sein!“

Jetzt mussten für beide - sogar für die Hausfrau Selma - die arische Abstammung „bis ins zweite Glied“, also einschließlich der Urgroßeltern, nachgewiesen werden.

„… oberste Pflicht eines Volkes … seine Rasse, sein Blut von fremden Einflüssen rein zu halten … gründet sich auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Erblehre und Rassenforschung.“

So stand es im erforderlichen "Ahnenpass."

„Arische Abstammung“ wurde mit „deutschblütig“ gleichgesetzt. Juden, Zigeuner, Asiaten, Afrikaner und Indianer waren also ausgegrenzt. Besonders schwer einzusehen war der Begriff „Jude“. Nur weil er jüdischen Glaubens war, und selbst wenn christlich getauft, sollte er kein Deutscher sein? Wer sollte das verstehen. Die „wissenschaftlichen Erkenntnisse“ wurden nur sehr schwammig erklärt. Hermann hatte einen jüdischen Kollegen, ein feiner Kerl und bisher wohlgelitten, der jetzt seinen Dienst quittieren sollte. Und dann durfte er plötzlich bleiben, vorläufig, wie man ihm beschied, weil er am Weltkrieg teilgenommen hatte. „So ein Mumpitz“, schimpfte Paul zuhause. Im Dienst musste er den Mund halten und Anordnungen befolgen, auch wenn sie ihm nicht passten. Dienst ist Dienst. Und schließlich musste er eine Familie ernähren. Marie bekam auch nur einen Hungerlohn.

Gleich nach dem 1. Mai, der erstmals als „Feiertag der nationalen Arbeit“ gefeiert wurde, musste die Polizei zum Einsatz gegen die Gewerkschaften vorgehen, obwohl der ADGB sich freudig an dem Feiertag beteiligt hatte. Erstmals war deren Forderung nach einem bezahlten Feiertag Wirklichkeit geworden. Aber Polizei und SA besetzten deren Häuser und beschlagnahmten das Vermögen. Die Mitglieder sollten einzig in der DAF, der Deutschen Arbeiterfront von Hitlers Gnaden organisiert sein. Später erlitt die SPD das gleiche Schicksal und wieder musste Paul mitwirken. Es gab noch viele solche Einsätze in dieser Zeit und bald machte man sich keine Gedanken mehr.

I-6


Um der Langeweile im Dienst und der Hektik in der Stadt zu entfliehen, buchte Marie eine Gruppenreise nach Bayern, Reisebüro Urania. Alles mit der Eisenbahn. Marie berichtete nachhause:

„München, Stadt und Hofbräuhaus, recht lustig.“

„Chiemsee mit Schloss, sehr schön.“

„Ein Oberleutnant von der Reichswehr, nichts Ernsthaftes.“

„Bad Reichenhall und Berchtesgaden mit Königsee, beeindruckend.“

„Watzmannbesteigung, nichts Schwieriges.“

„Obersalzberg Haus Wachendorf, das ‚Hitlerhaus’, nichts Aufregendes.“

Mit einer Reisebekanntschaft machte Marie noch mal Station am Chiemsee, in Prien. Der Zug fuhr weiter und die zwei waren allein, ohne Quartier aber mit viel Hoffnung. Sie klapperten alle Privatquartiere ab, ohne Erfolg. Im „Kronprinz“ wäre noch was frei gewesen, aber das konnten sich zwei junge Mädchen nicht leisten. Es wurde immer dunkler und der Mut sank. Da nahte ein Engel in höchster Not, die Führerin einer Kraftdroschke brachte sie zu einem Bauernhaus am See, zu Raffnauers. Das Zimmer war hübsch, Blick auf den See und billig. An den Fenstern waren Gitter. Gegen das Fensterln? Vorerst waren die Mädchen sowieso nicht interessiert, sondern müde und wollten zeitig schlafen.

Tags darauf bimmelte das Glöckchen der Priener Kirche ab sechs Uhr jede halbe Stunde. An Schlafen war nicht mehr zu denken, aber ein reichhaltiges Frühstück entschädigte sie. Dann ging Dorle zum Lager des Arbeitsdienstes, weil sie da fesche Kerle gesehen hatte, Marie zum Hotel „Kronprinz“, wo sie zwei lustige Einheimische traf. Trotz dunkler Wolken sprangen sie ins warme Wasser und alberten herum. Später ging es zum „Bayrischen Hof“ zum Tanz. Marie drehte sich abwechselnd mit ihnen. Einer, Martin, gefiel ihr besonders .Sehr groß, breit, lachende weiße Zähne und Augen aus blauem Kristall. „Wenn man in dieses Leuchten sieht, meint man, so müsste das Leben ausschauen“, erzählte sie später Dorle. Die Einheimischen, die Holzhackerbuam, führten Schuhplattler, den Watschentanz und das Mühlenrad vor, aber für die Fremden wurden auch moderne Schlager gespielt. Eine Gruppe von einheimischen Mädeln und Burschen war zum „Almtanz“ engagiert. Sie bekamen Essen und Freibier dafür, dass sie andere zum Tanz aufforderten.

Marie saß mit Martins Freunden zusammen, unter denen auch ein Kapitänleutnant a.D. war, der aus Dresden stammte. Da gab es natürlich viel zu erzählen, wenn gerade Tanzpause war. Als die Musik Feierabend machte, holte er seine Klampfe. Auf der Landungsbrücke gingen sie weit hinaus in den See, hockten sich nieder und sangen leise Lieder.

„Ja wenn die Klampfen klingen und die Burschen singen und die Mädel fallen ein, was kann das Leben uns Schöneres geben, wir wollen glücklich sein.“

Über die Berge und das Wasser goss der Mond sein silbriges Licht. Der Zauber der Nacht hielt alle in Bann.

„Wildgänse rauschen durch die Nacht mit schrillem Schrei nach Norden…“

Am nächsten Tag, Frau Raffnauer brachte ihnen Kaffee ans Bett, erzählten sich die Mädchen ihre Erlebnisse. Dann rannten sie zum See, wo schon der Kapitänleutnant in seinem Segelboot wartete. Auch Martin war dabei, als sie bei steifem Wind ablegten.

„Pfundig“, sagte Marie, „Duli“ die Dorle. Sie umrundeten einige Inseln, dann wurde der Wind kräftiger und der Skipper musste scharf kanten. Das Boot kämpfte gegen die anstürmenden Wellen an. Deshalb wurde der Rückzug eingeleitet, zumal die Mädel Angst hatten, umzukippen.

Beim „Weinzierl“ gab es eine zünftige Brotzeit, dann fuhr sie Walter, der Kapitänleutnant, mit seiner Frau Sopherl im Auto zur Burg Hohenaschau.

Am Abend war wieder Tanz, jetzt mit einer Schrammelkapelle. Es gab Auseinandersetzungen zwischen den Arbeitsdienstleuten um Dorle und Maries „Beschützergruppe“, aber zum Schluss vertrugen sich alle und begleiteten Marie zum Quartier. Sie verabschiedeten die beiden mit einem Jodler, mitten in der Nacht. Am Morgen ging ihr Zug wieder heimwärts.

In Dresden kehrte der Alltag ein und die Erinnerungen an schöne Tage in Bayern verblassten langsam. Es war ja auch immer was los. Die Zeitungen berichteten vom V. Reichsparteitag der NSDAP, dem „Reichsparteitag des Sieges“, vom Beginn des Winterhilfswerkes, vom ersten Eintopfsonntag, vom missglückten Attentat auf den österreichischen Bundeskanzler – wie es wohl Ernstl geht? – vom ständigen Rückgang der Arbeitslosenzahlen.

Als Goebbels den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund ankündigte, interessierte das die Massen wenig. Man ließ sich beruhigen, zumal Hitler in einer Rundfunkrede seinen Friedenswillen vor allem gegen den „Erzfeind“ Frankreich bekundet hatte.

Am Vorabend der Abstimmung zum Reichstag am 12. November 1933 hielt Hitler eine flammende Rede in den Berliner Siemenswerken, die von allen Reichssendern ausgestrahlt und in jedem Betrieb übertragen wurde. Dabei musste die Arbeit ruhen, damit alle dem heiseren Gebrüll lauschen konnten. Sogar der Verkehr wurde für eine Minute angehalten. Sowas war noch nie dagewesen. Ein historisches Ereignis.

Bei der Abstimmung

„Billigst Du, deutscher Mann, und Du, deutsche Frau, diese Politik Deiner Reichsregierung, und bist Du bereit, sie als den Ausdruck Deiner eigenen Auffassung und Deines eigenen Willens zu erklären und Dich feierlich zu ihr zu bekennen“

stimmten über 90 % bedenkenlos mit „Ja“.

Auch das neue Jahr ließ sich gut an. Mit Polen wurde ein Nichtangriffspakt geschlossen und die Zahl der Arbeitslosen sank stetig. Von Ernst gab es weniger gute Nachrichten. Er schrieb von Straßenkämpfen und dass die westlichen Mächte die Unabhängigkeit Österreichs garantiert hätten. „Ade vereintes Deutschland“, schrieb er.

Von Martin kam ein herzlicher Brief aus Prien. Er, Walter und Sopherl planten eine Rundreise zu Pfingsten nach Norden und den Rhein hinab. In Walters BMW-Limousine sei noch ein Platzl frei. Das war natürlich eine tolle Versuchung und Marie sagte zu.

Der Zug bracht sie nach Rothenburg an der Tauber, wo man sich treffen wollte. Die Wiedersehensfreude war laut und herzlich, dann ging es zum Abendbrot im „Löwen“. Später landete das Quartett im „Löchele“, einem winzigen Weinlokal. „Pfundig!“, rief Marie aus. Das war gegenwärtig ihr Lieblingswort. Man musste eng zusammenrücken, es wurde geschunkelt und gesungen, und natürlich auch reichlich Frankenwein getrunken. „Pfundige Stimmung!“ Einen kleinen Misston brachte ein SA-Mann in Uniform, der mit großer Klappe im Mittelpunkt stehen wollte, aber niemand beachtete ihn. So ging er bald.

Die folgenden zwei Tage genossen sie das alljährliche Festspiel „Der Meistertrunk“ anlässlich der Errettung der Stadt von der Gefahr der Plünderung durch Tillys Truppen im Jahr 1631.

Menschenmassen überall. Sie sahen den Schäfertanz und die große Stadtbeleuchtung von den gegenüberliegenden Höhen. Böllerschüsse und Feuerwerk leiteten das Schauspiel ein. In der Dunkelheit leuchtete ein Haus nach dem anderen auf, bis die gesamte Stadt in rotes Licht getaucht war. Dazu läuteten alle Kirchenglocken. Am zweiten Pfingsttag begann dann das historische Schauspiel. Eintritt 1 RM. Landsknechte lagerten vor den Stadtmauern, dann zog Tilly mit Gefolge hinaus zu den Wiesen, sie brieten Hähnchen und trieben allerhand Allotria.

Am nächsten Tag startete die Reise in Walters Auto. „30 PS“, sagte er stolz. „Der läuft 90 Kilometer Spitze.“ Martin und Marie kletterten nach hinten. „3600 RM“, raunte ihr Martin ins Ohr und Marie war schwer beeindruckt. „Ein Pfundswagen!“

Erste Station Miltenberg. Marie schrieb eine Karte nachhause:

„Meine Lieben! Rothenburg war ein tolles Erlebnis, wir sind auf der Stadtmauer um den ganzen Ort gelaufen und haben ein mittelalterliches Spektakel erlebt. Heute Miltenberg. Herzlichst Euer Mädel.“

Am Morgen gab es ein „pfundiges“ Frühstück mit Kaffee, Semmeln, Butter und Ei, und nach einer Stadtbesichtigung ging es weiter über Offenbach und Wiesbaden, und die Gruppe erreichte bei Eltville den Rhein.

„Meine Lieben! Wir sind den ganzen Tag am Rhein entlang gefahren. Rüdesheim (ich hatte einen kleinen. Schwips), Mäuseturm bei Bingen, dann eine stolze Burg nach der anderen, Loreley. In Koblenz mit der Fähre zur anderen Seite, heute Übernachtung in Bacharach. Pfundige Stimmung. Euer Mädel“

Sie fanden ein kleines Gasthaus, nicht zu teuer, und bummelten durch das niedliche Fachwerkstädtchen. Ein fescher Rheinländer verführt Marie zu einem Schoppen und noch einem. „Donnerwetter ist der pfundig“. Der Wein schmeckte mit jedem Glas besser. Ein Mondscheinbummel verschaffte etwas Klarheit im Kopf und noch immer besäuselt sanken dann alle ins Bett.

Der Kopf war noch schwer vom gestrigen Wein, aber die Weiterfahrt lockte. Bei Bingen setzten sie wieder über den Rhein, bestaunten das „Goldene Mainz“, und weiter ging es linksrheinisch bis Oppenheim. Dort erwischte sie ein Plattfuß und zwang zu einer Rast mit Brotzeit. Über Worms und Ludwigshafen wurde schließlich Heidelberg erreicht und das „Schnauferl“ ächzte den steilen Berg hinauf zum Schloss. Dort wimmelte es von VDA-Jugend mit ihren blauen Wimpeln, „Heil“, „Woher?“ und „Wohin?“

Die Ruinen verströmten ein bisschen Wehmut, einstige Pracht mutwillig zerstört.

Walter riss Marie aus ihren Träumen. „Wir müssen weiter!“ Am Neckar entlang ging es, schon wurde es dunkel und das Fahrlicht musste eingeschaltet werden. Also entschloss man sich zur Übernachtung in Haßmersheim. Diesmal waren alle zeitig im Bett.

„Meine Lieben! Gestern sind wir über Heilbronn, Stuttgart, Ulm und Augsburg zum Starnberger See gefahren, wo wir in einer billigen Pension Quartier gefunden haben. Heute sind wir in Oberammergau wo in 2 Wochen die Passionsspiele stattfinden. Viele Grüße auch von meinen Begleitern, Euer Mädel.“.

Die letzten Spiele fanden turnusmäßig 1930 statt und wurden nur alle 10 Jahre aufgeführt. Aber das 300-jährige Jubiläum des ersten Spiels nach der großen Pest war Anlass zu dieser Sonderaufführung. Gern wäre Marie dabei gewesen, die 6 RM hätte sie auch noch gehabt. Aber erstens war schon alles ausverkauft und zweitens reichte ihr Urlaub nicht. Die Darsteller, alles Einheimische, waren jedoch bereits auf den Straßen zu erkennen. Da kommt einer auf dem Rad gefahren, unter der Dienstmütze die bis auf die Schultern reichenden Haare. Mit dem langen Bart war er sofort als der Johannes zu erkennen. Die stille Frau dort war sicher die Maria-Magdalene. Und beim Mittag im Gasthaus trafen sie auch noch den Jesus.

Dann aber ging es weiter zum Kloster Ettal mit seiner herrlichen Kirche und dann wieder bergab. Die vielen Serpentinen gaben entzückende Ausblicke und das Schnauferl konnte sich erholen. Das vollbesetzte Auto war doch arg strapaziert worden und hatte Dampf gespuckt. Sie fuhren im Leerlauf – nicht erwischen lassen! Groß und düster schauten die Berge in der Ferne aus dem Dunst. Über Garmisch erreichte man Mittenwald. Das Schnauferl hatte wieder Schwerarbeit zu leisten. Am Zollamt der Blick nach Österreich, ein kurzer Besuch in einer Geigenwerkstatt, ein kleines Mittagessen, dann ging es zurück, am Walchensee vorbei und eine sehr kurvenreiche Straße 200 m tiefer zum Kochelsee. "Pfundige Aussichten."

Bald war Bad Tölz erreicht und dann zog es Sopherl und Walter mit Macht Richtung Heimat. Es wurde nicht mehr viel gesprochen, der Fahrer war angestrengt. Miesbach und Rosenheim flogen vorbei und dann waren sie wieder in Prien. Der Hund Oli kam als erster angestürmt. Er wusste nicht, wen er vor Aufregung zuerst beschnuppern sollte. Die Großmutter bereitete das Abendessen. In wenigen Worten wurde das Erlebte erzählt, dann fielen alle todmüde ins Bett.

Am Morgen brauchte Marie eine Weile, um sich zu orientieren. Wo bin ich eigentlich? Rhein, Donau, Lech, Isar? Nein, am Chiemsee. Noch fünf Tage lang, bei Sopherl und Walter zu Gast. Martin maulte. Er sei bei der hetzigen Rundreise zu kurz gekommen. Es dauerte eine Weile, ehe Marie verstand. Er meinte, dass er nie mit ihr allein sein konnte. Also wurde ein Aufstieg zu zweit zur Kampenwand vereinbart.

Walter brachte sie im BMW nach Hohenaschau. Dort wurde eingekauft: Semmeln, Butter, Wurst, Obst und eine Mundharmonika. Der fehlt ein Ton, dafür war sie aber um fünf Pfennige billiger. Solange noch ein Weg war, wurde gesungen und Mundharmonika gespielt. Der fehlende Ton ersetzten sie durch Gesang. Da das nicht immer klappte, gab es viel Gelächter. Dann begann der eigentliche Aufstieg. Nach zwei Stunden war eine Alm erreicht und der Rucksack wurde erleichtert. Der Blick schweifte über saftige Wiesen mit einem Teppich von Blumen in die weite Ferne. Pfundig eben.

Martin legte seinen Arm um Maries Schultern. Sie ließ es gewähren, jetzt keine Misstöne. Auch als er ihren Kopf zu sich zog wehrte sie sich nicht. Der Kuss kam so überraschend, dass sie noch eine Weile stillt hielt, dann riss sie sich los. „Wir müssen weiter, den Gipfel will ich unbedingt erreichen.“

Es wurde immer steiler und Marie achtete genau auf die Griffe ihres Führers, der sich bestens auskannte. Zwar hatte Marie feste Schuhe an, hohe Wanderschuhe, aber kein Seil sicherte sie ab. In einer steilen Felswand ging es nur zentimeterweise voran. Dann ein Sprung über eine Felsspalte, ein halber Meter breit, aber 100 m tief. Später mochte sie daran nicht mehr denken, aber im Moment trieb sie der Ehrgeiz. Über ein weites Schneefeld ging es zum letzten Gipfel. Sie waren oben, ganz oben. 1669 m hoch. Dem Kreuz entnahmen sie das Gipfelbuch und schrieben sich ein. Weit ging der Blick in das österreichische Land hinein. Sie war so glücklich, dass sie Martin gewähren ließ, der sie umarmte und lange küsste. Welch ein Tag. Pfundig. Unter ihnen die Welt und dem Himmel so nah. „Hoch auf dem Berge da schau ich hinunter ins tiefe Tal …“

Gesang rettete die Situation. Martin jodelte, Marie spielt auf dem kaputten „Goschenhobel".

“Weit ist der Weg zurück ins Heimatland, so weit, so weit. Dort bei den Sternen überm Waldesrand liegt die alte Zeit …

„Die Wolken zieh’n dahin, daher, sie ziehen wohl über’s Meer Der Mensch lebt nur einmal, und dann nicht mehr.“

Dann hieß es schon wieder Abschied nehmen, man musste unten sein, ehe es finster wurde. Der Abstieg war fast schwieriger als der Aufstieg, wenn es auch nicht die Felswand hinunterging. Wie auch. Schritt für Schritt, kein Geröll lostreten. Dann war es plötzlich passiert, Marie strauchelte, aber Martin fing sie auf. Der Knöchel war trotzdem verstaucht. Martin musste sie stützen, was er nur allzu gern tat. So humpelten sie langsam bergab. Martin war unermüdlich. Vielleicht drückte er sie etwas zu sehr, aber Marie fühlte sich an seiner Seite wohl und geborgen.

In Hohenaschau wartete Walter mit seinem Schnauferl seit einer Stunde, war aber natürlich nicht böse. Sorgen hatte er sich gemacht. Sopherl wollte Marie gleich ins Bett legen, aber da erntete sie heftigen Protest. Martin hatte eine bessere Idee. Im „Kronprinz“ war wieder Schrammelabend, da gingen alle nach dem Abendbrot hin. Marie konnte schon etwas laufen, mit Martin, der ihre Taille fest umklammerte.

Am nächsten Tag war Fronleichnam. Sie segelten mit dem Boot zur Fraueninsel, von wo die Prozession ihren Anfang nahm. Die fand regelmäßig nur auf dem Wasser statt. Überall ruderten und segelten die Zuschauer herum und das klare Wasser war in Sonnenschein getaucht.

Dann ein Raunen: „Sie kommen!“ Die Glocke der Kirche St. Maria begann zu läuten, der Schall wurde weit über den See getragen und vom anderen Ufer als Echo beantwortet.

Von der Fraueninsel lösten sich die blumengeschmückten Boote. Der Bischof mit seinem Gefolge von Priestern, alle in kostbaren Gewändern, voran das „Allerheiligste“. Es folgten die Äbtissin mit ihren Nonnen und schließlich die Klosterschülerinnen. Die Boote hielten viermal bei ihrer Fahrt um die Insel an und die Insassen sangen je ein Evangelium mit klaren reinen Stimmen. Die Menge in ihren Schiffen war ganz still und ergriffen. Dann gingen die Würdenträger an Land, gefolgt von der Äbtissin und den Schwestern, die Schülerinnen in kornblumenblauen Gewändern mit gesenktem Blick. Den Schluss bildeten Kinder mit Blumen im Haar und in den Händen.

Nachdem alle in der Kirche verschwunden waren, zerstreuten sich die Zuschauer. Die Durstigen zog es ins Gasthaus und Walter mit Frau, Martin und Marie schlossen sich an. Kredenzt wurde unter den alten Linden und das Bier floss in Strömen. Auch Marie fand immer mehr Gefallen daran. Erst bei beginnender Dunkelheit segelten sie zurück.

Die restlichen Tage vergingen mit faulenzen, klettern, rudern und segeln. Martin war immer um sie herum, ohne lästig zu sein. Marie hatte ihn gern, aber zu mehr reichte es wohl nicht. Dann war der letzte Tag des Urlaubs gekommen und sie bestieg schweren Herzens den Zug Richtung Heimat. Noch lange standen die Freunde an der Bahnsteigkante und winkten.

Zurück in Dresden empfing sie der alte Trott. Wie sie den hasste und sich nach ihrer glücklichen Jugend und den schönen Urlaubstagen sehnte. Jetzt, in dieser unruhigen Zeit gab es auch kaum noch Tanzvergnügen, jedenfalls nicht in ihrer alten Gruppe. Einige waren verhaftet worden, andere einfach so verschwunden. Der Rest verbarrikadierte sich verunsichert erst einmal in seinen vier Wänden.

Die Reisen in den Westen der Heimat waren schön gewesen, sie hatte nette Menschen kennen gelernt, der Martin, na ja, der Richtige war nicht dabei. Sie dachte schon manchmal, dass eine Ehe die Lösung wäre, um dem eintönigen Alltag zu entfliehen. Sie fühlte auch das Bedürfnis, sich endlich von den Eltern zu lösen. Es würde ihr schwer fallen, aber es musste ja mal sein. Marie hatte im Dienst viel Zeit über alles nachzudenken. Sie besaß eine aufopfernde Mutter und einen zwar treu sorgenden, aber auch autoritären Vater. Sie war jetzt fast 23 und viele ihrer Klassenkameradinnen waren schon unter der Haube. Kein Grund zur Panik, freilich, man könnte ja mal…, so ganz unverbindlich…, einfach so aus Spaß, eine Annonce aufgeben.

„Junges Mädchen ist oft einsam und sucht Briefwechsel mit geistreicher Unterhaltung“.

Als Adresse gab sie das Polizeipräsidium an, denn Vater hätte das sicher nicht gut geheißen.

I-7

Zur gleichen Zeit lag ein junger Marineartillerieobergefreiter im 300 km entfernten Swinemünde mit Masern im Lazarett. Kurt hatte sich nach dem Abschluss einer Uhrmacherlehre in Rostock bei der Reichsmarine beworben. Das Abenteuer lockte und er war nicht zum Stubenhocker geboren. Die Eltern hatten ihm kein Studium ermöglichen können; so musste er dem älteren Bruder Heinz den Vortritt lassen und für Korle, die jüngere Schwester, Kindermädchen spielen. Kein Wunder, dass er das Weite suchte und sich mit seinem Freund Nölle für 12 Jahre verpflichtete. Bei der Bewerbung stand in seinem ärztlichen Zeugnis:

„Sieht gut aus und macht auch körperlich und geistig einen guten Eindruck… kann schwimmen und Rad fahren, betreibt Leichtathletik…“

Und die Polizei bestätigte:

„- keine Strafen verzeichnet

- wegen Bettelns und Landstreichens nicht bestraft

- Hilfsschule nicht besucht

- Zwangs –oder Fürsorgezögling nicht gewesen

- nicht entmündigt

- sich nicht in verfassungsfeindlichem Sinne betätigt“

Später war man nicht mehr so wählerisch. In seiner Stammrolle prangte ein Stempel: „Arische Abstammung nachgewiesen“.

Kurt hatte bereits sechs Dienstjahre mit mäßigem Erfolg hinter sich. In seinem „Führungsbuch“ stand als letzter Eintrag seines Vorgesetzten:

„Führung gut. Stiller, verschlossener Charakter. Es mangelt ihm an der nötigen Frische … Zeugwirtschaft gut. Besitzt keine Vorgesetzteneigenschaften …“

Zurzeit lag der Arier ohne Frische im Bett, zusammen mit fünf Kameraden, und langweilte sich. Die Frühvisite war durch, das Frühstück immer das gleiche. Nur die Zeitung versprach etwas Abwechslung. „Adolf Hitler hat gesagt… der Führer eröffnet…“ Am interessantesten waren noch die Kontaktanzeigen. Da war von rein arischen Menschen die Rede, die natürlich eine gesunde Arierin suchten, "Jungfrau, bescheiden und sparsam, breithüftig, naturliebend …"

Die Männer in ihren Betten lachten sich schief. Endlich. „Jungs, hier ist meine Annonce.

‚Frischer blauer Junge möchte mit nettem Mädchen in Briefwechsel treten’.

Das ging ja schnell. Hoppla, da steht noch eine darunter. Von einem Mädel. Einsam ist sie. Da schreib ich hin. Das hat doch was zu bedeuten. Tolle Sache. Was hab’ ich gesagt? Die Zeitung bringt uns Abwechslung. Da wird es ja bald Briefe in unser ödes Dasein schneien“.

Und sie kamen. Jeder Brief wurde vorgelesen und bejubelt. Der Militärarzt sagte, das sei das fröhlichste Zimmer der Station. Dann kam die Antwort von der Annonce, die unter seiner gestanden hatte. Bald gingen Briefe hin und her. Anfangs wurden sie auf beiden Seiten noch laut vorgelesen. Dann wurde Kurt entlassen und Marie steckte das kleine Passbild heimlich weg und las auch nicht mehr vor. Was geht das die anderen an. Der Inhalt war harmlos, aber doch nur für sie bestimmt.

Kurt hatte inzwischen die Küstenartillerieschule Borkum besucht und wurde als Artilleriewaffenleitvormann-Küste wieder nach Swinemünde versetzt. Auf dem Weg dorthin vermochte er einen Kurzurlaub in Dresden einzuschieben. So konnte er seine Ankunft nur kurzfristig ankündigen. Er wollte doch unbedingt seine Briefpartnerin persönlich kennen lernen.

Der Brief löste einige Hektik aus. Vater war zur Kur und kam erst einen Tag vor dem angekündigten Treffen zurück. Die Mutter freute sich mit ihrer Tochter, aber was würde Vater sagen? Sie vereinbarten ein Treffen zwei Straßen weiter. Die Bohrs waren voriges Jahr in die neue Siedlung in Gruna umgezogen, weil Paul wegen des häufigen Elbnebels in Tolkewitz Probleme bekam.

Kurt hatte sich nach seiner Ankunft gleich ein Quartier besorgt und erstand in einem Blumenladen einen Strauß Wicken in allen Farben für die Mutter und einen Strauß dunkelroter Rosen für die noch unbekannte Tochter. Ein Bote mit einem Kärtchen „Ich bin da, warte in der Steiner Straße“ wurde mit der Überbringung beauftragt. Marie hatte ihm von ihrem strengen Vater geschrieben, dem wollte er lieber nicht gleich zu Anfang begegnen. Dann marschierte er los. Der Weg zog sich hin, sie würde sicher schon warten.

Und wie sie wartete. Im ersten Stock „Am Knie 1“ war helle Aufregung. Der Vater hatte Dienst und die Mutter musste hier das Kleid gerade zupfen und dort die Frisur richten.

„So, nun geh’ aber. Lass ihn nicht zu lange warten.“

Marie war ganz zappelig. „Hast du ihn vom Fenster aus schon gesehen? Ist er hübsch? Groß, schlank, blond?“ Selma lachte. „Nein, ich habe ihn nicht gesehen, sicher steht er hinter der Ecke. Jetzt mach hin. Ein bisschen soll man die Männer ja warten lassen, aber nicht übertreiben. Ab mit dir!“

Marie flog die Treppe hinab, zwei Stufen auf einmal. An der Ecke zur Hepkestraße hielt sie inne und lugte vorsichtig um die Ecke, zog aber ihren Kopf sofort wieder zurück. War er das, der ebenso verstohlen um die gegenüberliegende Ecke geblinzelt hatte? Mit so schönen blonden Locken? Das Spiel dauerte noch einige Zeit, dann fassten sich beide ein Herz und trafen sich in der Straßenmitte. Beide gefielen sich sofort. Selma hatte das ganze vom Fenster aus beobachtet. Auch sie fand den jungen Matrosen recht stattlich.

Der Nachmittag verging schnell, denn beide hatten sich so viel zu erzählen. Es war ein heißer Sommer und sie spazierten im Großen Garten auf und ab. Auf einer Bank kamen sie sich näher, ziemlich nahe. Abends fanden beide in ihre jeweilige Behausung zurück, Kurt war von der Reise ziemlich müde.

Anderntags hatte er Gelegenheit, sich die Schönheiten Dresdens anzusehen, dann holte er Marie vom Dienst ab. Sie fuhren mit dem Raddampfer nach Pillnitz zum Tanz auf der Tanzdiele. Paul hatte die Mitteilung von Kurts Anwesenheit erstaunlich gelassen hingenommen. „Sie ist alt genug, um ihr Leben einzurichten. Sie wird schon von selbst draufkommen, dass ein Matrose ihr keine Existenz bieten kann.“ Was hätte er auch gegen ein Treffen tun können? In solchen Fällen ist selbst der strengste Vater machtlos. Zumal seine Tochter inzwischen ja volljährig war.

Töchterlein tanzte also vergnügt in der warmen Sommernacht mit einem Mann, den sie erst seit gestern kannte. Am Ende des zweiten Tanzes bekam sie den ersten Kuss von ihrem Matrosen. Als sie zum Tisch zurückkamen, stand da eine Flasche Wein. „Aber, aber, was soll denn diese teure Ausgabe?“ Kurt war verblüfft. „Ja, mein Vater hat heute Geburtstag“, sagte Marie lächelnd. „Prost!“ Noch ein Tanz und noch ein Glas. „Wollen wir nicht ‚Du’ zueinander sagen?“ Das wurde ein langer Kuss und die Flasche war bald leer.

Inzwischen war es Mitternacht, und Sonntag der 24. Juni erlebte seine erste Stunde. Als sie nach einem innigen langsamen Walzer, den man so schön eng tanzen konnte, zum Tisch kamen, stand da schon wieder eine Flasche. „Aber Kurtchen, das war doch nun wirklich nicht nötig!“„ Doch doch, heute hat meine Mutter Geburtstag.“ Lachend fiel Marie ihm in die Arme. „So ein Zufall. Das muss doch was bedeuten. Zum Wohl!“ Das war natürlich wieder einen Kuss wert. Sie tanzten jetzt wilder, ausgelassener. Der kleine Schwips ließ sie schweben.

„Du, Mariechen, wollen wir nicht an meine Mutter eine Geburtstagskarte schreiben?“ Kurt beauftragte den Kellner, eine Karte zu besorgen. Als er fertig war, schob er sie zu ihr hinüber. „Schreibst du auch etwas darunter?“ Er war gespannt, was sie wohl schreiben würde.

„Viele herzliche Grüße auch von Marie“. Jetzt war er überglücklich und überzeugt, dass sie sich richtig liebten. Der Wein half sicher auch zu der Erkenntnis. Im Überschwang der Gefühle glaubten sie, das Leben gemeinsam meistern zu können und verlobten sich. Das war am dritten Tag ihrer Bekanntschaft. Natürlich wussten sie schon viel aus dem Leben des anderen, seinen Vorlieben und Ansichten. Aber wie würde man reagieren, wenn die ersten Schwierigkeiten kommen? Die zwei machten sich noch keine Gedanken darüber und Kurt brachte seine Verlobte nachhause.

Der Vater war noch immer misstrauisch, aber Selma und ihre Tochter hatten Paul inzwischen immerhin soweit herumgekriegt, dass er sich Kurt doch wenigstens einmal ansehen könne. „Also gut, das sagt ja noch nichts. Aber nicht hier in der Wohnung!“ Er leitete den geordneten Rückzug ein. Was sollte er gegen geballte Frauenmacht ausrichten? „Wir werden ins Erzgebirge nach Zinnwald fahren und dort oben Mittag essen. Meinethalben mag er mitkommen. Aber meine Einwilligung zu deiner voreiligen Verlobung werde ich niemals geben“. Er wusste, dass sie nicht mehr erforderlich war, und das verdross ihn.

Da Kurt nur eine Woche Urlaub hatte, brach man gleich am nächsten Tag auf. Es war der vorletzte. Zuerst mit der Bahn bis zur Endstation und dann noch ein ganzes Stück zu Fuß. Paul und Selma vorweg, Marie etwas bedrückt mit Kurt hinterher. Im Gasthaus, direkt an der tschechischen Grenze gelegen, musste man eine Weile auf die Suppe warten.

Vater ging noch einmal hinaus und Kurt nach kurzer Zeit hinterher. Draußen traf er ihn, „rein zufällig“, und lud ihn zu einem Glas Bier an der Theke ein. Damit hatte er gewonnen. Sie verstanden sich glänzend. In guter Stimmung gingen sie wieder in die Gaststube und setzten sich an den Tisch. Schweigend aßen sie die inzwischen aufgetragene Suppe. Die Nerven der Frauen waren zum Zerreißen gespannt. Es war klar, dass sich die Männer draußen getroffen hatten, und da sie schwiegen, dachte Marie, es sei alles aus. Sie liebte beide, Vater und Kurt und wenn sie sich nicht verstanden … Schon kullerten einige Tränen die Wange herunter. „Dumme Gans“, bemerkte Paul trocken. Von Kurt bekam sie einen Kuss. „Es ist alles in Ordnung. Wir sind uns einig.“

Die Verlobungsanzeige wurde auch zu den Freunden nach Prien gesandt. Man schrieb sich ab und an wie’s so geht und was man so tut. Belangloses eben. Umso größer war die Überraschung, als eines Tages Martin, der fesche Bayer, klingelte. Er war die 500 km mit dem Motorrad gedüst, gleich als er die Verlobungsanzeige erhalten hatte. Ob Marie denn nicht gemerkt habe, dass er sie gern habe, nein liebe, und sie hätte heiraten wollen. Es kam etwas umständlich aus seinem Mund.

Nein, Marie hatte ihn nur als nette Bekanntschaft gesehen. Er war ihr etwas zu gewinnend in Aussehen und Wesen und sie war der Meinung, dass so einer nicht treu sein kann. Er war enttäuscht, verständlich, sagte „Grüß di!“ und setzte sich wieder auf sein Motorrad.

„Er wird’s überstehen“, sagte Selma


Fahnen,Flammen, Fanatismus

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