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I. Einführung

Methodisches

„Rom und Karthago“ – unter ebendiesem Titel präsentierte Joseph Vogt vor über 60 Jahren einen Sammelband, dessen Konzeption darin bestand, das Ringen beider Mächte unter dem Aspekt des „Rassengegensatzes“ zu betrachten. Als Ausdruck von „Rassenfeindschaft“ verstand auch der Leiter des „Kriegseinsatzes der Altertumswissenschaften“, Helmut Berve, in einem Vortrag über „Rom und Karthago“ die Serie römisch-karthagischer Auseinandersetzungen, den römischen Sieg als Rettung des Abendlandes. Die zeitgeschichtlichen Beweggründe dieses wissenschaftlich irrelevanten Ansatzes sind hinlänglich bekannt. Wir bräuchten darüber kein Wort zu verlieren, besäße nicht die Methode, Geschichte in den Dienst aktueller politischer Anliegen zu stellen, bei Gelehrten aller Epochen und Gesellschaftssysteme bis heute ihren verführerischen Reiz. Geändert haben sich freilich die politischen Positionen und die beabsichtigte Wirkung: Lieferten zur Zeit der NS-Diktatur Wissenschaftler auf diese Weise Argumentationshilfen für Feindschaft und Verfolgung, so besteht heute die Gefahr, dem Trend der Zeit entsprechend allenthalben interkulturelle Annäherung und Begegnung zu wittern. So sympathisch uns Geschichtsdeutungen letzterer Couleur erscheinen mögen, aus wissenschaftlicher Sicht kranken sie an derselben Schwäche wie der Ansatz Vogts: Ehe man es sich versieht, wird das historische Phänomen nicht mehr um des Verständnisses seiner selbst willen betrachtet und vor dem Hintergrund seiner Zeit bewertet. Stattdessen geraten Aktualitätsbezüge zum Leitfaden, bisweilen gar zum Ausgangspunkt der Untersuchung; in anachronistischer Weise wird für ein in der Gegenwart beheimatetes, häufig unausgesprochenes Anliegen Beleg- bzw. Vergleichsmaterial aus der Vergangenheit zusammengetragen. Dass in diesem Fall das anvisierte Ziel die Auswahl und Interpretation der Quellen bestimmt, liegt auf der Hand – die Studie läuft Gefahr, mehr über die weltanschaulichen Überzeugungen ihres Verfassers als über den untersuchten Gegenstand auszusagen.

Die Annalistik

Eine Warnung vor diesem methodischen Kardinalfehler bedarf am Beginn eines Studienbuches kaum der Rechtfertigung – umso weniger, als das Thema „Rom und Karthago“ nicht erst zur Zeit des Dritten Reiches zum Gegenstand interessengeleiteter Arbeitsweise geworden ist. Schon den in relativ geringem Abstand zu den Ereignissen schreibenden römischen Historikern war es nicht so sehr um die Erkenntnis geschichtlicher Abläufe und Zusammenhänge an sich zu tun, als vielmehr um senatorische Selbstdarstellung sowie die Rechtfertigung römischer Politik. Das hier entworfene Geschichtsbild ist dementsprechend kein unabhängiges, sondern folgt klaren politisch-ideologischen Zielvorgaben. Tatsachen, die geeignet waren, die moralische Berechtigung römischen Vorgehens im Einzelfall oder gar der errungenen Erfolge insgesamt in Frage zu stellen, wurden verschleiert, umgedeutet oder eliminiert.

Polybios

Als Korrektiv steht uns bis zu einem gewissen Grad das Werk des griechischen Historikers Polybios zur Verfügung, der um die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. das Zusammenlaufen bislang eigenständiger geschichtlicher Entwicklungsstränge unter römischer Herrschaft beschrieb und in Abgrenzung zu seinen Gewährsleuten wortreich die Forderung nach unparteiischer Darstellung erhob – man solle weder zögern die Freunde zu tadeln noch die Feinde zu loben, also von den handelnden Personen absehen und in den Aufzeichnungen vielmehr den Handlungen selbst die angemessene Beurteilung und Würdigung zuteil werden lassen (1,14). Auch die Objektivität dieser Quelle ist indes nicht über jeden Zweifel erhaben: Zunächst war Polybios für weiter zurückliegende Ereignisse wie den Ers ten Punischen Krieg seinerseits auf Geschichtswerke angewiesen, die römisches Handeln in der eben skizzierten Weise „frisiert“ wiedergaben. Sodann dürfen wir annehmen, dass der unfreiwillig in Rom lebende Historiker nicht ganz frei von Sachzwängen war – mit der Verurteilung der römischen Annexion Sardiniens mag die Grenze dessen, was er seinen einflussreichen Gönnern zumuten konnte, erreicht gewesen sein. Und schließlich ist nicht zu übersehen, welche Bewunderung Polybios selbst der einzigartigen Erfolgsserie römischer Machtpolitik entgegenbringt, deren Gründe darzulegen das zentrale Anliegen seines Werkes ist. Der Faszination seines Untersuchungsgegenstandes konnte sich der ehemalige Staatsmann und Truppenbefehlshaber nicht entziehen. So ehrlich er sich um unvoreingenommene Darstellung im politischen und militärischen Detail bemüht, aufs Ganze gesehen steht doch außer Frage – um Polybios’ eigene Worte aufzugreifen –, wer die „Freunde“, wer die „Feinde“ sind.

E

Polybios von Megalopolis (ca. 200 – nach 120 v. Chr.) 169/68 Reiterbefehlshaber des achaiischen Bundes, nach dem römischen Sieg über Perseus bei Pydna (168) mit 1000 weiteren politischen Geiseln nach Rom deportiert, wo er zum Freund und Berater des jungen Scipio Aemilianus avancierte, in dessen Gefolge er am Dritten Punischen Krieg teilnahm. Selbst zum Bewunderer römischer Politik geworden, beschreibt P. in seinem Geschichtswerk den beispiellosen Aufstieg Roms zur Weltmacht von 264 bis ca. 145 und analysiert die Ursachen der römischen Überlegenheit.

Spätere Quellen

Ähnliches gilt für die antike Literatur späterer Epochen: Den Historikern der Kaiserzeit waren Weltherrschaftsanspruch und Sendungsbewusstsein des römischen Volkes längst zur Selbstverständlichkeit geworden. Beschäftigung mit der Vergangenheit erfolgte unter dem Eindruck von Roms gegenwärtiger Größe als einer Art endgültigem Aggregatzustand der Geschichte. Nicht dass Karthago in diesem Geschichtsbild keinen prominenten Platz einnahm: In der Rückschau auf die Kriege wird die Stadt – in dieser Form gewiss unzutreffend – zur besiegten Konkurrentin Roms um die Weltherrschaft stilisiert; mit der tragischen Begegnung zwischen Dido und Aeneas projiziert Vergil die Wurzeln römisch-karthagischer Erbfeindschaft gar in die sagenhafte Vorgeschichte der Gründung Roms zurück. Doch wie phantastisch oder nüchtern auch immer Karthagos Rolle in der Vergangenheit gezeichnet wird, es geschieht immer in der übergeordneten Absicht, Roms geschichtliche Mission der Weltherrschaft zu illustrieren. Was die Historiker der Republik (Annalisten, Polybios) an Material boten, wird hierfür herangezogen, gedeutet, gekürzt oder ausgeschmückt, doch niemals grundlegend hinterfragt. Dass Rom auf seinem Weg durch die Jahrhunderte stets einen gerechten Kampf für ein vom Schicksal bestimmtes Ziel gekämpft hatte, war die allem Zugriff auf Geschichte gemeinsame Prämisse. Sie in Zweifel zu ziehen kam – soweit wir sehen – weder heidnischen noch christlichen Autoren in den Sinn. Auch der Wert dieser Informationsquellen unterliegt damit im Hinblick auf unser Thema erheblichen Einschränkungen.

E

Annalistik Geschichtsschreibung der mittleren und späteren römischen Republik, in der die Ereignisse nach Jahren angeordnet waren, entsprechend den jährlichen Aufzeichnungen des obersten Priesters (pontifex maximusannales maximi). Da die Werke der Annalisten größtenteils verlorengegangen sind, ist eine Überprüfung der Angaben bei späteren Historikern (Livius) nur selten möglich.

Das Rom-Bild der Neuzeit

Wenn schließlich noch in der neuzeitlichen Literatur zu „Rom und Karthago“ nicht selten ein Übergewicht römischer Standpunkte festzustellen ist, so liegt dies gewiss zum einen an der Eigenart unserer Quellen, die nur vereinzelt andere Sichtweisen als die römische präsentieren: Von punischer Literatur ist so gut wie nichts erhalten, nur wenig mehr von einigen prokarthagischen Darstellungen aus der Feder sizilischer Griechen. Die meisten und reichhaltigsten Schilderungen stammen von römischen oder aus römischer Perspektive schreibenden Autoren; ihre Tendenz prägt infolgedessen nur allzuleicht unser Geschichtsbild. Ein weiterer, bisweilen deutlich erkennbarer Grund liegt aber auch in der Faszination, die Roms Erfolge auf die lateinisch geprägte Welt bis heute ausüben. Die Begeisterung nicht weniger okzidentaler Historiker oder Philologen für die militärischen und organisatorischen Leistungen der Römer steht hinter der eines Polybios kaum zurück. Allein das Bewusstsein des humanistisch Gebildeten, in vielerlei Hinsicht über das Mittelalter hinweg in der Tradition Roms zu stehen, fördert die Identifikation mit „unseren“ römischen Vorfahren und zugleich die Distanzierung von den „fremden“ Karthagern – selbst wenn hierbei keine antisemitischen Affekte im Spiel sind. Zu einer nüchternen, unvoreingenommenen Beurteilung römischer Politik wird der moderne Historiker unter diesen Umständen ebensowenig gelangen wie sein antiker Kollege. Bemühen wir uns also zum einen – Vogts warnendes Beispiel vor Augen –, zeitgeschichtliche Assoziationen aller Art so weit als möglich auszublenden, und machen wir uns zum anderen das besondere Verhältnis bewusst, das uns über zwei Jahrtausende hinweg mit der römischen Geschichte verbindet, um uns bei der folgenden Betrachtung Roms und Karthagos weder von den einen noch von dem anderen unbewusst leiten zu lassen.

E

Punier/punisch von Poenus/Poenicus/Punicus, dem lateinischen Namen für die phoinikischen Bewohner Nordafrikas, insbesondere die Karthager, sowie deren Sprache und Kultur.

Rom und Karthago

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