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EINS
ОглавлениеMittwoch, 16. November 1966
AM MORGEN sah es nach Regen aus. Daher zog der Berliner Kriminaloberkommissar Otto Kappe einen hellen Popelinemantel über seinen dunkelblauen Anzug, nahm seinen schwarzen Stockschirm zur Hand, setzte eine Tweedmütze auf, schlug den Mantelkragen hoch und ließ sich von seiner Frau Gertrud begutachten. Im Flur schaute er kurz in den Wandspiegel. Er sah ein schmales Gesicht mit kaltem Blick, einer geraden Nase und zusammengekniffenen Lippen. Der Mann, den er vor sich hatte, wirkte abweisend. Das störte ihn aber nicht weiter. Schließlich gab er Gertrud einen flüchtigen Kuss auf die Wange und sagte, dass er noch nicht wisse, wann er am Abend nach Hause komme. Otto rügte sich im Stillen wegen dieses nichtssagenden Abschiedsrituals, zog deshalb seine Frau an sich, drückte sie fest und atmete ihren Duft ein. Er küsste sie erneut, nahm ihr Gesicht in beide Hände und betrachtete sie einen Augenblick, bevor er die gemeinsame Wohnung im Horstweg verließ und zum Sophie-Charlotte-Platz ging.
Er stieg in die U 1, um bis zum Nollendorfplatz zu fahren. Dort wollte er in die U 4 wechseln, um am Bayerischen Platz auszusteigen. Er suchte sich einen freien Platz, setzte sich hin und klemmte den Stockschirm zwischen die Knie.
Neben ihm unterhielten sich zwei ältere Frauen über den heutigen Buß- und Bettag: «Die Nazis haben ’34 daraus einen Feiertag für alle gemacht, ihn aber ’39 praktisch wieder abgeschafft …»
Otto Kappe machte sich nichts aus diesem kirchlichen Feiertag, er war nicht religiös. Dennoch war er davon überzeugt, dass es irgendetwas da oben geben müsse – etwas, das Ordnung geschaffen hatte. Denn an Zufälle glaubte er weder im Beruf noch im Hinblick auf Natur und Kosmos.
Am Abend zuvor hatten Gertrud und er seine Eltern beköstigt. Gertrud hatte eine Ausnahme gemacht. Da sie selbst berufstätig war, kochte sie meist nur am Wochenende warm. Es hatte hausgemachte Buletten, grüne Bohnen und Salzkartoffeln und als krönenden Abschluss Eiscreme mit Kirschsirup gegeben – Letzteres auf besonderen Wunsch von Ottos Vater Oskar. Der hatte während des Essens angekündigt, man werde am Buß- und Bettag einen Gottesdienst in der Zwölf-Apostel-Kirchengemeinde besuchen, denn er sei nun in dem Alter, in dem man bereits die Landebahn vor sich habe, wie eine DC 6, die in Tempelhof einschwebe. Er müsse sich langsam darauf einstellen, dass sein Leben sich dem Ende zuneige, und deshalb sei Beten nicht der schlechteste Rat.
«Was meinst du damit?», hatte Gertrud erschrocken gefragt.
Oskar, mittlerweile achtzig Jahre alt, hatte geantwortet: «Ich habe den Eindruck, dass einiges den Bach runtergeht. Die Nazis ziehen wieder in die Parlamente ein, und die Stadt ist zu einem Schieber- und Gaunerparadies geworden. Für die kleinen Leute wird zu wenig getan. Wie sich das alles weiterentwickeln wird, weiß niemand.» Der alte Herr war ganz aufgeregt gewesen. «Der Churchill hat mal gesagt, die Deutschen habe man entweder zu den Füßen oder an der Kehle. Da hat der alte Knabe wohl recht gehabt.»
«Und du meinst, beten hilft?», hatte Otto entgegnet.
«Werd ich ja bald sehen.»
Der Sohn hatte nur den Kopf geschüttelt und gerätselt, ob sein Vater auf seine letzten Tage noch wunderlich werde.
Ottos Mutter Frieda, genannt Friedel, hatte der Unterhaltung mit wachsendem Unbehagen gelauscht. Bevor ihr Mann fortfahren konnte, hatte sie eingeworfen: «Oskar regt sich immer so fürchterlich auf, wenn er Rundfunk hört. Neulich hat ein …»
Otto hatte das Interesse am weiteren Verlauf des Gesprächs verloren. Ihn hatte vielmehr der Gedanke beschäftigt, was es zu bedeuten habe, dass der Berliner Kripochef am Buß- und Bettag eine Unterrichtung angesetzt hatte.
Diese Frage ließ Otto Kappe auch jetzt, in der U-Bahn, nicht los. Fast hätte er vergessen, am Bahnhof Nollendorfplatz auszusteigen. Er sprang wie von der Tarantel gestochen auf, rannte zur Schiebetür, stemmte sie auf und fluchte leise vor sich hin. Das hätte ihm heute noch gefehlt, zu spät beim Dienst zu erscheinen! Er möge bitte pünktlich sein, hatte Frieda Kessel, seine Sekretärin, nachdrücklich hinzugefügt, als sie ihm gestern kurz vor Dienstende mitgeteilt hatte, dass der Direktor der Berliner Kripo, Günther Niederzier, ihn heute um neun Uhr zu einer Besprechung mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz erwarte.
Worum konnte es bloß gehen? War irgendetwas passiert, das ihm bisher entgangen war? Hat einer seiner Kollegen etwas derart versiebt, dass der Verfassungsschutz auf den Plan gerufen wurde? Unwahrscheinlich. Er ging noch einmal alle aktuellen Fälle durch, aber keine der laufenden Ermittlungen bot viel Zündstoff. Das Einschalten der Verfassungsschützer machte Kappe jedenfalls misstrauisch. Der riesige Apparat der West-Berliner Polizei glich einem Labyrinth, in dem man leicht den Überblick verlor. Überzeugte Sozialdemokraten und alte Nationalsozialisten fochten ihre Kämpfe aus. Außerdem wusste niemand, wie viele Spitzel Ost-Berlins und Moskaus in den drei Westsektoren aktiv waren, denn bis zum Mauerbau 1961 hatten diese ungehinderten Zutritt zum Westen gehabt. Viele hatten sich als Flüchtlinge registrieren lassen, um auf die Chance zu warten, dem kapitalistischen Klassenfeind Schaden zufügen zu können. Niemand konnte sagen, wer diese Spitzel waren, wo sie steckten oder mit wem sie in Kontakt standen. Otto Kappe war sich sicher, dass die Polizei des freien Teils der Stadt Ulbrichts Spitzel anlockte wie Tannenhonig die Braunbären.
Auch er selbst wurde von manchen Kollegen mit Argwohn betrachtet – schon deshalb, weil sein Cousin Hartmut höherer Offizier bei der Kripo in Ost-Berlin war. Hinzu kam, dass die West-Berliner Kriminalpolizei an Ansehensverlust litt, seitdem ihr im Sommer des Jahres 1966, das sich nun dem Ende zuneigte, ein fataler Misserfolg beschieden war. In Spandau war die elfjährige Christa John missbraucht und ermordet worden. Der Fall hatte die ganze Stadt beschäftigt, und die Polizei hatte unter einem enormen öffentlichen Druck gestanden. Erst Wochen später war der Täter, ein zur Tatzeit sechzehnjähriger Lehrling, gefasst worden. Die Zeitungen hatten kübelweise Hohn und Spott über die tollpatschige Kripo ausgeschüttet. Zum Glück war Otto Kappe nicht an den Ermittlungen beteiligt gewesen.
Gegen halb acht erreichte seine U-Bahn den Bayerischen Platz. Er stieg aus, spazierte, während er seine Gedanken schweifen ließ, gemächlich ein Stück die Grunewaldstraße entlang, um dann in die Gothaer Straße einzubiegen, an deren Ecke das Gebäude der Berliner Kripo stand. Der mächtige Bau mit imposanter Fassade und Walmdach hätte ebenso gut ein Theater oder ein Gymnasium beherbergen können. Nun arbeitete Otto Kappe als Kripobeamter mit Pensionsanspruch bereits seit zehn Jahren in diesem Gebäude.
Sein Kollege Hans-Gert Galgenberg war nicht an seinem Arbeitsplatz.
«Der ist noch nicht da», erklärte seine Sekretärin.
Otto Kappe verzog das Gesicht, sagte aber nur: «Da kann man nüscht machen.» Schließlich ergänzte er ein wenig stockend: «Sie sehen heute übrigens hinreißend aus, Frau Kessel!»
Frieda Kessel lachte. Sie kannte den Kommissar und dessen mitunter etwas ungelenke Art. Keine Allüren, zurückhaltend, stets korrekt und nie aufbrausend ihr gegenüber. Seit Jahren arbeitete sie für ihn und war nie ungerecht von ihm behandelt worden. Ein Kompliment wie dieses wertete sie als Zeichen des Respekts. Es gab Sekretärinnen in der Kripo, die sie beneideten. Denn sie war für einen Mann tätig, der in seinem Beruf zweifellos tüchtig war, der ungeschliffenes Verhalten nicht zuließ und der für Fehler selbst geradestand, statt mit dem Finger auf andere zu zeigen.
Frieda Kessel war ein Jahr jünger als der im Jahr 1911 geborene Otto Kappe und kleidete sich seit einiger Zeit wieder flott, benutzte Lippenstift und zeigte Bein. Ihre kleine private Welt war aus den Fugen geraten, als ihr Ehemann sie vor Jahren wegen einer jüngeren Frau verlassen hatte.
«Wenn Herr Galgenberg erscheint, fragen Sie ihn bitte, ob er sich um eine Kneipe für morgen Abend gekümmert hat», sagte Otto Kappe. «Wenn nicht, soll er sich auf die Socken machen!»
«Mach ich», antwortete Frieda Kessel. «Gleich beginnt die Besprechung mit Kripochef Niederzier», fügte sie an. «Sie möchten bitte in den Besprechungsraum im zweiten Stock kommen.»
«Was denn?», knurrte Kappe. «In dieses Loch? Warum denn dorthin?»
«Weil Herr Direktor den Gästen vorführen möchte, dass die Berliner Kripo über Gebühr knappgehalten wird.»
«Aha … Dann mache ich mich mal auf den Weg.»
Der Besprechungsraum sah auf den ersten Blick wie ein Klassenzimmer aus, die Einrichtung wirkte wie zusammengewürfelt. Zur Straße hin befanden sich hohe, bogenförmige Fenster, die einer Reinigung bedurften. An einer Breitseite hing eine leere grüne Tafel mit Schwamm und Kreide, an der anderen eine riesige Karte, auf der Deutschland in den Grenzen von 1937 abgebildet war. Allerdings waren die ehemals deutschen Gebiete östlich der Oder mit einem breiten gelben Rand versehen, sowohl die unter sowjetischer Verwaltung im östlichen Teil des früheren Ostpreußen als auch die unter polnischer Verwaltung. Die sowjetisch besetzte Zone, die SBZ, war grün, die englische Besatzungszone rot, die US-amerikanische blau und die Zone der Franzosen lila umrandet. Berlin war wie ein Fremdkörper vom Gebiet der SBZ umschlossen.
Die Wände des Raums trugen einen ins Gelbliche changierenden, ursprünglich weißen Anstrich. In der Mitte des Zimmers befand sich ein großer, offenbar fabrikneuer Tisch mit blauer Resopalauflage. Um diesen Tisch herum standen mehr oder weniger zerkratzte Holzstühle. An der den Fenstern gegenüberliegenden Längsseite hingen Fotos von den Männern, die seit 1951 das Amt des Berliner Innensenators bekleidet hatten: von Werner Müller, Hermann Fischer, Joachim Lipschitz, schließlich dem aktuellen Amtsinhaber Heinrich Albertz. Daneben war ein Bild des Bundespräsidenten Heinrich Lübke aufgehängt.
In der Mitte des Raums stand der Befehlshaber über 1700 Berliner Kriminalpolizisten, Kriminaldirektor Günther Niederzier. Wie immer war er in einen eleganten Anzug gekleidet. Er rückte seine Brille zurecht, strich sich über das Haar und schaute Kappe aus müden Augen an.
Otto Kappe trat auf ihn zu. «Guten Morgen, Herr Niederzier!» Er reichte ihm die Hand und nickte, um dann wieder einen Schritt zurückzutreten. Er kannte den Kriminaldirektor seit Langem und schätzte ihn, weil er kein sturer Traditionalist, sondern für Neues aufgeschlossen war. Niederzier nutzte Zeitungen wie den Tagesspiegel, um die Öffentlichkeit über Verbrechensursachen und die Arbeit der Polizei zu informieren. Er achtete auf eine kollegiale Zusammenarbeit innerhalb der Kripo. Kappe dachte ähnlich wie er. Beide respektierten sich. Nur vor zwei Jahren hatte ihn der Direktor mal zur Brust genommen, weil er im Fall eines Pharmaunternehmers, der mit Gas vergiftet worden war, nicht so recht weitergekommen war. Seitdem hatte Kappe aber wieder mit seiner Arbeit überzeugen können.
«Guten Morgen, Herr Kappe!», erwiderte Niederzier. «Geht es Ihnen gut? Haben Sie zurzeit einen besonders aufwendigen Fall, der Sie stark beansprucht?», fragte er.
«Danke der Nachfrage. Im Augenblick sind wir eher mit Routinefällen beschäftigt.»
«Sie könnten also noch eine weitere Aufgabe übernehmen?»
«Ja, das ließe sich wohl machen …», antwortete Otto Kappe zögerlich und wandte sich nach rechts, um den Kriminalrat Friedhelm Keunitz, den Leiter der Unterabteilung 1 der Kriminalinspektion, zu grüßen, seinen unmittelbaren Vorgesetzten. Kappe wusste, dass Keunitz es nicht verknusen konnte, wenn er nicht beachtet wurde. Dienstvorschriften gäbe es nicht aus Jux und Tollerei, lautete dessen Credo.
Hinter Keunitz entdeckte er den Kommissar Eduard Strattmann. Der war Personalrat, allerdings nicht freigestellt. Er gehörte der einflussreichen «Keulenriege» in der Berliner SPD an, also dem rechten Flügel der Partei, der vor Jahren Willy Brandt in harten Auseinandersetzungen mit der Parteilinken als Landesvorsitzenden der SPD durchgedrückt hatte. Strattmann war ein bulliger Kerl und ein sturer Hund. Im Dienst galt er als ziemlich humorlos. Er war im Ruhrgebiet aufgewachsen und nach dem Krieg in Berlin hängengeblieben, der Liebe wegen. Nun wohnte er mit seiner Familie in einer bequemen Vierzimmerwohnung in Wilmersdorf. Er war ein hartgesottener Antikommunist, dem nachgesagt wurde, dass er mit Blick auf die Sowjetunion nur eines genießen könne: Russische Eier, jene mit unechtem Kaviar und Remoulade bekrönten Sattmacher.
Otto Kappe hatte bisher nicht mit Strattmann zusammengearbeitet. Man kannte sich natürlich von Besprechungen sowie von Feiern. Und von Polizeiparaden in den Fünfzigern, auf denen sie nebeneinander marschiert waren, der Sozi Eduard Strattmann und der Adenauer-Bewunderer Otto Kappe, während Gertrud und Strattmanns Betty am Straßenrand miteinander gequasselt, zu der Blechmusik des Polizeiorchesters geschunkelt und ihren Männern zugewinkt hatten.
Kappe und Strattmann achteten einander. Beide wussten gute Kriminalarbeit zu schätzen, und beide waren sehr engagiert. Daher begegnete das Reviergewächs Strattmann, das die Parteitraditionen der SPD verinnerlicht hatte, der Berliner Pflanze Kappe mit Vertrauen. Daran änderte auch nichts, dass Kappe davon überzeugt war, dass weder der verstorbene SPD-Chef Kurt Schumacher noch der gegenwärtige SPD-Vorsitzende, der Regierende Bürgermeister Willy Brandt, den West-Berlinern die Freiheit gesichert hatten, sondern der CDU-Kanzler Konrad Adenauer gemeinsam mit den Soldaten der USA und Großbritanniens. Ohne die, so meinte Kappe, würden auf dem Kudamm längst Fahnen mit Hammer und Sichel wehen. Es machte ihn misstrauisch, dass sich manche Sozialdemokraten – Brandt freilich gehörte nicht zu ihnen – mit Ulbrichts Gefolgsleuten in West-Berlin zusammentun wollten.
Am Tisch standen einige jüngere Männer zusammen. Sie waren allesamt in dunkle Anzüge und weiße Hemden mit gestreiften Krawatten gekleidet und hatten exakt gescheitelte Haare. Otto Kappe hatte keinen von ihnen schon mal gesehen.
Ein paar Schritte von ihnen entfernt unterhielten sich zwei Männer. Den Jüngeren kannte Kappe flüchtig – der war vom Staatsschutz. Plötzlich war Kappe hellwach. Der Staatsschutz war also auch dabei. Der gehörte zwar zur Kripo, war aber nicht dem Kripodirektor Niederzier unterstellt, sondern direkt dem Polizeipräsidenten Duensing. Wie Terrier, die sich für die Fuchsjagd trainieren lassen, war der Staatsschutz auf Kommunisten dressiert. Manche nannten die Staatsschützer spöttisch die «hochgeheimen Eichkatzen». Kappe und seine Kollegen wussten, dass alles, was der Staatsschutz trieb, sofort bei den Geheimdiensten der Alliierten oder beim deutschen Bundesnachrichtendienst landete. Die beiden Männer schauten Kappe an. Er nickte ihnen wortlos zu.
Niederzier hatte offenbar nur darauf gewartet, dass Otto Kappe eintreffen würde, denn jetzt ergriff er das Wort. «Meine Herren, ich freue mich, Sie hier begrüßen zu können. Ich möchte Sie mit Oberregierungsrat Hans Josef Voißel bekannt machen. Er ist Gruppenleiter im Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz. Es kommt nicht alle Tage vor, dass ein hochrangiger Vertreter des Verfassungsschutzes die Berliner Kripo persönlich informiert. Was er uns mitzuteilen hat, ist für unsere Arbeit sehr wichtig. Ich bitte deshalb um höchste Aufmerksamkeit.» Niederzier blickte in die Runde und fuhr fort. «Außerdem begrüße ich zwei Kollegen vom Staatsschutz: Herrn Edgar Maischonnek und Herrn Rudolf Schiltken.»
Maischonnek war ein dünner, blasser Mann. Er trug eine dunkle Wollhose und ein helles Sakko mit Salz-und-Pfeffer-Muster, dazu ein weißes Hemd und eine hellblaue Krawatte. Otto Kappe schätzte ihn auf Mitte vierzig. Er war ihm hin und wieder begegnet. Schiltken hingegen hatte er noch nie gesehen, obwohl der in seinem Alter sein musste. Er trug einen unauffälligen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine dunkle Krawatte. Kappe fiel auf, dass ein Ordensband Schiltkens linkes Revers schmückte. So etwas hatte es, als Johannes Stumm noch Berliner Polizeipräsident gewesen war, nicht gegeben. Jeder farbige Streifen des Abzeichens stand für einen Orden. Einer war tiefblau. Kappe wusste, was das zu bedeuten hatte: Der Träger musste mindestens zwölf Jahre in Hitlers Wehrmacht gedient haben. Bis Kriegsende 1945 hatte ein Hakenkreuz im Eichenkranz den blauen Streifen verziert, nun fehlte es. So einer ist der also, dachte Kappe bei sich.
«Meine Herren, Herr Voißel hat das Wort!», sagte der Kriminaldirektor.
Der Vertreter des Bundesamtes für Verfassungsschutz hatte einen stahlblauen Anzug mit breitem Kragenaufschlag und eine rote Krawatte an. Er wirkte gedrungen. Kappe hatte seine wachsamen Augen bemerkt, denen nichts im Raum zu entgehen schien. Während Strattmann geredet hatte, hatte Voißel jeden Anwesenden gemustert. Nun nickte Strattmann Voißel freundlich zu. Kappe schloss daraus, dass sich die beiden aus der SPD kannten.
«Guten Morgen! Ich bitte sehr herzlich um absolute Diskretion.» Voißels Blick wanderte durch die Reihen. «Wir haben Anlass zu der Vermutung, dass in Berlin ein politisch motiviertes Verbrechen vorbereitet wird.»
Im Raum war es totenstill. Günther Niederzier hatte den Blick gesenkt. Friedhelm Keunitz fixierte Voißel. Otto Kappe registrierte die entsetzten Gesichter seiner Kollegen.
«Lassen Sie mich darlegen, worauf sich diese Vermutung stützt», fuhr Voißel fort. «Sie werden sich vielleicht daran erinnern, dass im Sommer in einigen Zeitungen zu lesen war, dass dem Sonderbeauftragten des Bundeskanzlers für Berlin Ernst Lemmer, dem Abgeordneten Herbert Wehner und dem amerikanischen Botschafter George C. McGhee Briefe in ihre Bonner Büros zugestellt wurden, die tödliches Gift enthielten. Zwei Sekretärinnen erlitten Verbrennungen, als sie die Briefe öffneten. In den Zeitungsberichten war über die näheren Umstände dieser Anschläge nichts zu lesen, weil wir nicht wollten, dass zu viel bekannt wurde. Wir haben glaubhaft den Eindruck erweckt, dass der Täter geistesgestört wäre. Tatsächlich aber stand hinter den Taten offenbar ein politisches Kalkül. Sie wurden von einem ehemaligen Mitglied der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit verübt, die bekanntlich in West-Berlin ihre Zentrale hatte. Der Mann agierte unter dem Namen Bruhn und lebt mittlerweile in Schweden, unsere Justiz hat deshalb keinen Zugriff auf ihn. Warum er diese Giftbriefe versendet hat, wissen wir letztendlich nicht genau. Doch es liegt die Vermutung nahe, dass er politische Rechnungen begleichen wollte. Kennt jemand den Mann zufällig?»
Niemand meldete sich zu Wort. Voißel blätterte in seinen Papieren, seine Zuhörerschaft war still. Kappe fröstelte.
«Für uns im Kölner Bundesamt waren die Anschläge Anlass, uns das Umfeld des Täters genau anzuschauen. Dabei stellten wir fest, dass mehrere jüngere Anhänger der vor zwei Jahren gegründeten Nationaldemokratischen Partei Deutschlands aus dem Westen nach Berlin reisten, um sich hier niederzulassen. Sie sind untergetaucht, aber höchstwahrscheinlich noch in West-Berlin. Es handelt sich hierbei um Hilfsarbeiter, die bewaffnet sind und wir als höchst gefährlich einstufen. Ob sie direkt aus der Führungsebene der NPD gelenkt werden, wissen wir nicht. Es ist aber möglich. Im achtzehnköpfigen Vorstand dieser Partei, die unlängst in Hessen fast acht Prozent der Wählerstimmen erhielt, sind zwölf Personen, die schon zu Hitlers Zeiten aktiv waren, ehemalige SS-Leute, Gauredner, frühere Kreisvorsitzende der NSDAP und so weiter.» Voißel dachte einen Augenblick nach. «Wir wissen nicht, mit welchem Auftrag sie nach Berlin geschickt wurden. Es kann sein, dass sie sich eine Zeit lang ruhig verhalten, um auf eine günstige Gelegenheit für einen Anschlag zu warten. Alarmierend ist die Übersiedlung nach Berlin allemal.»
Friedhelm Keunitz ergriff das Wort. «Die Geschichte mit den Briefen war mir bekannt. Aber ich dachte, es habe sich nur um Drohbriefe gehandelt. Dass ein Ehemaliger der Kampfgruppe dahintersteckt, klingt in der Tat bedrohlich. Eine akute Gefahr kann ich dennoch nicht erkennen. Die Berliner Bevölkerung hat die Nase gestrichen voll von den Nazis, diese neue Partei dürfte sich kaum Hoffnungen machen, durch einen Anschlag erneut Massen mobilisieren zu können.»
Voißel blickte Keunitz nachdenklich an. «Vor wenigen Wochen sind Albert Speer und Baldur von Schirach aus dem Kriegsverbrechergefängnis in Spandau entlassen worden. Das hat manche Nationalsozialisten elektrisiert. Und vor ein paar Monaten ist der Generalinspekteur der Bundeswehr Heinz Trettner zurückgetreten. Der war für viele alte Nazis eine Identifikationsfigur. Trettner gehörte als Generalmajor schließlich zu denen, die Hitler bis Mai 1945 unterstützt hatten. Und am heutigen Tag wird der frühere SS-Arzt Horst Schumann von der Regierung Ghanas an die Bundesrepublik ausgeliefert, damit ihm hier der Prozess wegen seiner Gräueltaten während der NS-Zeit gemacht werden kann. Schumann war nach Afrika geflüchtet, weil ihm bei uns die Justiz auf den Fersen war. Er wurde in Ghana von höchsten Stellen des Staates geschützt. Erst nach einem Machtwechsel in diesem Land kam seine Auslieferung ins Rollen. Können Sie mir folgen?» Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr Voißel fort: «Auch dieser feine Herr ist für viele alte und neue Nazis ein Idol.»
Kriminalrat Keunitz warf ein: «Entschuldigen Sie, Herr Kollege, aber wollen Sie uns glauben machen, die Auslieferung eines früheren SS-Arztes würde Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie dazu bringen, Attentate zu verüben? Das kann ich mir nicht vorstellen.»
«Ich möchte Ihnen nur deutlich machen», erwiderte Voißel, «dass die Rechtsextremen wieder an Zuspruch gewinnen und es ihnen gelingt, Vorgänge wie die um Trettner oder Schumann zu nutzen, um neue Anhänger zu gewinnen. Millionen derer, die bis 1945 Hitler zujubelten, sind doch noch unter uns! Und die NPD versucht, sie dazu zu bringen, wieder aus der Deckung zu kommen. Vermutlich denken die Nazis, ein politischer Anschlag könnte das forcieren.»
Einige zündeten sich Zigaretten an. Strattmann hatte sich mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck in seinem Stuhl zurückgelehnt. Der Kripochef schaute nachdenklich auf Kappe.
Schließlich nahm Voißel den Faden wieder auf. «Ein besonderes Faktum bereitet uns in Köln die größte Sorge. Nach unseren Informationen sind zwei Männer nach West-Berlin eingereist, von denen höchste Gefahr ausgehen könnte. Den einen kann man als berufsmäßigen Mörder bezeichnen. Der andere war in den letzten Jahren als eine Art Reisemarschall der Nationalsozialisten tätig. Wir vermuten, dass sie mit den NPD-Leuten zusammenarbeiten.»
«Verdammt!», knurrte Niederzier. «Was braut sich da zusammen?»
«Damit ist das Problem aber noch nicht vollständig umrissen», entgegnete Voißel.
«Sie machen mir Spaß!», fauchte Keunitz. «Was kommt denn noch?»
«Weiterhin ist uns zu Ohren gekommen», fuhr der Verfassungsschützer fort, «dass in Ihrer Stadt frühere Mitglieder der 1959 aufgelösten Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit wieder aktiv geworden sind. Es gibt Anzeichen dafür, dass Verbindungen zwischen ihnen und den beiden Männern bestehen, die jüngst nach Berlin gekommen sind. Sie kennen die Geschichte dieser Kampfgruppe besser als ich, nehme ich an. Das sind ja teils sehr anständige Leute gewesen, die sich von ihrer Wut über die Verbrechen der Kommunisten zu Verbrechen haben leiten lassen. Zu Anfang war diese Kampfgruppe aber auch ein Sammelbecken von alten Nazis. Die neue Politik des Senats gegenüber den Kommunisten scheint einige von denen zur Raserei zu bringen. Wer mit Ulbrichts Leuten Vereinbarungen schließt, wie der Senat das im März des Jahres getan hat, ist für die ein Vaterlandsverräter. Ihr Staatsschutz wird mehr darüber wissen.» Er schaute Maischonnek und Schiltken an.
Die beiden Staatsschützer reagierten mit keiner Silbe, sondern fixierten schweigend den Oberregierungsrat aus Köln.
Kappe fiel auf, dass sich Keunitz’ Gesicht gerötet hatte. Wie er ihn kannte, war das ein Zeichen seines Ärgers über die beiden Staatsschützer. Niederzier hatte den Blick auf seine Hände geheftet, so als betrachtete er seine Fingernägel. Er wirkte grimmig.
Statt Keunitz oder Niederzier ergriff Eduard Strattmann das Wort. «Sie können nicht einfach stumme Zuhörer spielen, wenn es um Ihre Angelegenheiten geht!»
«Du wirst verstehen, dass wir uns hierzu nicht äußern können, wir brauchen dazu die Erlaubnis von oben», meldete Schiltken sich zu Wort. «Das ist bei uns etwas anders geregelt, und das hat seinen guten Grund.»
«Ich habe Ihnen nicht gestattet, mich zu duzen!», schnauzte Strattmann ihn an.
Alle schwiegen. Es entstand eine Pause, die Otto Kappe als peinlich empfand. Daher sagte er: «Sie schildern uns eine Bedrohungslage, die es in sich hat. Professionelle Kriminelle in Zusammenarbeit mit alten Kameraden – das klingt nach echten Problemen.»
«Ich kann mir schon vorstellen, was das für die Berliner Kripo bedeutet», erklärte Hans Josef Voißel.
«Das glaube ich nicht», sagte Niederzier. Er lehnte sich zurück und schaute in die Runde. «Es gibt hier in West-Berlin Hunderte von Objekten, die sich für einen Anschlag anbieten, zivile wie militärische.»
«Von gefährdeten Personen ganz zu schweigen», ergänzte Keunitz.
Unruhe breitete sich unter den Zuhörern aus. Einige unterhielten sich halblaut miteinander.
«Gibt es weitere Anmerkungen oder Fragen?», erkundigte sich Kriminaldirektor Niederzier mit heiserer Stimme. Er wartete einige Sekunden, aber offenbar war jeder in der Runde mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. «Nein? Dann bedanke ich mich bei Herrn Voißel. Ich erinnere Sie alle noch einmal daran, dass wir Verschwiegenheit verabredet haben. Kommen Sie noch auf einen Kaffee in mein Büro, Herr Voißel?»
Während sich der Raum leerte, winkte Niederzier Kappe zu sich. «Ich muss mit Ihnen sprechen. Bitte gehen Sie schon vor in mein Büro!»
Kriminaloberkommissar Otto Kappe hatte sich gerade in einem der Sessel im Zimmer des Kriminaldirektors niedergelassen, als Günther Niederzier mit Keunitz, Voißel und – zu Kappes Verblüffung – Strattmann den Raum betrat. Die Männer suchten sich schweigend einen Platz und setzten sich. Niederziers Sekretärin servierte unaufgefordert Kaffee.
«Fahren Sie bitte fort!», sagte der oberste Kripobeamte zu Hans Josef Voißel.
Der griff in seine Aktentasche, holte einen grünen Ordner hervor, schlug ihn bedächtig auf und entnahm ihm zwei Fotografien, die er den anderen zeigte. «Der eine hier, der auf dem linken Bild, das ist August Pretzky. 45 Jahre alt, in Königsberg geboren und im Alter von neunzehn Jahren in die Wehrmacht eingetreten. Er war Soldat im Sonderverband Brandenburg, einer Einheit, die hinter den feindlichen Linien operierte. Immer wieder sind Vorwürfe erhoben worden, dass dieser Verband an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sei. Pretzky wurde nach dem Krieg in einem französischen Gefangenenlager festgehalten. Ab 1948 war er in Berlin wohnhaft. Ich schätze, aus dieser Zeit resultieren Kontakte zu den Mitgliedern der Kampfgruppe. Von 1953 bis 1957 war er in der Fremdenlegion. Nach Recherchen des Bundesnachrichtendienstes war er anschließend als Söldner in afrikanischen Ländern wie dem Kongo tätig. 1960 tauchte er wieder in Deutschland auf, wenig später wurde er in Berlin gesehen.»
Die Fotografie zeigte ein schmales Gesicht mit Geheimratsecken, dunklen zurückgekämmten Haaren, einer langen Nase, die so aussah, als wäre sie einmal gebrochen gewesen und schief wieder zusammengewachsen, spöttisch funkelnden Augen, einem kleinen Mund und einem spitzen Kinn.
«Es wäre interessant zu erfahren, wo solche Leute untertauchen», erklärte Niederzier.
Voißel kramte in seiner Tasche und fischte einen Zettel heraus. «Seine alte Adresse in Berlin steht hier.» Er las vor: «Waldemarstraße, Ecke Adalbertstraße. Bei Schubert.»
Niederzier hob den Kopf. «Ist das nicht unmittelbar an der Grenze?»
Kappe nickte und sagte: «Stimmt. Ziemlich verlassene Gegend. Wann wurde dieses Foto aufgenommen?»
«Nach unseren Recherchen leider bereits Ende der Vierziger-, Anfang der Fünfzigerjahre.» Der Verfassungsschützer blickte in die Runde. «Kann ich fortfahren?» Er wies auf die zweite Fotografie. «Der da hat gleich mehrere Namen. Gegenwärtig nennt er sich Eberhard Wagner. Sein richtiger Name lautet Paul Stecher. 46 Jahre alt, gebürtiger Treptower. Eine klassische Nazi-Karriere. Ebenfalls ab 1939 in der Wehrmacht. Kurz zuvor mit neunzehn Jahren in die NSDAP eingetreten. Fünfeinhalb Jahre Soldat. Letzter Dienstgrad Oberleutnant. Kennt einer von Ihnen diesen Mann? Nein? Schade, denn es geht das Gerücht um, dass Wagner in Berlin kein Unbekannter ist. Das würde mich interessieren.»
«Wenn wir etwas über den haben, kriegen Sie das», erwiderte Eduard Strattmann.
Auf dem Bild war ein unauffällig wirkender Mann zu sehen, dessen Gesicht halb im Schatten lag. Er trug einen Hut und ein helles Hemd, die Krawatte hing ihm lose um den Hals.
«Das Foto habe ich auf dem kleinen Dienstweg von einem BND-Mann erhalten. Es müsste um das Jahr 1960 gemacht worden sein, möglicherweise in Ägypten oder in Syrien. Es gibt ebenfalls nicht viel her.» Voißel drehte das Foto herum, um selbst einen Blick darauf zu werfen. «Wagner war im Krieg einer von Hitlers Horchern. Hörte in der Einheit ‹Fremde Heere Ost› von General Gehlen, dem heutigen BND-Präsidenten, Feinde ab. Er spricht bestens Englisch, fließend die französische Sprache, recht gut Russisch und Spanisch. Was er in der Zeit zwischen ’45 und ’47 gemacht hat, wissen wir nicht genau. Danach war er als Übersetzer für den Bundesnachrichtendienst tätig. 1951 ging er in den Osten. 1957 verließ er die Zone wieder. Die nächsten Jahre wohnte er in West-Berlin. Und dann geschah etwas Erstaunliches: Ab ’59 reiste er durch die Weltgeschichte. Er flog nach Ägypten, hielt sich in Syrien auf, verbrachte einige Zeit in Somalia, das 1960 unabhängig geworden war, und besuchte Argentinien. Wir glauben, dass er auf diesen Reisen Kontakte zwischen deutschen Nazis und Faschisten in diesen Ländern knüpfte oder intensivierte.»
Voißel trank seinen Kaffee aus, schließlich sagte er: «Beide sind in West-Berlin. Ob unsere amerikanischen oder britischen Freunde etwas darüber wissen, kann ich nicht sagen. Es ist aber anzunehmen. Beide Männer haben unseres Wissens keinerlei Skrupel zu töten.» Er drehte sich zur Seite, um Niederzier ins Gesicht zu schauen, und fragte: «Wie werden wichtige Personen hier in Berlin geschützt? Auf die Nullachtfuffzehn-Tour? Oder gibt es besondere Maßnahmen?»
Niederzier wurde schmallippig. «Bisher wurde jedem Senatsmitglied ein sogenannter Pistolenmüller zur Seite gestellt, also ein körperlich leistungsfähiger Polizist mit guten Ergebnissen auf dem Schießstand. Das meinen Sie wahrscheinlich mit Nullachtfuffzehn-Tour.»
Friedhelm Keunitz wandte sich an Strattmann. «Sie waren mal Pistolenmüller, nicht wahr?»
«Das stimmt», bestätigte der. «Von ’55 bis ’57. Während der ersten Jahre von Joachim Lipschitz als Innensenator. Außer mir war niemand von uns für den Senator zuständig, obwohl der eine Reihe fanatischer Feinde hatte. Ich habe manchmal Blut und Wasser geschwitzt. Die Nazis haben Lipschitz gehasst wie die Pest. Aber manchmal hatte ich Unterstützung von den Amis, da sie der Meinung waren, Lipschitz müsse besser geschützt werden. Planen ließ sich das aber nicht. Mal waren die dabei, mal waren sie abwesend. Die dachten überhaupt nicht daran, mich in ihre Vorhaben einzuweihen.»
Voißel guckte auf seine Armbanduhr. «Oje, ich muss los! Der nächste Termin wartet bereits.»
Nachdem er gegangen war, saßen die vier Männer eine Weile zusammen, ohne dass einer von ihnen etwas sagte.
Niederzier brach schließlich das Schweigen. «Herr Voißel hat darauf bestanden, den letzten, wichtigsten Teil seiner Unterrichtung in sehr kleinem Kreis zu geben. Er traut offenbar Leuten wie Schiltken und den Aktentaschenträgern aus der Senatsverwaltung nicht über den Weg. Er wollte aber, dass sie informiert werden. Das deutet für mich darauf hin, dass dies von seinen Vorgesetzten abgesegnet wurde. Die Tatsache, dass einer von den wenigen Sozialdemokraten im Bundesamt zu uns gesandt wurde, ist schon bemerkenswert. Sie kennen ihn wohl, Kollege Strattmann, wie?»
«Das ist richtig. Voißel passt im Bundesamt auf, dass dort nicht gegen die SPD intrigiert wird. Wir kennen uns aus verschiedenen Besprechungen.»
Niederzier blickte ihn prüfend an, dann fuhr er fort: «Ich bin der Auffassung, dass eine Arbeitsgruppe eingesetzt werden muss, keine offizielle Sonderkommission mit allem Trara, sondern eine Gruppe, die ausschließlich Herrn Keunitz und mir berichtet. Nach außen hin werden wir sagen, dass sich die Ermittlungen auf einige alte Fälle beziehen, die abgeschlossen werden sollen.»
«Mir gefällt das nicht», warf Kappe ein. «Das ist und bleibt eine Angelegenheit des Staatsschutzes. Da sollten wir uns raushalten.»
Niederzier widersprach sofort. «Nein, Herr Kollege, das ist unser Problem. Die Spitze des Senats möchte, dass wir die Aufgabe übernehmen. Und das zählt, nichts anderes. Wenn sich die Staatsschützer einmischen sollten, geben Sie mir sofort Bescheid. Vernünftig wäre es, einen Mann aus deren Reihen zu bestimmen, der den Kontakt zu uns hält, aber nicht zusammen mit uns ermittelt.»
Kriminalrat Keunitz blickte Kappe an. «Mensch Kappe, das kennen Sie doch! Die Oberverdachtschöpfer würden Sie nur in Ihrer Arbeit behindern. Lassen Sie die ruhig weiter Kommunisten jagen – mit Anschlägen haben wir mehr Erfahrung.»
Kappe presste die Lippen zusammen.
«Ich mache mir wegen der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit Sorgen», warf Strattmann ein. «Die ist zwar ’59 aufgelöst worden, aber was aus ihren ehemaligen Mitgliedern geworden ist, weiß niemand genau. Einige von ihnen werden in den Westen ausgereist sein, etliche haben bestimmt beim Bundesnachrichtendienst angeheuert, andere hat sich die CIA geschnappt. Aber was der Rest macht, weiß kein Mensch. Mir wird ganz anders, wenn ich mir vorstelle, was die aushecken könnten.»
«Mich beunruhigen mehr diese jungen NPD-Typen, die nach West-Berlin gekommen sein sollen», sagte Otto Kappe. «Ja, und dann noch diese beiden Kerle, offenkundig Profis.»
«Haben die Herren eine Idee, wie wir nun verfahren sollen?», wollte Kriminaldirektor Niederzier wissen.
«Ich halte es für das Beste, dass Otto Kappe die Leitung der Untersuchung übernimmt», erklärte Strattmann.
Der Oberkommissar erstarrte. Die Regierenden umgingen aus irgendwelchen Gründen den Staatsschutz. Gegen den zu arbeiten würde schon schwierig genug werden. Und ausgerechnet in diesem Fall soll ich die Ermittlungen leiten?, fragte er sich. Ausgerechnet ich, der sich von Politik immer ferngehalten hat? Von rechtsextremen Umtrieben hatte er keinen blassen Schimmer. Das konnte nicht gut gehen!
Natürlich wusste Otto Kappe, dass sich in seiner Stadt Vertreter aller möglichen politischen Richtungen tummelten, dass es hier ebenso fanatische Rechte wie fanatische Linke gab. Aber während seiner Arbeit in der Mordabteilung hatte er als grundsolider Berliner Beamter sich für all das nicht interessiert. Er hatte alle Hände voll damit zu tun gehabt, der Unterwelt Paroli zu bieten. «Warum sollte ich das tun?», fragte Kappe nun laut.
Niederzier schob die Unterlippe vor und wiegte den Kopf hin und her. «Weil saubere Polizeiarbeit gefordert ist, von unseren besten Leuten.»
«Ich kenne mich in diesem Bereich der Kriminalität nicht aus», wehrte Kappe ab.
«Gewaltbereite Nazis sind Verbrecher wie andere auch. Otto, du musst das machen!», sagte Strattmann. Dann wandte er sich zum Kriminaldirektor. «Herr Kappe ist unsere erste Wahl. Ich bin gerne bereit, ihm den Rücken freizuhalten. Aber die Leitung sollte er übernehmen. Er ist erfahren, hat einen guten Instinkt, wird überall geschätzt, und er kann sich durchsetzen.»
«Das sehe ich auch so», meinte Kriminalrat Keunitz. «Er kann das.»
«Ich habe mir so etwas schon gedacht», entgegnete der Kripochef. «Also gut …»
«Nichts ist gut!», unterbrach Kappe ihn. «Ich habe nicht Ja gesagt. Wenn bei diesen Ermittlungen auch nur irgendetwas schiefläuft, fällt das auf mich zurück. Wenn ich Pech habe, kann ich anschließend im Tiergarten Streife gehen.»
«Egal, wer’s machen würde», warf Strattmann ein, «jeder würde dieses Risiko eingehen. Auch ich. Bei mir wäre es sogar noch größer, weil alle Welt sagen würde, der ist mit dem Freifahrtschein der SPD an seinen Posten gelangt, und nun hat er Mist gebaut. Mich würden die nicht mal mehr Streifendienst versehen lassen!» Strattmann zündete sich eine Zigarette der Marke Overstolz an, ein Arbeiterkraut. «Es ist eigentlich ganz einfach, Otto. Berlin ist unsere Heimat. Und wir sorgen dafür, dass diese Halunken keine Verbrechen verüben. Wenn du die Leitung übernimmst, bin ich immer an deiner Seite.»
«Eines muss klar sein: Ausufernde Ermittlungen können wir uns nicht leisten, Fehlschläge erst recht nicht», warnte Niederzier.
«Also, Otto, was meinst du?», fragte Strattmann.
«In Ordnung», sagte Kappe widerwillig, «aber nur, weil ihr mich sonst nicht in Ruhe lasst.»
«Wen wollen Sie in Ihrer Gruppe haben?», erkundigte sich Niederzier sofort.
«Eduard Strattmann wird mein Stellvertreter. Natürlich brauche ich Hans-Gert Galgenberg, der an meine Art zu arbeiten gewöhnt ist und der mir einiges abnehmen kann. Außerdem möchte ich noch die Kriminalmeisterin Lilli Lenné von der Weiblichen Kriminalpolizei dabeihaben.»
«Warum die?», wollte Keunitz wissen.
«Weil ich meine, dass es gut ist, wenn jemand unser Team unterstützt, der die Kerle, mit denen wir es zu tun haben werden, aus einer anderen Perspektive betrachtet als wir. Sie hat oft genug bewiesen, dass sie mit ihrem guten Instinkt Ermittlungen voranbringen kann. Hat jemand hier etwas gegen die Kriminalmeisterin?»
Keiner sagte etwas.
«Außerdem sollten Gerhard Piossek und Günter Kynast dabei sein, die sind erfahren und enorm belastbar. Sie beherrschen ihre Arbeit aus dem Effeff. Kynast brennt außerdem vor Ehrgeiz, soweit ich das beurteilen kann. Jürgen Rückert ist leider noch in seinem wohlverdienten Urlaub. Aber wir werden noch jemanden brauchen, der nicht davor zurückscheut, etwas gröber vorzugehen. Da habe ich sofort an den Hauptwachtmeister Ludwig Bredow vom Revier in der Koloniestraße im Wedding gedacht. Den kann man als lebendes Lexikon der Berliner Polizeigeschichte bezeichnen. Frau Frieda Kessel wird den Schreibkram erledigen. Mit dieser Truppe würde ich gerne antreten. Ob das genügend Leute sind, weiß ich nicht.»
«Machen Sie sich deswegen keine Sorgen», sagte Keunitz. «Sie kriegen bei Bedarf, wen Sie brauchen.» Er schaute Kappe forschend an. «Aber der Bredow passt nicht in die Gruppe. Das sollten Sie sich noch einmal überlegen.»
«Ich habe mich entschieden», antwortete Otto Kappe. «Wir brauchen jemanden, der die Berliner Polizei bestens kennt, auch die Verhältnisse vor ‘45.»
Der Hauptwachtmeister Ludwig Bredow zählte zu den sehr speziellen Köpfen in der Berliner Polizei. Er hatte als Polizeihauptmeister die Endstufe des mittleren Dienstes erreicht und stand kurz vor der Pensionierung. Wie der 1946 als Kriegsverbrecher verurteilte und gehängte SS-General Kurt Daluege war Bredow in Kreuzburg in Oberschlesien geboren worden. Vier Lebensjahre hatten die beiden voneinander getrennt. Daluege und Bredow lernten sich in der Wandervogel-Bewegung kennen. Daluege wurde Soldat, Ludwig Bredow wurde Werksfeuerwehrmann. In den 1920ern zog Letzterer nach Berlin, bekam eine Anstellung bei den Vereinigten Chemischen Fabriken H. Temmler und wurde für den Werkschutz ausgebildet. Als Daluege 1934 Chef der Ordnungspolizei wurde, meldete sich Bredow bei ihm. Er wurde Polizist, merkte aber bald, auf was er sich eingelassen hatte. 1941 hatte er mit anderen den Abtransport Berliner Juden vom Bahnhof Berlin-Wannsee zu organisieren. Als sich herausstellte, dass sich in Ludwig Bredows Familienstammbuch nicht nur «Arier» befanden, sollte er rausgeworfen werden. Daluege hatte, wenn auch widerwillig, seine Hand über ihn gehalten. Ludwig Bredow hatte die NS-Zeit überlebt – und nichts vergessen.
Nach Ende des Kriegs hatte Bredow mit Gesinnungsgenossen die Stammbaumprüfer im Polizeiapparat ausfindig gemacht. Niemand von denen war ungeschoren davongekommen. Man handelte proletarisch direkt. Bredow, weiß Gott nicht mit breiten Schultern gesegnet, hatte eine Brachialität an den Tag gelegt, die ihm kaum jemand zugetraut hatte. Nach der Entnazifizierung – er war als Mitläufer eingestuft worden – hatte er sich wieder im Werkschutz versucht. Aber da es in der Nachkriegszeit allzu viele gegeben hatte, die sich selbst der Nächste waren, und er praktisch nichts hatte tun können als zuzusehen, wie sich manche die Taschen füllten, hatte er bei der Berliner Polizei angeklopft – und Erfolg gehabt. Heute war Bredow ein schmaler älterer Mann mit Zähnen, die braun waren vom Zigarettenkonsum. Wer ihn aufmerksam studierte, bemerkte seine auffallend dicken Handgelenke und seine breiten Hände.
«Dann machen wir es so», entschied Niederzier. «Kommen Sie beide denn miteinander aus?», fragte er und schaute Kappe und Strattmann an.
Strattmann lachte. «Was glauben Sie denn? Wir beide haben zwar gemeinsam noch keine Verbrecher gejagt, aber dafür haben wir uns auf Polizeifesten im Olympiastadion zusammen ordentlich einen auf die Lampe gegossen.»
Den Rest des Tages verbrachte Otto Kappe damit, die neue Arbeitsgruppe einzuweisen. Ludwig Bredow hatte er bereits telefonisch zu erreichen versucht und die Bitte um einen Rückruf hinterlassen. Lilli Lenné, Hans-Gert Galgenberg und Günter Kynast wollten genau wissen, um was es gehe. Gerhard Piossek fragte nicht lange, sondern freute sich darüber, dass seine Erfahrungen gefragt waren.
«Da ist ein Polizeihauptmeister Bredow in der Leitung», sagte Frau Kessel kurze Zeit später zu Kappe. «Wollen Sie mit ihm sprechen, oder soll ich ihn abwimmeln?»
«Stellen Sie ihn bitte zu mir durch!»
«Tach, Otto!», schmetterte der Hauptwachtmeister aus dem Wedding in Kappes Ohr. «Wie geht’s dem Onkel? Was machen seine Zipperlein?»
Otto Kappe musste unwillkürlich grinsen. Bredow hatte vor 26 Jahren mit seinem Onkel Hermann die Klingen gekreuzt, als es um einen vermissten Mann aus dem Fernmeldewesen gegangen war. Einige Zeit später hatten sie sich zufällig wiedergetroffen und Respekt voreinander entwickelt. Der inzwischen längst pensionierte Hermann Kappe gehörte zu den unvergessenen Kriminalisten, die ihr Handwerk noch unter dem legendären Ernst Gennat gelernt hatten.
«Die Zipperlein wachsen und gedeihen. Ein abendfüllendes Thema, wird vom Onkel gern ausführlich beredet. Doch bis der zum Doktor geht, muss es schon ziemlich dicke kommen. Aber wem sag ich das!»
«Du wolltest mich sprechen?», fragte Bredow.
«Ja. Hast du Zeit, in den nächsten Wochen in einer Gruppe mit besonderem Auftrag zu arbeiten?»
«Eine Gruppe mit besonderem Auftrag? Hört sich zumindest interessant an», meinte Bredow. «Ich bin gern dabei.»
«Morgen treffen wir uns in der Gothaer Straße. So gegen neun. Du bist herzlich eingeladen. Lässt man dich denn so kurzfristig gehen?»
«Ach, das Revier ist froh, wenn ich mal nicht anwesend bin.»
«Ist’s so schlimm?»
«Viele jüngere Kollegen haben eben andere Auffassungen als ich.»
«Also morgen um neun Uhr?», fragte Kappe, um nicht näher auf das Thema eingehen zu müssen.
«Ja, ich werde kommen.»
«Sag mal, ist dir in der letzten Zeit der Karl-Heinz untergekommen?»
«Du meinst deinen kriminellen Cousin?»
«Ja.»
Karl-Heinz Kappe, der zweite Sohn Hermann Kappes, war das schwarze Schaf der Familie, ein mit allen Wassern gewaschener Betrüger.
«Der ist unter anderem wieder im Kiesgeschäft tätig. Im Sommer ist er mal wieder auffällig geworden», erklärte Bredow. «Aber leider konnte ihm nichts nachgewiesen werden.»
«Was hat er sich zuschulden kommen lassen?»
«Das Übliche, mal wieder Betrug. Seine Laster werden auf eine Waage gefahren, nachdem sie mit Kies oder Sand beladen wurden. Wagen- oder Anhängergewicht werden von dem Gesamtgewicht abgezogen, sodass man das reine Materialgewicht erhält. Theoretisch. Wird das Gewicht des Lasters aber manipuliert, erhält der Kunde zu wenig Kies für sein Geld. Da kann über Wochen und Monate einiges zusammenkommen.»
«Dabei hat man ihn erwischt?»
«Seine Firma, ja – ihm persönlich war aber nichts nachzuweisen. Aber das ist sowieso nicht mehr sein Hauptgeschäft. Er kauft günstig alte Häuser auf, lässt sie abreißen und auf den Grundstücken dann moderne, teure Wohnungen entstehen. Karl-Heinz hat inzwischen mehrere Unternehmen, die bei diesem Geschäft mitmischen. Nach außen hin gibt er sich als untadeliger Unternehmer. Du würdest dich wundern, wer alles Geld in seine Geschäfte steckt.»
«Na, ich jedenfalls nicht.»
«Eben. Du gehst brav zur Sparkasse und lässt dir jeden Monat die Zinsen gutschreiben. Das ist ja auch vernünftig. Nur dauert es verdammt lange, bis du auf diese Weise reich wirst.»
«Woher weißt du, dass ich mich mit den Sparzinsen begnüge? Vielleicht sollte ich tatsächlich Karl-Heinz mein Geld anvertrauen, auch wenn der es auf nicht ganz seriöse Art vermehrt.»
Bredow lachte. «Ihr Kappe-Kommissare kriegt ja bereits Herzklabastern, wenn ihr nur daran denkt, mal vom Pfad der Tugend abzuweichen. Der benötigt dein Geld nicht, Otto! Der kennt genug Wohlhabende, die ihm ihre Kohle anvertrauen. Nebenbei: Karl-Heinz lässt gern etwas nachhelfen, wenn jemand partout nicht aus seiner alten Wohnung ausziehen will. Ich bin ziemlich sicher, dass wir in seinen Betonfundamenten einige Leute finden würden, die als vermisst gemeldet sind. Was willst du eigentlich von der trüben Tasse?»
«Demnächst mal mit ihr reden.»
«Ach so. Der Karl-Heinz wohnt immer noch in der Steglitzer Ahornstraße.»
Später saßen Otto Kappe und Eduard Strattmann zusammen. Die anderen Kollegen hatten sich bereits auf den Heimweg gemacht. Der Himmel über der Stadt hatte sich verdunkelt, und Regenwolken zogen von Südwest heran. Strattmann entnahm seiner Aktentasche zwei Flaschen Berliner Kindl, öffnete sie und bot Kappe eine an. Der bedankte sich. Beide tranken genüsslich.
«Glaubst du, was Voißel uns erzählt hat, stimmt?», fragte Strattmann.
«Nee», antwortete Kappe, «jedenfalls nicht zu hundert Prozent. Aber du kennst ihn besser. Spielt der mit offenen Karten?»
«Das glaube ich nicht. Der ist genauso ein Obergeheimer wie die anderen. Er hatte den Auftrag, uns auf die Gefährdungslage aufmerksam zu machen. Den Rest werden wir selbst herausfinden müssen.»
«Da stimme ich dir zu», erklärte Kappe. «Ich glaube, dass da irgendetwas vor sich geht, was schlimm enden könnte. Aber sucht der nicht auch den Kontakt zu den Westmächten, mit seinen Fakten und Vermutungen?»
Strattmann lachte. «Nee, nun sind wir dran. Willy Brandt hat es satt, ständig als Bittsteller vor den Alliierten zu stehen. Der sagt sich: Irgendwann müssen wir zeigen, dass wir uns selbst behelfen können. Und nun sind wir dran.» Er nahm einen großen Schluck aus seiner Bierflasche.
«Was sollten diese Burschen aus dem Rathaus bei der Besprechung?», wollte Kappe wissen.
«Politik», antwortete Eduard Strattmann. «Wenn du dich auf heikles Gelände begibst, musst du den Regierenden, den Innen- und den Justizsenator von vornherein einbinden.»
«Und warum werden die nicht unmittelbar von Voißel in Kenntnis gesetzt?»
«Dann wären unsere Oberen wiederum zu dicht an der Geschichte dran. Stell dir nur mal vor, es gibt einen Anschlag mit Todesopfern. Und es kommt heraus, dass ein Senator oder sogar der Regierende von Anfang an über diese drohende Gefahr informiert waren. Dann werden die dafür verantwortlich gemacht, dass sie nicht rechtzeitig eingegriffen haben. Also ist es besser, sie schicken nur ihre Jungs in eine solche Besprechung.»
«Das sind mir ja schöne Verhältnisse! Einer traut dem anderen nicht. Dabei seid ihr alle doch über eure Partei miteinander befreundet. Oder sehe ich das falsch?»
«Wenn Karrieren auf dem Spiel stehen, enden viele Freundschaften. Wirkliche Freundschaften kannst du an einer Hand abzählen.» Strattmann trank sein Bier aus.
«Ich weiß immer noch nicht, was ich von alledem halten soll. Ob die NPD-Anhänger auf Studenten der Freien Universität losgehen wollen? Falls es zu Krawallen kommt, sind wir gut beschäftigt. Auf den Staatsschutz können wir uns nicht verlassen, der hat nur die Linken im Visier. Weiß der überhaupt, was im rechten Milieu vor sich geht? Beunruhigt hat mich Voißels Frage nach der Bewachung unserer Politprominenz. Der wollte uns doch einen Floh ins Ohr setzen! Aber warum?»
«Der Voißel ist ein echter Schlapphut. Er ist ein Vertrauter Herbert Wehners, kommt sozusagen aus dessen Schule. Er hat eine deutliche Warnung ausgesprochen. Was wir daraus machen, ist unsere Sache.»
Otto Kappe verzog das Gesicht.
«Daran wirst du dich als Chef einer solchen Sonderermittlung gewöhnen müssen», sagte Strattmann, der Kappes Gesichtsausdruck richtig gedeutet hatte.
«Mal ganz direkt gefragt: Wollte Voißel uns auf ein mögliches Attentat aufmerksam machen? Ein Attentat auf wen? Auf euren Brandt?»
«Das ist auch dein Brandt, mein Lieber! Aber den kannst du streichen. Die Bundesregierung von Ludwig Erhard ist weg vom Fenster. Die CDU wird noch ein paar Tage mit dem bisherigen Koalitionspartner FDP herumwursteln, aber dann ist Schluss. Es soll bereits vertrauliche Sondierungen zwischen der CDU und der SPD gegeben haben. Willy Brandt wird der nächsten Bonner Regierung angehören. Mit anderen Worten: Er ist eigentlich schon gar nicht mehr in Berlin.»
Otto Kappe hatte in der Zeitung gelesen, dass der bisherige Bundeskanzler Ludwig Erhard zurückgetreten war, weil die FDP nicht bereit war, seine Vorstellungen vom nächsten Bundeshaushalt mitzutragen. Erhard wollte Steuern erhöhen, die FDP war strikt dagegen. Die CDU / CSU hatte den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger als künftigen Bundeskanzler nominiert. Und der schien offen dafür zu sein, mit der FDP zu brechen und stattdessen mit der SPD zusammenzugehen. Hatte Strattmann also recht: Würde Brandt bald nach Bonn gehen? Kappe fragte seinen Kollegen: «Und was ist deine Rolle bei dieser Entwicklung?»
Eduard Strattmann lachte. «Wir halten Brandt in Berlin den Rücken frei. Und wir kümmern uns um seinen Nachfolger.»
«Wer soll ihn ersetzen?»
«Unser Innensenator, Pastor Albertz, wird Regierender Bürgermeister.»
«Und das ist jetzt schon klar?»
«Im Abgeordnetenhaus wird eine Mehrheit für ihn stehen.»
«Das weißt du schon vor der Wahl?»
«Ja, natürlich. Was denkst du denn!» Strattmann schien verblüfft über so viel Naivität. Doch er wollte dieses Thema offenbar nicht vertiefen. «Was tun wir als Nächstes?», fragte er Kappe.
«Ich werde meine Quellen in der Stadt bemühen, um herauszufinden, was los ist. Außerdem möchte ich die Adresse prüfen, die Voißel uns genannt hat. Alles andere sollten wir morgen besprechen.»