Читать книгу Fesseltrick - Klaus Stickelbroeck - Страница 7

1. Tag

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Das durfte doch nicht wahr sein. Die rote Sporttasche entglitt seinen Fingern. Fassungslos fand Hartmann Halt am Türrahmen. Entsetzt strich er sich durchs Haar, die Stirnader pochte.

»Das gibt’s doch nicht.«

Seine Bude. Seine Wohnung. Sein Wohnzimmerbüro. Es schnürte ihm die Kehle zu. Der Raum roch wie drei Tage Wacken und sah aus, als wäre eine von Dimitris Handgranaten explodiert. Nein, nix Handgranate. Der Ursprung allen Übels, dieses Massakers, trug einen anderen Namen.

»Angie«, knödelte Hartmann und spürte Blutdruck.

Nur mühsam gelang es ihm, einen weiteren, fassungslosen Schritt in den Raum hinein zu machen, denn der klebrige Fußboden hatte seine Schuhe bereits angesaugt. Die Turnschuhe ließen sich nur mit einem kraftvollen, feuchtschmatzenden Fompp vom eingesauten Laminat lösen.

»Nicht zu fassen«, japste Hartmann.

Der Wohnzimmertisch war mit leeren Bierflaschen zugestellt. Die beiden leeren Kästen dazu hatten als Sitzgelegenheiten gedient, denn sie standen auf der Seite mit der Öffnung nach vorne gleich davor. Zu den leeren Bierflaschen hatten sich zwei fröhliche Flaschen Jägermeister gesellt. Unter einem riesigen Haufen Kippen erahnte Hartmann einen Aschenbecher. Drei käseverklebte Pizzapappschachteln ließen vermuten, dass ein sehr, sehr durstiges Trio für das abenteuerliche Flaschenpotpourri verantwortlich war.

Hartmann stelzte mit weitem Schritt über etwas dunkelblau Zusammengerolltes hinweg ans Fenster und riss es auf. Der Lärm vom Bahnhofsvorplatz dröhnte zu ihm hoch. Eine Straßenbahn dengelte durch den Gleisbereich, irgendwo heulte eine Alarmanlage, Taxifahrer hupten sich gegenseitig Dellen in den weißen Lack. Zischend entwich im Septemberwetter gewärmter Mief nach draußen.

Hartmann schüttelte sich, er war doch nur eine einzige Nacht lang weg gewesen.

Unter einem Berg Schmutzwäsche war Hartmanns orangefarbene Couch kaum mehr erkennbar und schimmerte an den sichtbaren Stellen ins grünfleckig Bräunliche. Von einem fiesen, hässlichen Fleck gleich darüber an der Tapete schien eine gebrauchte, schwarze Unterhose ablenken zu sollen, die den bestürzten Blick heischend das Sitzelement bethronte.

»Angie, du Sack«, war alles, was Hartmann zornig über die knochentrockenen Lippen brachte.

Drei Tage zuvor hatte sein Kumpel mitten in der Nacht bei ihm auf der Matte gestanden. Angie war aus seiner Wohnung rausgeflogen. Genau genommen war es natürlich nicht Angies Wohnung gewesen, sondern die von Serkan. Serkan hatte keinen Nachnamen, aber wegen bewaffneten Raubüberfalls auf eine Tankstelle dreieinhalb Jahre bekommen. Jetzt war er plötzlich wegen guter Führung vorzeitig aus der Haft entlassen worden, womit nun wirklich niemand hatte rechnen können.

Irgendwas musste da schiefgelaufen sein.

Serkan hatte Angies linkes Auge marmoriert, ihn sofort achtkantig rausgeworfen und Hartmann seinen Kumpel für eine Nacht aufgenommen. Für eine Nacht aufgenommen? In dieser Formulierung steckten mehr als ein Dutzend schlimme Fehler.

»Wie kann man nur so blöd sein?«

Er wusste doch, dass bei seinem im Grunde herzensguten, aber schwer drogensüchtigen Freund immer das komplette Chaos angesagt war, sobald er ihm Unterschlupf bot. Mit geregeltem Wohnraum konnte Angie einfach nicht umgehen. War vielleicht was Genetisches. Oder was aus der frühen Kindheit. Was eine feste Bleibe anging, war Angie seit einigen Jahren ja auch vollkommen aus der Übung.

Vorsichtig tippte Hartmann mit der Turnschuhspitze gegen den blauen, zusammengerollten Schlafsack. Wenn da was Lebendes drin gewesen war, dann war es inzwischen tot.

Roch zumindest so.

Achtkantig hatte Serkan Angie aus seiner Wohnung geworfen? Hier würde Angie bei allernächster Gelegenheit auch rausfliegen. Aber neunkantig!

Wie in Trance ergriff Hartmann die halbwarme Flasche Cola, die auf dem Wohnzimmertisch stand, setzte sie sich an den Hals und spülte den Ärger die trockene Kehle runter. Er hatte gestern bei einer Benefizveranstaltung in Köln-Porz seinen ersten Halbmarathon gelaufen und war noch ein paar Liter Flüssigkeit im Fehl. Das abschließende Bäuerchen wirkte befreiend und war bis nach Oberbilk zu hören.

Hartmann zuckte zusammen. Das Bad! Das Schlimmste befürchtend schwankte er, die Colaflasche fest umklammert, ins angrenzende Badezimmer.

»Puh«, konnte Hartmann erleichtert aufatmen, denn erstens war das Bad menschenleer und zweitens in einem passablen Zustand.

Lediglich ein schrumpelig zerdötschter Zigarettenstummel, der auf der weißen Keramikanrichte unterm Spiegel ausgedrückt worden war, wirkte ein wenig deplatziert. Offensichtlich hatten es Angie und seine beiden trinkfreudigen Begleiter eher selten bis ins Bad geschafft. Was in Anbetracht der großen Menge Flüssigkeit, die nebenan genossen worden war, neue, verstörende Fragen aufwarf.

Hartmann fuhr herum.

»Was machst du denn schon hier?«

Das war Angie! Sein Kumpel war … nach Hause gekommen und stand jenseits des Getränketischs. Angie grinste umständlich am Kippenigel vorbei, wrang ungelenk seine Hände und schien im Gesicht noch ein bisschen blasser zu sein als sonst. Seine langen, dünnen, dunklen Haare glänzten fettig. Er trug seine schwarze, an den Seiten geschnürte Lederhose und ein dunkelblaues T-Shirt mit der gelben Aufschrift *Original Prankster.

»Ich wohne hier«, erklärte Hartmann.

An seinen Worten mochten Eiszapfen gehangen haben.

»Äh … Du hier? Jetzt. Schon. Ich hab dich noch gar nicht …«, haspelte Angie. »Ich hatte Besuch.«

»Ach was?«

»Gestern.«

»Eine Hundertschaft?«, fragte Hartmann.

»Zwei Bekannte. Kennste nich. Regenrinnen-Rita ist auch auf ein paar Kurze reingeschneit. Deine Nachbarin Heidi von oben hat zwei Jägermeister genommen.«

»Heidi?«

»Japp. Ganz am Anfang«, nickte Angie. »War nett.«

»Nett?«, echote Hartmann ungläubig.

Er fragte sich, wie seine über achtzigjährige Nachbarin aus der vierten Etage sich in diese gemeine Trinkrunde hatte verirren können. Andererseits hatte die rüstige Rentnerin mehrere Weltkriege überlebt und in der jüngeren Vergangenheit schon oft bewiesen, dass ihr im Grunde alles zuzutrauen war.

»Ist ein wenig ausgeartet, das gemütliche Beisammensein. Ich hab noch nicht mit dir gerechnet und hätte alles fein saubergemacht«, versicherte Angie.

Hartmann deutete auf den Fleck an der Tapete. »Und neu gestrichen?«

»Da würde sich ein poppiges Poster oder ein hübsches Bild gut machen«, schlug Angie alternativ vor.

Hartmann schnaufte. »Ich weiß, was sich jetzt ganz gut machen würde. Noch was Blaues. Auf deinem rechten Auge.«

»Tief durchatmen, Kumpel, tief durchatmen«, mahnte Angie.

»Was ist mit dem Sofa passiert?«

Angie nickte mit Kennerblick. »Ehrlich, mein Freund. Eine orangefarbene Couch? Orangefarben? Orange ist so was von out! Eigentlich ist das jetzt die günstige Gelegenheit, über einen neuen, fetzigen Stoffbezug nachzudenken.«

Hartmann schnappte nach Luft, und der Gedanke an ein weiteres blaues Auge in Angies Gesicht gewann tsunamiartig an Sympathie.

Angie hob stattdessen plötzlich seine Arme, riss die Augen auf und wurde noch einen Tick blasser. »Äh …«

»Was is?«, bemerkte Hartmann den ungewohnt besorgten Blick.

»Hast du, äh, aus … dieser … Flasche Cola getrunken?«

»Ja. Wieso?«

»Oh-oh.«

»Was Oh-oh?«, fragte Hartmann.

Angie blinzelte. Und holte tief Luft. »Oh-oh.«


Rasch schlüpfte sie vom Innenhof durch den Hintereingang ins Gebäude, in den Flur. Leise schloss sie die schwere, grün gestrichene Tür hinter sich.

Durchatmen!

Hier drinnen war es deutlich kühler als draußen. Und dunkel. Nur durch ein kleines Ausstellfenster schimmerte die Sonne bleichgrau in den kleinen, ansonsten unbeleuchteten Raum.

Kein Licht, hatte er in seiner letzten Nachricht geschrieben.

Kein Licht …

Sie entdeckte wenige Schritte weiter die schmale, abgegriffene Holztür, die hinab in den Keller führen würde. Auf was hatte sie sich nur eingelassen?

Sie hielt einen Moment inne, versuchte sich zu konzentrieren und drückte entschlossen die Klinke. Mit einem hohen Knirschen ließ sich die alte Kellertür aufziehen.

Sieh aus, wie ich es mag, hatte er ihr befohlen.

Sie hatte ihre sonst sperrigen, blonden Haare glatt und an den Enden streng nach innen geföhnt, was ihr Gesicht unschuldig und brav wirken ließ. Unter dem leichten, hellblauen Sommermantel trug sie ihren scharfen, schwarzen Spitzenbody und die sich an ihre Beine schmiegenden, halterlosen Strümpfe. Leichte, dünne Riemchensandalen, dazu um ihren Hals an einer braunen Lederschnur das große, metallene, rustikale Kruzifix. Exakt das Outfit, das er auf den Fotos im Chat so liebte, das ihn in kurzen, heißen Textnachrichten stöhnen ließ.

Aber ja, natürlich, sie wollte ihm gefallen.

Abgestandene Luft schlug ihr aus dem Keller entgegen, normalerweise geeignet, alle Erotik im fiesfauligen Keim zu ersticken. Aber heute? Und jetzt? Heute und jetzt störte sie der Geruch nach Dreck, Staub und Schmutz kein bisschen. Eine fast nicht zu bändigende Vorfreude ergriff von ihr Besitz. Zu lange hatte sie diesen Moment, diese Begegnung herbeigesehnt.

Vorsichtig stieg sie die Stufen hinunter. Knapp vor ihren Zehen flüchtete eine riesige, schwarze Spinne in die sichere Dunkelheit. Die vorletzte Holzstufe knarrte laut warnend.

Sie spürte den unebenen, kalten Betonboden unter ihren Schritten. Im Keller war es fast stockfinster. Wie von selbst griff ihre linke Hand zum alten Drehschalter. Aber halt, erinnerte sie sich. Kein Licht, hatte er geschrieben. Sie tastete sich vorsichtig voran. Auf was, verdammt, hatte sie sich nur eingelassen?

Aber es gab kein Zurück. Wieso auch? Sie hatte diesen Tag, diesen Moment lange geplant, ihn herbeigebetet. Endlich. Und dann war alles viel schneller und einfacher gewesen, als sie es zu hoffen gewagt hatte.

Die Plattform im Internet.

Der Kontakt.

Der Chat.

Das Interesse.

Du kannst alles mit mir machen, hatte sie ihm noch gestern geschrieben.

20 Uhr 30, im hinteren Kellerraum, hatte er geantwortet und ihr den Weg vom Parkplatz an der Kirche, in den engen Hinterhof, durch den schmalen, kühlen Flur in den dunklen Keller hinab beschrieben.

Während sie zaghaft einen Fuß vor den anderen setzte, fragte sie sich, warum er Zugang zu diesem alten Gewölbekeller hatte. Soviel sie wusste, gehörte das Gebäude der Kirchengemeinde, wurde das Erdgeschoss als Kindertagesstätte genutzt. Darüber befanden sich verschiedene soziale Einrichtungen, und lediglich eine der kleinen Wohnungen im Haus war vermietet.

Wieso dort im Keller? Hätte sie fragen sollen. Hatte sie aber nicht. Stattdessen hatte sie gefragt, ob sie irgendetwas mitbringen sollte. Wein, ihre geilen Nippelklemmen aus Edelstahl? Nein, hatte er geschrieben, ich brauche nur dich.

Und ich brauche dich, hatte sie gedacht, den Chat beendet und den Laptop zugeklappt.

Inzwischen stand sie wie verabredet im hinteren Kellerraum. Ein schmales Oberlicht unter der Decke, Staubflocken tanzten. Mitten im Raum stützte ein nachträglich eingesetzter, runder Eisenpfeiler die alte, hölzerne Deckenkonstruktion.

Sollte sie sich bemerkbar machen? Nach ihm rufen?

Nur schemenhaft waren im Halbdunkel die wenigen Gegenstände im großen Kellerraum zu erkennen. Eine Waschmaschine, ein Trockner. Ein an der Wand hochgebauter Kartonstapel zur Rechten, daneben ein altes, mit Decken und Kissen beladenes Sofa. Eine schwere, hölzerne Schreinerwerkbank war bis auf eine einzelne Blumenvase komplett freigeräumt, ein Stehtisch. Was verbarg die konturlos über was auch immer dahingeworfene Tagesdecke ganz hinten links in der Ecke des Raumes?

Sie schlang verunsichert die Arme um sich.

Auf was hatte sie sich hier eingelassen?

Sie spürte einen leisen Anflug von Panik, fühlte sich halbnackt in ihrem Spitzenbody mit den Strümpfen mit einem Mal hilflos, verletzlich. Das war kein … Kinderspiel.

Das war überhaupt kein Spiel.

Nein, befahl sie sich, das war jetzt keine Panik, die da von ihrem Körper Besitz ergriff. Sie spürte das Prickeln. Deutete es. Deutete es um. Nein, das war die heiße Erwartung auf das, was da kommen sollte. Sie strich mit der Hand über das grobe Klinkerwerk und konnte den staubigen Dreck auf den uralten Steinen spüren.

Heiß!

Aber wo blieb er? Zehn Minuten befand sie sich bestimmt schon im Keller. Ob er schon hier war? Hatte er bereits im Dunkeln auf sie gewartet? Eine neue Welle der Erregung rauschte warm durch ihren Körper, ließ ihr Blut brodeln. Geilte er sich bereits an ihrem Anblick auf. An ihrer Angst? An ihrer Unsicherheit? Heimlich, irgendwo hinter Kartons und Gerümpel versteckt? Erregt davon, dass sie seine Anweisungen ganz genau und akkurat befolgt hatte? Ohne Widerspruch.

Als wäre sie devot. Was sie nun wirklich nicht …

Da war doch was? Da war doch jemand! Sie hielt die Luft an, wagte nicht zu atmen, jede Faser ihres Körpers angespannt, die Sinne geschärft. Ein grelles Knarzen.

Die Kellertür! Schritte! Von oben aus dem Hausflur? Vom Kellerabgang. Deutlich, ja sicher. Licht stürzte ins Kellerdunkel.

Im gleichen Moment spürte sie ganz genau, dass sie hier unten nicht allein im Raum war. Verdammt. Sie fuhr herum. Ihr Mund öffnete sich, um …

Zu spät. Bevor sie in der Dunkelheit irgendetwas erkennen konnte, wurde eine Hand von hinten grob über ihren Mund gelegt. Die Hand erstickte ihren Aufschrei, ihre Frage, was auch immer. Ein Arm fuhr um ihren fast nackten Körper. Sie versuchte, durch die kräftigen Finger Luft zu ziehen, es wollte ihr kaum gelingen. Sie spürte einen Mund ganz nah an ihrem Ohr. Heißer Atem.

»Sssshhh.«

In die folgende Stille hinein hörte sie es wieder. Schritte. Dann das Knarzen! Unverkennbar. Das Knarzen der vorletzten Stufe, jemand stieg die Treppe zu ihnen herab.

Jemand? Wer denn? Wenn da jemand die Treppe herunterstieg, wenn … er … es war, wer hielt sie dann fest umklammert, wer presste in diesem Moment eine Hand fest auf ihren Mund?

Es gelang ihr, den Kopf zu drehen, nur ein kleines Stück weit. Sie erkannte das Gesicht direkt neben ihrem. Ihr Herzschlag setzte aus. Du? Du, hätte sie fragen wollen, wenn sie denn hätte fragen können. Aber die kräftig auf ihren Mund gepresste Hand ließ das nicht zu. Sie sah, wie der Mund zum schemenhaften Gesicht lächelte.

»Sssshhh.«

Auf was hatte sie sich eingelassen?


Hartmann starrte aus dem Fenster. »Gleich, gleich kriegt er ihn.«

Alina strich eine ihrer hellblauen Strähnen hinters Ohr und runzelte fragend die Stirn. Angie, der neben ihr stand, zuckte hilflos mit den Schultern.

»Der kleine Hase hat keine Chance«, stellte Hartmann fest und deutete in den Himmel.

Zu sehen waren im strahlenden Azurblau allerdings lediglich zwei weiße Schäfchenwolken. Eine kleine und eine große.

»Er beobachtet die Wolken. Wie lange soll das jetzt so gehen?«, fragte Alina mit echter Sorge in der Stimme.

»Keine Ahnung«, knirschte Angie.

»Er hat aus dieser Colaflasche getrunken?«

»Ja. Aus der Flasche. Aber keine Cola. Also, auch Cola, aber nicht nur Cola.«

»Da war was drin«, verstand Alina.

Angie pustete. »Ja, nun. Ich hab ein wenig experimentiert.«

»Ein wenig experimentiert?«

»Ich konnte ja nicht ahnen, dass Hartmann schon so früh nach Hause kommt. Sonst hätte ich die Flasche mit dem Zeug natürlich irgendwie gesichert. Oder versteckt. Oder entsorgt.«

Alina verdrehte die Augen. »Mit was denn experimentiert?«

»Dinge, Stoffe, Verschiedenes.«

Hartmann schniefte. »Der große, böse Drache ist einfach schneller als der süße, kleine Hase.«

Alina nickte mit dem Kopf. »Und wie lange bleibt der jetzt in diesem Zustand?«

Angie zuckte erneut mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich experimentiere ja noch.«

»Das ist unverantwortlich«, erboste sich Alina, stemmte wütend die Arme in die Hüfte und rollte wild mit ihren grünen Augen. »Wir müssen einen Arzt rufen.«

»Auf keinen Fall.«

»Wer weiß, was da in seinem Körper abgeht.«

»Das muss auch keiner wissen. Kein Arzt. Ärzte stellen nur Fragen.« Angie schüttelte eindringlich seinen Kopf. »Oder untersuchen sein Blut und stellen fest … Ist auch gar nicht nötig, ein Arzt. Die ersten Selbstversuche waren alle sehr, sehr vielversprechend.«

Alina ließ den Blick über das Trinkensemble kreisen. »Sehr, sehr vielversprechend. So sieht das hier auch aus.«

»Armes, armes Häschen«, flüsterte Hartmann leise, und es stand ernsthaft zu befürchten, dass er jeden Moment bestürzt in Tränen ausbrechen würde.

»So ein Halbmarathon schlaucht«, behauptete Angie.

»Boah, schieb seinen Zustand jetzt nicht auf den Lauf gestern, du hast Scheiße gebaut.«

»Es geht ja auch gerade zügig auf Vollmond zu«, versuchte Angie eine zweite Erklärung.

»Saug dir keine blöde Rechtfertigung aus den Fingern«, zischte Alina scharf. »Dass Hartmann halb weggedämmert rumsabbert, bist allein du schuld!«

Angie drückte sein Kreuz durch. Das Ganze und Hartmanns Reaktion, das war natürlich alles ein wenig unglücklich, aber er hatte auch keinen Bock, sich von dieser blauhaarigen Osteuropäerin derart in die Defensive drängen zu lassen. »Was machst du eigentlich hier?«

Alina nickte Richtung Schreibtisch. »Ich soll Hartmanns Telefonanlage ein bisschen aufpimpen. Einige Passwörter setzen, ein paar Funktionen umlegen, Netflix einrichten.«

Angie schnaufte. Er hatte die Superspezialspezialistin bei Hartmanns letzten Fall kennen- und ihre technischen Fähigkeiten am PC schätzen gelernt. Die smarte Alina mit den blauen Haaren und den vielen, bunten Tattoos war okay. Vielleicht ein wenig nassforsch, aber – mit einem Seitenblick auf den dumpf vor sich hin murmelnden Hartmann –, da wollte Angie jetzt nicht kritisch ansetzen.

Plötzlich richtete Hartmann sich auf. »Häschen, ich werde dir helfen.«

Alina und Angie sahen sich fragend an. Hartmanns Gesicht wurde zur entschlossenen, grimmigen Fratze, was wirklich, wirklich nicht gut aussah.

»Oh-oh«, unkte Angie.

Hartmanns Kopf wurde rot.

»Äh …« Alina bekam es mit der Angst zu tun.

»Ha«, jubelte Hartmann und winkte die beiden mit wilder Geste zu sich ans Fenster. »Guckt, guckt.«

Die beiden taten zögernd wie geheißen. Alina musterte den Himmel über Düsseldorf. Nun ja. Die hintere, größere Wolke hatte sich in mehrere kleinere Wölkchen aufgelöst, wie große Wolken das schon mal machten.

Hartmann nickte bedeutungsvoll und blickte seinen beiden Freunden nacheinander eindringlich in die Augen. »Ich kann mit meinen bloßen Gedanken Drachen töten.«


Das war anders, ganz anders, als sie es geplant hatte. Das lief hier im Keller völlig falsch, das war gefährlich.

»Hallo?«, rief die Person, die zu ihnen herunterstieg von der Treppe in den unbeleuchteten Keller hinein. Eine Frau. »Ist da unten jemand?«

Sie spürte, dass sich der Druck auf ihrem Mund noch mal erhöhte. Keinen Laut, hieß der stumme, in ihre Lippen gedrückte Befehl, kein Mucks!

Und sie? Wie sollte sie reagieren? Auf sich aufmerksam machen? Brauchte sie Hilfe? Sie spürte den muskulösen Körper in ihrem Rücken, die Hand um ihre Hüfte geschraubt. Dieser Griff, diese Nähe. Oh, wie hatte sie sich genau in diese Situation hineingefleht!

Aber jetzt? Es war nicht … er. Nicht der Mann, den sie anzutreffen angenommen, ersehnt hatte. Nicht der Mann, mit dem sie vor wenigen Stunden heiß und frivol gechattet hatte.

»Verdammt, schließ die Kellertür ab, du Idiot«, nahm ihr im gleichen Moment die Frau auf der Treppe die Entscheidung ab, denn schnaufend stieg die offenbar ältere Frau die Stufen der Holztreppe in diesem Moment wieder zurück nach oben.

Die Chance, einen Laut von sich zu geben, verstrich, als sie hörte, dass die Frau oben angekommen war und ächzend die Kellertür von außen hinter sich schloss.

Zeit, hier mal was klarzustellen. »Hey, ich …«

Rüde wurde sie mit hartem Griff gedreht, gepackt, rückwärts geschoben und mit ihrem Rücken gegen die kalte Kellerwand gepresst. Mit fließender Bewegung wurde ihr gleichzeitig die Sommerjacke vom Körper gezogen. Sie schnappte nach Luft, Steinchen bohrten sich kantig durch den dünnen Dessous-Stoff in ihren Rücken.

Ihre Nasenspitzen berührten sich fast, die Augen waren eiskalte Schlitze. Ein Zischen, wütend als Drohung durch die Lippen gepresst. »Kein Wort!«

Sie öffnete den Mund, aber die Hand presste die Worte zurück in die Kehle, raubte Bestätigung, Protest und Sauerstoff. Sie wollte husten, aber selbst das war nicht möglich, nicht mal ein Krächzen.

Ganz nah heran kam der rot geschminkte Mund. »Ich weiß, dass du jemand anderen erwartet hast, aber glaub mir, ich werde es dir genauso gut besorgen.«

Als Antwort blieb ihr nur ein hilfloses, ergebenes Nicken.

Es blitzte zufrieden in den engen Sehschlitzen ihres Gegenübers. »Guck mich an! Sieh mir in die Augen!«

Die Hand verschwand von ihren Lippen. Stattdessen wurden ihre Arme mit kräftigem Zug vor ihrem Körper übereinandergelegt. Sie ahnte, was jetzt kam. Und ja, hatte sie nicht genau das erwartet?

Sie nutzte die Gelegenheit, sich umzuschauen. Es durchfuhr sie wie ein Messerstich. Es war alles angerichtet. Direkt über ihnen entdeckte sie im schal einfallenden Licht den runden Haken, der in einem der massiven, alten Holzbalken eingeschlagen war. Links von ihr stand ein Tisch. Auf dem Tisch lagen grelle, leuchtend rote Seile. Sie entdeckte einen schwarzen Stoffstreifen und einen Beutel, der unförmig ausgebeult unter einem Paar Handschellen lag.

Ein kräftiger Ruck ließ sie laut aufstöhnen.

»Guck mich an, reiß dich zusammen, du Schlampe!«

Ein Griff zum Tisch. Sekundenbruchteile später wurde eines der dicken Hanfseile um ihr Handgelenk geworfen.

Sie hielt inne, hielt still. Sie konzentrierte sich, tat, was von ihr gefordert wurde. Sie musste jetzt, jetzt, jetzt kühl bleiben.

Das Paar Hände, das vor ihrem Bauch arbeitete, wusste ganz genau, was zu tun war. Jede der Handbewegungen saß. Das Seil schnitt gemein in die Haut, fixierte ihre Hände, die Arme. Sie spannte sich an, erspürte jede Schleife, jede schwungvolle Drehung des Seils, erahnte, wie sich ein Knoten fest um ihr Gelenk formte. Sie ließ es geschehen, konzentrierte sich auf ihre Atmung. Jeder Zug, jeder Atemzug war jetzt wichtig.

Wieder ein Griff zur Seite, in den Beutel hinein. Ein zweites Seil, etwas länger diesmal. Sie fühlte, wie das Seil mit fließender Bewegung mehrmals um ihren Körper herumgezogen wurde. Schließlich wurde das zweite Seil durch eine Knotenschlaufe der ersten Fessel gesteckt und das Seil dann nach oben durch die Öse im Balken geführt. Ein kräftiger Schlag am Strick ruckte ihre Arme in die Höhe, drehte ihren Körper und raubte ihr jeden Gedanken an Widerspruch. Es riss ihr die Arme aus den Schultergelenken, schmerzhaft schrie sie auf. Sie schloss die Augen, blutrote Punkte tanzten.

»Locker bleiben, Schatz«, brummte die Stimme, tiefer und kälter als zuvor.

Ihr gelang es tatsächlich, die Muskeln in den Armen zu entspannen. Das machte nur wenige Millimeter aus, tat aber gut. Sie blickte an sich herunter, das Kruzifix baumelte. Sie öffnete den Mund.

»Schweig! Kein Wort!«

Der zweite Strick wurde auf Spannung gebracht und sorgte dafür, dass sich ihr Körper stramm in die Aufrechte streckte. Sie stand auf Zehenspitzen, lediglich ihre Hüfte ließ sich bewegen. Sie sah einen weiteren Griff zum Tisch, in den Beutel. Rot …

»Kein Knebel! Nein!«, stieß sie hervor.

Ein, wie sie wusste, letztes Nein. Denn im gleichen Moment wurde ihr der rote Knebelball grob in den Mund gedrückt, ein schwarzes Gummiband brachte das Instrument auf Spannung. Ihre nächsten Worte waren kaum mehr als ein sinnloses Murren.

Kein Knebel. Kein. Knebel!

Diesmal spürte sie die Nasenspitze an der ihren, fühlte sie eine heiße Wange, den heißen Atem auf ihrer Haut. »Keinen Knebel, hattest du gesagt. Ich weiß. Das war für das heutige Treffen deine einzige Bedingung, ich erinnere mich. Dumm gelaufen, Honey, dumm gelaufen. Es läuft ja überhaupt ein wenig anders ab, als du es geplant hast, oder?«

Sie wand sich zur Seite, weg. Der Schlag mit der flachen Hand in ihr Gesicht kam ansatzlos. Das Klatschen hallte durch den Keller, ihre Wange brannte.

Wieder der Griff an ihre Kehle. »Erkennst du mich?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Du lügst, du Schlampe. Sicher erkennst du mich. Und ich, was viel wichtiger ist, habe dich auch erkannt!«

Der Druck verstärkte sich, drückte auf die beiden Punkte, die ihr den Sauerstoff rauben würden. Sie blinzelte, ihr Bewusstsein trübte sich ein, ihr Blick wurde an den Rändern verschwommen, hilflos taumelte das Kruzifix.

Die Frau mit den langen, schwarzen Haaren lachte. »Ich habe dich sogar sofort erkannt, du Miststück!«


Hartmann nippte vorsichtig am Heimathafen-Kaffeebecher. Es war sein dritter. »Boah, hab ich einen Schädel. Hammer! Als ob jemand stundenlang draufgekloppt hätte.«

Alina saß am Schreibtisch. Der Bildschirm strahlte sie an. »Angies neue Cola-Mischung ist noch nicht ganz ausgereift.«

Hartmann verdrehte die Augen. »Hör bloß auf. Ähm, ich weiß, du hast es mir vorhin schon mal gesagt, aber wo ist der Sack jetzt noch mal hin?«

Die Computerexpertin tippte sich an den Kopf. »Das Zeug hat dir die Festplatte eingedickt und das Kurzzeitgedächtnis verklebt. Dein Kumpel Angie zog es vor, heute auswärts zu nächtigen.«

»Er hat Angst vor mir«, knurrte Hartmann.

»Das trifft es in etwa«, grinste Alina.

Der Computer ratterte ein weiteres Programm an die richtige Stelle, Alina nickte zufrieden.

»Wenn ich den Burschen in die Finger bekomme«, knurrte Hartmann und spielte in Gedanken einige Folterszenarien durch, von denen ihm die eine besser gefiel als die andere.

Dabei drehte er den Kopf vorsichtig von links nach rechts, denn sein Nacken schmerzte wie drei Wochen Krankenhausbett. Alina schob den Bürostuhl zurück, stand auf, glättete ihre Jeans und zupfte die schwarze Sommerbluse glatt. Dann trat sie hinter Hartmann und legte sacht ihre Hände auf dessen Schultern. Behutsam gruben sich ihre Finger ins Fleisch.

Hartmann stöhnte wohlig. »Oh, das tut gut.«

»Gelernt ist gelernt«, gurrte Alina mit erstaunlich tiefer Stimme.

»Gehört das in Rumänien zum IT-Studium dazu?«, fragte Hartmann interessiert.

»Das hat mir eine der Damen aus dem Eros-Center in den Pausen beigebracht, wenn bei uns im Call-Center mal keine Web-Cam zu reparieren war. Kann nie schaden«, flüsterte sie.

Hartmann wollte da aber auch mal gar nicht widersprechen. Seine Nackenmuskulatur machte mehr Lärm als der PC beim Umherschaufeln der neuen Programme.

Alinas Finger strichen kreisend vom Nacken die Wirbelsäule runter. Ihre Finger fanden die richtigen Druckpunkte. Hartmann schloss die Augen und stöhnte, die Computerexpertin lächelte zufrieden. Die fabelhafte Jill Scott groovte eine brillante Version von Lovely Day. Großartig. Am liebsten hätte Hartmann mitgebrummt.

Stattdessen hielt er die Luft an, denn Alinas Hände arbeiteten sich über seine Schulter auf die Vorderseite und strichen über seine rasierte Brust. Hartmann spürte Alinas spitze Brüste in seinem Rücken. Das war, äh, ein bisschen mehr als entspannend. Er sollte seinen Computer regelmäßiger warten lassen. Ja, sicher, die gewissenhafte Pflege der Hardware war so wichtig.

»Hast du hier aufgeräumt?«, fragte Hartmann, um sich ein wenig abzulenken.

»Du hast eine Stunde lang gepennt, der Computer war gefüttert, kein Ding.«

Hartmann öffnete seine Augen und lugte zur Couch. »Im Sofa, äh, meinst du, ob der grünbraune Fleck noch rausgeht.«

»Hm, kann sein. Aber das ist eine gute Gelegenheit, an einen neuen Bezug zu denken. Orange ist derart out.«

Ach was, dachte Hartmann.

Alina arbeitete sich Hartmanns Halsmuskulatur hoch. »Da hat übrigens jemand für dich angerufen.«

»Och?«

»Silke. Silke sagt dir was?«, fragte Alina.

Hartmann meinte, ein zaghaftes Vibrato in ihrer Stimme zu erkennen. Ja, allerdings sagte ihm Silke etwas. Er hatte die hinreißende Silke mit dem großflächigen Schlangentattoo auf dem Rücken vor einiger Zeit bei seinen Ermittlungen kennengelernt. Sie waren sich in Krakes Aquarium alkoholtrunken näher gekommen als zulässig. Was jetzt an und für sich nichts Schlimmes war. Schlimm war nur die Tatsache, dass sie die Lebensgefährtin des Präsidenten der Black Mambas war. Der Chef des gemeinhin als sehr gewalttätig geltenden Motorradclubs, Matze Kusch, war sehr pingelig, was sein Eigentum anging. Das war somit also auch nicht nur schlimm gewesen, sondern eher tödlich. Silke hatte Matze irgendwie davon abbringen können, ihn, Hartmann, zu foltern und in Stücke zu reißen. Sie wird da ihre Einflussmöglichkeiten gehabt haben. Allerdings forderte sie von Hartmann als Gegenleistung für diesen Deal in regelmäßigen Abständen … Gegenleistungen. Hartmann war klar, dass das irgendwann schiefgehen würde.

»Äh, ja, sagt mir was. Eine entfernte Bekannte. Von früher«, log er und lächelte.

Sein Lächeln geriet zum Fehlschlag, er spürte, dass er errötete.

Alinas Finger arbeiteten sich den Hals hoch. »Eine entfernte Bekannte? Soso, ich soll dir ausrichten, du sollst zum Ficken vorbeikommen.«

Hartmann schluckte entsetzt. »Äh …«

»So hat sie sich ausgedrückt«, summte Alina wie unschuldig. »Klartext, finde ich.«

»Ach ja, die Silke …«, flötete Hartmann unruhig.

»Ich soll ausrichten, dass Matze in der nächsten Woche auf einer Tagung in Portugal ist. Übernachtung mit Frühstück wäre angezeigt. Du sollst ausgeschlafen erscheinen.«

Hartmann öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder und ließ es sein.

»Danach haben wir uns noch ein bisschen unterhalten, eine interessante Frau.«

Ja, wollte Hartmann zustimmen, aber Alina hatte den Druck auf die Muskelstränge am Hals verstärkt, was ihm kurzzeitig den Atem raubte.

Jill Scott hatte ausgelovelydayed.

»Und dann war merkwürdiger Besuch für dich da. Ein Kerl wollte dich sprechen. Verwegen. Bisschen kleiner als du, lange, graumelierte Haare, dickes Goldkettchen, mit schwarzer Lederweste, strange. Er hieß Heinz.«

Huren-Heinz, kombinierte Hartmann, der Zuhälter. Massage her oder hin, sofort verkrampfte sein Körper. Was wollte Huren-Heinz denn hier? Der hatte ihn noch nie persönlich aufgesucht.

»Der Mann hatte einen Krückstock bei sich, mit Totenkopfknauf aus Chrom, ein scharfes Teil.«

»Jow, den kenne ich, den Kerl. Ist auch ein alter Kumpel von mir.«

»Auch was Sexuelles?«, fragte Alina unschuldig, womit sie natürlich nicht weniger zum Ausdruck brachte als die Tatsache, dass sie mit dem Thema Silke noch nicht ganz fertig war.

»Hm«, brummte Hartmann.

Da es bei Huren-Heinz immer entweder um Frauen oder um Drogen ging, lag Alina mit ihrer Mutmaßung möglicherweise richtig. »Hat er gesagt, was er wollte?«

»Er hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, bei einer Filmproduktion mitzuwirken. Ich hab mal vorsichtiges Interesse signalisiert.«

Hartmann riss die Augen auf. »Alina, er produziert Pornofilme.«

»Ja, ja, das ist mir klar. Er sah jetzt nicht aus wie intellektuelles Programmkino. Und außerdem hat er einen Job für dich. Er erwartet dich heute Abend um 22 Uhr, du wüsstest, wo du ihn dann antreffen kannst.«

»Aha«, sagte Hartmann.


Huren-Heinz war Düsseldorfs zweitprominentester Zuhälter und – man mochte sagen – Hartmanns Kumpel. So etwas in der Art. Beide hätten es anders formuliert, aber im Grunde lief es darauf hinaus. Huren-Heinz hatte Hartmann mehrmals aus der Bredouille geboxt und Hartmann ihm einmal das Leben gerettet. Mit von seinen Pferdchen bei Rotlicht zusammengetrabtem Geld hatte Huren-Heinz aus einem heruntergekommenen Boxpalast in Oberbilk ein recht ansehnliches Fitness-Center zusammengeschraubt. Sein Gym lockte zwar nicht die Börsenmakler der Königsallee, hatte sich aber bei Sportlern, die nicht so ganz genau hinsahen und hinrochen, durchaus einen guten Ruf erarbeitet.

Hartmann trat zügigen Schrittes ein. Aus den Boxen sägten fette Gitarren Powermetal. Es roch nach Schweiß, verlorenen Kämpfen und feuchtem Turnschuh. In einem abgewetzten Boxring in der Mitte des Raumes kloppten sich zwei junge Männer mit Migrationshintergrund wütend die Muttersprache aus den kantigen Schädeln.

An der Gerätewand links ackerte eine absurd durchtrainierte Frau in greller Leggins unter den wohlwollenden Blicken ihres Personal Trainers. Nichts ist so ehrlich, wie eine Leggins, dachte Hartmann und nahm an, dass der Trainer jeden Morgen dem lieben Gott für dessen Job dankte.

»Atmen! Atmen ist wichtig«, hielt der Coach seinen Schützling an.

Ja, fand Hartmann, da hatte der Mann recht. Hartmann atmete auch regelmäßig, das hatte sich irgendwie bewährt.

Mehrere Viereckige lungerten an den Langhanteln herum. Alle hatten unlängst ihre Zehnerkarte brav im Assitoaster heruntergesonnt und schimmerten im Licht der flackernden Deckenbeleuchtung ölig. Die Männer hatten Muskelpakete an Stellen, an denen hatte Hartmann nicht mal Stellen.

Ein Bodybuilder mit glänzender Glatze im verschwitzten Tank-Top zwirbelte im Takt der Musik Kurzhanteln hoch und runter. Die Brustmuskulatur ließ dazu ein großflächiges Tattoo mit Lorbeerkranz und Datum tanzen.

Angeber!

Der Mann rechts am Empfangstresen trug einen Anzug von Armani, der so maßgeschneidert war, dass man es ihm nicht ansah. Das auf Taille geschnittene Hemd und die dazu passende Seidenkrawatte in spielerischen Grautönen waren zusammen vermutlich mehr wert als ein Fiat 500.

Gianfranco entdeckte ihn und trat mit weit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. »Hartmann, mein Freund. Ich habe dich lange nicht gesehen. Was machst du hier?«

»Ich bin mit Heinz verabredet.«

»Ich weiß, mein Freund«, summte Gianfranco.

Ja, warum fragst du dann, dachte Hartmann. Gianfranco war nach internen, finalen Personalumstrukturierungen seit einigen Monaten die rechte Hand von Huren-Heinz. Gianfranco hatte das nach hinten fliehende Gesicht eines Windhundes – und einen ähnlichen Charakter. Hartmann mochte ihn nicht und fragte sich, warum der ansonsten so smarte Huren-Heinz bei der Auswahl seines Mitarbeiterstabes so ein unglückliches Händchen hatte.

Gianfrancos Händchen wiederum tätschelte Hartmanns Schulter. »Gut siehst du aus, Hartmann. Du hast ein bisschen abgenommen.«

»Ich jogge regelmäßig.«

»Wie wäre es bei uns mit einem Schnupperkurs, mein Freund?«

Hartmanns Nase zog sich entsetzt zusammen. »Danke, nettes Angebot«, haspelte er schnell. »Aber ich bin mehr der Draußen-Typ. Rennen, Fußball und so.«

»Rennen, is klar. Wo du keinen Führerschein hast, kommt fahren ja auch nicht infrage«, lachte Gianfranco und spielte auf die doofe Tatsache an, dass Hartmanns Fleppe seit Längerem Urlaub in Flensburg machte.

Hartmann lächelte gequält. Wieso wusste der Assi das überhaupt?

»Ach komm, Hartmann, deine Muckis können ein bisschen Training gebrauchen.«

»Da hat er recht. Und Sport ist gesund«, fügte Igor hinzu.

Igor stand weiter links bei der Kasse. Der immer recht blasse Russe hatte mehrere Abschlüsse in Mathematik und im Kaufmännischen, sah allerdings aus, als ob er nicht bis drei zählen könnte. Er maß nur knappe 1,65 Meter, Haare sprossen bei ihm lediglich auf dem Rücken und sein Blick stürzte immer ins leicht Abwesende. So wie: Es brennt Licht, aber keiner ist zu Hause. Tatsächlich hatte Huren-Heinz ihn vor einem knappen halben Jahr eingestellt und hielt sehr viel von Igors Fähigkeiten, mit Zahlen geschickt und gewinnbringend jonglieren zu können. Man durfte nicht immer nur nach dem Äußeren gehen.

»Noch mehr Muskeln wären Wettbewerbsverzerrung«, behauptete Hartmann.

Gianfranco lachte und nickte mit dem Kopf hinter sich in die Richtung einer Tür. »Durch den Flur, letzte Tür links, mein Freund. Da, wo Coach draufsteht.«

»Aha«, sagte Hartmann, der das Büro kannte, und stiefelte los.

Mit einem matschigen Klatschen ging in diesem Moment einer der beiden Boxer wie mit der Axt gefällt zu Boden. So viel zum Thema Sport sei gesund.

Hartmann spürte Gianfrancos Blick in seinem Rücken und öffnete und schloss die Tür zum Flur. Das Metallgewitter wurde zum bassigen Brummen. Der Flur war ebenso spartanisch beleuchtet, wie die Damen auf den Postern an den Wänden des Gangs bekleidet waren. Hier und da hingen Ankündigungsplakate, die auf meist martialische Sportevents legaler und illegaler Art hinwiesen. Die Männer auf den Plakaten blickten grimmig. Hartmann erreichte die besagte Tür und klopfte an.

»Herein«, brüllte Huren-Heinz.

Das tat Hartmann.

»Tag, Hartmann!«, grüßte der Zuhälter, der hinter seinem Schreibtisch auf den Krückstock gestützt stand.

»Guten Abend, Herr Hartmann«, grüßte ein zweiter Mann, der sich von einer Anrichte löste und Hartmann die Rechte entgegenstreckte. »Schön, dass Sie ein Treffen so kurzfristig einrichten konnten.«

»Guten Abend«, grüßte Hartmann achtsam zurück. »Ich konnte an Terminen ein bisschen was verschieben, kein Thema.«

Huren-Heinz schnalzte mit der Zunge. »Setzt euch. Ich geh was zu trinken holen, da könnt ihr euch bequatschen. Hartmann, Bacardi-Cola, wie immer?«

»Ich trinke keinen Alkohol …«

»Ist okay, ich sag, die sollen reichlich Eis reintun. Lutz, einen guten Whisky, was ganz Feines?«

Lutz nickte und Huren-Heinz verließ den Raum.

Hartmann nutze die nächsten fünf Sekunden, um ein paar Personalinfos von der Festplatte zu laden.

Lutz Busse. Um die fünfzig, Immobilienmogul. Statur, Mimik und eine zurückgenommene Gestik hatten Hartmann immer an den ehemaligen Bundespräsidenten Wulff erinnert. Busse hatte eine Baufirma und war dick im Geschäft. Altes kaufen, abreißen, neu bauen, so konnte man sein übersichtliches Geschäftsmodell beschreiben. Verheiratet mit einer etwas jüngeren Frau, Vorname Heike. Keine Kinder. Und das alles wusste Hartmann, weil Lutz Busse Vorstandsmitglied bei Fortuna Düsseldorf war. In Hartmanns aktiver Zeit bei der Fortuna waren die beiden sich häufiger über den Weg gelaufen, ohne sich näher kennengelernt zu haben. Busse hatte Distanz zu den Spielern gehalten, wogegen im Prinzip nichts einzuwenden war. Hartmann hatte den sportlichen Baulöwen als nicht unsympathisch in Erinnerung.

»Wir haben uns lange nicht gesehen«, begann Busse das Gespräch mit einer Feststellung.

»Ich hab leider ziemlich kurzfristig mit dem Fußballspielen aufhören müssen«, erwiderte Hartmann und spürte, dass ihm dieser bittere Satz immer noch schwer über die Lippen kam.

Busse nickte. »Ich kann Sie mir sehr gut in einer Funktion bei Fortuna vorstellen. Männer mit Fachverstand werden immer gebraucht. Sie sind nach wie vor sehr beliebt bei den Fans, da lässt sich sicher was machen.«

Hartmann setzte sich in einen der Bürostühle. »Aber heute geht es um etwas ganz anderes, nehme ich an.«

Busse lachte. Und sein Gesicht verfinsterte sich. »Sehr richtig. Heinz Blessing und ich sind alte Bekannte, fast gute Freunde. Ich brauche einen verlässlichen Mann, der sich um eine sehr persönliche Angelegenheit kümmert. Und der absolut vertrauenswürdig und verschwiegen sein muss.«

Da Hartmann ahnte, dass dieses Anforderungsprofil auf ihn gepasst hatte, ließ er den Satz so stehen. Eine wertende Einleitung hätte defensiver ausfallen können.

»Ich kann mich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen?«, fragte Busse dennoch.

»Solange es keinen strafrechtlichen Überhang gibt, jederzeit.«

»Den gibt es nicht. Wenigstens nicht von meiner Seite. Gut. Ich sag es, wie es ist. Ich werde erpresst.«

»Oh«, sagte Hartmann.

Lutz Busse hatte sich mit seinem Rücken wieder gegen die Kommode gelehnt. Er blickte ernst. »Meine Frau und ich pflegen ein recht abwechslungsreiches, offenes Liebesleben.«

Das hört man gerne, dachte Hartmann.

»Wir haben beide im Laufe der Zeit BDSM für uns entdeckt. Sie wissen, was das ist?«

Dominanz, Unterwerfung, Lustschmerz und Fesselspiele, wusste Hartmann das Kürzel BDSM grob im Fetischbereich einzuordnen und nickte.

Lutz Busse fuhr fort. »Insbesondere ich interessiere mich sehr für eine asiatische Spielart namens Shibari. Bei dieser japanischen Fesseltechnik spielt Ästhetik eine wichtige Rolle, es ist fast eine Kunstform. Es gibt Dutzende von Techniken, vom einfachen Knoten bis zur komplizierten Ganzkörperfesselung. Ich bevorzuge das sehr anspruchsvolle Suspension-Bondage, auch Hänge-Bondage genannt. Meine Frau und ich besuchen gelegentlich private Events, auf denen wir im kleinen Kreis auf niveauvolle Art und Weise unserer erotischen Neigung nachgehen können.«

Auch von solchen Partys hatte Hartmann gehört, ohne jemals auf einer gewesen zu sein.

»Die Gäste sind handverlesen.« Busse löste sich von der Kommode, trat an den Schreibtisch vor Hartmann und klappte einen Laptop auf, der dort stand. »Und trotzdem wurde mir vorgestern mit der Post ein Computer-Stick zugeschickt. Zunächst befindet sich auf diesem Stick lediglich ein Foto.« Busse drückte flink eine Tastenkombination, auf dem Bildschirm ploppte ein Foto auf.

Hartmann erkannte eine mit dicken, grellroten Seilen vor der Brust gefesselte, nackte Frau mit langen, schwarzen Haaren. Die Seile schnitten ihr ins Fleisch. Gleich neben der Frau war Busse mit verschwitztem Gesicht zu erkennen. Der Immobilienbaron war ebenfalls nackt.

»Aha«, sagte Hartmann, der allerdings schon deutlich spektakulärere Erpresserfotos gesehen hatte.

»Dazu befand sich eine Word-Datei auf dem Stick«, fuhr Busse fort.

Hartmann las. »25.000 Euro bis kommenden Samstag auf folgendes Konto.« Es folgten die erforderlichen Angaben für eine Überweisung.

»Ein anonymes Konto auf den Bahamas«, erläuterte Busse.

Hartmann überlegte. 25.000 Schleifen, das war nicht die Welt. Da gab Busse morgens an der Fleischtheke wahrscheinlich mehr Geld aus.

Sein Klient klappte den Laptop zu. »Das Problem ist natürlich nicht das Foto an sich.«

»Das dachte ich mir schon.«

»Auch die Summe stellt nicht das Problem dar.«

»Sie ist eher gering.« Natürlich, für einen Multimillionär waren das wirklich Peanuts.

»Das Problem ist das Event als solches, auf dem das Foto gemacht worden ist. Beziehungsweise, wer ein weiterer Teilnehmer des Events war.«

Hartmann hob fragend die Augenbrauen.

»Dr. Felix Kettler.«

Hui, pfiff Hartmann und ließ das erst mal sacken. Dr. Felix Kettler, und das wusste er auch nur zufällig, weil lokale Politik ihn nicht sonderlich interessierte, war in irgendeiner Funktion bei der Stadt Düsseldorf für die Vergabe von Baugenehmigungen zuständig. Die Zusammenhänge waren bestimmt noch komplizierter, aber definitiv war Dr. Felix Kettler eine Person, mit der Busse nicht bei frivolen Fesselspielchen gesehen werden wollte. Deshalb kam für Lutz Busse auch keine Polizei infrage.

»Ich verstehe. Wird Herr Kettler ebenfalls erpresst?«

»Und das ist das zweite Problem. Ja, wird er. Wie wahrscheinlich alle zehn Teilnehmer dieser Session.«

»Zehn?«

»Acht Männer und zwei Frauen.«

»Hm.«

»Wenn ich jetzt zahle und vielleicht auch Doktor Kettler zahlt, dann sind da noch acht Personen, die vielleicht nicht zahlen und sich an die Polizei wenden. Dann gerät der Sachverhalt wahrscheinlich an die Öffentlichkeit und wird zu einem Skandal, den ich mir nicht erlauben kann. Das Risiko kann ich nicht eingehen, der Erpresser muss gestoppt werden.«

Das konnte Hartmann nachvollziehen. Und bei zehn Personen würden immerhin 250.000 Euro zusammenkommen, das lohnte sich wieder. Da bekam man an der Fleischtheke schon das ein und das andere gute Steak für gekauft.

»Wer ist denn der Veranstalter?«

»Das ist ein Problem. Es gibt im Internet diese Plattform, Funbox. Da bucht man sich in ein öffentliches Event ein. Partys, die in der Regel in Erotik-Clubs angeboten werden, da kann jeder ganz normal hin.«

Von Funbox hatte Hartmann schon gehört.

»Auf diese Events aufgesattelt werden dann etwas exklusivere Sessions mit einem sehr kleinen, ausgewählten Teilnehmerkreis. Das ist dann alles andere als öffentlich. Noch während der ursprünglichen Veranstaltung werden die Teilnehmer nach draußen geleitet und in einen Bus geführt, der sie an eine unbekannte Örtlichkeit fährt. Dort findet dann die eigentliche Session statt, eben auch die jetzt hier in Rede stehende.«

»Sie wissen nicht, wo die Örtlichkeit war?«

»Das ist richtig. Gestartet haben wir den Abend in einem Swinger-Club auf der Aachener Straße, im Night Fever. Ausgemacht war, dass wir uns um Punkt 23 Uhr auf den Parkplatz des Clubs begeben, dort wurden wir an einem Kleinbus erwartet. Der Bus hatte keine Aufschrift, ich nehme an, er war angemietet. Er hatte verdunkelte Scheiben. Jedem Teilnehmer wurden die Augen verbunden. Dann wurden die Hände so fixiert, dass die Binden nicht abgenommen werden konnten. Es weiß deshalb keiner der Teilnehmer, wo ein Event stattgefunden hat.«

Damit ging Hartmann ein Ermittlungsansatz flöten. »Das macht meinen Auftrag nicht einfacher.«

»Das ist mir auch in Bezug auf eine Bezahlung Ihrer Leistung durchaus bewusst.«

Gut zu wissen, dachte Hartmann und eine Honorarforderung der ganz besonderen Art nahm plötzlich vor seinem geistigen Auge reizvolle Gestalt an.

»Aber beim Event angekommen, werden die Augenbinden entfernt, wie ich auf dem Foto sehen konnte. Können Sie die Örtlichkeit dort beschreiben, den Raum, wo die Session stattfand?«

Busse schüttelte den Kopf. »Nur ganz schlecht. Es war ein hoher Raum. Die Wände waren mit dunklem Stoff ausgeschlagen. Vielleicht der Speisesaal eines alten Herrenhauses oder der abgetrennte Teil einer Scheune oder Halle. Ich muss sagen, dass ich ganz bewusst nicht auf die Örtlichkeit selbst geachtet habe. Ich habe beruflich mit Immobilien zu tun und hätte automatisch angefangen zu schauen, wie ich den Raum gestalten, nutzen oder umwidmen würde. Das steckt in mir drin, das mache ich automatisch. Das wollte ich aber nicht. Teil der Phantasie dieser Events ist es, eben nicht zu wissen, wo man sich befindet. Ich wollte mir diese Phantasie nicht kaputt machen, indem ich genauer hinschaue.«

»Und die Veranstalter sind ebenfalls unbekannt?«

»Der Kontakt läuft ausschließlich über Funbox und die geben keine Auskünfte. Wahrscheinlich wissen die Betreiber der Plattform allerdings auch selbst nicht genau, mit wem sie es zu tun haben. So ähnlich steht es jedenfalls in den rechtlichen Hinweisen.«

»Die zweite, exklusivere Veranstaltung hatte einen eigenen Veranstalter, das war also nicht der Betreiber des Night Fever

»Nein, das waren zwei vollkommen getrennte Veranstaltungen.«

»Kann ich eine Liste der Teilnehmer des Events haben?«

»Außer meinem Freund Felix und einem Fotografen, mit dem ich seit vielen Jahren befreundet bin, kannte ich keine weitere Person«, erklärte Busse.

Fotograf klang vielversprechend, dachte Hartmann. Fotografen hatten ein geübtes Auge für Situationen und Personen. Beim Knipser wäre bestimmt die ein und die andere gute Beobachtung abzugreifen.

Lutz Busse zog einen Briefumschlag vom Schreibtisch und hielt ihn Hartmann hin. »Ich habe eine Übersicht mit den beim Event anwesenden Personen gemacht, so ich sie beschreiben konnte. Name und Adresse von Felix und des Fotografen hab ich aufgeführt.«

»Das ist gut«, sagte Hartmann und nahm einen Umschlag an sich.

Im gleichen Moment kehrte Huren-Heinz mit Gläsern bewaffnet ins Zimmer zurück. Zwei von ihnen drückte er Busse und Hartmann in die Finger. »Und, seid ihr euch einig geworden?«

Lutz Busse blickte Hartmann fragend an, der nickte. »Ich übernehme den Fall.«

Huren-Heinz baute sich vor Hartmann auf. »Du bist meine Empfehlung. Ich setz auf dich.«

»Ich bin verschwiegen wie ein Grab.«

»Grab ist in diesem Zusammenhang ein gutes Stichwort, wenn der Sachverhalt nicht vertraulich bleibt.«

»Krieg dich ein, Heinz.«

Des Zuhälters Gesicht changierte ins Rötliche. Lutz Busse stand auf und legte seine Hand auf Huren-Heinz’ Arm. »Heinz, ich habe ein gutes Gefühl.«

»Ich brauche allerdings den Computer-Stick«, forderte Hartmann.

»Den Original-Stick?«

»Genau den. Das ist ungewöhnlich. Ich meine, normalerweise versendet der Erpresser ein Foto. Hier schickt er einen Computer-Stick. Warum macht er das?«

»Das fragen wir uns auch«, erklärte Huren-Heinz und nippte an seinem teuren Whisky.

»Auf einem Stick sind viele Sekundärdaten hinterlegt, die vielleicht einen Ermittlungsansatz darstellen können«, wusste Hartmann. »Warum geht der Erpresser ein Risiko ein? Ich habe eine freie Mitarbeiterin, die eine echte Spezialistin ist, die wird sich den Stick ganz genau ansehen.«

»Ist das die Blauhaarige, die ich bei dir angetroffen habe?«, fragte Huren-Heinz.

»Nein, das war meine Zugehfrau.«

»Verarsch mich nicht, du Knaller. Das ist eine Granate!«, brüllte Huren-Heinz begeistert.

»Äh, ja. Also, das ist sie, meine Computerexpertin.«

»Ich hab ihr von meinem neuen Filmprojekt erzählt.«

Hartmann ignorierte den Hinweis, denn er wollte das neue, sicher bahnbrechende Filmprojekt von Huren-Heinz-Entertainment nicht zum Thema machen. Viel mehr beschäftigte ihn etwas anderes. »Ich kaue noch auf der niedrigen Forderung des Erpressers rum.«

»Wieso? Zehn mal 25.000 sind 250.000 Euro. Da muss eine Nutte lange für ficken«, summte Huren-Heinz.

»Stimmt, aber die einzelne Forderung für jeden ist sehr gering. Das ist nicht stimmig. Ich trau dem Braten nicht.«

Busse nickte heftig. »Genau das ist mir auch gleich aufgestoßen. Ich will nicht ausschließen, dass die Erpressung eine riesige, fröhliche Verarsche ist.«

»Prost erst mal«, forderte Huren-Heinz.

Gläser klirrten. Verdammt schmeckte das lecker, stellte Hartmann fest und hatte genau das befürchtet. Bacardi-Cola hatte er früher flaschenweise getrunken. Schlimm war das gewesen, denn Hartmann vertrug keinen Alkohol. Einer ging, zwei waren einer zu viel und bei dreien setzte oben im Stübchen der Verstand aus. Vier Getränke, und den Verlauf des Abends konnte man am nächsten Tag in der Zeitung nachlesen.

»Es gibt noch ein kleines, logistisches Problem«, sagte Busse. »Ich fliege am kommenden Samstag, also in drei Tagen, am späten Abend für mehrere Tage nach Barcelona. Ein wichtiges Treffen. Fußball, Funktionäre, Watzke, Rummenigge, ich muss da hin. Ich kann das nicht delegieren. Ich stehe für Nachfragen dann nur noch telefonisch zur Verfügung.«

Och, dachte Hartmann. »Das sollte wirklich machbar sein. Ich, ich habe auch noch ein kleines Problem, aber ich bin sicher, das bekommen wir aus der Welt geschafft.«

Huren-Heinz und Lutz Busse schauten Hartmann erwartungsvoll an.

»Als Honorar habe ich mir nämlich Folgendes vorgestellt«, sagte Hartmann und nippte am Bacardi-Cola.


Heidi Grütesaaper ist tot.

Die furchtbare Erkenntnis traf Hartmanns Magen wie ein Faustschlag, es raubte ihm die Luft. Er war auf dem direkten Weg nach Hause, hatte die Haustür geöffnet, die Briefkästen zur Linken passiert und im Treppenhaus die erste Stufe genommen.

Seine Nachbarin Heidi hatte das üble Trinkgelage mit Angie und seinen Kollegen nicht überlebt.

Anders war der entsetzliche Geruch im Treppenhaus nicht zu erklären. In der ersten Etage überlagerte der ätzende Gestank sogar den fiesen Katzenpipiduft, der gewöhnlich aus Mortens und Sannes Wohnung unter der Tür durch ins Treppenhaus waberte. Vorm Massagestudio von Nicole und Petra in der zweiten Etage verbat der Mief jeden Gedanken an Erotik, Wellness und körperliche Entspannung.

In der dritten Etage wohnte er selbst.

»Verdammt.«

Hier war der beißende Geruch mit den Händen greifbar. Um Himmels willen, der unmenschliche Gestank kam aus seiner Wohnung. Allerdings: Gott sei Dank, Heidi lebte!

Eilig öffnete Hartmann die Wohnungstür, stürzte durch den Flur und traf im Wohnzimmerbüro auf Alina, die gerade dabei war, die Fenster aufzureißen.

»Was ist denn hier los?«

Alina hätte geantwortet, war aber damit beschäftigt, ihren Oberkörper so weit wie möglich aus dem Fenster zu recken und japsend den Würgereiz zu unterdrücken.

Stattdessen schwankte Angie aus dem Bad ins Zimmer. Er hielt Hartmanns großen Suppentopf in den Händen und war blass wie der eiskalte Wintermorgen. »Hi, Hartmann!«

»Was ist denn hier passiert?«

»Ich hab was … angesetzt. Dann hat es einen Knall getan und gestunken. Alles gut, ich hab es ins Klo geschüttet.«

Alina drehte sich ins Zimmer herein und flüsterte. »Du wirst uns alle umbringen.«

»Du übertreibst!«, wehrte sich Angie.

Hartmann trat ans Fenster und warf einen schnellen Blick nach unten auf den Bahnhofsvorplatz. »Da unten bei den Gullideckeln kippen reihenweise die Menschen tot um.«

»Echt?«, fragte Angie.

»Natürlich nicht«, verdrehte Hartmann die Augen.

Der bestialische Geruch verflüchtigte sich allerdings erfreulich schnell. Schön. Aber wie hieß noch gleich das tödliche Gift, bei dem das auch der Fall war?

Alinas Gesicht hatte wieder ein wenig Farbe angenommen.

Hartmann winkte sie an den Schreibtisch und zog den Computer-Stick aus der Hosentasche. »Ich habe einen Fall, du musst was für mich checken.«

»Muss ich?«

Hartmann warf ihr einen Kuss zu. »Hier ist ein Stick. Mit dem Foto auf dem Stick wird jemand erpresst.«

»Ach?«, fragten Alina und Angie gleichzeitig.

»Sag mir zum Stick alles, was du weißt.«

Alina setzte sich neben Hartmann an den Schreibtisch und war sofort in ihrem Element. Von ganz alleine schob sich ihre Zungenspitze zwischen die Lippen, was ganz schön sexy aussah.

»Okay. Ganz normaler Stick. Sechzehn Gigabyte, herkömmliches Modell, gängige Marke, kriegst du in jedem Fachgeschäft.«

»Bringt uns nicht weiter.«

»Das Foto ist am 20.08. um 01:10 Uhr gemacht worden.«

Alina zoomte das Foto größer. »Eine Frau, ein Mann. Der Mann trägt nichts, die Frau immerhin Fesseln. Drahtige Frau, blass, schwarze Haare. Ziemlich mager, aber kräftig.«

»Trockenbauerin«, mutmaßte Angie von der Seite, der immer noch den Topf in den Fingern hielt.

»Sind weitere Personen zu sehen?«

Alina scrollte das Foto größer. »Nein, nur die beiden. Warte, ich suche das Foto auf Spiegelungen ab. Manchmal kann man da was erkennen.«

Jow, dachte Hartmann, der mal eine fotografierte Flasche Astra zugewhatsapped bekommen hatte, in der sich die Fotografin in weißem Spitzen-BH gespiegelt hatte. Ein Glücksfall. Der hier allerdings ausblieb.

»Fehlanzeige. Keine Spiegelungen.«

»Kannst du zum Hintergrund was sagen?«

Alina scrollte und zoomte sich durchs Foto, schüttelte dann aber den Kopf. »Die Aufnahme ist aus nächster Nähe gemacht worden, da ist nichts an Hintergrund zu erkennen.«

»Aus nächster Nähe? Dann müssen die Fotografierten das Fotografieren doch mitbekommen haben.«

»Sieht aber nicht so aus. Eine versteckte Kamera nehme ich an.«

Hartmann kombinierte laut. »Versteckte Kamera würde bedeuten, dass das Fotografieren geplant war. Möglicherweise die folgende Erpressung auch. Der Täter wusste, was ihm vor die Linse kam.«

»Jow«, stimmte ihm Angie zu.

»Nichts mit Teleobjektiv oder so?«, fragte Hartmann sicherheitshalber.

»Die Auflösung ist für ein Handy üblich, sieht nicht so aus, als ob mit einer Kamera gearbeitet worden ist. Auch die Qualität des Fotos ist eher entsprechend. Da wurde nichts nachbearbeitet. Schnappschuss, würde ich sagen.«

Hartmann musterte noch mal das Foto. Es zeigte die Vorderseite einer schlanken Frau, das Gesicht war nicht vollständig zu erkennen, nur die Kinn- und Mundpartie. Helle, fast weiße Haut, lange, schwarze Haare. Die Arme der Frau waren in Brusthöhe gefesselt, fast sorgsam übereinandergelegt, die dick geflochtenen Seile in einem auffällig hell leuchtenden Rotton.

»Was zum Strick?«

»Die Farbe ist karminrot.«

»Karminrot?«, fragte Hartmann. »Hab ich noch nie gehört.«

»Da bin ich mir sicher«, erklärte Alina. »Ich hatte mal einen sündhaft teuren Lippenstift von Chanel in der gleichen Farbe. Extrem scharf.«

»Okay. Also karminrot«, sagte Hartmann.

»Das Seil selbst ist ein festes. Nichts Billiges aus dem Baumarkt. Bestimmt was extra Ausgesuchtes aus dem Bereich BDSM. Da gibt es Fachgeschäfte, da müsste man sich mal umhören.«

»Liegt sehr eng an«, brummte Angie.

»Stimmt. Hier an den Enden kannst du sehen, wie das Seil sich in die Haut zieht. Soll wohl so sein. Ich gucke bei der Frau mal nach Narben und Tattoos«, sagte Alina.

Hartmann warf einen Blick auf Angie. Dann in den Topf. »Den kannst du ruhig ordentlich sauber schrubben. Nicht, dass ich Drachen und Häschen sehe, wenn ich mir demnächst Nudeln mache.«

»Ich kratz sogar die Restestücke vom letzten Jahr Weihnachten raus«, zischte Angie.

Hartmann nickte zur Couch, die in einem fleckenfreien Orange leuchtete. »Wie hast du die wieder so sauber bekommen?«

»Äh …«, setzte Angie an.

»Er gar nicht. Ich hab sie geschrubbt«, murmelte Alina, ohne vom Bildschirm aufzusehen. »Ich hab einen rumänischen Spezialreiniger. Kriegst du hier gar nicht zu kaufen. Ist was aus der Rüstungsindustrie. Löst die Flecken und killt in der Couch alles an Getier, was drin rumkriecht.«

»Ach?«

»Schwangere Frauen dürfen nach der Reinigung da drei Wochen nicht drauf sitzen«, erklärte Alina. »Und das Gesicht neben der Frau, das ist das vom Klienten?«

»Ja. Schwer vertraulich, das bleibt unter uns.«

»Klar«, sagte Alina.

»Sicher«, sagte Angie.

Und wie er es sagte, bereute Hartmann sofort, seinen Kumpel nicht in den Nebenraum zum Topfschrubben geschickt zu haben. Angie erkannte eine finanzielle Chance, wenn er sie sah.

»Tja, das Gesicht deines Klienten ist gut zu erkennen. Er ist jetzt nicht besonders glücklich getroffen, also, ich meine, echt nicht glücklich, aber zum Erpressen reicht es.«

Hartmann rieb sich die Augen. »Ich frage mich, warum ein Stick? Was ist an einem Computer-Stick besser als an einem Foto? Ich meine, du kannst zoomen, du hast die Hintergrunddetails, zum Beispiel wann genau das Foto gemacht worden ist. Wo ist der Sinn?«

»Vielleicht geht der Täter mit der Zeit. Ausgedrucktes Foto ist ziemlich old school«, mutmaßte Angie.

»Kann sein«, sagte Alina. »Aber da steckt auch schon eine erste Botschaft mit drin. Ein Stick ist sofort hochgeladen. Rein in den PC, ein paar Tasten gedrückt und zack, steht das Foto in Sekundenschnelle im Netz. Das ist auch eine Botschaft. Beeil dich, ich meine es ernst. Das macht die Erpressung noch überzeugender.«

Hartmann war sicher, dass genau das der Grund war. »Das ist es. Der Täter zeigt, dass er bereit und willens ist, seine Drohung sofort umzusetzen.«

»Krass«, schniefte Angie.

Hartmann klatschte in die Hände. »Ist spät geworden. Es macht Spaß, sich mit euch erotische Fesselfotos anzugucken, aber mir steckt noch der Halbmarathon in den Knochen. Ich muss ins Bett.«

»Ich verzieh mich auch«, murmelte Angie. »Bin noch verabredet.«

»Stört es dich, wenn ich noch ein bisschen bleibe und was recherchiere?«, fragte Alina. »Ich würde gerne noch nachgucken, ob ich was zur Örtlichkeit, zum hübschen Frauenkörper und zu den Fesseln finde. Ich zieh nachher die Wohnungstür zu.«

»Wenn es dich nicht stört, dass ich mich schon mal hinhaue.«

»Nö, passt. Mal so gefragt, weil wir jetzt ja quasi ein Team sind«, grinste Alina. »Hast du schon einen Plan, wie du den Fall angehen möchtest?«

»Ach so, ja.« Hartmann friemelte die von Busse gemachte Notiz aus seinem Hemd. »Natürlich habe ich einen Plan …«

»Klappen nur nie«, rief Angie beim Rausgehen.

»Mein Klient hat mir eine Liste mit zehn Personen gegeben, die an dieser Fesselsession teilgenommen haben«, fuhr Hartmann unbeirrt fort. »Ich nehme noch den Veranstalter des Events und das Fesselpärchen dazu. Einer aus diesem Kreis ist der Erpresser. Ich muss also ermitteln, wer der Veranstalter war, wer das Fesselteam ist und wer die zehn Teilnehmer waren. Als Zwischenschritt weiterbringen würde uns außerdem zu wissen, an welchem Ort diese Fesselsession stattgefunden hat.«

»Du hast … uns … gesagt«, freute sich Alina.

»Äh, ja.«

»Gut«, schürzte Alina ihre Lippen, nachdem sie die Notiz überflogen hatte. »Eine Teilnehmerliste ist ein guter Ansatz. Ich mach sie auf dem PC ein bisschen übersichtlicher. Die Liste halten wir auf dem aktuellen Stand. Bisher haben wir also deinen Klienten, einen Mann vom Baudezernat, einen befreundeten Fotografen und das Foto einer noch unbekannten, gefesselten Frau.«

Hartmann holte tief Luft. »Hör mal, was ganz anderes, äh, mit dem Drachen und dem Häschen, äh, und mir, war das eigentlich sehr unmännlich?«

Alina lachte. Hartmann bemerkte überrascht, dass sich in ihren Blick hinein etwas Warmes, Sanftes geschlichen hatte. Ihre Stimme klang weicher, als sie nun den Kopf zur Seite neigte und leise antwortete. »Wenn andere Männer sich die Wolken am Himmel anschauen, dann entdecken sie riesige Brüste, einen prallen Penis oder Sylt. Du erkennst ein kleines Häschen, das von einem bösen Drachen verfolgt wird und versuchst, dieses arme, hilflose Häschen zu retten. Das ist nicht unmännlich, Hartmann, das ist toll. Du bist anders als andere Männer.«

Hartmann schluckte ergriffen und war in diesem Moment sehr glücklich, den Auftrag angenommen zu haben.

Fesseltrick

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