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TAG 1
ОглавлениеEin stechender Schmerz in der Magengegend reißt Jo unwillkürlich die Augen auf. Schnell kramt er nach einer Leuchtkugel in seiner Hosentasche und wirft sie auf den kalten, nackten Höhlenboden. Binnen Sekunden ist der Raum hell erleuchtet. »Sanft ist anders«, denkt er und reibt sich über die, mit Kohle geschminkten, Augen aus denen es Meer-blau funkelt, wie bei einem Husky. Geblendet von dem grellen Licht, kneift er sie schnell zusammen. Bei geschlossenem Lid erinnert er sich an eine Zeit, als beim Erwachen die Sonne noch hell in sein Kinderzimmer strahlte und ihn sanft wachstreichelte. Ein bitteres Lächeln umspielt seinen Mund, während er sich durstig mit der Zunge über die spröden Lippen fährt.
Sein erster, sich an die Helligkeit gewöhnter Blick fällt zwangsläufig auf Ritzi, die ihm direkt gegenüber liegt. Zusammengezogen in Embryonalstellung, kauert sie auf dem kalten grauen Steinboden, lediglich geschützt von ein paar Pappkartons, die unter und über ihr liegen. »Sie sieht schön aus, so ungeschminkt«, fällt ihm auf. Er hat sie noch nie so ungeschminkt gesehen. Aus irgendeinem Grund hatte sie sich, gestern Nacht noch, wie wild das Gesicht geschrubbt und wären da nicht die vielen Sicherheitsnadeln durch ihre Ohren gestochen und der Ring durch ihren Nasenflügel, hätte sie fast etwas Unschuldiges, Reines, Kindliches denkt er und versucht, ihr Alter zu schätzen. Erst jetzt fällt ihm auf, dass er sie nie danach gefragt hat. Sein über ihr Gesicht wandernder Blick bleibt an ihren vollen Lippen hängen. »Ich würde sie schon mal gerne küssen«, denkt er und sieht beschämt schnell wieder weg. Er hasst diese unkontrollierbaren Gedanken am Morgen, die einfach so durch sein Hirn streifen und in letzter Zeit immer öfter auftauchen. Er verbietet sich diese sofort.
Jo rappelt sich zum Sitzen auf, greift instinktiv zur fast leeren Schnapsflasche, die neben seiner Schlafstätte steht und trinkt den restlichen Inhalt auf ex. Kurz darauf legt sich die Unruhe und die Wirkung des Alkohols verschafft ihm einen Moment wohliger Wärme in seiner Magengegend. Während er tief ausatmet, sieht er sich wie immer nach den Kleinen um. Ein Automatismus, der ihn manchmal selber erstaunt und beängstigt. Gefühle und Nähe ängstigen ihn generell. Die Zwillinge, Jake und Jill, schlafen noch fest umklammert neben ihm auf der Pappe.
Beruhigt zündet er sich einen Zigarettenstummel an und inhaliert kräftig. Dabei streift seine zittrige Hand über den immer wieder kehrenden Flaum im Gesicht und er fragt sich selbst, wie alt er jetzt wohl ist? 13 oder 14 vielleicht? Wie soll er das so genau wissen? Geburtstage kennt er schon lange nicht mehr. Im Untergrund gibt es keine Zeit. Er könnte nicht mal sagen, welcher Tag heute ist oder welches Jahr, geschweige denn, welche Uhrzeit.
Er schnippt den Zigarettenstummel weg, schlüpft in die völlig verdreckten und veralteten Springerstiefel und schnürt diese mit dem kläglichen Rest des gestückelten Bandes zusammen. Dann steht er auf. Sich räkelnd, schlurft er in die Ecke der Höhle, in der sich die leeren Farb- und Spraydosen auf einem Haufen türmen. Er schüttelt und rüttelt an leeren Dosen, bis er schließlich an einer schnüffelt, die vielversprechend klingt. »Das Ergebnis lässt zu wünschen übrig«, denkt er schlecht gelaunt und lässt die Dose fallen. Dann schleppt er sich zur gegenüberliegenden Seite und betrachtet sich in einer Spiegelscherbe an der Wand, die das Badezimmer symbolisiert.
Den Anblick muss er erst einmal verkraften: Der Alkoholkonsum des Vorabends steht ihm noch deutlich ins Gesicht geschrieben. Seine blauen Augen liegen in angeschwollenen, schwarzen Höhlen, der Blick scheint weit entfernt. Sein ca. sechs Zentimeter langer, blonder Irokese hängt zur rechten Seite so, als bräuchte er dringend einen Schluck Wasser. Notdürftig versucht er ihn mit Spucke aufzurichten, was nur bedingt gelingt, da sein Mund vor Durst sehr trocken ist. Der Flaum scheint stoppliger über Nacht geworden zu sein. Vielleicht aber auch nur dreckiger?! Fast wie ein Bart, der seine kindlichen, weichen Backen ziert. Seine Nase befindet sich in einem Stadium zwischen Kind und Mann, wohlgeformt und gerade, noch etwas klein und an der Spitze stupsig, dafür ist der Nasenrücken markant. Eigentlich sieht er aus, wie man sich James Dean als Teenager vorstellen könnte. Nur dreckiger, verkommener, nicht so strahlend, gebrochener und irgendwie härter, trotzdem mit dem gleichen melancholischen Blick und der Aura einer tiefen, geheimnisvollen Traurigkeit. Und mit der gleichen Geste streicht er sich sein störrisches Haar aus dem Gesicht.
Eigentlich wäre er ein hübscher Junge! Er gefällt sich, meistens, nicht heute, wenn er so fertig aussieht. Die pickelige Haut, macht den Anblick auch nicht besser. Und er muss zugeben, dass er für seine Verhältnisse echt scheiße aussieht! Er wirkt krank und angegriffen von den Lebensumständen. »Das ist eine tote Seele, die mich da anstarrt«, erschrickt er und wischt über den Spiegel, als könne er wegwischen, was er eben gesehen hat.
»Du siehst grottenschlecht aus, Alter!«, kommt es prompt aus der Ecke in der Ritzi liegt, die sich jetzt zum Sitzen aufrappelt.
»Ich weiß«, antwortet er mit brüchiger Stimme und sogleich folgt ein Räuspern.
Selbst seine Stimme scheint er nicht mehr richtig unter Kontrolle zu haben. Ein kurzes Lächeln huscht über sein Gesicht, als er bemerkt, dass Ritzi ihn beobachtet. Wie automatisch bläht er seinen wohlgeformten Oberkörper auf. Und wäre er nicht so dünn, würde er fast schon männlich aussehen. Sein abgeschnittenes, einst hellblaues Sweatshirt legt seine sehnigen Oberarme frei, die jede Menge selbstgestochene Tattoos zieren, die an Kinder-Gekritzel erinnern. Aufgerichtet geht er zu einem dreckigen Kanister, der an der Rückseite der Höhle steht, schüttet den kläglichen Rest abgestandenen Wassers in seine Hände und wäscht sich notdürftig sein Gesicht.
Ritzi ist mittlerweile auch aufgestanden, was ihr schwerfällt. Sie hasst es aufzuwachen, am liebsten würde sie immer nur schlafen und träumen, die Tage ausblenden. Sie ist eine Expertin im Träumen, die sogar, wenn sie einmal aus dem Schlaf hochgeschreckt ist, wieder auf Anschluss träumen kann. Meist erinnert sie sich an ihre Träume und oft kommen sie ihr realer vor als die tatsächliche Welt. Wie der Traum vom Fliegen. Sie flog über grüne Wiesen, über Berge mit schneebedeckten Bergspitzen und tiefen Tälern, eine Welt, die sie so nur aus alten Filmen kannte. Eine Welt, die heil zu sein schien, voller Farben und Gerüche aus längst vergangenen Zeiten. Das Gefühl war so intensiv, dass sie, als sie aufwachte, es nicht glauben konnte, nicht fliegen zu können. Also stellte sie sich hin, breitete ihre Arme aus und versuchte es. Ohne Erfolg! Ihre Enttäuschung darüber war groß und sie war tagelang schlecht gelaunt. Heute aber erinnert sie sich an nichts. Vielleicht war das auch gut so, denn oft genug plagten sie auch schreckliche Alpträume, aus denen sie manchmal schreiend und wild um sich schlagend erwachte.
Ritzi streicht sich ihre blonden Haare, die an den Seiten abrasiert sind, mit Spucke zurecht. In der Mitte sind sie lang und so hängt immer ein schräger Pony über einem Auge und verschleiert zur Hälfte ihr schönes Gesicht und auch ihren Blick, der meist, mit schräggelegtem Kopf, von rechts unten kommt. Ritzi ist ein wunderschönes Mädchen, doch sie setzt alles daran, ihre Schönheit zu kaschieren. Sie möchte nicht schön sein und sie hasst Komplimente. Sie schiebt die Ärmel ihres eng ansitzenden, schwarzen T-Shirts hoch und streicht zärtlich über ihre zerschnittenen Unterarme, so, als würde sie eine Trophäe berühren. Sie ist stets drauf bedacht, dass die Ärmel den ganzen Arm bedecken, als hüteten sie ein Geheimnis, das sie jeden Morgen aufdeckt, um beruhigt festzustellen, dass ihre Narben noch da sind. Daher gab Jo ihr diesen Namen. Ihren richtigen Namen kennt er nicht und das will sie auch nicht ändern. »Ritzi« gefällt ihr!
Über das T-Shirt wirft sie sich ein metallenes Kettenhemd aus alten Dosenverschlüssen, das sie selbst gemacht hat und das ihr ganzer Stolz ist. Kaum hat sie das Hemd an, fühlt sie sich sicherer, ja fast unverwundbar, vielleicht auch, weil das Hemd ihre apfelförmigen Brüste komplett kaschiert und sie damit flach wie ein Brett aussieht, fast wie ein Junge. Ihre enganliegende, schwarze Hose aus Kautschuk, die mit Ketten verziert ist und löchrig wie ein Sieb, zieht sie niemals aus. An der Seite der Hose befindet sich eine kleine Tasche, in die sie ihr geliebtes Messer schiebt. Es ist ihr ständiger Begleiter, selbst im Schlaf hält sie es fest umklammert. Ihre Füße stecken in klobigen Springerstiefeln, die sie hart und taff wirken lassen, fast burschikos. Wie alle hier, hat auch sie in voller Montur geschlafen, immer bereit aufzuspringen und wegzulaufen.
»Hey, Alter, verbrauch nicht das ganze Wasser, wir brauchen auch noch was!«, raunzt sie Jo an, obwohl sie es war, die gestern zu viel davon für ihr Gesicht verbraucht hatte.
»Zu spät, eh nichts mehr da!«
Jo feuert den Kanister in die Ecke. Die Kleinen, Jill und Jake, wachen, von dem Knall geweckt, unsanft auf.
»Was ist passiert?«, schreckt Jake fragend hoch, reibt sich die kleinen Äuglein und sieht sich erschrocken um.
»Nichts, schlaft weiter, ich schau, ob ich was zu essen abgreifen kann. Cyber ist nicht zurückgekommen, hoffentlich haben sie ihn nicht gebusted«, letzteres murmelt Jo mehr zu sich selbst.
Ihm ist unwohl bei dem Gedanken, in die Stadt zu müssen. Aber da sie nicht einmal mehr Alkohol haben, geschweige denn Drogen, bleibt ihm wohl nichts anderes übrig. Er ist der einzige aus dieser Runde, der sich in der Stadt auskennt und bei ihm ist die Wahrscheinlichkeit, dass er mit irgendetwas zu Essen zurück kommt am größten. Das wissen alle, auch er selbst. Er hasst diesen Zustand, keine Dröhnung in Aussicht zu haben. Und schon meint er die Wirklichkeit zu spüren, wie sie erbarmungslos in seine Gedanken eindringt und ihn nervös werden lässt.
»Fuck, Cyber!«, zischt er ärgerlich.
»Der kann schon auf sich aufpassen, musst ja nicht gleich so einen Krach machen!«, meckert Ritzi weiter. Ritzi ist morgens, wie immer, schlecht gelaunt. Missmutig betrachtet sie nun ebenfalls ihr Gesicht in der Spiegelfliese und bemalt sich ihre Augenlider mit schwarzer Kohle. »Mann, sehe ich scheiße aus!«, kommentiert sie auch ihren Anblick.
Jo sieht sie an und kann nur das Gegenteil empfinden. Sie sieht so schön aus wie immer, denkt er und betrachtet ihre smaragdgrünen Augen und ihre edlen Gesichtszüge, die schon fast ausgereift wirken und so gar nicht zu ihrer pubertierenden, ruppigen Art passen. Mit den bemalten Augen sieht sie älter aus und taffer. Er mag sie ungeschminkt und kindlicher lieber.
Die kleine Jill reibt sich unruhig den Bauch und winselt: »Ich habe Bauchweh.« Seit Tagen haben die Kinder keine richtige Nahrung mehr zu sich genommen und der Hunger gräbt sich schmerzhaft durch ihre, vom Alkohol angegriffenen Eingeweide. Ihr Bruder deckt sie väterlich zu.
»Jo holt was zu essen, dann geht es dir gleich besser.«, sagt Jake beruhigend.
»Hey, ich bin nicht euer Babysitter, verstanden, warum soll immer ich gehen?!«, raunzt Jo Jake an.
Er hat die beiden zwar irgendwie aufgenommen, trotzdem ist jeder für sich selbst verantwortlich, das hat er ihnen von Anfang an klargemacht. Auch wenn er selbst diese Grenze längst überschritten hat, indem er sich immer wieder um die beiden kümmert, versucht er sich dennoch abzugrenzen und die Nähe nicht zu sehr zuzulassen, aber ohne Drogen fällt es ihm noch schwerer. Und auch wenn er es nicht wahrhaben will, so hat er doch, ohne es zu merken, eine kleine Familie gegründet.
»Ich hab so Bauchweh«, jammert Jill erneut und krümmt sie sich vor Schmerzen zusammen. Jill‘s kleines Gesicht wirkt eingefallen und obwohl sie erst sieben ist, hat sie etwas Altes, ihre Haut ist fahl und blass. Sie hat offene Ekzeme im Gesicht, die sie immer wieder aufkratzt. Ihre langen braunen Haare sehen fettig aus und kleben an ihrer verschwitzten Stirn. Auch ihr Zwillingsbruder wirkt für seine sieben Jahre abgeklärt, jegliche Kindheit scheint aus seinen Augen verschwunden zu sein. Sein Blick ist trüb und ernst, seine Kleidung alt und dreckig, dennoch bemüht er sich, sie jeden Morgen glatt zu streichen.
»Jill braucht was zu essen und Medizin!«, sagt Jake jetzt ganz besonnen und ruhig, so als wäre er der Ältere.
»Dann geh doch selbst!«
Jake ist jetzt hellwach und schreit Jo an: »Siehst du nicht, wie dreckig es ihr geht? Ich kann sie nicht allein lassen!«
Jo wirft nun doch einen besorgten Blick auf das Mädchen, ihr geht es schon seit einiger Zeit schlecht. Sie sieht elendig aus. »Verflucht, warum muss ich mich immer um andere kümmern?! Der Weg in die Stadt ist weit und gefährlich«, denkt er, während er sich über das kranke Mädchen beugt und ihr seine Hand auf die glühende Stirn legt. »Scheiße, sie hat Fieber! Ich geh ja schon. Dieser verdammte Cyber, nie kann man sich auf den verlassen, Fucker! Du bleibst bei den Kleinen«, ermahnt er Ritzi und sieht sie streng an.
Er hatte die Zwillinge vor ca. einem Jahr aufgegabelt und seitdem begleiten sie ihn. Er weiß noch genau, wie er sie fand, eng umschlungen und ausgehungert in einem dreckigen Kanalschacht. Als er sie herausholen wollte, schlugen sie wild um sich wie kleine wilde Tiere, die Angst vor jedem menschlichen Wesen hatten. Irgendwie taten sie ihm leid und er gab ihnen Essen, das sie sofort hungrig heruntergeschlungen hatten. Seitdem folgten sie ihm. Sie wichen ihm einfach nicht mehr von der Seite. Anfangs versuchte er noch sie los zu werden, doch sie hingen wie die Kletten an ihm. Irgendwann fassten sie so viel Vertrauen, sodass sie auch mit ihm sprachen. Er erfuhr, dass sie aus einem Haus geflohen waren. Sie brauchten nicht zu erzählen, was geschehen war. Er wollte es nicht wissen, konnte aber ahnen, was sie durchgemacht hatten. Derlei Häuser gibt es viele in der Stadt, in denen Kinder gefangen gehalten werden wie Tiere.
Mittlerweile hat er manchmal fast schon brüderliche Gefühle für die Kleinen. Jo hatte keine Geschwister und jetzt waren sie seine kleine Familie, ob er wollte oder nicht. Und irgendwie war er auch froh darüber. Sie gaben ihm einen Sinn und das Gefühl, gebraucht zu werden. Jo nimmt das sorgfältig zusammengelegte Hemd von seiner Schlafstätte, das ihm auch als Kopfkissen dient, zieht sein Sweatshirt aus und streift es sich sorgsam über. Das Hemd ist sein ganzer Schatz! Es besteht aus Nanomaterial und besitzt bei herkömmlichem Gebrauch eine hohe Flexibilität, doch sobald ein Geschoss darauf einwirkt, wird das Hemd steif. Es hatte Jo schon einige Male das Leben gerettet und bevor er die Zwillinge hatte, legte er es oft darauf an, beschossen zu werden. Es war einfach ein geiles Gefühl, wenn die Geschosse auf ihn einwirkten und zu sehen, dass sein Hemd noch hält, als könnte keine Macht der Welt ihn zerstören.
Jo streicht über das enganliegende Hemd an seinem Körper. Nur wenige besitzen ein solches Hemd, das sonst nur die Oberen der Miliz und die Bewohner des Reichensektors tragen, hat er jedenfalls einmal gehört. Seine Hand gleitet weiter zum Hals an dem er die Narbe fühlt, die er sich, vor nicht allzu langer Zeit, selbst zugefügt hatte. Wie alle Cliquenmitglieder musste er sich, als er noch zu einer Gang im Untergrund gehörte, drei rote sechsen auf den Hals tätowieren lassen. Als er die Clique verließ, versuchte er sich, aus Protest, die Zahlen mit einem heißen Eisen wegzubrennen. Die Wunde nässte monatelang. Zurück blieb eine dicke Narbe, die er heute immer noch spürt. Vorsichtig streicht er mit seinen schlanken Fingern, mit dreckigen und abgekauten Nägeln, über die empfindliche Stelle.
»Ich hab heute Geburtstag«, verkündet Ritzi völlig unvermittelt aus ihrer Ecke. »Ich werde 13.«
»Wenigstens weißt du noch, wann du Geburtstag hast«, denkt Jo zynisch und zieht sich sein Sweatshirt wieder an. Er selbst hat keine Ahnung mehr, wann er geboren ist.
»Alles Gute, dann feiern wir heute, oder? Jo, du musst Schnaps mitbringen, ein paar Dosen wären auch nicht schlecht«, witzelt Jake aus seiner Ecke. Wie alle Kinder unter der Stadt berauscht sich auch Jake am liebsten, um die raue Wirklichkeit in Watte zu tauchen.
»Immer langsam, Kleiner. Kaum ist er aufgestanden will er Schnaps und sich zudröhnen.«
Jo wirft sich die, an den Ärmeln abgeschnittene, löchrige Lederweste über, die auf dem Rücken ein rotes Peace-Symbol ziert, das aussieht wie eine Zielscheibe. Er schließt seinen immer noch offenen Gürtel, denn wenn er auch sonst alles anbehält nachts, offener Gürtel und Schuhe aus, das muss sein, darin unterscheidet er sich von den anderen. Er geht zu Jake und tätschelt ihm liebevoll über den Kopf.
»Bin in ein paar Stunden wieder da, Großer.«
Jake, der immer noch neben seiner Schwester auf der Pappe sitzt, umschließt Jo‘s Beine, so, als wollte er ihn doch aufhalten. »Beeil dich!«, sagt er und weiß doch, dass es ein langer, beschwerlicher und riskanter Weg ist mit ungewissem Ausgang.
»Ich scheiß auf meinen Geburtstag, eigentlich ein Tag, sich umzubringen«, redet Ritzi, scheinbar mit sich selbst weiter, aber dafür war es etwas zu laut.
Er weiß nicht viel über Ritzi, keiner kennt ihre Geschichte. Ritzi redet nicht darüber und duldet auch keine Fragen. Er weiß nur, dass ihre Eltern noch in irgendeinem Sektor leben und sie einfach von zu Hause abgehauen ist. Er sah sie eines Tages auf einer Parkbank, wie sie sich gerade die Pulsadern aufschneiden wollte und nahm ihr das Messer gewaltsam ab. Da er sich weigerte, es ihr wieder zu geben, folgte sie ihm und den Zwillingen heimlich in die Katakomben. Sie freundeten sich an und seitdem begleitet sie ihn. Irgendwann bekam sie auch ihr Messer wieder.
»Mach keinen Scheiß Ritzi! Du passt auf die Kleinen auf, bis ich wieder da bin! Verstanden?« Jo schaut sie eindringlich an, gerne hätte er sie geschüttelt, aber Ritzi lässt sich nicht berühren, von niemanden. Selbst wenn es versehentlich passiert, kann sie überreagieren und einem eine scheuern. Also lässt er es. »Du wartest hier, bis ich zurück bin!«, ermahnt er sie erneut und hebt drohend seinen Zeigefinger: »Versprich es, hörst du?! Hand drauf.«
Er lässt Ritzi nur ungern mit den Kleinen allein. Immer macht er sich Sorgen, sie könnte sich etwas antun. Solange kennt er sie jetzt auch noch nicht, vielleicht ein halbes Jahr, aber er weiß, dass sie oft unberechenbar ist. Trotz alledem mag er sie. Sie ist wie ein guter Kumpel für ihn und Ritzi tut alles dafür, ihre Kumpelhaftigkeit zu unterstreichen. Irgendwie haben sie dieselbe Wellenlänge, ein ähnliches Alter und den gleichen schwarzen Humor, den er an ihr so mag.
»Ja schon gut, ich verspreche es.« Widerwillig streckt sie ihm ihre Ghettofaust hin. Jo schlägt seine Faust dagegen. Normalerweise hält sie ihr Wort, denkt er nun etwas erleichterter.
»Hier!« Jo fischt, hinten aus der schwarzen, enggeschnittenen, Lederimitathose einen weißen Plastikrevolver hervor und hält ihn Ritzi hin.
Die Dinger, die aus 3D-Druckern stammen, gibt es in der Stadt zur Genüge. Der Revolver hat nur einen Schuss, danach kann man ihn eigentlich wegschmeißen. Doch oft werden sie nach dem Gebrauch gereinigt und wiederverkauft, sodass man eigentlich nie genau weiß, ob wirklich eine Kugel drin ist oder nicht. Ritzi dreht stolz den Revolver in ihren Händen.
»Cool! Den kriegst du nicht mehr!«, scherzt sie.
»Mach keinen Scheiß, hörst du, der ist nur für den äußersten Notfall.«
»Ist ja schon gut, reg dich ab.«
Er ermahnt sie noch einmal eindringlich, dann macht er sich auf den Weg.
Die Höhle der Kinder befindet sich tief unter der Erde nahe Sektor 6, direkt neben dem Kirchenviertel. Unter der Kirchenmauer gibt es einen geheimen Gang aus vergangenen Zeiten, der tief ins Dunkel der Geschichte führt. Jo hat ihn beim Pinkeln entdeckt, als er gegen die Mauer stand. Und obwohl es klamm und feucht ist und von den felsigen Wänden tropft, für Jo und seine kleine Clique ist es der sicherste Platz unter der ganzen Stadt. Niemand kam bisher hierher und auch Jo entdeckt immer wieder neue Gänge und Tunnel in dem 350 Kilometer langen Labyrinth unter der Stadt, oft hat er sich auch schon verlaufen.
Jo muss sich erst durch die schmalen Tunnel quetschen, die scheinbar immer enger werden. »Lange passe ich nicht mehr durch«, denkt er jedes Mal, wenn er sich, auf allen vieren robbend, durch die schmalen Schächte zwängt, immer in Angst, die Decke könnte einstürzen und ihm den Weg abschneiden. Endlich erreicht er die unterirdischen Katakomben, die er aufrecht durchgehen kann. Die Wände sind mit Graffitis bemalt und überall liegen leere Flaschen, Müll und verlassene Feuerstellen von nächtlichen Gelagen. Je näher er zu den, schon vor langer Zeit stillgelegten, U-Bahnschächten gelangt, umso mehr trifft er auf Menschen, die auch den Untergrund besiedeln. Jo geht eine Weile am Gleisbett entlang. Schienen sind kaum noch vorhanden, Eisen lässt sich gut verkaufen und so hängen nur noch die vereinzelten Teile herum, die wohl keiner herausbekommen hat. Rechts und links neben den Gleisen, liegen, sitzen oder darben Menschen auf den verkommenen Bahnsteigen. Sie liegen unter Planen auf Pappen, oder haben andere provisorische Unterschlüpfe gebaut, um ihre wenigen Habseligkeiten unterzubringen. Sie kochen auf kleinen Feuerstellen und versuchen, ein halbwegs würdiges Dasein zu fristen. Manche saufen sich auch einfach nur zu Tode. Viele haben schon seit Monaten kein Tageslicht mehr gesehen, aus Angst aufgegriffen und ins »Abschaumdorf« abgeschoben zu werden. Mittlerweile werden die dreckigen Lager vor der Stadt so genannt, in der die Regierung alle neuen Flüchtlinge sammelt, die in die Stadt wollen. In die Stadt selbst kommt schon lange keiner mehr. Und jeder, der keinen Chip hat und von der Miliz festgenommen wird, wird dorthin abgeschoben. Die Lager sind berüchtigt und gelten allgemeinhin als Ort des Grauens. Die Menschen werden dort systematisch und wissentlich ihrem Schicksal überlassen und erkranken zumeist oder verhungern gar. Deswegen verstecken sich die meisten im Untergrund. So wie Jo und die anderen Kinder, die stolz darauf, sind keinen Chip zu haben. Sie betrachten sich als vogelfrei. Jo und seine Mutter hatten Glück, denn als sie vor der Stadt ankamen, waren sie eine der letzten denen es gelang, durch ein Abwasserrohr in die Stadt hineinzuschlüpfen, bevor diese komplett abgeriegelt und später in Sektoren unterteilt wurde.
Kurz vor dem Bahnsteig, der unter Sektor 5 liegt, verschwindet Jo in einem kleinen Seitengang. Aufgeschreckte Ratten laufen ihm entgegen. Angewidert tritt er die Tiere zur Seite. An einem Schacht der nach oben führt angelangt, zwängt er sich durch eine schmale Öffnung und klettert flink eine verrostete Stahlleiter hoch. Den Kanaldeckel stößt er mit seinem Kopf auf und schiebt ihn beiseite. Vorsichtig sieht er sich um. Er befindet sich in einer kleinen, stinkenden und vermüllten Seitengasse. Dem rosa Himmel nach zu urteilen, ist es noch früher morgen und so hat ihn keiner bemerkt. Jo wundert sich, wie früh es noch zu sein scheint und klettert aus dem Kanalschacht. Es weht ein angenehm leichter, wenn auch kalter Wind, der ihm den Gestank der Stadt in die Nase treibt. Unbemerkt schiebt er den Kanaldeckel wieder zu und macht sich auf den Weg zur nächsten größeren Querstraße. Autos gibt es hier schon lange keine mehr. Sie stehen höchstens noch ausgehöhlt oder ausgebrannt am Straßenrand und dienen manch einem als Schlafplatz. Funkmasten, Ampelanlagen, elektrische Leitungen, die alle ausgedient haben, hängen lose herum und werden nur noch zum Aufhängen der Wäsche benutzt. Einzig Fahrräder und Rikschas bewegen sich noch durch die, in Müll versinkenden Straßen.
Auf den Straßen muss Jo ständig auf der Hut sein, denn auch oberhalb der Katakomben hat jeder Sektor seine Gangs, die ihr Revier so gut es geht verteidigen und nach außen hin abriegeln. Und auch vor der Miliz, die die einzelnen Sektorengrenzen schwer bewaffnet überwacht, muss er sich in Acht nehmen, um nicht geschnappt zu werden. Jo will sich bis Sektor 2 durchschlagen, dort befinden sich noch einige verbliebene Geschäfte, die sich die immense Ladenmiete noch leisten können und von Plünderern verschont geblieben sind. Früher befand sich hier das Zentrum der Stadt, mit Shoppingmalls und vielen Geschäften. Heute gibt es nur noch vereinzelt Läden, die meisten Häuser sind zerstört, die ehemaligen Hochhäuser ragen wie, dem Verfall geweihte Mahnmale, gen Himmel, mit riesigen Löchern von Meteoriteneinschlägen, die die Erde vor einigen Jahren trafen. Handel wird wild auf der Straße betrieben, dort hofft Jo etwas Essbares abgreifen zu können. Er beschließt, die ehemalige Hauptstraße entlang zu laufen, die seit den Meteoriteneinschlägen in Trümmern liegt und eher an einen Schotterweg erinnert als an eine Straße. Rechts und links schmiegen sich kleine Hütten aus Blech, Plastik und Pappe eng an die Häuserwände. Überall schlafen Menschen auf den Straßen. »Die Stadt wuchert wie ein Eitergeschwür, das immer weiterwächst und immer hässlicher wird«, muss Jo jedes Mal denken, wenn er aus dem Untergrund auftaucht. Er mag die Stadt nicht. Weit entfernt erinnert er sich noch an Natur, an ein Zuhause und an sein kleines Dorf, in dem er einst lebte, bevor es von den Wassermassen des überquellenden Flusses davongetragen wurde.
Kurz vor der nächsten Grenzstraße verschwindet Jo in einer Seitengasse und als er gerade wieder in einen Kanalschacht abtauchen will, bemerkt er einen sehr alten, in hellen Lumpen gekleideten Mann. Ein eigentümliches Gewand aus Sackleinen, das mit einer Kordel zusammengehalten wird und vom Schnitt her eher einem Priestergewand gleicht, darüber eine graue Kutte. Seine alten, faltigen, mit blauen Flecken und Adern übersäten Füße stecken in selbstgemachten Schuhen aus einer Ledersohle, mit Riemen, die bis zu den Knien geschnürt sind. Noch nie hat Jo einen so alten Menschen gesehen. Die Alten sind versteckt, in irgendeinem Sektor, hat er mal gehört. Alte sieht man jedenfalls nur selten. Wenn man die Kindheit überstanden hat, liegt die Lebenserwartung höchstens bei Mitte 30.
Jo´s Neugier ist geweckt und er kann es nicht lassen, den Alten zu beobachten. Dieser schiebt einen alten Einkaufswagen vor sich her, in dem plötzlich ein Säugling zu schreien beginnt. Der Mann nimmt das Kind aus dem Wagen, als würde er wertvolles Porzellan tragen. Für einen kurzen Augenblick meint Jo, die Aura des Alten leuchten zu sehen. Vielleicht war es aber auch nur die Spiegelung der Sonne?! Der Alte legt das Kind liebevoll und sanft an seine knochige Schulter und wippt es beruhigend hin und her. Jo‘s ganze Aufmerksamkeit ist jetzt bei dem kleinen Wesen, das schon beachtlich viele Haare hat. Nur in alte Stofffetzen gewickelt, sieht es aus wie ein Kokon. Fasziniert bleibt Jo wie angewurzelt stehen. Er meint, die Liebe des Alten förmlich spüren zu können. Ein eiskalter Schauer läuft ihm über den Rücken. Der alte Mann legt das beruhigte Kind wieder zärtlich in den Wagen und geht weiter. »Er muss mächtig alt sein«, denkt Jo, »mindestens 100!« Unzählige tiefe Falten zeichnen sein Gesicht, tiefe Lebenslinien, die jede für sich vermutlich eine eigene Geschichte erzählen könnte. Jo weiß nicht warum, aber er beschließt den Beiden zu folgen. Der alte Mann schiebt den Einkaufswagen eine kleine Gasse entlang. Jo folgt ihnen in einigem Abstand. Plötzlich bleibt der Alte stehen und dreht sich um. Jo drückt sich schnell in einen Hauseingang.
»Kannst ruhig rauskommen Kleiner, ich tue dir nichts.« Doch Jo reagiert nicht, sondern drückt sich weiter in den Schatten des Mauervorsprungs und verharrt still. »Dann eben nicht!« Der Alte setzt seinen Weg unbeirrt fort.
Jo fühlt sich magisch angezogen und folgt den beiden weiter. Plötzlich biegt der Alte in die Hofeinfahrt eines bröckelnden Gebäudes. Er stellt den Einkaufswagen ab und ist auf einmal wie vom Erdboden verschwunden, als Jo die Einfahrt erreicht und in den Hinterhof späht. Neugierig geht er zu dem Einkaufswagen und wirft einen Blick hinein. Das Baby strahlt ihn lächelnd und quiekend an. Da legt sich von hinten eine Hand auf Jo‘s Schulter. Der Alte steht wie aus dem Nichts hinter ihm. Jo erschrickt.
»Warum verfolgst du uns? Hier gibt es nichts zu holen, also mach, dass du wegkommst!«, fordert ihn der Alte freundlich auf.
Jo starrt in das verrunzelte Gesicht, aus dem schlaue, liebevolle, fast junge Augen blitzen. »Hey Alter, beruhig dich! Ich wollte nichts stehlen«, antwortet er keck.
»Nun werde mal nicht frech, haben dir deine Eltern keinen Respekt beigebracht?«, sagt der Mann sanft ermahnend.
»Ich hab keine Eltern«, murmelt Jo und senkt seinen Kopf.
Wirkt er sonst eher wie ein Jugendlicher, sieht er jetzt aus wie ein kleiner, bemitleidenswerter Junge.
»Hm«, der Alte schaut nachdenklich und mustert ihn von oben bis unten. »Ach herrje, armes Kind Gottes!«, sagt er schließlich und sieht ihn gütig mit seinen grün-grauen Augen an. »Hast du Hunger?«
»Blöde Frage, wer nicht?«, entgegnet Jo ruppig. Ihm war die kleine Schwäche eben, die er gezeigt hatte, nicht entgangen und sogleich versucht er alles Kindliche zu durchbrechen.
»Na, dann komm!« Der Alte hebt das Kind sanft aus dem Wagen, zuppelt seine Kleidung zurecht und verschwindet im Rückgebäude. Jo bleibt zögernd im Hof stehen. »Na nun komm schon, kriegst was zu essen.«
Jo hat eigentlich kein Vertrauen zu Erwachsenen, noch nie gehabt und so mustert auch er den Alten noch einmal gründlich von Kopf bis Fuß. Er hat langes, graues, schütteres Haar, das er am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengebunden hat, genau wie es die jungen Apostel tragen. Aber wie ein Apostel sieht er nicht aus, denkt Jo. Sein dünner Körper ist so klapprig und knochig, als müsste er beim Gehen Geräusche machen, amüsiert sich Jo still und folgt den beiden schließlich doch ins Haus. Sie steigen eine kaputte Treppe hinauf in den ersten Stock. Im Dach klafft ein großes Loch und Putz bröckelt von den Wänden. Auf halber Strecke muss sich der Alte erst einmal auf das Fensterbrett setzen und tief durchatmen. Nach einer kleinen Pause kann er weiter. Jo empfindet auf einmal ein Gefühl des Ekels und der Abscheu vor dieser Gebrechlichkeit. Nein, er möchte niemals alt werden! Seine Überlegenheit kehrt zurück. »Was soll‘s«, denkt Jo, »zur Not hau ich den doch locker um, sollte der mir an die Wäsche wollen! Erst mal sehen, was es da zu holen gibt.«
Mit zittrigen Fingern steckt der Alte einen großen Schlüssel ins Schlüsselloch und öffnet die quietschende Türe, die zu einer kleinen Wohnung führt. »Eine richtige Wohnung!«, denkt Jo und sieht sich neugierig um. Das letzte Mal war er vor sechs oder sieben Jahren in einer gewesen, als seine Mutter und er vor dem Hochwasser flüchten mussten, in dem sein Vater ertrank. Sie verließen ihre Wohnung und ihr Dorf für immer und zogen in die Stadt, wo sie seither auf den Straßen leben. Der kleine Gang ist vollgesteckt mit Bücherregalen. Noch nie hat er so viele Bücher gesehen, geschweige denn eines gelesen. Fasziniert streicht er über die Buchrücken.
»Kannst du lesen?«
Statt eines Neins, zeigt ihm Jo automatisch den Stinkefinger.
»Dachte ich mir, komm!«
Der Alte führt Jo, ungerührt von der Geste, in eine kleine Küche. Zwischen Stapeln alter Zeitungen entdeckt er einen kleinen Ofen, der mit Holz geschürt wird, daneben einen alten Elektroherd, der jetzt als Schrank dient, da es ja seit der fünften Katastrophe, die die Erde heimsuchte, keinen Strom mehr in der Stadt gibt.
Besagte Katastrophe ereignete sich vor ca. zwei Jahren. Es kam zu einem nie dagewesenen Sonnensturm. Die Sonneneruptionen legten die letzten Transformatoren lahm. Alle Kommunikationssatelliten fielen aus. Die Welt lag im Dunkeln. Globaler Blackout. Straßenbahnen, U-Bahnen, Züge, nichts fuhr mehr. Die Regierung gab kein Geld mehr für den Wiederaufbau aus. Es war hoffnungslos. Einzig das Reichenghetto wurde weiter versorgt und aufgerüstet. Man hatte die Stadt und ihre Bewohner aufgegeben und die Sektoren in Anarchie versinken lassen.
Jo sieht sich weiter in der Küche um. Auf den Fensterbrettern stehen riesige Blumentöpfe mit selbstangebauten Tomaten und anderen Pflanzen, die Jo nicht kennt. Er kennt nur die Tomaten, die hatte seine Mutter auch immer auf ihrem kleinen Balkon gepflanzt. An der Seitenwand ein kleiner Tisch, der übervoll mit lauter merkwürdigen und kuriosen Gegenständen ist, die Jo noch nie gesehen hat. In einer Ecke ein kleines Körbchen, in das der Alte behutsam das Baby legt. »Sieh dich ruhig um!«
Ohne Scheu geht Jo in das angrenzende Zimmer. Auf dem Boden liegt eine Matratze mit einer bunten Wolldecke, daneben stapeln sich wieder Bücher. Obwohl alles chaotisch wirkt, fühlt sich Jo wohl und sicher, fast ein bisschen geborgen in der heimeligen Umgebung. Die Wohnung wirkt friedlich, wie eine kleine Oase im Getümmel der Stadt, mit Türen und Fenstern, keine Löcher in den Wänden, überhaupt sind noch alle Wände da – eine kleine heile Welt. Und ruhig ist es auch! Der Alte hängt seinen Umhang an einen Haken an der Küchentür und öffnet den Herd, aus dem er ein Stück Brot angelt. Er zupft eine Tomate ab und schneidet sie klein.
»Setzt dich!« Jo‘s anfängliche Skepsis entspannt sich gänzlich beim Geruch der Tomate und er zwängt sich auf den gegenüberliegenden Stuhl. Die Küche ist so eng und vollgestellt, dass man sich kaum umdrehen kann. Der Alte kann alles im Sitzen bedienen. Er macht ein kleines Feuer in dem alten Ofen an. Eisen, Flaschen, Blech – alles Mögliche steht herum oder ist auf Haufen gestapelt. Kleinkriminelle Gedanken, die er sich zu verbieten versucht, drängen immer wieder an die Oberfläche. Jo geht, wie automatisch, in seinem Kopf kurz durch, was er alles mitnehmen könnte, um es zu Geld zu machen. Der Alte scheint seine Gedanken zu lesen: »Hier gibt es nicht viel zu holen, Kleiner!«
Ertappt starrt Jo unschuldig vor sich hin. Der Alte angelt zwei Schälchen unter dem Tisch hervor und bröselt das Brot hinein, dann vermengt er es mit den Tomaten, gibt einen Schuss Öl darüber und stellt es Jo hin.
»Danke.«
»Oh, also doch erzogen. Schluck Wasser?«
Jo zeigt den Daumen nach oben, er hat den Mund bereits voll. Der Alte deutet es als ein Ja und schüttet aus einem Kanister eine dreckige Brühe in einen Topf, den er dann auf den Herd stellt. Jo schlingt gierig weiter die Tomaten-Brot-Mischung in sich hinein. Es tut gut, er merkt wie sein Körper Energie bekommt. Es schmeckt herrlich. Noch nie hat er so gute Tomaten gegessen, denkt er; er kann sich gar nicht erinnern, wann er zum letzten Mal überhaupt welche gegessen hat. Die Kinder ernähren sich meist von irgendwelchen Dosen, die sie sich aufwärmen, frisches Obst oder Gemüse kennen sie kaum.
»Nun erzähl mal, wie heißt du?«
»Ich heiß Jo.«
Der Alte muss lachen und sagt: »Jeder zweite nennt sich heutzutage Jo! Hast du auch einen richtigen Namen?«
Der Alte gießt sich und Jo die kochende Brühe in die Schälchen, aus denen sie gerade gegessen und die sie danach feinsäuberlich ausgeschleckt haben. Das ist durchaus üblich, Wasser ist zu kostbar geworden, um es für den Abwasch zu verschwenden und ohnehin kommt es nicht mehr aus der Leitung. Dann bereitet der Alte eine selbstgebastelte Konstruktion vor, die wohl als Fläschchen für den Kleinen dienen soll. Eine Art Trichter mit Schlauch und einem Säckchen am Ende. Er kippt ein Pulver in das Gefäß und übergießt es mit dem abgekochten Wasser. Um es abzukühlen streckt er seine Hand mit dem Säckchen aus dem offenen Küchenfenster in den immer noch frischen Tag. Die braune Brühe schmeckt seltsamerweise fruchtig und lecker. Heiß brennend schluckt Jo das Gebräu hinunter, bis es sich in seinem geschundenen Magen wohlig warm ausbreitet und diesen beruhigt. Der Alte holt das glücklich glucksende Baby aus dem Körbchen und legt es sich in den Arm, dabei lässt er Jo nicht aus den Augen. Dieser fängt unwillkürlich an, nervös mit den Beinen zu wackeln und an seinen dreckigen Nägeln zu kauen. Er hat das seltsame Gefühl, dem Alten nichts vormachen zu können und fühlt sich irgendwie durchschaut.
»Ist das dein Kind?«, versucht er von sich abzulenken.
»So in der Art.«
»Wie heißt er denn?«
»Ich nenne ihn ›Trash‹«.
»Was soll das denn bedeuten?!«
»Trash kommt aus dem Englischen und heißt Abfall.«
Jo muss plötzlich laut lachen. Sein erstes Lachen an diesem Tag, vielleicht auch in der ganzen Woche. Im Untergrund gibt es nicht viel zu lachen.
»Haha Trash, kein Mensch heißt Trash, hat der auch einen richtigen Namen?«, ahmt er den Alten nach. Nun muss auch der Alte lachen.
»Nein hat er nicht, aber du hast recht, vielleicht hat er einen würdigeren Namen verdient.«
»Warum nennst du ihn so?«
Der Alte saugt an dem Säckchen, um zu kontrollieren, ob es nicht zu heiß ist. Dann füttert er den Kleinen. Das Baby beginnt sogleich genüsslich an dem Säckchen zu nuckeln.
»Ich hab ihn im Müll gefunden, das war vor sieben Tagen und seitdem ist er bei mir«, sagt er sanft und dabei tätschelt er liebevoll Trash‘s Rücken, bis dieser ein Bäuerchen macht. »Gell, mein Kleiner, haben sie dich einfach weggeschmissen, die bösen Menschen«, turtelt er mit dem Kind, bevor er sich wieder Jo zuwendet. »Und, hast du einen richtigen Namen?«, wiederholt der Alte seine Frage von vorhin.
»Ich hieß mal Joshua, also früher.«
»Aha, also Joshua, schon besser!«
»Und was bedeutet mein Name? Bedeutet der auch was?«
Jo glaubt nicht, dass sein Name irgendeine Bedeutung hat und rechnet nicht wirklich mit einer Antwort, umso verwunderter ist er, dass der Alte ihm doch eine Antwort gibt.
»Joshua bedeutet der ›Gesandte‹, mein Junge, du hast noch Großes vor.«
Jo kann nur müde lächeln, der Gesandte, was soll das denn bedeuten? Dieses Wort hat er noch nie gehört! Obwohl ihn der Gedanke, dass sein Name eine Bedeutung hat, kurz erhebt.
»Wie alt bist du?«, endlich stellt Jo die Frage, die er schon stellen wollte, seit er den Alten gesehen hat.
»Ich bin jetzt genau 100«, antwortet der Alte.
»100, wie kann man denn 100 Jahre alt werden?!«
»Ich hatte eben Glück«, dabei zwinkert er Jo verschmitzt zu. »Wie alt bist du denn?«
»Zwölf oder 13, keine Ahnung.«
Und obwohl Jo das gleiche gefragt hat, nervt es ihn jetzt, hierauf zu antworten.
»Auf der Straße aufgewachsen, Kleiner?«, fragt der Alte anteilnehmend weiter.
Jo nickt und spielt mit dem Gedanken zu gehen, da ihm die Fragen zu intim werden. Der Alte ist aufgestanden und streicht Jo über den zusammengefallenen Irokesen. Jo springt unwillkürlich auf. Er hasst es, wenn ihm jemand über die Haare streicht. Die Zärtlichkeit des alten Mannes wird ihm unheimlich. Überhaupt die ganze Vertrautheit ist ihm nicht ganz geheuer.
»Ich muss jetzt gehen!«, sagt er schnell.
»Nun, Reisende soll man nicht aufhalten«, der Alte begleitet Jo mit dem Baby auf dem Arm zur Tür. Jo sieht sich noch einmal die Bücherregale an.
»Warum hast du so viele Bücher?«
»Ich war einmal Lehrer, das ist aber schon lange her. Wenn ich dir Lesen und Schreiben beibringen soll, kannst du gerne wiederkommen.«
»Zu was soll das gut sein? Auf der Straße nutzt das gar nichts«, entgegnet Jo verärgert, denn zu gerne hätte er eine normale Kindheit gehabt und die Schule besucht, anstatt sich auf der Straße herumzuschlagen.
»Man kann nie wissen. Seit die Zeiten von Handy und Internet vorbei sind, sind nur noch die Bücher geblieben. Die werden immer bleiben und du wirst immer aus ihnen Wissen erfahren und auch Antworten auf deine Fragen bekommen«, sagt der Alte mystisch und öffnet die Tür.
»Ich hab keine Fragen«, entgegnet Jo bockig.
Ihre Blicke treffen sich. Jo verspürt auf einmal wieder dieses unbekannte Gefühl. Wohlige Wärme, Liebe?! Irgendetwas durchströmt seinen Körper und lässt ihn erneut erschauern. Das Baby strahlt ihn an und auch Jo muss plötzlich lächeln. Er will schon zur Treppe, da hält ihn der Alte zurück.
»Hier zieh das besser an, du bist im Gebiet der ›Blauen‹«!
Er nimmt die Apostelkutte vom Haken und hält sie Jo hin. Dem Alten waren das rote Zeichen auf der Lederweste und die Narbe am Hals nicht entgangen.
»Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich das anziehe, Alter, die haben doch alle einen Chip?!«, dabei deutet er ihm frech einen Vogel.
Alltägliche Gesten, wie jene eben, verursachen ihm jetzt plötzlich ein schlechtes Gewissen. Der Alte sieht milde über die Respektlosigkeit hinweg.
»Die hier nicht, die kannst du ruhig tragen. Und hüte dich vor den ›Blauen‹ da draußen, wenn die rot sehen, sehen sie rot und außerdem ist es keine Schande den anderen etwas Voraus zu haben.«
Die Anspielung bezog sich auf die Gang, die auf der Straße lungert und die Jo schon beim Einbiegen in den Hof bemerkt hat. Sie nennen sich die »Blauen« und sind erbitterte Gegner der »Roten«, bei denen Jo einige Zeit Mitglied war. Und mit seiner abgeschnittenen Lederjacke und dem roten Kreis, würde er sofort als einer von den Roten erkannt werden. Wieder zwinkert der Alte Jo zu, freundlich, gütig, warmherzig, aber nicht ohne Schalk im Nacken und hält ihm auffordernd die Kutte hin. Widerwillig, aber doch einsichtig nimmt Jo die Kutte entgegen: »Danke.«
Jo tastet den Umhang, den sonst nur die Apostel tragen, misstrauisch nach einem möglichen Chip ab. Er mag die Apostel nicht und ohnehin glaubt er nicht an Gott, auch wenn er hin und wieder, in brenzligen Situationen, doch ein Stoßgebet gen Himmel sendet. Das hat er von seiner Mutter. Er weiß von Cyber, dass alle Apostelkutten einen Chip haben und von Stammapostel Simon in seiner Schaltzentrale kontrolliert und überwacht werden. Cyber hat es ihm erzählt. Doch die hier scheint clean zu sein.
»Schon gut mein Junge, wenn du Hunger hast bringst du mir die Kutte einfach wieder«, sagt der Alte so einladend, dass Jo ihm nichts abschlagen kann und ihm sogar die Hand zum Abschied hinhält. Doch in dem Moment fasst sich der Alte ans Herz, heult kurz auf, lehnt sich zurück an den Türrahmen und sackt in sich zusammen. Noch im Sinken streckt er Jo das Baby hin, der es verstört entgegennimmt. Jo blickt völlig fassungslos von dem Kind zu dem Alten, auf dessen Stirn ein Zeichen erscheint: JHWH 1 »Was ist das denn?!«, entfährt es ihm ungläubig. Jo sieht sich nach allen Seiten um, so, als müsste noch jemand das Zeichen gesehen haben. Aber keiner ist da.
Er eilt zurück, legt das Kind in sein Körbchen und geht wieder zu dem Alten. Das Zeichen ist verschwunden. Vorsichtig streicht Jo ihm über die faltige Stirn. Da war doch eben ein Zeichen? Wo ist es hin? Jo weiß nicht, was er von dem Ganzen halten soll. Er ist völlig ratlos und bereut es, den beiden überhaupt gefolgt zu sein. Vorsichtig rüttelt er an dem Alten, hält sein Ohr an dessen Mund, um sich zu vergewissern, ob dieser noch atmet und muss feststellen, dass er tot ist. Eilig zieht er den Alten zurück in die Wohnung. »Nichts wie weg hier«, denkt er und will schon wieder zur Türe hinaus, als das Baby plötzlich zu weinen beginnt. Das Kind hatte er schon völlig vergessen. »Verdammt! Was mach ich jetzt nur? Ich kann dich nicht mitnehmen, Kleiner! Noch ein Kind kann ich beim besten Willen nicht gebrauchen.« Da fällt ihm Jill ein und er durchstöbert die Wohnung nach Essbarem und Medizin. Medizin und Geld hat er leider nicht gefunden. Als er aus dem Schlafzimmer zurückkommt, ist der Alte verschwunden.
»Wo ist er hin? Das kann doch nicht sein?! Was geht denn hier ab?« Völlig verwirrt starrt Jo auf die Stelle im Gang, an der er ihn eben noch abgelegt hatte. Das Ganze kommt ihm jetzt doch recht spooky vor. Er rennt ins Treppenhaus, doch auch hier ist keine Menschenseele zu sehen. Zurück in der Wohnung setzt er sich entgeistert auf den Boden. Da das Baby immer noch weint, nimmt er es hoch und wiegt es in seinen Armen. »Ruhig, ich muss nachdenken.« Jo´s Gedanken rasen wie wild durch seinen Kopf: Die Wohnung wäre ein sicherer Platz für die Kinder, das Baby kann er nicht hierlassen, das bringt er nicht über das Herz, aber wohin damit? Jo befindet sich in Sektor 3, eine Apotheke würde er nur in Sektor 2 finden. Dort könnte er auch den Kleinen vor irgendeiner Schichterwohnung ablegen. Ja, so wird er es machen! Jo bindet sich das Baby mit einem Tuch um den Bauch, packt die Fläschchenkonstruktion ein und ein paar Lebensmittel, dann wirft er sich die Kutte um die Schultern, nimmt den Schlüssel der Wohnung, sperrt sie sorgfältig ab und geht.
Während er auf die Straße biegt, schließt er die Kutte über dem Kind, zieht sich die Kapuze tief ins Gesicht und senkt seinen Kopf. Auf der anderen Straßenseite stehen immer noch die Blauen. Jo kann beim Vorbeigehen noch einen kurzen Blick erhaschen und scannt die Gangmitglieder. Es sind fünf Jungs, drei vermutlich afrikanischer Herkunft, die anderen könnten Araber sein, vermutet er. Vielleicht zehn oder elf Jahre alt, halbstark und gefährlich. Der eine hat ein blaues Cape, der andere einen blauen Schal um den Hals und das blaue Tuch, das einem aus der Hosentasche hängt. Klares Zeichen für eine Gang. Je jünger sie sind, desto gefährlicher sind sie oftmals. Sie wollen sich beweisen, wollen, dass man über sie spricht, also begehen sie brutale und spektakuläre Taten. Das weiß er aus eigener Erfahrung, also ist er auf der Hut. Eines der Gangmitglieder ruft Jo zu: »Hey Apostel, Alter, schau mich mal an«, dabei hält er sich zwei Finger vor die Augen und bedeutet ihm, dass er keine Angst hat und bereit wäre ihm in die Augen zu sehen. Da die Apostel immer nur mit gesenktem Haupt durch die Straßen laufen, wird von ihnen gemeinhin behauptet, dass sie Gedanken lesen können! »Fucker!«, schreit der Junge ihm hinterher, da sich Jo nicht beirren lässt und einfach weitergeht.
Jo hält seinen Kopf weiter gesenkt, die Kapuze tief über den Augen, das Kind fest an seinen Körper geschnürt und die Kutte darüber, geht er zurück zur Hauptstraße. Die Apostel werden nicht kontrolliert, sie können sich durch die ganze Stadt bewegen, ohne angehalten zu werden. Außer ins Reichenghetto, dort kommen selbst sie nicht hinein. Ein Hauch von Unbesiegbarkeit befällt ihn. »Nur immer schön den Kopf gesenkt halten«, denkt er und verschwindet im bunten Treiben, das auf der Hauptstraße bereits herrscht. Und obwohl noch früher Morgen ist, feilschen und streiten die Menschen bereits in einem Dutzend von Sprachen, um zu handeln. Keiner beachtet ihn.
Cyber springt waghalsig von einem Hausdach zum anderen. Er ist ein exzellenter Runner und überfliegt so die Sektoren. Keiner springt so über die Dächer wie er. Von unten sieht er mit seinem schwarzen, langen Ledermantel aus wie ein großer Vogel und das ist durchaus gewollt. Verfolgt wird er von drei bewaffneten Männern der Miliz, die aber kaum mit ihm mithalten können. Cyber nimmt Anlauf und überspringt eine breite Grenzstraße. Gekonnt landet er in einem kleinen Garten auf dem Dach eines Hauses, rollt sich ab, hüpft elegant auf und rennt weiter. Die Miliz kann ihm nicht mehr folgen. Die Schlucht ist ihnen zu breit, also bringen sie sich in Stellung, um auf ihn zu schießen. Doch Cyber verschwindet blitzschnell hinter einer Stahltür auf dem Dach. Statt die Treppen hinunter zu gehen, überspringt er sie über die Geländer. Weiter unten sitzen Kinder auf den Stufen und vertreiben sich die Zeit. Auch die Treppenhäuser sind heutzutage von Menschen bevölkert. Weiter oben gibt es kaum welche, da die meisten Häuser Einschlaglöcher haben und von oben nach unten in sich langsam zusammenbröckeln. Auch ist es für die meisten Bewohner zu mühsam, die vielen Stufen hinauf zu gehen. Und so sind die alten, baufälligen Hochhäuser meist nur unten bewohnt. Aus Angst vor weiteren Beben oder Meteoriteneinschlägen fühlt man sich in den unteren Etagen sicherer und kann gleich auf die Straße flüchten, während man in den oberen Stockwerken in der Falle sitzen würde.
Unten angelangt betritt Cyber die Straße, zieht die Kapuze seiner Sweatshirt-Jacke, die er unter dem Mantel trägt, über den Kopf und verschwindet im Getümmel. Er ist ein Networker par excellence, überall hat er seine Informanten und Quellen, wo er Essen, Drogen oder sonstiges besorgen kann. Er ist ein Einzelgänger. Man weiß nie, wo er ist oder wann er wiederkommt. Auch gehört er, genau wie Jo, keiner Gang an und zählt, wie die anderen Kinder, zum Freiwild – stets auf der Hut, nicht von der Miliz oder irgendeiner Clique geschnappt zu werden. Cyber saß schon einmal im Gefängnis, kam aber wieder frei. Wie er das geschafft hat, weiß keiner. Auf dem Unterarm hat er eine Narbe. Es ist die Stelle, wo ihm einst ein RIFD-Chip implantiert wurde. Diesen Chip trägt jeder der schon einmal gebusted wurde, aber auch die Reichen und die Schichter tragen ihn sowie die meisten Bewohner der Stadt, um immer und überall geortet werden zu können. Jo und die anderen sind stolz darauf, keinen zu haben. Und wenn man doch einmal registriert wurde, schnitt man ihn sich einfach wieder heraus. Viele im Untergrund tragen eine ähnliche Narbe. Cyber verschwindet in einem Haus, seine Verfolger hat er längst abgehängt, und springt wieder wie zuvor über das Geländer das Treppenhaus nach oben. Eigentlich gibt es einen Fahrstuhl, aber da es schon lange keinen Strom mehr gibt, fährt dieser natürlich nicht mehr. Lose Kabel hängen vereinzelt in den Schächten, die Kabinen sind völlig ausgeschlachtet. Oben angelangt, checkt Cyber kurz die Häuserschlucht. Er befindet sich nahe der Grenze zu Sektor 7, dem Kirchensektor. Unten auf der Straße sind die Grenzposten damit beschäftigt, die Passierscheine zu kontrollieren und die Chips zu scannen, keiner von ihnen schaut nach oben. Cyber nimmt Anlauf und überspringt ungehindert eine weitere Grenzstraße. Auf der anderen Seite landet er in einem Maisfeld. »Vertikale« Bauernhöfe sind in dieser Zeit völlig normal geworden, nicht nur auf dem Dach. In manchen Wolkenkratzern werden ganze Etagen für den Anbau von Obst und Gemüse, Weizen oder Gerste genutzt. Es gibt aber auch Hühner in Bodenhaltung und Fische in Wassertanks. Und da die Pflanzen meist in Granulat oder in einer Lösung mit Nährstoffen wachsen, benötigen sie kaum Wasser. Man versucht sich so gut es geht, selbst zu versorgen. Generatoren, selbstgebaute Stromkreise, Solar, Wasser, Windräder, an Kuriositäten ist alles dabei. In manchen Häusern werden sogar ganze Marihuana-Plantagen angebaut, natürlich streng bewacht von ihren Gärtnern. Cyber kennt sie fast alle, die vertikalen Gärten und die illegalen Plantagen. Er fühlt sich auf den Dächern der Stadt zu Hause, hier findet er sich zurecht. Nur manchmal versteckt er sich nachts bei Jo und den anderen Kindern, die er erst seit kurzem kennt. Im dunklen Untergrund oder irgendwo anders, da nachts die Drohnen über die Stadt fliegen, ausgestattet mit Wärmebildkameras und jeden ausfindig machen, der sich nach der Sperrstunde noch auf den Straßen befindet.
Schnell lässt Cyber ein paar Maiskolben in seinem Mantel verschwinden, der jede Menge Innentaschen für sein Diebesgut hat und die er sich selbst eingenäht hat. Geduckt schleicht er bis an den Rand des Wolkenkratzers. Er muss auch hier ständig auf der Hut sein, denn die Besitzer der Felder bewachen diese mit Argusaugen und scheuen sich nicht, Selbstjustiz zu üben. Wahrscheinlich würde man ihn einfach von der Dachkante stoßen. Und manchmal, denkt er, könnte sein Ende ruhig so aussehen: Im freien Fall! Doch Cyber hat Glück. Der Mann, der am Rande des Feldes in einem Klappstuhl mit einem Gewehr über den Knien sitzt, scheint gerade sein Nickerchen zu halten. »Vermutlich schiebt er schon die ganze Nacht Wache«, mutmaßt Cyber im Vorbeihuschen. Er überspringt eine weitere Straße und landet auf einem ebenso hohen Gebäude direkt am Rande des Kirchenviertels, das durch hohe Mauern abgeschirmt, aber aus dieser Höhe gut einsehbar ist.
Der Kirchensektor mit seinen Gläubigen bildet eine in sich geschlossene Gemeinschaft und umfasst ein riesiges Areal, umgeben von hohen Mauern, die mit Überwachungskameras ausgestattet sind. Hier gibt es sogar Strom, zumindest in den Hauptgebäuden. Die Apostel, die wie Schattenmenschen durch die Stadt laufen, immer in grauen langen Capes mit Kapuze, bleiben für sich. Ihre Gesichter sieht man so gut wie nie. Ein völlig in sich geschlossener Sektor, ein Hineinkommen ist als »Nicht-Gläubiger« und unabdingbarer Diener der Kirchenmacht unmöglich. Nicht einmal die Regierung hat Einblick in diesen Sektor. Selbst die Drohnen fliegen nie über ihr Gebiet. Sie scheinen ein geheimes Abkommen mit der Regierung zu haben. Sie nennen sich »Gotteskindschaft« und entstammten einst einem Seitenarm der »Church«. War ihre Anhängerschaft vor den Katastrophen schon gewaltig, ist sie nun ins Unermessliche gestiegen. Sie ist zu einer Ein-Weltreligion aufgestiegen.
Ihre wichtigste Glaubensanschauung ist die Wiederankunft von »Jesus« und das damit verbundene ewige Leben. Angeführt werden sie von einem sogenannten Stammapostel, dem einzelne Sektorenaposteln unterstellt sind. Sie leiten die Sektorenkirchen, gefolgt von den Aposteln. Gemeinsam mit den Stammaposteln sorgen sie für die weltweite Einheit des Glaubens und der Seelsorge. Die »Gotteskindschaft« finanziert sich aus Spenden, sogenannten Opfern, die eigentlich jeder bringen muss. Dafür gewährt sie einem Kleidung, Nahrung und Obdach. Überall stehen Hütten und Baracken in dem einstigen »Schlosspark«, der jetzt einem Slum gleicht. Aber angesichts der Katastrophen und der steigenden Kosten konnte man auch den kleinen gläubigen Spendern den Einlass nicht verwehren und so wurden diese, mit jeder Katastrophe, mehr und mehr. In jedem Sektor gibt es eine Bezirkskirche der Apostel und Unterkünfte. Ihr Innenleben schirmt die »Großsekte« aber sorgfältig ab. Steuern werden dieser Kirche nicht berechnet.
In einem riesigen und weitläufigen Innenhof, noch einmal extra ummauert, befindet sich das Kirchengebäude. Es ist in der Form eher klar und zurückhaltend, dennoch, mit seinen dicken Mauern, imposant und noch fast vollständig erhalten. Nur hier und da klafft eine offene Wunde an der Außenwand. Bräunliche Ziegel decken das Dach. An der Stirnseite über dem Eingang sind zwölf, fast menschengroße Apostelfiguren in gebranntem Ton dargestellt. Die Ecke des L-förmigen Baus ist durch einen Turm betont, der wiederum in einer dreieckigen Spitze mit Glocke endet. Rechts daneben liegt das ehemalige Pfarrhaus, in dem die Apostel untergebracht sind, die dem Stammapostel Simon unterstehen. Beide Gebäude sind miteinander über einen quergelagerten Bau mit hohen, kräftigen Türmen verbunden, ausgestattet mit Überwachungskameras, Satelliten und Apostelwachen. Auch sämtliche kleinere Nebengebäude, von denen es viele gibt, sind von Aposteln bevölkert. Im hinteren Teil des Parks befindet sich ein großes Herrenhaus mit einer prächtigen Glaskuppel, in dem Stammapostel Simon residiert. Davor liegt ein großer steinerner Platz, der ummauert ist und von Aposteln bewacht wird. Kam einst danach der Park, rücken nun die Hütten immer näher heran. Nur der hintere Garten ist privat. Hinter dem Herrenhaus stehen fünf große Gewächshäuser, ein kleiner Rosengarten und Obstbäume, angelegt in einer Miniaturausgabe eines Schlossparkes, mit Springbrünnchen und Sitzecken aus Stein.
Plötzlich klopft Cyber jemand von hinten auf die Schulter. Es ist ein Junge von ca. 15 Jahren in Apostelkutte.
»Hey, was geht?«
Cyber fährt erschrocken herum: »Mann, hast du mich erschreckt! Musst du dich immer so anschleichen?!«
»Schon gut. Beruhig dich!«
Jungapostel Johann setzt sich umständlich neben Cyber auf die Dachkante. Höhe ist nicht ganz so sein Ding, das würde er aber vor Cyber nie zugeben und so versucht er, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Johann, den Cyber immer nur Ratte nennt, nicht weil er aussieht wie eine, sondern weil er sich in der Stadt wie eine bewegt und auch Verhaltensweisen einer Ratte hat. Linkisch, diebisch, selbst im Untergrund kennt er sich ganz gut aus und hält sich gerne dort auf. Oft erkundet er die dreckigen Kanalsysteme, gemeinsam mit den Ratten der Stadt. Einmal brachte er sogar eine als Haustier mit ins Herrenhaus. Nicht viele Apostel trauen sich in die Unterwelt, aber »Ratte« ist einer davon. Er ist fasziniert von dieser dunklen Welt. Und vielleicht nennt Cyber ihn auch so, weil Johann sich jedes Mal tierisch darüber aufregt, wenn Cyber ihn so nennt.
Die beiden kennen sich aus frühester Kindheit und sind gleich alt. Cyber wuchs mit seiner Mutter bei den Aposteln auf, bis ihm eines Tages die Flucht gelang. Kinder durften das Apostelgelände bis zu ihrem 14. Lebensjahr nicht verlassen. An jedem Ausgang sind Apostel postiert. Die Gemeinschaft ist autoritär-hierarchisch gegliedert. An deren Spitze steht der Stammapostel; mit seinen elf Gebietsaposteln bilden sie die zwölf Apostel. Man ist ihnen zu absolutem Gehorsam verpflichtet, wer sich dagegen auflehnt wird bestraft. Wie das aussah durften Cyber und Johann unzählige Male am eigenen Leib erfahren. Wer nicht parierte, wurde in die Kellerräume gebracht und mit einem Stöckchen gepeitscht, bis man Gehorsam zeigte. So ging das schon seit frühester Kindheit.
Cyber war zwei als seine Mutter und er zu den Aposteln kamen. Seine Mutter war schon immer streng gläubig. Wie viele andere auch, hatte die Familie alles während der großen Weltwirtschaftskrise, einige Jahre vor den Katastrophen, verloren. Ihr Mann sah keinen Ausweg mehr und erschoss sich. Allein mit einem Kind kam sie in die Stadt und bangte, Tag für Tag, ums Überleben. Sie war nicht geschaffen für ein Leben auf der Straße und so klopfte sie eines Tages völlig verängstigt, verzweifelt und halb verhungert an die Kirchenpforte und bat um Einlass. Wenigstens ein Dach über dem Kopf sollte ihr Kind haben. Sie opferte ihren Ehering und ein bisschen Schmuck – das Einzige, was ihr noch geblieben war – und lebte fortan mit ihrem Sohn unter den Aposteln. Im Laufe der Jahre verschrieb sie sich dem Glauben bis zur Selbstaufgabe. Schließlich schaffte sie es, als eine Art Haushälterin Stammapostel Simon zu dienen. Sie schuftete von früh bis spät. Es war ein Privileg, ehrenamtlich für ihn zu arbeiten, dafür bekamen sie und ihr Kind Kost und Logie – immerhin im Herrenhaus. Wie konnte sie da nicht dankbar sein? Cyber wurde von Stammapostel Simon mehrfach missbraucht, aber davon wollte seine Mutter nichts wissen, sondern schlug Cyber ihrerseits ins Gesicht, dafür, dass er so sündige Gedanken hatte. »Geh und wasch dir den Mund mit Seife aus!«, sagte sie dann.
Das Leben unter den Aposteln war kein Zuckerschlecken. Um fünf Uhr morgens ging Cyber in den Jugendgottesdienst, die Jugendleiter wurden ständig ermahnt , ihre Schützlinge moralisch aufzurüsten und von der sündigen Stadt fernzuhalten. Dann gab es ein karges Mittagessen und nachmittags musste er, wie alle Kinder, hart arbeiten: Holz hacken, die Gärten bestellen, Kutten waschen. Die Kinder schufteten wie Sklaven bis zum späten Abend. Mit elf Jahren hielt es Cyber nicht mehr aus und haute, mit der Hilfe von Johann, ab. Dieser ging mit ihm bis ans Ende des Ganges, in dem sie regelmäßig Züchtigungen erfuhren. Dort befand sich eine verborgene Tür, die durch ein schweres Eisenregal verstellt war und durch diese schleuste Johann Cyber hindurch. Er selbst kam nicht mit. Er wollte um keinen Preis zurück auf die Straße, zu schlecht waren seine Erfahrungen dort. Doch Cyber konnte er von seinem Vorhaben nicht abbringen. So gelangte dieser direkt von Sektor 7 in den angrenzenden Sektor 6 und damit in die Freiheit.
Cyber änderte seinen Namen – eigentlich hieß er Christian –, schnitt sich das lange, schwarze Haar auf halblang, schminkte sich seine dunklen Augen noch dunkler, so wie es eben die meisten Straßenkinder taten und tauschte die Apostelkutte gegen Kleidung, die er sich irgendwo zusammengestohlen hatte. Tagsüber hielt er sich auf den Dächern auf, nachts im Untergrund. Das waren die Orte, an denen die Apostel nicht anzutreffen waren. Schnell lernte er ein Runner zu werden und entwickelte eine hervorragende Technik. Er konnte von Hauswand zu Hauswand springen und dabei Flickflacks in der Luft machen. Und er entdeckte die Faszination der Dächer. Er liebt es, sich an den Rand zu setzen, seine Beine über den tiefen Abgründen baumeln und den Blick über die Dächer der Stadt schweifen zu lassen. Er spürt dann grenzenlose Freiheit. Der Horizont ist immer noch schön, der Himmel immer noch blau und die zerstörte Stadt, tief unter ihm, für einen Moment ausgeblendet. Seit seiner Flucht kommt er oft hierher an den Rand, von dem aus er das Kirchenviertel einsehen kann, insgeheim in der Hoffnung, seine Mutter zu erspähen.
»Arbeitet sie immer noch für den alten Sack?«, fragt Cyber Johann und spuckt in die Tiefe. Johann tut es ihm gleich.
»Kennst sie ja«, sagt er brüderlich. »Hier!« Johann holt ein Stück Brot aus der Kutte und hält es Cyber hin.
Obwohl sie gleichalt sind, sieht Johann wesentlich jünger aus, fast noch jungenhaft, im Gegensatz zu Cyber, der schon recht männlich wirkt. Johann ist von schmaler, feingliedriger Statur und sein Gesicht hat etwas Engelhaftes, was er gekonnt einzusetzen vermag. Die braunen, lockigen Haare und die braunen Augen runden das Bild ab. Wie alle Jungapostel trägt er langes Haar, das im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden ist. Erst wenn die Apostel volljährig sind, werden ihre Haare zu einer Tonsur rasiert. Vor diesem Moment graut ihm besonders, er findet diese Frisur ausgesprochen hässlich und liebt sein langes Haar.
Johann bringt Cyber immer etwas mit. Für ihn ist er mehr als ein Bruder, und was er Stammapostel Simon klauen kann, entwendet er ihm mit Genugtuung. Stammapostel Simon nahm Johann eines Tages auch unter seine Fittiche. Er war ein Straßenkind, allein und verwildert, aber er fiel Stammapostel Simon gleich wegen seiner Schönheit auf und dieser nahm ihn mit. Seither wuchsen die beiden im Herrenhaus auf wie Brüder.
Cyber lässt das Brot in seinem Mantel verschwinden. »Was gibt‘s Neues bei den Aposteln? Ist er immer noch nicht gekommen?«, fragt Cyber mit zynischem Unterton und funkelt Johann mit seinen undurchdringlichen, dunkelbraunen, fast schon schwarzen Augen an. Die Pupillen sind kaum zu erkennen. Cyber sieht aus wie ein mystischer Mensch, ein Magier aus einer anderen Zeit, mit seinem schwarzen Mantel, den pechschwarzen Haaren, den dunklen Augen, die durch die Schminke noch schwärzer wirken. Dazu seine blasse Haut, die seit einiger Zeit von Pickeln bevölkert ist, die ihm Johann nur allzu gerne ausdrücken würde, denkt er sich, als er ihn so ansieht.
»Nein, keine Spur von Jesus, keine Wiederkunft, der hätte ja schon vor sieben Tagen kommen sollen. Stammapostel Simon fürchtet nun, er hat etwas übersehen und erlebt die Wiederkunft nicht mehr. Sein Darmkrebs ist wieder schlimmer geworden. Der Alte versteht die Welt nicht mehr. Er traut sich kaum noch außer Haus. Er hatte ja alles für die Wiederkunft vorbereitet und nach den Sternschnuppen, die er als das siebte Zeichen gedeutet hat, meinte er, nun sei der Zeitpunkt gekommen, aber Jesus hat sich nicht blicken lassen. Nicht bei ihm und auch sonst nirgends! Jetzt weiß er nicht mehr weiter und ist nervös und fürchtet um seine Anhängerschaft. Auch die Schildberger sind erbost und zweifeln an ihm und an der Kirche. Sie fürchten neue Unruhen. Man will ihn zur Rede stellen. Wenn Jesus jetzt nicht bald in Erscheinung tritt, ist er am Arsch.« Der letzte Satz, aus Johanns Mund, lässt beide in Gelächter ausbrechen. »Ich hab sowieso nie an die Prophezeiung geglaubt, haha.«
Auch wenn Cyber früher immer eingetrichtert wurde, dass nur diejenigen von Jesus gerettet werden, die nach den Geboten der »Church« leben, hat er sich nie daran gehalten. Er war und ist rebellisch und lässt sich überhaupt nicht gerne etwas sagen. Dass Jesus nun überhaupt nicht erschienen ist, amüsiert ihn umso mehr.
»Und jetzt hat er Angst zu sterben und die Wiederkunft und das damit verbundene ewige Leben zu verpassen«, fährt Johann fort.
»Oh, der Arme, dann waren ja alle Vorbereitungen umsonst!«, antwortet Cyber sarkastisch und kann sich ein breites Grinsen nicht verkneifen.
Nach allem, was Stammapostel Simon Johann und ihm angetan hat, ist es für ihn nur gerecht, dass Simons Prophezeiung nicht eintritt und dieser nicht zu jenen 144.000 Auserwählten gehört, die im Endgericht »Heil« erfahren. Das wäre ja noch schöner!
»Ja, er bekommt mächtig Druck von allen Seiten, auch von den Gebietsaposteln, die um ihre Glaubwürdigkeit bangen. Irgendetwas ist wohl schiefgelaufen!«
»Ich kann dir sagen, was schiefgelaufen ist: Jesus kommt nicht, die Welt wird ohne ihn untergehen.«
Cyber blickt provokant gen Himmel. Für ihn würde es keine Erlösung geben. Warum sollte ausgerechnet er zu den 144.000 Auserwählten gehören? Nein, da besteht wohl keine Hoffnung. Er gehört zu den Gottlosen. Cyber glaubt längst nicht mehr an Gott. Denn was für ein Gott wäre das, der zulässt, dass derartige Dinge in seiner Kirche mit den Kindern passieren? Aber irgendwie hatte der Gedanke, dass alles bald vorbei sein könnte, etwas Beruhigendes für ihn. Der fehlt ihm jetzt. Johann fängt seinen plötzlich sehr traurig wirkenden Blick auf. »Wir werden schon nicht untergehen, Bruder«, sagt Johann, legt seinen Arm um Cyber‘s Schulter und drückt ihm ein Küsschen auf die Backe. Cyber ist bei dieser Art von Berührung etwas unbehaglich. Er möchte Johann keinesfalls irgendwelche Hoffnungen machen und wischt sich die Backe deutlich ab. Aber verletzen will er ihn auch nicht und so schüttelt er Johanns Arm, durch die Änderung seiner Sitzhaltung, sanft ab.
Johann ist schwul und bekennt sich auch dazu. Es wäre auch schwer für ihn es zu vertuschen, da sein ganzes Verhalten und seine Mimik eher weiblich anmuten. Schon als Kinder hatten sie Gespräche darüber, schließlich hatten auch beide irgendwann ihre ersten, ungewollten sexuellen Erfahrungen mit Simon gemacht, über die sie sich austauschten. Das half ihnen, darüber hinwegzukommen. »The Church«, wie sie sich schlicht nennt, betrachtet Homosexualität als Veranlagung und hat kein Problem damit, sie wird toleriert. Wahrscheinlich rechtfertigt Stammapostel Simon damit auch seine Vergehen, obwohl die beiden Kinder minderjährig waren und vom gegenseitigen Einverständnis keine Rede sein konnte. Johann liebt Cyber jedenfalls schon immer.
Vom ersten Tage an, war er mehr als ein Bruder für ihn. Er fühlt sich in seiner Nähe sicher. Geborgen. Für ihn strahlt Cyber Männlichkeit und Kraft aus. Außerdem verbindet sie vieles und er weiß, dass er sich auf ihn verlassen kann. Schon oft ist Cyber für ihn in die Presche gesprungen und hat für Johann Nötigungen erhalten, weil dieser schon immer zarter war als er. Und Johann dankte es ihm mit Geschenken und liebevollen Gesten. Aber Cyber fühlt nicht die gleiche Neigung, weshalb sie beschlossen, einfach Brüder zu bleiben. Und obwohl Johann in den Pakt einwilligte, nimmt er das Versprechen nicht ganz so ernst und testet immer wieder die Grenzen aus. Auch gefällt ihm Cyber mehr denn je mit seinen geschminkten Augen, den wilden Haaren und seinem durchtrainierten Körper. Er sieht unglaublich männlich aus, findet Johann und lässt keine Gelegenheit aus, seine wohlgeformten Muskeln versehentlich zu streifen.
»Wie geht’s meiner Mutter?«
»Sie hält nach wie vor zu Simon. Auch wenn in der Kirche bereits Stimmen laut werden und sich gegen ihn erheben, bleibt sie ihm treu ergeben.«
»Dumme Kuh! Fragt sie nach mir?«
Johann senkt den Kopf und verneint. Er weiß, wie sehr Cyber diese Tatsache schmerzt, auch wenn dieser noch so cool tut. Aber hätte er lügen sollen? Für seine Mutter war Christian gestorben, als er wegging. Er hat sich von ihr und damit auch vom Glauben abgewandt, an dem sie immer noch verzweifelt festhält.
»Dachte ich mir.« Cyber spuckt noch einmal in die Tiefe. »Ich muss los, noch ein paar Opfergaben von den Alten und Kranken einsammeln. Du weißt, was los ist, wenn ich mit leeren Händen komme. Und im Augenblick ist es ganz schlimm, kannst du dir ja vorstellen.«
Johann erhebt sich und ist froh, endlich von der Kante wegzukommen. Cyber steht ebenfalls auf. »Wir sehen uns, Bruder!«
Sie umarmen sich und klopfen sich kameradschaftlich auf den Rücken. Dann verschwindet Johann in einer Luke auf dem Dach. Cyber‘s Blick schweift über die dreckige Stadt, rüber zu den hohen, verglasten Konturen der Gebäude des Reichensektors, die sich in der Ferne im Gegenlicht scharf abzeichnen.
Luise, Rother‘s Tochter, gleitet wie eine Meerjungfrau durch das Wasser. Ihr kleiner – sie ist gerade mal 1,60 Meter groß – zarter Körper steckt in einem silberfarbenen Swimsuit mit Kapuze, der sich farblich kaum von ihrer blassen Haut abhebt. Das Schwimmbad liegt ganz oben auf dem Gebäude und steht nur der Präsidentenfamilie, Familie Rother, zur Verfügung. Es ist mit Glas überdacht, und wenn Luise auf dem Rücken schwimmt, kann sie in den Himmel blicken. Sie liebt es, frühmorgens zu schwimmen und in den rosa Sonnenaufgang zu sehen. Zug um Zug spürt sie dann die Unendlichkeit und versinkt in bunten Phantasiewelten. Schwimmt sie auf dem Bauch, sieht sie auf einen mit Gold verzierten Mosaikboden mit Darstellungen aus der alten griechischen Mythologie. Zu sehen ist Aphrodite, die in einem weißen Kleid anmutig dem Meer entsteigt, sowie die goldene Inschrift »Thalassa«, die mit türkisfarbenen Ornamenten umrandet ist und in der Mitte aus Gold besteht. Das Wasser funkelt und glitzert in der Sonne und die künstlichen Palmen, die am Beckenrand stehen, erzeugen die Atmosphäre von Wärme und Strand und lassen Luise oft von fernen Ländern träumen, die sie einzig aus Filmen kennt. Anmutig und elfenartig entsteigt sie dem Wasser, dabei streift sie die Kapuze ab und schüttelt ihre pechschwarzen Haare, die ihr blasses, edles und doch sehr kindlich wirkendes Gesicht umrahmen. Der Pagenschnitt betont ihr asiatisch-europäisches Antlitz perfekt. Bei ihr ist alles halb. Die Augen sind etwas schlitzig, aber eben nicht ganz. Ihr Mund ist zwar schmal, aber dafür schmollig. Die Form ihres Gesichts fällt, im Gegensatz zur Nase, eher europäisch aus und verläuft zum Kinn hin spitz zu. Die Nase ist von der Höhe her eher asiatisch flach und verleiht ihr dieses süße, kindliche, fast püppchenhafte Aussehen. Luise zieht den Reißverschluss ihres Anzuges auf. Darunter zeichnen sich kleine knospenartige Brüste ab, die nur darauf warten aufzugehen, während der Rest ihres Körpers schon fertig, aber dennoch klein scheint.
»Wunderschöne Mischung«, muss Teresa, eine Schichterin um die 50 Jahre, die am Beckenrand auf sie wartet, zum wiederholten Male feststellen und reicht Luise ein flauschiges Handtuch mit Familienemblem. Gedankenversunken nimmt sie es, rubbelt sich ihre Haare und geht zu der riesigen Fensterfront. Jenseits der Mauer und dem blitzblanken Garten blickt sie auf die Stadt. »Heute ist es soweit«, denkt sie sich, während sie aus dem Handtuch einen Turban bindet und sofort ein Kribbeln verspürt.
»Wie ist es da unten, Teresa?«, dabei dreht sie sich zur Schichterin um, die in ihrer weißen Arbeitstracht, ein grobes Kleid mit weißer Schürze, immer noch auf demselben Fleck steht, als wäre sie ein Einrichtungsgegenstand. Luise geht zu ihr und sucht den Blick ihrer braunen, sanften Augen. Teresa senkt sofort ihren Kopf mit dicken, schwarz-grau melierten Haaren, die sie stets zu einem Knoten gebunden hat, so wie sie es als Schichterin gewohnt ist. Demütig, einer Herrschaft niemals in die Augen blickend:
»Ich bin nicht befugt, mit dir darüber zu reden. No me preguntes hija!« Zweiteres sagt sie deutlich strenger und sucht sich sogleich eine Aufgabe aus Verlegenheit, da sich Luise mittlerweile, im Gehen, ihres Anzugs entledigt hat und jetzt, ohne Scham, splitternackt vor ihr steht.
»Ach, komm schon, irgendwann nimmst du mich mit. Ich will mal deine Familie kennenlernen!«, dabei versetzt sie Teresa einen Klaps auf ihren voluminösen Hintern, der an Frauen aus einem Gospelchor erinnert und beim Gehen auch genauso hin und her schwingt.
Teresa kann das gar nicht gutheißen, derartige Vertraulichkeiten! Da sie es aber als ein Zeichen der Zuneigung empfindet, rügt sie Luise nur sanft: »Ya savez no puedo hablar de estas cosas! No piensas en este!«, dabei hebt sie ihren Zeigefinger.
Seit geraumer Zeit ist Luise ziemlich frech, dabei war sie noch vor zwei oder drei Jahren so brav, wundert sich Teresa immer wieder. Jetzt ist sie aufsässig, wild und neugierig. Zum hundertsten Mal fragt sie Teresa, ob sie ihr mal die Stadt zeigt. Teresa hat sogar ihre Eltern darüber informiert, als sie nicht mehr wusste, wie sie damit umgehen soll. Und Luise wurde strengstens verboten, auch nur daran zu denken, genauso wie es Teresa verboten wurde, ihr irgendwelche Informationen über die Stadt zu geben. Teresa kann ihren Wunsch ja ein bisschen verstehen, schließlich lebt das Kind seit seiner Geburt in dieser gläsernen Festung, wie ein Vögelchen in einem goldenen Käfig. Niemals war sie draußen. Noch nie hat sie Wind, Regen oder einfach nur die Sonne gespürt. Ihr ganzes Leben hat sich in Glasbauten abgespielt. Ihre Neugierde, ihre Freude an Geschichte und Geschichten haben in ihr, im Laufe der Jahre, den ungestümen Hunger erzeugt, einmal die Freiheit erleben zu können und die liegt für sie nun mal außerhalb dieser Mauern und außerhalb des Reichenviertels. Bisher hat sie diesen Drang mit ihrem Wissensdurst gestillt. Aber wie lange noch?
Die 13-Jährige hat Zugriff auf eine der größten Datenbanken der Welt und so verbringt sie heimlich oft ganze Nächte damit, alte Filme und Dokumentationen anzuschauen und Recherchen zu betreiben. Sie ist für ihr Alter äußerst belesen und hat ein umfangreiches Wissen. Ihr Gehirn gleicht dem eines Computers. Sie scheint alles abzuspeichern. Kein Wunder bei einem IQ von fast 140. Teresa kennt kein Kind, das schlauer ist! Luise hat sich auch ausführlich mit ihrer Familiengeschichte befasst. Sie hat sie regelecht studiert:
Eine geheime Gemeinschaft, die über 100 Jahre lang als Schattenregierung fungierte und vor einiger Zeit die Macht offen an sich gerissen hat. Sie sind die eigentlichen »Königsmacher« gewesen. Ein jeder Präsident war ihre Marionette, eingesetzt, um ihre Interessen zu verfolgen. Der Schlüssel ihrer Machtausübung war einst Geheimhaltung, die sie nun angesichts der Ereignisse nicht mehr nötig hatten. Wovon jeder Diktator träumt, haben die Schildberger nun geschafft. Die neue Weltordnung! Novus Ordo Seculorum! Zuerst hatten sie die Welt vorsätzlich in eine der größten Wirtschaftskrisen gestürzt, denn wie eines ihrer ältesten Mitglieder immer wieder betonte: »Es braucht nur eine große Krise und die Welt wird die neue Weltordnung akzeptieren«. Jeden, der sich ihnen in den Weg stellte, ließen sie töten, um ihr Ziel zu Gunsten ihrer eigenen selbstsüchtigen Interessen durchzusetzen. Natürlich im Geheimen. Und so bemerkten die Menschen in Zeiten der Krisen und Katastrophen nicht, wie sie auf einen diktatorischen Polizeistaat zusteuerten mit einer Weltarmee, die sie kontrollierte. Es gab keine andere Verfassung, keine andere Währung, kein anderes Rechtssystem und auch keine andere Identität mehr. Alles wurde von den Schildbergern lange Zeit vorbereitet und lag nun endlich ganz in ihren Händen. Die totale Macht!
Sie bilden jetzt die Weltregierung. Europa, Asien und die nordamerikanische Union wurden nun von einer Handvoll Männern regiert. Afrika galt ohnehin nur noch als billiger Rohstofflieferant, wie irgendwelche Drittländer. Die Ressourcen waren fast vollkommen ausgebeutet. So wuchs eine Weltmacht heran, geführt von einer Elite bestehend aus Größen der Weltwirtschaft, Großindustriellen, alten Familien, denen die Weltbanken gehörte und bedeutenden Politikern. Obwohl die Schildberger ihr Ziel längst erreicht hatten, die Schaffung eines globalen Superstaates mit einer Ein-Weltregierung, mussten auch sie sich dem Ausmaß der Katastrophen, die im Laufe der Jahre immer mehr zunahmen, stellen. Sie reagierten mit noch mehr Zäunen, Mauern, Überwachung, Kontrolle und Abschottung. Auch wenn die Bevölkerung nun wusste, dass sie in eine Falle getappt war, hatte sie keine Kraft mehr, dagegen zu protestieren. Zu groß war der eigene Kampf ums tägliche Überleben außerhalb des Reichenghettos. Mehr als 30 Millionen Menschen drängten sich auf den Straßen und die Lage geriet zunehmend außer Kontrolle. Zu viele konnten nicht mehr registriert werden, die Kameras in der Stadt wurden von der Bevölkerung zerstört und in den einzelnen Sektoren herrschte Anarchie. Also schottete man sich weiter ab. Rother arbeitet fieberhaft an einem Plan, um der Lage Herr zu werden, denn die Situation wurde und wird immer unübersichtlicher. Während die Stadt im Chaos und in Armut versank, baute er Sektor 1 weiter aus und errichtete so seine Festung, die nur den oberen 10.000 Schildbergern vorbehalten ist und für uneinnehmbar gilt.
Luise ist nicht unbedingt stolz darauf, Rother‘s Tochter zu sein, seit sie begonnen hat zu recherchieren. Ihr selbst ist Reichtum nicht wichtig, sie kennt aber auch nichts Anderes. Luise ist nicht dumm und sie weiß, wohin Wissen und Macht die Menschheit gebracht haben. Das Ungleichgewicht ist immens: Während acht Prozent alles haben, leidet der Rest Hunger und Not. Der Preis dafür war hoch – Muttererde vermüllt und zerstört, alles durch Menschenhand. Seit dieser Erkenntnis spürt sie eine Last auf ihren Schultern und eine große Ungerechtigkeit gepaart mit Scham. Ihre Familie hat einen großen Beitrag dazu geleistet, dass die Welt verarmte, die Klimakatastrophen zunahmen und die Hölle auf Erden losbrach. Auch wenn sie noch zu jung ist, um das ganze Ausmaß zu erfassen, spürt auch sie deutlich das Pulverfass, das jeden Augenblick hochgehen kann. Ihre Sehnsucht nach einer besseren, freieren Welt und einem Leben außerhalb der Mauern wächst seither von Tag zu Tag.
»Also was ist jetzt, nimmst du mich mal mit?«, ärgert sie Teresa weiter.
»Das würde Ihr Herr Vater nie gestatten.«
»Eines Tages werde ich es tun, ob mit oder ohne deiner Zustimmung!«, neckt sie Teresa weiter, um ihre Reaktion abzuwarten.
Ein eigenwilliges Mädchen, denkt Teresa, nicht ohne Stolz, denn den Hauptanteil an Erziehung hat schließlich sie geleistet! Ihr Interesse an den unteren Schichten und das Aufbäumen gegen ihren übermächtigen Vater imponieren ihr, sie liebt dieses Mädchen. Es fühlt sich fast so an, als wäre Luise ihr eigenes Kind. Sie kennt Luise von Geburt an und das sind jetzt immerhin 13 Jahre. Und so herzlich Luise auch mit ihr und dem anderen Personal umgeht, ist Teresa doch stets darum bemüht, ihre Herkunft nicht zu vergessen und den nötigen Abstand zu wahren. Auch wenn es schwerfällt und es ihr mexikanisches Herz oft in Bedrängnis bringt, versucht sie, das Kind nicht zu sehr zu lieben. Manchmal fiel es ihr besonders schwer, vor allem dann, wenn Luises Eltern wieder mal keine Zeit und kein Interesse an ihrem eigenen Kind zeigten, was häufig geschah und mit den Jahren immer schlimmer geworden ist. Da hätte sie das Mädchen am liebsten einfach mit nach Hause genommen und ihren Job geschmissen! Den Eltern wurde das Kind regelrecht fremd und genauso fühlt sich Luise, fremd in ihrer eigenen Familie.
Während sie sich anzieht, quatscht Luise munter weiter: »Teresa, hast du mal das Meer gesehen?«
»Ja, hab ich, hija, es war ein trauriger Anblick.«
»Warum?«
»Das Meer, wie es in meiner Kindheit war, blau, tief, funkelnd und voller Fische, gibt es so schon lang nicht mehr. Es ist tot, trübe und dreckig geworden, vor allem aber giftig! Es malo!«
»Ich kenn das Meer nur von Bildern und Filmen. Das muss ein tolles Gefühl sein in der endlosen Weite. Blau, wellig und am Ende der Horizont und du schwimmst darin! Natur muss sich toll anfühlen!«
Die Schwelgerei wird durch das Heranschreiten ihrer Mutter unterbrochen. Die kleine, aber resolute Frau, die mit ihren durchdringenden, schmalen Augen keine Zweifel an ihrer Kompromisslosigkeit zulässt, marschiert geradewegs auf Luise zu.
»Du sollst dich nicht mit dem Personal unterhalten, junges Fräulein! Wie oft muss ich dir das noch sagen?!« Dann wendet sie sich mit einem noch schärferen Ton an Teresa: »Du kannst gehen!« Teresa zieht sich mit gesenktem Haupt behutsam zurück.
»Ach, hab dich nicht so. Sie ist auch nur ein Mensch, genau wie du und ich«, meint Luise, weil sie es nicht leiden kann, wie ihre Mutter mit Teresa umgeht.
»Sie ist Schichterin, mehr nicht! Und ein Mädchen von deinem Stand darf das nicht, merk dir das«, sagt sie im Luise so verhassten Ton einer Oberlehrerin.
»Und wer hat sie zur Schichtern gemacht?«, fragt Luise schnippisch zurück.
»Sei nicht so frech, das gehört sich nicht und jetzt beeil dich!«
Das aufmüpfige Verhalten ihrer Tochter missfällt Yan-Jie zunehmend. So etwas wäre ihr als Kind nie eingefallen. Sie ist eine funktionierende Person und das war sie schon immer. So wurde sie erzogen, immer auf Leistung bedacht. Deswegen hat sie auch der von ihrem Vater arrangierten Ehe ohne Murren zugestimmt. Sie hat sich ihrem Schicksal gefügt, auch wenn ihr Mann 27 Jahre älter ist als sie, sie keine Liebe für ihn empfindet und er vermutlich auch nicht für sie. Leidenschaft gibt es in ihrer Welt nicht. Sie untersteht Größerem, wie sie findet. Für ihren Mann war es ein Glücksfall, die reichste Tochter Chinas zu heiraten und somit seine Macht zu steigern. Yan-Jies Vater hat unter anderem Milliarden mit Leuchtkugeln gemacht, die, in Zeiten von Stromnotstand, weggehen wie warme Semmeln. Für sie wiederum war diese Heirat in eine der mächtigsten Familien der Welt ein enormer gesellschaftlicher Aufstieg. Also gehorchte sie ihrem Vater, wie sie auch jetzt ihrem Mann ohne Murren gehorcht. Sie würde niemals offen widersprechen. So etwas gehört sich nicht! Und sie würde nie ihr Gesicht verlieren, indem sie ausrastet. Sie ist stets beherrscht. Für sie gibt es nur eine Prämisse, nämlich immer zu den besten und einflussreichsten der Welt zu gehören.
Und so musste Luise, trotzdem ihre Freundin Annabell, nach langem Hin und Her, endlich bei ihr schlafen durfte und es Sonntag ist, zum Schwimmtraining. Jeder Protest war zwecklos, also gab Luise irgendwann nach. Einzig die Zeit konnte sie etwas verkürzen. Luise steht jetzt fertig angezogen vor ihrer Mutter. Ein kurzes Faltenröckchen in lupenreinem Weiß, dazu ein eng anliegendes weißes Oberteil mit einem gold-gestickten, umgekehrten Dreieck auf der Brusttasche. Dazu weiße Kniestrümpfe und weiße Schuhe aus Lack. Die Kleidung ist wie bei allen oberen Schichten weiß und selbstreinigend. Und da alle in dieser Glasstadt Weiß tragen, sieht sie eher wie eine Uniform aus wie Alltagskleidung. So gefällt sie Yan-Jie und auch wenn Luises Gesichtsausdruck immer noch rebellisch wirkt, sieht sie ordentlich aus. Ihre Mutter trägt ein silberfarbenes schlichtes Kostüm, bestehend aus Rock und Jacke mit Stehkragen, das ihre Strenge und Kälte noch betont. Ihre ohnehin schon blasse Haut unterstreicht sie mit noch blasserem Puder und so wirken ihre dunklen Mandelaugen wie die einer Porzellanpuppe. Dazu trägt sie roten Lippenstift, den sie mittig auf ihren kleinen, verkrampften Mund aufträgt, der so aussieht, als hätte er schon viel Bitternis geschluckt. Eigentlich wäre sie eine hübsche Frau in einem jugendlichen Körper, hätte sie nicht diese Härte, die sie ausstrahlt. Ihr schwarzes Haar ist stets nach hinten zu einer Banane gesteckt, die ihre mit Diamanten geschmückten Ohren freilegen und ihr diesen Sekretärinnen-Look verleihen, wie Luise findet.
»Ist ja gut, ich komme schon«. Luise verdreht die Augen hinter dem Rücken ihrer Mutter und folgt ihr zum Fahrstuhl, der direkt in die darunterliegende Wohnung fährt. Der Aufzug stoppt, verborgen hinter einem riesigen Spiegel, in einem beeindruckenden Entree. Der acht Meter hohe, sechseckige Raum ist vom Boden bis zur Decke mit schwarz-weiß kariertem Marmor verkleidet, nur die Umrandungen und Vertiefungen sind in rosa Granit gehalten.
»Wollt ihr nicht doch mit in die Kirche?«, fragt Yan-Jie ihre Tochter und ein Hauch von Besorgnis huscht über ihr sonst emotionsloses Gesicht, was aber sogleich wieder in Strenge umschlägt. Nur ungern lässt sie ihre Tochter mit Annabell allein. Sie findet, dass das Mädchen ein schlechter Umgang für sie ist. Diese rebellische Art kommt von ihr, da ist sie sicher. Und dann diese Prophezeiung! Sie hing über allem und jedem wie ein Damoklesschwert. Sie ist überall zu spüren, diese Ungewissheit. Passiert es oder passiert es nicht? Yan-Jie ist seit Wochen von Ängsten geplagt, darum lässt sie auch ihre Tochter nur ungern aus den Augen, solange bis sich alles geklärt hat. Sie hat ständig ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.
»Du hast versprochen, dass wir nicht müssen!«, dabei schaut Luise ihre Mutter ermahnend an. In gewissen Dingen hat sie die gleiche Kompromisslosigkeit wie ihre Mutter. Und auch wenn Luise einen Anflug von Besorgnis sah, heute wird sie es tun und mit Annabell in die Stadt gehen! Es ist alles geplant. Und das war gar nicht so leicht. Das Unterfangen gleicht einem Ausbruch aus einem Hochsicherheitsgefängnis.
Die Gebäude sind durch verglaste Brücken und Straßen verbunden, auf denen die Bewohner sich mit elektrischen Caddies fortbewegen. Es gibt sogar eine Magnetbahn, die die oberen 10.000 in die unterirdischen, aber nichtsdestotrotz funkelnd und edel ausgestatten Shopping-Malls bringen. Der gesamte Sektor ist in sich geschlossen und verfügt über ein Sauerstoffsystem sowie über eine eigene Strom- und Wasserversorgung. Jeder Ausgang, jeder Zugang, jede Tür wird von Männern der Miliz überwacht oder ist mit Sicherheitsschleusen versehen. Und da man Angst vor eingeschleppten Seuchen hat, darf auch kein Bewohner des Reichensektors den Sektor verlassen und hinaus in die Stadt. Das ist der Preis: Eingesperrt in der Glasstadt! Und auch die Schichter, die im Reichenviertel arbeiten, müssen sich strengsten Sicherheitskontrollen unterwerfen. Allmorgendlich müssen sie durch eine Schleuse und sich desinfizieren lassen, werden auf Krankheiten gecheckt und geimpft, bevor sie ihre Arbeitskleidung anlegen und sich in den Haushalten, Malls oder Technikräumen verteilen.
»Ich hab nie Zeit für Freunde! Außerdem waren wir letzten Sonntag erst in der Kirche und nichts ist geschehen! Du hast es versprochen…«, klagt Luise weiter, aus Angst, ihr Plan könnte doch noch durchkreuzt werden. Letzteres Argument überzeugt. Ein Versprechen würde Yan-Jie niemals brechen. Und da sie ja ohnehin nie an die Prophezeiung geglaubt hat, die letzten Sonntag hätte eintreffen sollen, gibt es eigentlich keinen Grund, dass sie heute mitgehen müsste. Schließlich waren sie vorher auch nie in der Kirche gewesen. Ab und an, wenn ihr Mann es sozusagen politisch tun musste. Beerdigungen prominenter Schildberger oder ähnliche Anlässe, dann! Er ist der Präsident und zu öffentlichen Auftritten muss ihn seine Familie natürlich begleiten und lächeln. Aber so langsam könnten sich alle wieder beruhigen und zum normalen Leben zurückkehren, denkt Yan-Jie. Die Welt wird untergehen, aber vielleicht anders als prophezeit. Vielleicht auch gar nicht? Yan-Jie versucht, die Gedanken daran zu verdrängen, was ihr jedoch nur bedingt gelingt.
In der Wohnung angekommen, die sich über die ganze Etage des Wolkenkratzers erstreckt, läuft Luise direkt in ihr Kinderzimmer. Sie durchquert dabei das 120 Quadratmeter große Wohnzimmer. Die gesamte Fensterfront ist bis zum Boden doppelwandig verglast und offenbart eine atemberaubende Aussicht, weit über die Stadt. Der weiße Flügel vor dem Panorama ist der zweite Blickfang, gefolgt von einer riesigen, weißen, futuristischen Sofalandschaft. Nichts sonst schmückt diesen Raum, außer seine weiße Schlichtheit. Auf einem kleinen Glastisch liegt ein Pad, mit dem sich alles steuern lässt.
Am anderen Ende des Wohnzimmers befindet sich ein hoher, edel wirkender Gang. Weiß-schwarz gekachelter Marmor im Schachbrettmuster schmückt auch hier den Boden. Ein antiquiertes, weißes, mit goldenen Intarsien verziertes Sideboard ist dort das einzige Mobiliar, zusammen mit einem riesigen Kronleuchter, der von der Decke hängt. Luise mag keine Kronleuchter und kann nicht nachvollziehen, wie sich ihre Eltern so altmodische Dinger in die Wohnung hängen können. Auch das Sideboard aus der Hinterlassenschaft ihres Großvaters ist ihr stets ein Dorn im Auge. Sie öffnet eine der Flügeltüren mit goldenen Türgriffen, die sie auch nicht leiden kann. Jeder offensichtliche Protz ist dem aufsässigen Teenager mehr und mehr zuwider. Annabell, die auf dem Bett sitzt, erwartet sie bereits ungeduldig. »Und, hast du ihn?«, fragt Luise flüsternd, während sie die Tür hinter sich schließt.
Annabell ist genau wie Luise ein aufmüpfiger Teenager, bereit Risiken einzugehen. Sie kennen sich seit frühester Kindheit und sie verbindet vieles. Beide Mädchen kommen aus aristokratischen, alten Familien, deren Väter beide Schildberger sind. Während Luises Vater der oberste Präsident des Kontinents geworden ist, ist Annabells Vater sein Vize. Strenge Männer der Macht, die sich beide Söhne gewünscht hatten und nur Töchter bekamen. Und aufgrund der von ihnen selbst eingeführten Geburtenkontrolle wird für beide Männer dieser Wunsch wohl nicht mehr in Erfüllung gehen. Jede Familie darf nicht mehr als ein Kind haben und als Vorbilder kommen sie nicht umhin, sich daran zu halten. Das haben sie sich selbst eingebrockt und zur Strafe Töchter bekommen, darüber sind sich die Mädchen einig. Karma!
Und nun hat Annabell ihn gefunden. Einen Ausgang der nicht überwacht ist, ein Schlupfloch – einzig der Generalschein von Luises Vater ist nötig, um die Tür zu öffnen. Keine Linsen oder Fingerabdrucksicherungen, die auch für Luise schwer zu knacken sind, dennoch nicht unmöglich. Längst hat sie die Pupille ihres Vaters gescannt und einen Silikonabdruck gemacht. Auch von seinen Fingern hat sie Silikonabdrücke gemacht, was es ihr ermöglicht, auf seine Datenbanken zuzugreifen. Selbst auf die, die nur dem Präsidenten vorbehalten sind.
»Und den Generalschein, hast du den auch?«, ungeduldig zupft Luise an den roten, lockigen, langen Haaren ihrer Freundin herum, um die sie diese beneidet. »Logo!« Annabell zieht den Schein hinter ihrem Rücken hervor, dabei grinst sie triumphierend über beide Backen und legt ihre die strahlend weißen Zähne frei, während Sommersprossen auf der kleinen Stupsnase herumtänzeln. Verschwörerisch funkelt sie Luise mit ihren smaragdgrünen Augen an, die an eine Lagune erinnern.
Luise gab Annabell genaueste Instruktionen, wie sie an den Schein kommt. Ihr Vater legt ihn jeden Abend auf das Sideboard, so, als lege man einen Schlüssel ab. Die einzige Sicherheitsnachlässigkeit die Luise von ihrem Vater kennt, der doch sonst äußerst bedacht ist, meint er jedenfalls. Während Luise im Schwimmbad war und ihre Mutter sie holen gegangen ist, schlich sich Annabell, ohne große Skrupel, aus dem Zimmer und nahm den Generalschein an sich. In vielerlei Hinsicht ist sie mutiger und verwegener als ihre Freundin, was wohl daherkommt, dass ihre Eltern nicht ganz so streng sind wie die von Luise.
»Der wird toben«, wird es Luise plötzlich bewusst angesichts der Größe ihres weiteren Vorhabens und sie wird noch blasser.
»Wir müssen unbedingt pünktlich zurück sein, sonst gibt es mächtig Ärger«, dämmert es jetzt auch Annabell, »wir kriegen bestimmt ein Leben lang Hausarrest«, scherzt sie aber dann doch.
Und schon ertönt die cholerische, laute Stimme ihres Vaters auf dem Gang, die die ganze Wohnung erschüttern lässt.
»Frau!!!«
Auf den gellenden Schrei folgt für einen kurzen Moment unerträgliche Stille, wie nach einem heftigen Donner. Dann sind heraneilende Schritte zu hören. Die beiden Mädchen verharren, ängstlich und mucksmäuschenstill in Luises Zimmer und halten den Atem an. Fast müssen sie loskichern, so groß ist die Anspannung.
»Was schreist du denn so?«, hören sie Yan-Jie sagen, die herangeeilt ist.
»Mein Generalschein, ich hab ihn hier hingelegt!«, dabei tippt er wie ein Irrer mit seinem Zeigefinger immer wieder auf das Sideboard. »Wo ist er?«
Unterschwellig scheint er seine Frau dafür verantwortlich zu machen. Sein Gesicht ist bedenklich rot angelaufen. Panisch sieht er auf seine Watch, die ihm unter anderem auch den Blutdruck anzeigt. Hastig wirft er eine Pille ein, die er einem silberneren Döschen entnimmt, das er immer bei sich trägt.
»Woher soll ich das wissen, ich hab ihn nicht weggenommen. Wo warst du denn heute schon?«, versucht Yan-Jie ihren Mann zu beruhigen und beginnt sogleich zu suchen.
»Auf der Basis! Dumme Frage!«, wie jeden Morgen, denkt Rother, denn dass er jeden Morgen als erstes mit seiner Kaffeetasse in der Hand, aber noch im Pyjama und Morgenmantel, auf die Basis fährt, sollte seiner Frau nicht entgangen sein.
Die Basis ist ein siebenstöckiger unterirdischer Komplex, in dem sich im Notfall bis zu 10.000 Menschen aufhalten können. Die Schildberger hatten bereits vor Jahren begonnen, daran zu bauen, immer im Geheimen natürlich. Die Bevölkerung ahnt nichts von dem riesigen Tunnelgeflecht, das sich unter dem Reichenviertel befindet. Es gibt lediglich Gerüchte darüber und den Schichtern ist es untersagt, irgendetwas über den Reichensektor nach außen zu tragen. Auf Ebene 1 befindet sich das Sicherheits- und Kommunikationszentrum der Regierung, auf Ebene 2 sind die Unterkünfte der Elite für den Fall eines Atomschlags oder sonstige Katastrophen. Luise und Annabell verbrachten hier während jeder Katastrophe die Zeit mit ihren Familien, in luxuriösen, modern ausgestatteten und erdbebensicheren Appartements, denen es an nichts mangelt. Darunter, auf Ebene 3, befinden sich das Management, Büros und Labore.
Bis Ebene 4 kommen die Mädchen problemlos mit ihren Chips, dies ist ihr zweites Zuhause. Da sie in letzter Zeit oft mit ihren Familien hier unten waren, fällt es kaum auf, wenn sie hier auftauchen. Hier gibt es einen unterirdischen See und eigene Plantagen mit Obst und Gemüse. Zu Ebene 5 bis 7 haben sie keinen Zutritt. Nur das Militär hat Zugang. Dort befinden sich die geheimen Labore der Regierung. Ebene 5 beheimatet das Mind-Control–Experimentier-Zentrum, auf Ebene 6 befindet sich eine Art Zoo, das Labor für genetische Experimente und auf Ebene 7 das dazugehörige Gefrierlager für fehlgeschlagene Experimente sowie der geheime und gut gesicherte Eingang zur Arche.
Die Arche ist ein unterirdisches Tunnelgeflecht, das die großen Städte eines Tages miteinander verbinden soll. Es gibt Straßen, Elektroautos und Wege für Fußgänger. Sogar ein Zug auf Magnetfeldern, der sogenannte Schienen-Jet, ist hier zu finden. Kaum einer weiß genau, wie weit das Geflecht ausgebaut ist, aber man arbeitet angeblich fieberhaft daran, es rund um den Globus zu installieren, um so die Kontinente und ihre Regierungen zu verbinden. Die Schichter, die hier arbeiten, sind unter Androhung von hohen Strafen zum Stillschweigen verdonnert worden und verbringen Jahre in dieser Unterwelt. Sie schlafen in provisorischen Containern in der Arche und bleiben ihr ganzes Arbeiterleben dort. Nach getanen Dienstjahren werden sie meist eliminiert. Es ist eine Wegwerf-Sklavengesellschaft, die hier lebt. Sonst haben nur noch Mitglieder der Regierung Zugang.
»Na dann ruf doch an, vielleicht hast du ihn ja dort vergessen?!«, antwortet Yan-Jie etwas lapidar, denn auch wenn Rother sich für unfehlbar hält und das meist auch war, Yan-Jie hat in letzter Zeit immer öfter bemerkt, dass ihr Mann etwas verlegt oder vergisst. Das würde sie ihn aber niemals merken lassen. Sie hat Respekt vor älteren Männern, das ist in ihrer Kultur verankert und so überspielt sie jede Vergesslichkeit, als wäre sie völlig normal. Rother stellt seine Watch auf Telefon um, doch dann zögert er und legt wieder auf. Vor seinen Generälen will er sich die Blöße, eine Sicherheitslücke zu sein, nicht geben.
»Und Duschen«, sagt er stattdessen.
»Dann schau im Ankleidezimmer! Ich hab dir deinen Anzug schon rausgelegt. Beeil dich, der Gottesdienst beginnt gleich.« Genervt geht Yan-Jie an ihrem Mann vorbei in Richtung der Küche. »Im Übrigen kommen die Mädchen nicht mit.«
Rother stoppt seine Frau mit einem festen Griff am Oberarm.
»Was soll das heißen, sie kommen nicht mit?«
»Ich hab es ihnen versprochen und was soll es auch bringen? Die Prophezeiung ist nicht eingetreten, das Leben geht weiter. So ist das.«
In diesem Punkt kann Rother seiner Frau nur zustimmen. Sie haben sich von Simon in die Irre leiten lassen. Er hat alle verrückt gemacht mit seiner Ankündigung der siebten Katastrophe und dem damit verbundenen Weltuntergang, dem ganzen Gerede über die Wiederkunft! Lediglich 144.000 würden Heil erfahren. »So ein Quatsch«, denkt Rother und hofft inständig, dass der Spuk nun endgültig ein Ende hat und die Sache vom Tisch ist. Schon die Apokalypse und deren Folgen waren nicht Teil seines Plans und nun musste er sich auch noch mit dieser verdammten Prophezeiung auseinandersetzten. Sollte die Prophezeiung doch noch eintreten, würde die Kirchenmacht noch größer werden, er und seine Familie wären in Gefahr. Was, wenn Jesus ihn und seine Familie für seine Gier und seine Machenschaften bestrafen würde? Würde er zu den 144.000 Versiegelten gehören, die gen Himmel fahren? Vermutlich nicht! Doch sie ist nicht eingetroffen, trotzdem spürt auch er diese über allem hängende Ungewissheit.
Rother zwirbelt nervös an seinem Menjou-Bärtchen, wie ihn einst die Männer vor 200 Jahren getragen haben und geht gedankenversunken zurück ins Schlafzimmer. Den Generalschein hat er anscheinend schon wieder vergessen, zu sehr nimmt ihn jetzt dieser Gedanke ein. Doch da die Prophezeiung nicht eingetroffen ist, fürchtet er nun, dass sich das Volk gänzlich von der Kirche abwendet und es zu neuen, nie dagewesenen Unruhen kommen könnte. Unzufriedenheit aufgrund der verlorenen Hoffnung sowie enormer Widerstand wären die Folge. Und sollte diese doch eintreffen, hat sie vielleicht Unmut geweckt? Ein jeder rechnet dann mit seinem Ende und alles könnte schnell außer Kontrolle geraten. Er hasst Kontrollverlust! Die ganze letzte Woche hat die Familie deshalb auf der unterirdischen Basis verbracht, aus Angst, es könnte irgendetwas passieren. Doch nichts ist geschehen und erst seit zwei oder drei Tagen stellt sich wieder etwas Alltag ein.
Trotzdem möchte Rother die Andacht nicht verpassen. Die Neugier treibt ihn an. Wie sich wohl die Kirche aus dieser Blamage herausretten wird?! Schon sieht er das peinlich berührte Gesicht von Gebietsapostel Gabriel vor sich, wie er den oberen Schichten dieses Dilemma zu erklären versucht. Gabriel ist der Gebietsapostel von Sektor 1 und da auch viele im Reichensektor gläubig sind, hören sie auf ihn. Rother öffnet den weißen Bademantel mit dem goldenem Dreieck auf der Brusttasche und betrachtet seinen hageren, aber durchtrainierten Körper eitel im Spiegel. Dann streicht er sich mit einer Handvoll gut duftendem Gel das noch volle, graue Haar aus seinem europäischen Gesicht. Er sieht immer noch ganz gut aus, findet er und tatsächlich hat er etwas von Sky Dumont, nur dass er kräftiger wirkt.
Er wäscht sich gründlich seine Hände, da fällt ihm plötzlich der Generalschein wieder ein und er läuft zurück in den Gang. »Frag die Mädchen, ob sie den Ausweis gesehen haben... und Teresa!«, schreit er in Richtung Küche. »Wenn ich zurück bin, ist der Schein da!«, dann geht er erleichtert, wieder wissend warum er verärgert war, zurück in die Schlafgemächer mit angrenzendem Kleiderzimmer und zieht den weißen Anzug an, der schon bereit liegt.
Yan-Jie öffnet rabiat ohne Vorwarnung die Tür zum Kinderzimmer, ein ca. 60 Quadratmeter großer Raum mit weißem Teppich und weißen Möbeln. Ein pinker, runder kleiner Läufer vor Luises Bett ist der einzige Farbtupfer, für den Luise tagelang betteln musste. Es liegt kein Spielzeug herum. Keine Kuscheltiere, keine Puppen, keine Klamotten. Nichts verrät, dass hier ein heranwachsender Teenager wohnt, außer vielleicht der weiße, kleine Schminktisch an der rechten Wand, der voll mit Kosmetika ist und zu Luises absoluten Lieblingsstücken zählt. Oft schminken sich die Mädchen wie kleine Mangapüppchen zum Leidwesen ihrer Eltern und ziehen sich bunte Perücken an, die sie in den Malls heimlich gekauft haben. An der Stirnseite des Zimmers befindet sich auch hier eine riesige Fensterfront mit Blick über die Stadt. Luise hat schon viele Stunden vor den Fenstern verbracht und über die Ungerechtigkeit in dieser Welt nachgedacht.
Die beiden Freundinnen sitzen auf der Bettkante und sehen Yan-Jie erschrocken an. »Hast du den Generalschein deines Vaters gesehen?«, fragt Yan-Jie streng und sieht die Mädchen durchdringend mit ihren kleinen Augen an, so, als wäre sie der Lügendetektor in Person. Luise ist eigentlich eine schlechte Lügnerin und dieser Blick macht sie nervös, doch angesichts der Größe ihres Vergehens, reagiert sie unverhofft souverän.
»Nein, ich war doch schwimmen. Den hat er bestimmt irgendwo verlegt«, antwortet sie so leicht, wie es ihr möglich ist und zu ihrer eigenen Verwunderung klang es überzeugend. Außerdem ist auch ihr die Vergesslichkeit ihres Vaters nicht entgangen. Yan-Jie schließt überzeugt die Tür und lässt die beiden allein. »Gleich gehen die!«, flüstert Luise ihrer Freundin zu.
Still und leise lauschen die Mädchen weiter nach jedem Geräusch in der Wohnung. »Ich glaube sie sind weg«, sagt Luise, als sie die Fahrstuhltüren hört. Wie immer sind ihre Eltern gegangen, ohne sich von ihr zu verabschieden. Sonst verpasst ihr das immer einen kleinen Stich ins Herz, doch heute nicht, dazu ist sie zu aufgeregt. Und im Laufe der Jahre hat sie sich auch daran gewöhnt, keinerlei körperliche Nähe mit ihren Eltern zu teilen. Umarmungen und Verabschiedungen gibt es im Hause Rother nicht.
Vorsichtig öffnet Luise die Kinderzimmertüre und späht hinaus. Die Luft ist rein! Im Wohnzimmer bedient sie als erstes die Fernsteuerung und öffnet ein 3D-Hologramm, das über der Sofalandschaft erscheint. »Gebäudeüberwachung«, ruft sie ein Programm am Bildschirm auf und sofort erscheinen auf dem Hologramm die Bilder der Überwachungskameras. »Kamera 4«, gibt sie weiter ein und zu sehen sind ihre Eltern, wie sie schweigend nach unten fahren.
»Hast du das Narkotikum?«, fragt Annabell sie.
»Noch nicht, aber gleich. Wir treffen uns in der Küche!«
Während Annabell in Richtung Küche geht, huscht Luise in das Schlafzimmer ihrer Eltern mit angrenzendem Badezimmer. Im Schrank ihres Vaters befindet sich eine ganze Apotheke mit sauber aufgereihten Dosen und Fläschchen, alle fein säuberlich etikettiert. Hypochondrisch und narzisstisch wie ihr Vater ist, findet sich hier alles: von Schmerzmittel bis hin zu allen möglichen Anti-Aging Produkten. Ihrem Vater fällt es schwer, alt zu werden und obwohl sein Körper schon deutliche Verschleißspuren aufweist, versucht er, diese mit solchen Mitteln zu bekämpfen, was nur bedingt gelingt. Zielsicher greift sie nach einem Fläschchen und lässt es in ihrer Rocktasche verschwinden.
In der Küche hat Annabell währenddessen versucht, Teresa die Küchengeräte zu erklären, mit denen diese seit Jahren im Clinch liegt. »Hier musst du drücken und dann die Essensbestellung aufgeben«, schiebt sie Teresa zur Seite. »Setzt dich einfach. Wir bringen dir einen Kakao.« Doch Teresa ist viel zu pflichtbewusst und wischt mit einem Lappen über die blitzblanken, weißen Arbeitsflächen. Erst als Luise zurück ist und sie eigenhändig zum Tisch führt, setzt sie sich mit der halben Pobacke auf den Rand eines Stuhls.
»Entspann dich, wir machen uns selbst Frühstück.«
»Gracias hija.«
Zurück in der Küche, träufelt sie eine Flüssigkeit in den für Teresa vorgesehenen Kakao. »Hoffentlich ist das nicht zu viel?«, überlegt sie laut und schaut Annabell fragend an, die ihr gefolgt ist. Doch diese weiß es auch nicht so genau und wackelt nur zweifelnd mit dem Kopf. Luise rührt das Narkotikum in die Tasse, pustet ihn noch etwas kühl, bevor sie ihn Teresa vor die Nase stellt. »Gracias mi hija«, seufzt diese dankbar und nippt an dem heißen Getränk. Die beiden Mädchen mustern sie erwartungsvoll. Es dauert keine Minute, bis ihr Kopf schlafend auf die gläserne Tischplatte sinkt. Verantwortungsbewusst prüft Annabell ihren Puls.
»Alles okay, sie schläft nur tief und fest. Los jetzt, wir haben knapp drei Stunden!«, leitet Annabell die Mission »Stadt« ein. Blitzartig wirbeln die Mädchen durch die Wohnung. Sie ziehen sich die ältesten Klamotten an, die Luise finden konnte und von denen sie denken, dass diese tauglich für die Stadt sind, packen den Rucksack mit geklauten Militäroveralls und wollen schon die Wohnung verlassen, da fällt Luise noch etwas ein: »Warte, die Chips! Wir brauchen was zum Rausschneiden und Verbandszeug!« Das hätten sie in der Aufregung fast vergessen! Eilig laufen die Mädchen zurück ins Badezimmer. Luise fischt Verbandszeug und eine Rasierklinge aus den vollgestopften Schränken. Ohne zu zögern, schneidet sich Annabell einen tiefen Schnitt an der Stelle wo ihr RFID-Chip sitzt. Vorsichtig zieht sie den Chip mit einer Pinzette heraus und wirft ihn ins Klo. Luise streckt ihr ihren Arm hin: »Mach du, ich kann kein Blut sehen.« Und schon dreht sie ihren Kopf weg, während Annabell ihr den Chip rausschneidet.
Luise kann Blut oder Verletzungen jeglicher Art nicht sehen. Dabei bekommt sie immer weiche Knie. Selbst bei Filmen muss sie an blutigen Stellen ihre Augen zuhalten. Sie ist empathisch wie ein Schwamm, der alle Gefühle und Emotionen seiner Mitmenschen aufsaugt und mitfühlt. Oft ist es ihr selbst zu viel, aber bisher hat sie kein Mittel dagegen gefunden. Annabell hingegen hat sich schon immer für Medizin und den menschlichen Körper interessiert und schneidet ihr gekonnt den Chip aus dem Arm.
»Jetzt können wir Blutsbrüderschaft schließen.« Lachend legen die Mädchen ihre Arme aneinander, bevor sie sich die Wunden notdürftig verbinden.
»Schwestern?«
»Schwestern!«
Dann eilen sie zum Fahrstuhl. Luise hält den Ausweis ihres Vaters an einen Scanner im Inneren und drückt auf Ebene 7, die für sie verbotene Ebene. Immer wieder steigen Männer des Militärs zu und wieder aus. Keiner wundert sich über die Mädchen, schließlich hat der gesamte Sektor die letzte Woche auf der unterirdischen Basis verbracht. Kurz bevor der Aufzug auf Ebene 5 hält, drückt Annabell auf den Stopp-Knopf. Luise sieht sie fragend an.
»Was machst du, warum hältst du an?«
Annabell flüstert Luise mit Blick auf die Kamera zu: »Wir müssen uns umziehen, bevor wir auf der 7 sind, da würden wir in Zivilkleidung nur auffallen.«
Annabell hat wirklich an alles gedacht, muss Luise anerkennend feststellen. Die Mädchen beginnen ihre weiße Kleidung zu wechseln. Beide tragen unter ihren T-Shirts Unterhemden aus Nanopartikeln mit mikroverkapselten Medikamenten, die auch kugelsicher sind. Das gehört zur Standardkleidung unter den Reichen und die wollen sie sicherheitshalber anlassen. Nichts fürchten sie mehr, als sich in der Stadt mit irgendwelchen Krankheiten anzustecken. Sie schlüpfen in die blauen Overalls, die auf der rechten Brustseite ein umgekehrtes orangenes Dreieck aufweisen und die das Erkennungszeichen der Schildberger sind. Ihre Haare lassen sie unter den Kappen verschwinden, verstauen die restliche Kleidung im Rucksack und fahren weiter zu Ebene 7.
Dort angekommen erstreckt sich vor Ihnen ein ca. 500 Meter langer Gang aus Beton. Rechts und links gehen Türen zu einzelnen Laboren ab und am Ende des Gangs ist eine riesige Stahltür zu sehen, über der in Leuchtbuchstaben »Arche« steht. Die Mädchen rennen den langen Gang runter, bis sie vor der riesigen Stahltür stehen, rechts davon ist ein Scanner angebracht. Kurz stockt ihnen der Atem. Luise hält den Ausweis gegen den Scanner und das Tor öffnet sich. Vor ihnen liegt eine riesige, hell erleuchtete Halle. Links sind an die hundert Hybridautos geparkt, dahinter ein Magnetzug und vor ihnen eine Straße, die tief in ein Tunnelgeflecht führt und immer schmäler wird. Männer und Frauen in den gleichen Overalls wie sie die Mädchen tragen laufen geschäftig hin und her. Die Freundinnen ziehen sich ihre Kappen tief ins Gesicht und mit gesenktem Haupt gehen sie auf einem Gehweg entlang, rechts neben der unbefahrenen Straße. Sie versuchen, zielstrebig zu wirken, auch wenn sie nicht wissen, wohin der Tunnel führt. Zwei Männer gehen haarscharf an ihnen vorbei. Man grüßt sich flüchtig. Die Mädchen fallen nicht weiter auf, es ist nicht ungewöhnlich, Frauen im Militär zu haben, im Gegenteil, und Annabell mit ihren 1,70 Metern und schon sehr fraulichen Rundungen wirkt ohnehin älter als sie eigentlich ist.
Endlich haben sie die helle Halle hinter sich gelassen und biegen in einen weiteren, noch dunkleren Tunnel ein. Nachdem sie eine ganze Weile in den immer dunkler werdenden Tunnel gelaufen sind, stoppt Annabell plötzlich ihre Freundin.
»Da rechts die Tür, siehst du?«, Annabell deutet auf eine Stahltür die rechts, etwas zurückgesetzt, in einer Nische liegt. Luise will die Tür aufziehen, doch sie ist verschlossen. »Nimm den Ausweis«, zischt Annabell ihr zu.
Luise führt den Ausweis an den Scanner rechts neben der Tür und die Tür öffnet sich. Wieder landen die Mädchen in einem Tunnel. Der Tunnel ist wesentlich enger. Annabell zieht einen Leuchtstab aus ihrem Rucksack. Vorsichtig gehen sie weiter. Ihr wird mit jedem Schritt unheimlicher.
»Bist du sicher, dass wir hier lang müssen?«, fragt Luise ihre Freundin verunsichert.
»Laut meiner Berechnung und den alten Bauplänen schon«, entgegnet diese und auch in ihrer Stimme schwingt etwas Angst mit, auch wenn sie gut vorbereitet zu sein scheint.
Nach einer gefühlten Stunde Marsch bleibt Annabell abrupt stehen. Vor ihnen gabelt sich der Tunnel in zwei Wege. Für die Strecke haben sie jetzt schon 20 Minuten gebraucht. Sie müssen unbedingt pünktlich zurück sein, bevor ihre Eltern merken, dass sie in die Stadt gegangen sind. Luise überkommen jetzt ernsthafte Zweifel:
»Sollen wir nicht besser umkehren?«
Doch Annabell will die Sache unbedingt durchziehen.
»Nein. Jetzt sind wir schon so weit gekommen. Lass uns umziehen, ich hab das Gefühl, wir sind bald da und wir können ja schlecht in diesen Overalls in den anderen Sektoren rumlaufen.«
Annabell hat wirklich an alles gedacht. Die Mädchen wechseln schweigend ihre Kleidung, ganz wohl ist ihnen nicht in ihrer Haut. Das Ungewisse erscheint ihnen jetzt doch sehr mächtig.
»Hast du eigentlich an die Prophezeiung geglaubt?«, unterbricht Luise die Stille.
»Ich weiß nicht, du?«
»Eigentlich nicht, meine Eltern glauben nicht an Gott.«
»Meine schon«, antwortet Annabell nachdenklich.
»Aber an irgendeine Gerechtigkeit hab ich schon geglaubt. Die ganzen Katastrophen und so, das fällt ja auf uns Menschen zurück. Ich denke, dass wir selber daran schuld sind«, sagt Luise ernst, will aber nicht weiter auf das Thema eingehen, weil es sie traurig machen und ablenken würde.
»Lass uns weitergehen – rechts oder links?«
Sie entscheiden sich für links, da nach Annabells geographischem Gedächtnis Sektor 3 dort liegen müsste. Luise öffnet eine weitere Stahltüre mit dem Generalschein und auf einmal stehen die Mädchen mitten in der Stadt, in Sektor 4, in einer kleinen Seitengasse. Der Gestank der Stadt schlägt ihnen entgegen und unwillkürlich halten sich beide die Nase zu.
»Wir müssen uns merken, wo die Türe ist. Viel Zeit haben wir nicht mehr«, stellt Luise beunruhigt fest und muss ihren Brechreiz unterdrücken.
»Wir machen nur eine kleine Runde, ich glaube wir sind in Sektor 3, siehst du das Gebäude?«, dabei zeigt Annabell auf das Pharaohaus, das sich ganz in der Nähe erhebt. Doch sie irrt sich, die Mädchen sind mitten in Sektor 4 gelandet.
»Wir haben es geschafft!«, freut sich Annabell und schlägt mit ihrer Freundin ein. »Spürst du den Wind?«
»Fühlt sich toll an!«
Annabell hat sich in die Mitte der Gasse gestellt und lässt den Wind mit ihren roten Haaren spielen.
»Was für eine Kraft!«, jubelt sie.
Noch nie hat sie Wind, Luft oder Sonne gespürt. Sie fühlt sich plötzlich unheimlich lebendig. Zum ersten Mal in ihrem Leben erleben die Mädchen die Natur am eigenen Leib. Luise ist zwar ängstlich, aber dennoch neugierig. Mit vorgehaltener Hand ist sie bis zum Ende der Gasse gegangen, dorthin, wo die große Straße beginnt. Der Gestank ist wirklich fast nicht auszuhalten. Plötzlich macht es einen Knall und ein Windstoß schlägt die Stahltüre zu. Die Mädchen sehen sich erschrocken an. Luise ist zurückgelaufen. Annabell sucht die Wände nach einem Schlitz oder Ähnlichem ab. »Ich finde keinen Scanner, keinen Schlitz für den Generalschein!« Nervös rütteln sie an der Türe, doch nichts tut sich! Die beide Mädchen versuchen, die Türe mit Gewalt zu öffnen, jedoch erfolglos. Ratlos sehen sie sich an.
»Und jetzt?«, fragt Luise verstört.
»Keine Ahnung, hier kommen wir auf jeden Fall nicht zurück! Wir müssen durch die Stadt«, sagt Annabell ganz ruhig, obwohl auch sie einen Anflug von Panik verspürt.
»Bist du verrückt? Das ist viel zu weit und dauert ewig. Wir haben jetzt nur noch knapp zwei Stunden!«
Sie versuchen ein letztes Mal, die Türe zu öffnen, bevor sie aufgeben und sich auf den gefährlichen Weg durch die Stadt machen.