Читать книгу Ella trifft Ola und Aische - Klaus Steinvorth - Страница 4
ОглавлениеWenn der Held kam, hörte ich ihn schon von weitem. Ein scharfes Knallen der Autotür, federnde Schritte auf dem Kies, zwei kurze Klingelsignale. Der Herr des Hauses hatte zwar einen Schlüssel, aber er liebte es empfangen zu werden. Die Heldin ging an die Tür, Umarmung, Küsse, dann die Frage: „Was machen die Kinder?“
Mit Kindern war Hero gemeint, die Miniaturausgabe des Helden, von der Familie geherzt und gehätschelt. Sein richtiger Name war Hieronymus, weil der Held es griechisch mochte, mich nannte er Eleonore. Schritte polterten auf der Treppe, Hero krähte: „Hallo, Daddy!“
„Hallo, mein Lieber!“
„Darf ich dir nachher wieder helfen?“
„Klar. Wie war die Schule?“
„Alles okay, Daddy! Läuft geschmiert. Wie unser Boot!“
Vater und Sohn-Lachen!
Unser Boot! Ich ballte die Fäuste. Ich durfte nicht helfen! Ich war zu unpraktisch. Ich würde alles ruinieren. Nach mir erkundigte sich der Held nicht einmal!
Ja, ich würde alles ruinieren! Benzin auf das Boot, ein Streichholz, zisch und zack, das Feuer knackt! Sicher würde die Versicherung bezahlen. Er war ja gegen alles versichert. Dennoch. Er hätte mich auf seinem Radar. Er würde mich nicht übersehen können.
Er war ja immer in Eile, stand immer unter Druck, musste so vieles erledigen, war in zwei, höchstens drei Wochen schon wieder weg, in New York, wo sein Geschäft nach ihm rief. Und ließ die Heldin allein, die sehen musste, wie sie damit klarkam.
Sie kam damit klar, weil sie sich nichts anmerken ließ. Sie war schön, ruhig, gleichmütig. Sie war so schön, weil sie nichts aufregte. Sie hatte kein Fältchen im Gesicht, nicht mal an den Augen. Jeder dachte, sie wäre viel jünger, hielt sie, wenn man uns zusammen sah, nie für meine Mutter. Doch einmal hatte die Leidenschaft diese ruhige, schöne Frau gepackt, und das Ergebnis war ich gewesen.
Darüber sprach sie nicht mit mir. Was ich wusste, hörte ich von Oma häppchenweise. Ich musste selbst sehen, wie ich damit klarkam. Ich kam damit aber nicht klar, denn ich wechselte so oft die Schulen wie andere die Hosen. Und kam immer wieder in mein Heimatkaff zurück, ein nichtssagendes Nest inmitten vieler Seen, in die alle glotzten, um sich selbst zu sehen. Aber sie wollten keinen anderen sehen, schon gar nicht Fremde!
Ich aber war eine Fremde, was man auf den ersten Blick sah. An meiner Haut, an meinem Haar. Als die Leidenschaft meine Mutter packte, verlor sie ihre Unschuld an einen afro-amerikanischen Pianisten in Berlin. Sie war 18 und er auf Durchreise und dass ich am Leben blieb, verdankte ich Oma.
Sie sagte, dass meine Eltern nicht mit mir gerechnet hatten. Mein Vater verschwand und ließ nur seinen Vornamen zurück. Antwan hieß er, was französisch klang, so dass ich mir einen coolen Typen aus New Orleans vorstellte, der so fantastisch spielte, dass selbst meine kühle Mutter ihm nicht widerstand.
Sie glaubte auch nicht an mich. Selbst im sechsten Monat hielt sie ihren Bauchumfang für normal. Erst bei einer Routineuntersuchung kam heraus, dass sie schwanger war. Da war die Kacke am Dampfen! Sie dachte sogar an Abtreibung, aber Oma hielt sie davon ab. Sie wollte für mich sorgen, wenn meine Mutter studierte und keine Zeit hatte.
Oma zog mich die ersten vier Jahre auf, dann traf meine Mutter Hermann Held und wurde Heldin. Sie konnte ihm nicht widerstehen, weil er Reichtum und Sicherheit versprach. Er spielte zwar nicht Klavier, war aber auch auf Durchreise, so dass sie sich schön machte, um ihn zurückzuholen.
Schön für den Mann zu sein, das war für sie der Sinn der Ehe! Gott, wie ekelhaft! Sich von einem Mann vorschreiben zu lassen, wie man aussah! Ging es noch schlimmer? Man sollte natürlich nicht wie eine Schlampe aussehen, aber darüber entschied kein anderer als ich! Ich entschied, wie ich meinen Typ zur Geltung brachte, nur ich!
Ich betrachtete mich im Spiegel. Was hatte ich von meinem Vater? Das war die spannende Frage. Augen, Nase, Mund waren eher von der Heldin, die gaben das Gesicht, das die Leute gerne anguckten. An meinen Zähnen war mein Vater beteiligt, ich machte mühelos ein Zahnpastareklamelächeln nach. Auch für meine wirren Haare hatte er gesorgt, die ich lang trug, gedreht und lockig. Aber ich war klein und zierlich, die Heldin groß und schlank. War der Pianist aus New Orleans ein kleines Männlein? Unmöglich! Die Heldin konnte keinem Knirps erlegen sein!
Ich kontrollierte die Körpermaße am Wandspiegel: Busen-Taille-Hüfte gut. Nur die Größe: zu kurz, zu kurz! Warum wuchs ich nicht?! Ich nahm den Wandspiegel ab, legte ihn auf den Boden. Von dieser Perspektive sah ich klasse aus, lange Beine, schlanker Körper, Modelgröße. Der Kopf war klein geschrumpft. War für die Männer nicht wichtig, sie wollten nur den Körper!
Ich stampfte wütend mit dem nackten Fuß auf den Spiegel. Ich wollte nicht für die Männer schön sein! Blut breitete sich aus, rann über die zersplitterte Gestalt.
In dem Augenblick blinkte es rot, schrillte es grell. Die Warnanlage des Helden ging los, von seiner Firma verfertigt und vertrieben. Der Direktor wollte Elektronik auch in seinem Haus. Es war aber keine Warnung vor Einbrechern, es war nur das Signal zum Essen! Der Held wünschte zu speisen. Im Kreis seiner Familie. Die Heldin würde ihn bedienen, Hero an seinen Lippen hängen. Und mich würde man wie das Aschenputtel übersehen! Ich war so überflüssig wie das Blut, das immer noch rann. Kam keiner, um mich zu erlösen? Rucke di guh, Blut ist im Schuh!
Ich humpelte zur Badewanne, wusch den Fuß, trocknete ihn, bepflasterte ihn, wollte kein Blut. Dann in die Hausschuhe, damit der Fuß bedeckt war, und die Treppe hinunter: rucke di guh, rucke di guh!
An seiner Tafelrunde saß der Held, winkte mich heran und ließ sich einen Kuss geben. Alles Ritual! Den blutigen Fuß sah er nicht. Ich fühlte, wie es feucht zwischen den Zehen wurde. Würde ich sterben, wenn es weiterrann? Eine Ohnmacht wäre auch nicht schlecht. Dann müssten sie mich sehen. Obwohl Hero nichts mitbekommen würde, der glotzte in der Gegend herum. Die Heldin lächelte sanft. Wie schön, dass ich heruntergekommen war. Dann könnten wir die letzten Neuigkeiten von meiner Schule besprechen, sagte sie.
So wie sie es sagte, klang es nach einer Katastrophe!
„Frau Kleinholz möchte mit uns sprechen.“
„Kleinkopf?“ Der Held, gerade mit Hero beschäftigt, der seine letzten Neuigkeiten loswerden wollte, hob den Kopf. „Wer ist das?“
„Die Klassenlehrerin von Eleonore. Sie möchte uns sehen.“
„Jetzt schon? Ist heute nicht ihr erster Schultag gewesen?“
Hatte er es tatsächlich mitbekommen? Sieh mal an!
Die Heldin hatte sich auch gewundert. Aber Frau Kleinholz bestand darauf.
„Warum?“, fragte der Held.
„Es scheint, dass Eleonore den Unterricht gestört hat.“
„Was sagst du dazu?“, fragte der Held.
Ich sagte: „Die Lehrer legen Wert darauf, die Eltern kennenzulernen. Damit sie wissen, aus welchem Stall die Kleinen kommen.“
Der Held blickte durch mich durch. „Genau das hast du uns gesagt, als du Ärger mit Jimmy im Internat hattest. Ich hoffe, wir brauchen uns keine Gedanken zu machen über einen neuen Jimmy.“
Es gab tatsächlich einen neuen Jimmy in meiner neuen Klasse, aber das konnte ich nicht sagen. Ich sagte, dass ich Ärger mit meiner Lehrerin bekommen hatte, weil ich den Test nicht mitschreiben wollte. Sie hatte Fragen, die ich gar nicht beantworten konnte.
Der Held seufzte. „Es scheint, wir müssen mit dieser Kleinholz sprechen. Kannst du das übernehmen, Heide? Du weißt, dass ich wenig Zeit habe.“
„Mach ich, Hermann! Ich lasse mir einen Termin geben.“
„Danke, mein Schätzchen! Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann!“
Es spielte im Grunde genommen keine Rolle, was ich sagte. Sie regelten es unter sich. Ich war außen vor.
Ich lehnte mich zurück, legte den blutigen Fuß auf den Tisch. Ich konnte es nicht so weiterrinnen lassen. Ich fühlte mich gleich besser.
„Was hast du mit dem Fuß gemacht?“, fragte die Heldin.
„Ich habe meine Blutungen“, sagte ich.
Ich konnte sie nicht schocken. Sie wollte keinen Ärger für ihr hübsches Gesicht. „Geh nach oben! Wasch mit warmem Wasser, was immer du willst!“, sagte sie nur.
Der Held sah mich nicht einmal an. Er war mit Hero beschäftigt.
Ich humpelte die Treppe hoch. Rucke di guh, Blut ist im Schuh!
Kaum war ich in meinem Zimmer, setzte ich mir die Kopfhörer auf und hörte Big Boi, den afroamerikanischen Rapper, dessen Texte unglaublich cool waren. Das Beste aber war, dass er mit Vornamen Antwan hieß. Wie mein Vater! Nach den Internetinformationen war er kein Pianist aus New Orleans, auch nicht in in Deutschland gewesen, aber egal, er hätte so aussehen können wie mein Vater.
Ich betrachtete das Coverfoto von Big Boi. Seine Augen hielten mich in Bann, warme leuchtende Augen, die zu mir sprachen, mich ermunterten. Dann hörte ich seine Stimme: It's all right, baby. Have a good time. Don't be shy, baby, it's all right.
2
An meinem ersten Schultag war ich zu spät gekommen. Zweimal zu spät! Einmal kam ich nicht pünktlich zur ersten Stunde, zum anderen nicht zum ersten Schultag nach den Sommerferien. Es hatte länger gedauert, mich aus dem Internat zu werfen. Bei mir dauerte alles länger, weshalb ich oft zu spät kam. Ich träumte oft, dass ich zu spät kam!
Die Heldin hatte mich rechtzeitig gebracht, daran lag es nicht, aber mir war flau geworden, als ich den Backsteinklotz sah. Ich verdrückte mich in der Schultoilette, wusch das Gesicht kalt ab, kniff mir in den Arm. Ich musste mich fit machen. Es war wie der erste Auftritt und der entschied! Wie im Theater. Sie sollten nicht glauben, dass ich wie sie war. Don't be shy, baby! Ich musste älter sein als sie, weil ich die Klasse wiederholte. Ich war nach dem Rauswurf aus dem Internat sitzengeblieben.
Es fing besser an, als ich erwartet hatte, weil der Direktor nicht da war. Also entfiel das lästige Gelaber zu meiner Person und Vergangenheit. Ich brauchte nur einen Zettel auszufüllen, dann marschierte die Sekretärin los, drahtig wie eine Marionette. 9 a war die Klasse, in die sie mich schob. Klappe auf, Klappe zu. Da stand ich im Blitzgewitter der Augenpaare und starrte auf das Wichtelweib mit Dutt und Stahlbrille, die Zahlenkolonnen über die Tafel laufen ließ. Das fehlte mir gerade noch, Mathe, Qual im Quadrat! Ich sah die Kreide vor mir und malte ein großes Fragezeichen auf die Tafel.
„Was soll das?“ Das Wichtelweib sah mich verdutzt an.
„Ich frage mich, was ich hier soll.“
Sie blickte über die Brille, freundliche Augen. „Dann stell dich mal vor, damit du kein Fragezeichen bleibst!“
Jetzt kam mein Auftritt. Don't be shy, baby!
„Ich heiße Eleonore Held, möchte aber Ella genannt werden. Held ist der Nachname meines Stiefvaters. Mein richtiger Vater ist Afroamerikaner. Aber ich kenne ihn nicht, ich habe ihn nie gesehen. Aber ich werde natürlich an ihn erinnert, weil ich durch Haut und Haar anders bin.“
„Durch Haut und Haar“, sagte ein Junge aus der hinteren Reihe. Sofort fing es an zu glucksen und zu kichern.
„Spiel dich nicht auf, Kevin!“, sagte die Lehrerin und es wurde ruhig.
Sie wandte sich an mich. „Ich glaube, wir haben eine Menge von dir gehört, so dass ich mich kurz fassen kann. Ich heiße Frau Kleinholz und wenn du Probleme hast, kannst du jederzeit zu mir kommen.“
Hoffentlich nicht!
„Jetzt müssen wir einen Platz für dich finden. Ola, neben dir ist doch frei?“
Ich sah ihn und staunte. Da saß in der Klasse ein Afrikaner, rabenschwarz und krausgelockt. Er rückte seinen Tisch, der etwas abseits stand, näher in die Mitte, damit ich mich besser setzen konnte, und schob seine Bücher auf seine Seite. Er war groß und schlank und bewegte sich mit geschmeidiger Lässigkeit, als er zu seinem Sitz rutschte, schien stolz zu sein, nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen.
„Thank you“, sagte ich.
„Welcome“, lächelte er.
Da hörte ich aus der Tiefe des Klassenzimmers: „Jetzt ham se sich mit Haut und Haaren!“
Sofort kicherte und gickelte es. Wie die Hühner, die gackern, wenn sie etwas zum Picken gefunden haben. Immer nach unten hacken, bloß nicht hochschauen! Und wenn es gefährlich wird, mit großem Spektakel wegflattern!
Als die Kleinholz in unsere Nähe kam, flatterte es. Das gefiel ihr nicht und sie setzte ein strenges Gesicht auf. „Wir machen ein paar Übungen.“
Sie teilte Blätter aus: „Kurven und Geraden“. Einer fragte: „Sind die Kurven weiblich und die Geraden männlich?“
Wieder begann das große Gegacker.
Die Kleinholz sprach von einem Test und machte deutlich, dass jeder für sich arbeitete und die Zettel abzugeben waren.
Die Klasse flatterte.
„Es ist ganz einfach“, sagte die Kleinholz. „Ihr braucht nur die Werte auf der Tafel einzusetzen. Quatscht nicht viel, fangt an!“
Ich meldete mich. „Muss ich mitschreiben?“
„Versuch es! Damit ich mir ein Bild von deinem Kenntnisstand machen kann!“
„Sie bekommen kein gutes Bild!“
„Dann weiß ich, wo ich bei dir ansetzen kann.“
Was wollte sie wo ansetzen? Viele Flicken ergaben Patchwork. Vielleicht hatte sie Recht. Eigentlich war ich Patchwork: bunt und auffällig, unregelmäßig.
Ich nahm den Zettel in die Hand. Nullen, nichts als Nullen, aus denen ich mal lachende, mal traurige Gesichter machte, Smileys und Frownies. Dann begann ich vorsichtig den Zettel zu einer Schwalbe zu falten.
Neben mir duckte sich der Panther. Wenn er lossprang, konnte er groß herauskommen.
Die Kleinholz saß vorn, ihr Kopf ein Leuchtturm, der in regelmäßigen Abständen das blitzende Brillenlicht über die Klasse schickte. Der Panther knurrte. Er witterte Gefahr.
Die Brille blitzte. „Jeder für sich!“
Ich hielt meine Schwalbe startbereit. Als der Leuchtturm die andere Klassenseite bestrich, segelte der Papiervogel elegant über alle Köpfe und landete weich auf dem Pult.
Nicht schlecht! Das sollte man mir mal nachmachen!
Die Kleinholz stand auf. „Ella! Warst du das?!“
„Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie kein gutes Bild von mir bekommen.“
Die Kleinholz schüttelte den Kopf. „Musst du mir was beweisen? Ich muss wohl mit deinen Eltern sprechen.“
„Bitte sehr!“ Ich reichte ihr die Visitenkarte des Helden, wo er für seine Sicherheitssysteme und Warnanlagen Reklame machte. Mir gefiel, wie er seinen Namen mit fetten Buchstaben in das technisch Kleinzeug platzierte: Hermann Held! So einen Namen musste man erst mal finden!
Die Kleinholz sah sich die Visitenkarte von beiden Seiten an.
„Darf ich raus?“, fragte ich sie.
Sie zuckte die Achseln. „Aber bleib in der Nähe, damit ich dich reinrufen kann, wenn die Übung zu Ende ist.“
Auf dem Flur lehnte ich mich an ein Fenster. So schnell drinnen, so schnell draußen. Klappe auf, Klappe zu. So ging es mir immer. Warum nicht einmal in Ruhe abwarten? Nichts machen, die anderen kommen lassen? Aber da gab es diese innere Unruhe, die mich vorwärts trieb. Ich konnte nicht still bleiben. Bloß keine lahme Ente sein!
Ich war überrascht, als mein Panther nach draußen kam. Er setzte sich eine Kappe auf den Kopf. „Brooklyn, NYC“ stand darauf.
„Kommst du aus Amerika?“, fragte ich. Vielleicht sogar aus New Orleans?
Er schüttelte den Kopf. „Naidschiria.“
„Ach so!“ Schade eigentlich! „Mein Vater kommt aus Amerika. Aber das habe ich ja schon gesagt.“
„Warum sagst du das? Sie machen sich lustig über dich!“
„Ich stehe zu meinen Wurzeln. Du nicht?“
„Wurzeln sind gut in der Heimat, nicht in der Fremde“, sagte er, eigentlich sang er es mehr mit einer tiefen Stimme.
„Von deiner Heimat musstest du weg?“
Er sang, dass er Flüchtling war. Er hatte es über das Mittelmeer versucht, aber erst beim zweiten Mal geschafft.
„Glück gehabt, oder?“
Er nickte.
„Bist du froh, dass du hier bist?“
Er zuckte mit den Achseln.
Ich reichte ihm die Hand. „Ich heiße Ella.“
Er hieß Ola.
„ Come on, Ola! Lass dich nicht kleinkriegen! Gimme five!“
Wir klatschten uns die Hände ab. Aber er sah nicht froh aus. Er dachte, ich war reich und er arm. Da konnte ich ihm viel sagen!
Als wir in die Klasse gingen und an unserem Tisch Platz nahmen, starrten sie uns an. Ein paar Mädels starrten mich auch an. Das mussten seine Fans sein. Das hätte ich mir denken können, dass er bei den Mädels gut ankam. Das war eine Herausforderung, das machte die Sache spannender.
3
Der Held und Hero bastelten in der Garage an ihrem Modellboot, die Heldin löste Zeitschriftenrätsel, die Luft war rein. Ich konnte beginnen. Ola brauchte ein neues Handy. Er fummelte ständig an seinem herum und jammerte, dass es nicht ging. Es konnte auch nicht gehen, weil es zu alt war, das sah man auf den ersten Blick. Hero hatte bereits sein drittes Handy, die beiden alten lagen nutzlos herum. Er würde mir aber nie sein altes Handy geben, vielleicht einem aus seiner Clique, aber nicht mir. Da musste ich es ihm halt nehmen, ich tat es ja nicht für mich, sondern für Ola. Er sollte nicht denken, dass ich reich war und nichts für ihn tat.
Ich schlich in Heros Zimmer. Aufgeräumt, staubgesaugt, die Hefte gestapelt, die Bücher geordnet. Ganz der Held. Natürlich, war ja auch sein Liebling! Ein schneller Griff zur Schublade, da lag das alte Handy. Der Monitor blieb dunkel, die Lampe über der Tür blinkte nicht. Die Warnanlage des Helden griff nicht. Diebstahl im Hause Held war nicht vorgesehen. Von außen hätte kein Einbrecher eine Chance gehabt. Das Sicherheitssystem, die Elektrosperren und Elektrofallen hätten zugeschlagen. Aber im Kreis der Familien gab es kein Sicherheitssystem, da gab es nur Vertrauen, Verantwortung, Verständnis!
Die Lieblingsvokabeln des Helden. Er konnte sie sich in die Haare schmieren! Hero, oh ja! Dem zeigten sie genug Vertrauen und Verständnis. Mich übersahen sie. Ab in mein Zimmer und mit warmem Wasser waschen! Das genügte.
Sie hatten sich geschnitten, wenn sie glaubten, das wäre die richtige Erziehung für mich. Eine richtig Erziehung würde mich ernst nehmen, würde die Probleme dieser Welt ernst nehmen, wozu auch gehörte, dass man sich um einen Flüchtling wie Ola kümmerte.
Ich holte mir das Handy, sah gut aus, fast neu, funktionierte auch, blinkte fröhlich, ich brauchte nicht einmal ein Passwort zum Entsperren.
Ich schloss die Schublade, schlüpfte aus dem Zimmer. Mission erfüllt!
Die Heldin brütete über ihr Rätsel. Ständig schickte sie die Lösungen weg, aber nie kam ein Gewinn. Warum auch? Sie hatte doch alles. Sie sollte lieber über ihre Vergangenheit brüten. Warum verdrängte sie den Pianisten aus New Orleans? Warum sprach sie nicht mit mir?
„Eleonore!“ Die Heldin sah mich an. Wenn sie mich jetzt fragte, was ich in der Tasche hätte, würde ich ihr das Handy geben. Fast wünschte ich es. Denn eigentlich war ich das Versteckspiel leid. Mir wäre lieber, wir würden direkt über uns reden. Der Held, die Heldin, Hero und ich. Warum wir uns nicht verstanden? Warum sie mich nicht verstanden?
„Ich habe gehört, du hast einen afrikanischen Mitschüler?“
„Von wem hast du das gehört?“ Ich war hellwach.
„Von Frau Müller aus meinem Gymnastikkurs. Ihre Tochter Sophie ist in deiner Klasse.“
Sophie, blond, blassblau, Blümchenbluse, Musterschülerin, Klassensprecherin. Auch sie mochte Ola, gehörte zu seinen Fans.
„Hat sie schon über uns gelästert?“
Die Heldin zog ihre feinen Augenbrauen hoch. „Es wird gesagt, dass du dich an ihn heranschmeißt!“
„Ich schmeiß mich nie an einen Jungen heran!“
„Du solltest an Jimmy denken.“
„Und du an meinen Vater!“
Das saß! Das Blut schoss ihr in das Gesicht, die Augen wurden klein. Endlich hatte ich sie mal aus der Fassung gebracht. Aber nur für einen kurzen Moment.
„Ich möchte dir mein Schicksal ersparen, Eleonore. Nimm es als Rat einer besorgten Mutter!“
„War es ein Schicksal?“
Sie schüttelte betrübt den Kopf. „Das kannst du mit 16 Jahren nicht wissen. Glaub es mir!“
Ich zuckte die Achseln.
„Lass uns nicht darüber streiten! Ich kriege sonst wieder Kopfschmerzen! Komm, gib deiner Mutter einen Kuss!“
Ich gab ihn, hätte mir aber ihren Mund wärmer gewünscht.
4
Drückende Hitze, lähmende Stille, ab und zu von unerklärlichen Geräuschen unterbrochen. Ich lag in meinem Bett und konnte nicht schlafen. Ich vermisste die nächtlichen Dauergespräche im Internat, besonders die mit Sabrina, die mal meine Freundin gewesen war.
Sabrina, die große Schlanke, mit der ich das Zimmer teilte! Wir bekakelten alles, was wichtig war, und als Jimmy wichtig wurde, reichte die Nacht nicht aus. Sabrina hatte sich wahnsinnig in ihn verknallt. Er kam am Nachmittag, und sie begannen gleich zu quatschen, als hätten sie sich eine Ewigkeit nicht gesehen. Ab und zu knutschen sie. Dann stellte ich mich vor die Tür und passte auf. Wenn er weg war, erzählte Sabrina alles haargenau. Für sie war Jimmy, der Supermann! Das war verständlich, wenn man seinen schwarzen, muskelbepackten Körper sah. Wir hatten ihn im Selbstverteidigungskurs kennengelernt, wo er rausflog, als er Streit mit den Lehrern kriegte. Wir fanden das ungerecht und gingen mit ihm. Da gab er uns privat Unterricht. Es war aufregend, seine Griffe am Körper zu fühlen. Er war drei Jahre älter und hatte jede Menge Erfahrungen.
Dann gab es den großen Krach, weil Jimmy sich für mich interessierte. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Es war mir nicht recht. Ich wollte nicht Sabrinas Platz einnehmen, ich wollte ihre Freundin bleiben. Ich fand Jimmy sympathisch, fühlte mich ihm nah, schon wegen der Hautfarbe, aber es gefiel mir nicht, dass er Sabrina satt hatte und jetzt mich wollte. Nein, so lief es bei mir nicht.
Aber er machte mich mit Big Boi bekannt, ließ mich seine Musik hören, erklärte mir seine Texte, die ich nicht verstand, weil er so schnell sang. Das fand ich aufregend, erst recht, als ich entdeckte, dass Big Boi und mein Vater denselben Vornamen hatten. Jimmy meinte, er könnte mein Vater sein, viele schwarze Musiker hatten ihre Tourneen durch Deutschland gemacht. Darüber redeten wir stundenlang.
Sabrina dachte, ich nahm ihr Jimmy weg und war wie eine Furie. Sie konnte nicht mehr normal reden, ihre Hände zitterten, ihre Augen funkelten. Es war klar, dass wir nicht mehr das Zimmer teilen konnten. Aber das wollte Sabrina nicht, bat mich mit Tränen in den Augen, bei ihr zu bleiben.
An einem Abend kam ich spät von Jimmy zurück. Sabrina überfiel mich, riss mich an den Haaren, schleuderte mich zu Boden. Sie setzte sich auf meinen Bauch, begann mich am Hals zu würgen. Sie war größer und stärker, ich konnte mich nicht wehren. Bis ich mich tot stellte, die Augen verdrehte, kaum noch atmete. Erst da ließ sie von mir ab.
Am nächsten Tag zog ich in ein anderes Zimmer, verpetzte sie aber nicht, weil sie weinte und sich entschuldigte.
Ihre Eifersucht blieb, wurde noch schlimmer. Sie sah mich oft mit Jimmy und dachte immer das Schlimmste.
Einmal trafen wir uns zu dritt im Chemieraum. Sabrina wollte es. Sie half in der Chemie bei den Experimenten und hatte darum einen Schlüssel. Es sollte eine Aussprache sein, damit wir alle drei wieder Freunde wurden. Dazu kam es nicht. Im Gegenteil. Sabrina fing wieder an zu schreien und hätte Jimmy am liebsten die Augen ausgekratzt. Plötzlich lief sie nach draußen und schloss die Tür ab. Jimmy war mit einem Satz hinter ihr her, konnte aber die Tür nicht mehr öffnen, so sehr er auch rüttelte.
Wir hörten sie durch die Tür rufen: „Viel Spaß, ihr Bastarde!“
Bald merkten wir, dass sie uns verbrennen wollte. Sie hatte in einer Vorkammer entzündbares Material zum Brennen gebracht, worauf die Flammen auf unseren Raum übergriffen.
Jimmy wollte nicht um Hilfe rufen, er wollte auch nicht durch das Fenster fliehen. Er setzte mich auf die Fensterbank und küsste mich leidenschaftlich. Das Feuer, das sich zischend und knackend aus der Tiefe des Raums zu uns durchfraß, wühlte mich auf. Es war mir, als ob mein eigenes Feuer ausbrach und mich verschlingen wollte. Jimmy und ich wollten brennen, uns verbrennen. Es war mir egal, was die Leute dachten.
Sie hatten uns von draußen gesehen und schrien und grölten. Sie kamen zu uns hochgerannt und entdeckten das Feuer. Jimmy sagte, er wollte mit seiner Knutsch-Demo auf unsere Notlage aufmerksam machen.
Es nutzte weder ihm, noch mir. Wir wurden mit Sabrina schuldig gesprochen und aus dem Internat geworfen. Von einer Anzeige bei der Polizei wurde abgesehen, weil der Held sich bereit erklärt hatten, die Kosten des Schadens zu übernehmen. Seine Versicherung zahlte.
5
Plötzlich sehe ich das Feuer. Es hat sich mit rasender Geschwindigkeit zu mir durchgefressen und seine Flammen lecken und lechzen nach mir. Ich weiche zurück, aber das Feuer ist schneller, ist über mir wie ein erschrecktes Pferd, das sich in einem Funkenregen zerreißt und auf mich fällt. Es bohrt sich ein in mein Gesicht, es brennt und brennt!
Dr. Bauer steht vor mir, traurige Augen hinter dunkler Hornbrille. „Warum hast du gelogen?“
Ich weiß es nicht.
„Jimmy hat gesagt, du wolltest nicht, dass er Hilfe holt, du wolltest, dass er dich auf die Fensterbank setzt und küsst!“
Ich kann nicht antworten.
„Warum?“, fragt Dr. Bauer.
Ich gebe es zu. „Ich habe Schuld. Ich wollte das Feuer.“
„Sabrina sagt, sie hat dich vor die Wahl gestellt: Entweder die Trennung von Jimmy oder das Feuer.“
„Ich wollte das Feuer.“
Dr. Bauer seufzt. „Wir können dich nicht behalten. Es scheint mir besser, du gehst zurück zu deiner Familie. Ich habe mit deinem Vater gesprochen. Ein wundervoller Mensch. Ich bin von ihm beeindruckt.“
Ich nicke.
Dr. Bauer atmet auf. „Gut, dann haben wir das geklärt.“
Ich möchte am liebsten losschreien. Alle wollen mich los werden, keiner will mich! Nur der Koch, will sie doch, steckt sie in das Feuerloch!
Wieder springt mir das Feuer in die Augen. Warum kann man mich nicht in Ruhe lassen?
6
„Eleonore!“
Ich öffnete langsam die Augen, schloss sie. Greller Schein einer Taschenlampe.
„Wir müssen etwas mit dir klären!“
Der Held, stahlgrau! Hinter ihm Hero mit Klageblick. Daneben die Heldin mit Trauerblick.
Familien-Demo. Anklage und Verurteilung. Hero klagte, dass ihm das Handy fehlte.
„Ich weiß nichts von einem Handy“, sagte ich. „Ich wette, Hero hat es verlegt.“
„Sie lügt!“, schrie Hero mit aufgeblasenem Gesicht. Hoffentlich würde es platzen wie ein Ballon!
Der Held drehte sich um zu seiner kleinen Ausgabe. „Such ihre Kleidung durch, Schreibtisch und Schultasche!“
„Klar, Daddy!“
„Warum habe ich kein neues Handy?“ fragte ich.
„Deins ist gut genug. Es ist vom letzten Jahr!“
„Aber du hast mich nie gefragt, ob es mir gefällt!“
Triumphgeschrei. Ballongesicht hatte Hauptgewinn gezogen. Augen und Handy glitzerten im Lampenlicht.
„Willst du behaupten, dass dein Bruder sein Handy in deine Jeans gesteckt hat?!“
„Ich weiß es nicht.“
„Was soll diese lächerliche Eifersucht auf deinen Bruder?! Er ist kein kleines Kind, für den du die große Mutter spielen kannst! Das war okay, solange er nichts dagegen hatte. Aber jetzt hat er was dagegen. Das musst du respektieren!“
Und warum respektierte er nicht, dass ich mich ausgeschlossen fühlte, weil er sich nur um seinen Goldjungen kümmerte? Aber das konnte er nicht verstehen, weil er nur mein Stiefvater war!
Der Held war mit seinem Reden noch nicht fertig. Er hatte gedacht, wir könnten nach dem Internat mit unserer Familie einen Neuanfang versuchen. Jetzt, wo er in New York viel zu arbeiten hatte, wäre das eine Chance, weil er doch sah, dass ich ohne ihn besser zurechtkam. Aber ich müsste Vernunft zeigen, Verantwortung, Verständnis erkennen lassen!
„Hermann!“ Die Heldin wagte ein Wort. „Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Das Gespräch mit Frau Kleinholz hat mir Mut gemacht. Sie sagt, dass Eleonore eine eigenwillige Persönlichkeit ist, die aneckt und sich Feinde macht. Aber sie hat ein gutes Herz und setzt sich für Schwächere ein.“
Der Held seufzte. „Na gut, versuch es mit ihr, wenn ich weg bin! Du bist ihre Mutter!“
7
Ich hatte nicht erwartet, dass die Heldin sich für mich einsetzte. Wo sie praktisch nie dem Helden widersprach! Ich hatte auch nicht erwartet, dass die Kleinholz gut über mich sprach. Im Unterricht ließ sie nicht erkennen, dass sie etwas von mir hielt. Aber sie musste die Unruhe in der Klasse gemerkt haben. Ich war neu und mischte alles auf, das warf man mir vor. Aber sie merkte, dass ich Ola und Aische half, dem Afrikaner und der Türkin mit dem Kopftuch. Das gefiel ihr.
Fast die ganze Klasse war gegen mich. Meine schlimmsten Feinde waren Kevin Köhler, der immer blöd daherredete, weshalb ich ihn den Kläffer nannte, dann Nils Reisser, der an allem etwas auszusetzen hatte, das war der Nörgler, und schließlich Gordon Baumann, der Gorilla, der mit seiner breiten Brust alles beiseite schieben wollte.
Sie erwarteten mich in der Hofpause. „Wir müssen ein ernstes Wort mit dir reden“, sagte der Gorilla.
Ich sah ihn an und wartete.
„Wir wollen nicht, dass du dich an den Neger ranschmeißt!“
Ich drehte mich um. „Ich kenne keinen Neger.“
„Zick nicht rum! Du weißt, wen wir meinen!“, bellte der Kläffer.
„Meint ihr Ola? Ich schmeiß mich nicht an ihn heran! Ich schmeiß mich an keinen Jungen heran!“
Der Nörgler machte eine Grimasse. „Glaubst du, ich sehe nicht, wie du ihn anglotzt, angrapscht, anfummelst?!“
„Ich glaub, du willst es sehen!“
Der Gorilla machte eine Handbewegung. „Wir brauchen nicht darüber zu reden, was jeder sieht. Wir sagen dir nur: Du störst mit deinem Verhalten die Klassengemeinschaft!“
„Inwiefern?“
Sie sahen mich an, als ob sie das Wort nicht kannten.
„Wieso störe ich die Klassengemeinschaft?“
„Weil du glaubst, du kannst dir alles erlauben“, grunzte der Gorilla. „Weil du glaubst, du bist was Besseres! Wenn dein Papa mehr Kohle hat, heißt das nicht, du kannst dir alles erlauben!“
Jetzt holten sie sich noch den Helden für ihr Gelaber! Das brachte mich so durcheinander, dass ich nichts sagen konnte.
„Was sollte das mit der lächerlichen Papierschwalbe?!“, blaffte der Kläffer. „Glaubst du, du bist noch im Kindergarten?“
Was für Rotzer!, dachte ich. Aber mein Herz klopfte. Mit so viel Hass hatte ich nicht gerechnet.
„Ich wusste nicht, dass es euch stört! Mach ich nicht mehr!“, versprach ich. „Aber was hat das mit Ola zu tun?“
„Du sollst ihn in Ruhe lassen!“, knurrte der Gorilla.
Ich zuckte die Achseln. Was sollte ich sagen?
„Wir wollen nicht, dass ihr euch so in die Mitte schiebt! Die Mulattin und der Neger! Das Traumpaar des Jahres! Schaut alle her!“
„Ich finde es diskriminierend, dass ihr mich Mulattin und Ola Neger nennt!“
„Wir finden es Scheiße, dass ihr auf andere keine Rücksicht nehmt. Nur ihr zählt und seid wichtig!“, bellte der Kläffer.
„Wir wollen nicht im Mittelpunkt stehen!“, sagte ich.
„Dann haltet euch zurück!“, stieß der Gorilla aus. „Sonst müssen wir durchgreifen!“
8
Aische fiel mit ihrem Kopftuch zwar auf, aber sie tat alles, um sich unsichtbar zu machen. Sie gehörte zu den Mimosen, die zeigten: Komm mir nicht zu nahe! Rühr mich nicht an! Sie schien ihr Tuch zu tragen, um mit keinem zu reden.
Als ich aber einmal neben ihr stand, drehte sie sich zu mir, das Tuch gab ihr Gesicht frei und ich sah, dass ihre großen Augen leuchteten. Sie machte einen sehr offenen Eindruck, was mich überraschte.
In dem Augenblick kam der Kläffer vorbei, der den Nörgler fragte: „Glaubst du, dass Schleiereulen Schokolade mögen?“
Ich sagte sofort: „Sie mögen keine Kotzbrocken!“
Sie hielten an und wollten auf mich losgehen, aber Schäfer, der Aufsicht hatte, war in der Nähe, da drehten sie ab.
Ich sah Aische an. „Du hast es nicht leicht in der Klasse.“
Sie zuckte die Schultern. „Mir ist egal, was die anderen denken. Hauptsache, ich habe mir nichts vorzuwerfen.“
Sie schlug sich auf die Brust, an ihrem Handgelenk glitzerte ein Armband mit etwas Geschnörkeltem.
„Ist das arabisch?“
Ich hatte so eine ähnliches Armband bei Sabrina gesehen, die in Ägypten gewesen war.
Aische nahm das Armband ab und zeigte mir ihren arabisch geschriebenen Namen. An ihrem Handgelenk zeigten sich Druckstellen. Die kannte ich an mir von Sabrina, als sie mich in ihrer Wut hin und her gezogen hatte.
„Was hast du am Handgelenk?“, fragte ich.
Sie sah mich erstaunt an. „Was meinst du?“ Sie rieb sich am Handgelenk. „Ach, das kommt von der Hausarbeit!“
Ich nickte, aber glaubte ihr nicht. Man hatte sie eindeutig mit Gewalt angefasst. Doch ich wollte nicht nachfragen. Das hätte sie verletzt. In solchen Dingen musste man vorsichtig sein. Vielleicht gab es später die Gelegenheit, nachzufragen, wenn wir uns besser verstanden. Und ich wollte sie auf jeden Fall besser verstehen.
Ich sagte, sie hatte doch gemerkt, dass ich auch eine Außenseiterin war. Konnten wir zusammenhalten?
Sie nickte und wir gaben uns die Hand.
9
Mit den Jungs konnte ich nicht reden, solange die drei Rotzer den Ton angaben. Mit den Mädels hatte ich das Problem, dass einige mir übel nahmen, dass ich mit Ola ging. Sie waren eifersüchtig auf mich.
Ich redete mit Sophie, blond, blassblau, Blümchenbluse.
„Ich möchte dich fragen, weil du die Klassensprecherin bist.“
„Bitte!“ Sie klang reserviert.
„Du weißt, die Jungs machen Jagd auf Ola und Aische.“
Sie musterte mich. „Jagd? Ist das nicht übertrieben?“
„Sie machen blöde Bemerkungen über sie, lachen und schubsen und drohen mit Gewalt.“
„Ola weiß sich zu wehren, der braucht deine Hilfe nicht, der wird mit jedem fertig!“
Das sagte sie, weil sie zu seinem Fanclub gehörte!
„Wenn die halbe Klasse auf ihn losgeht, sehe ich nicht, wie er damit fertig wird.“
„Hast du denn schon gesehen, wie sie ihn fertigmachen?“, fragte sie und ihr blasses Gesicht wurde noch blasser.
„Wenn ich mit ihm zusammen bin, habe ich das Gefühl, dass sie gleich über uns herfallen.“
„Weil du mit ihm zusammen bist!“, rief sie triumphierend. „Wenn ich dir einen Rat geben kann: Halt dich mehr zurück! Dann haben wir mehr Ruhe in der Klasse.“
Sie war auf einer Linie mit den Rotzern. Es hatte keinen Zweck, mit Sophie über Ola zu sprechen.
„Ich habe gesehen, wie Nils Reisser Aische das Kopftuch wegziehen wollte. Ist dir das egal?“
„Sie ist die einzige in unsrer Klasse, die ein Kopftuch trägt. Sie vermummt sich, sie will was Besseres sein. Sie spricht nicht einmal mit uns!“
„Das ist ihr Glaube. Kann man das nicht respektieren?“
„Dann soll sie in eine muslimische Schule gehen!“ Sie musterte mich wieder kritisch. „Ich meine, wenn du in ein fremdes Land kommst, passt du dich den Landessitten an, oder? Du provozierst nicht mit einer Religion, die keiner will. Wenn du zu den Stieren gehst, trägst du kein Rot!“
Sie starrte auf mein rotes Sweatshirt. Dumme Kuh! Aber die Klasse glaubte auch von mir, ich wollte was Besseres sein!
10
Die drei Rotzer kamen in die Schulkantine und stellten ihre Tabletts auf den Tisch, an dem ich und Ola saßen. Sie machten sich breit und nuckelten an ihren Energydrinks.
„Ey, Blacky!“, rief der Gorilla. „Eine neue Herde von Flüchtlingen ist gekommen? Oder heißt es Horde?“
„Bei den Gorillas heißt es Familie“, sagte ich.
Er merkte gar nicht, dass er gemeint war, sondern hatte seine Augen auf Ola gesetzt. „Dann bist du nicht der einzige Neger in der Schule. Freut dich das nicht?“
Ola schaute durch ihn hindurch.
„Ich habe keinen neuen Flüchtling in der Schule gesehen.“
Der Gorilla sah mich an. „Noch nicht, aber bald kommen sie und futtern sich auf unsere Kosten durch!“
Er haute mit seinem Löffel in die Suppe, dass es spritzte. Ola bekam einige Spritzer ab, runzelte die Stirn und sagte, dass er sich nicht auf ihre Kosten durchfutterte.
Der Nörgler meckerte wie eine Ziege. „Du bezahlst doch nicht unser Schulessen! Das bezahlt dir doch der Pastor!“
Ich griff ein, weil Ola nichts sagte. „Ihr bezahlt doch auch nicht euer Schulessen. Sondern eure Eltern. Oder der Staat.“
„Halt dich da raus!“, grunzte der Gorilla. „Der Staat tut alles für euch Reiche und für die Flüchtlinge. Aber nicht für uns!“
Ola sagte, er wollte nicht, dass man für ihn bezahlte. Er arbeitete, wo er konnte.
„Das ist ja die Scheiße!“, bellte der Kläffer. „Du nimmst uns nicht nur Geld weg, du nimmst uns auch die Arbeit weg. Was bekommst du als Zeitungsjunge für die Stunde?“
Ola schwieg.
„Ich will's dir sagen! Die Hälfte von dem, was wir fordern!“ Er grinste mich an, es war ein unverschämtes Grinsen. „Ich will dir auch was sagen, Baby! Wenn erst mal die Flüchtlinge auf der Schule sind und wir sehen, was sie anrichten, wird es hier ganz anders zugehen!“
„Warum sind sie denn noch nicht hier?“, fragte ich.
„Weil sie die Krätze haben“, sagte der Nörgler. „Man hat sie untersucht, kostenlos. Hat man dich auch schon auf Krätze untersucht, Ola?“
„Man sollte lieber dich untersuchen“, sagte ich. „So wie du an deinen Pickeln kratzt!“
Der Nörgler wurde rot. Er hasste es, wenn man ihn auf seine Pickeln ansprach.
„Mach mal Platz!“, sagte der Gorilla zu Ola. „Hast du keine Krätze, rück ran an deine Braut! Oder genierst du dich?“
Sie konnten so sprechen, weil Schäfer, der die Aufsicht hatte, nur einschritt, wenn es eine Schlägerei gab. Aber Gespräche, und waren sie noch so gemein, interessierten ihn nicht.
„Weißt du, was genieren ist?“, fragte der Kläffer Ola.
Der Nörgler lachte. „Neger genieren sich nie!“
„Dafür genierst du dich für deine Pickeln!“, grinste ich.
Der Nörgler wurde wieder rot und zischte mich an: „Pass auf, wie du dich genierst, wenn du weißt, was Blacky über dich gesagt hat!“
Ich sagte: „Komm schon mit deiner Lüge raus!“
Der Kläffer sagte: „Wenn es um Sex geht, lügen Neger nie!“
„So ist es!“, nickte der Nörgler. „Ola hat gesagt, er hat dich rumgekriegt, weil du ganz scharf auf ihn bist!“
Ich nahm seine Energyflasche vom Tisch und schüttete sie dem Nörgler ins Gesicht. Er erstarrte zur Salzsäule und riss den Mund auf. Der Gorilla und der Kläffer rollten ihre Köpfe auf den Schultern, bis sie aufstanden und auf mich losgehen wollten. Schäfer kam und fragte, ob etwas war.
Wir alle schüttelten den Kopf. Als Schäfer weg war, sagte der Gorilla: „Wir sind noch nicht fertig mit euch!“
„Wir auch nicht“, antwortete ich. Ola zeigte mit breitem Lächeln seine Zähne.