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Einleitung

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Niemand, der sich mit China beschäftigen will, kann an der Persönlichkeit des Kung (der von den Jesuiten Konfuzius genannt wurde, nach dem chinesischen Kung Fu Dsï = Meister Kung, und diesen Namen in Europa bis heute behalten hat) vorübergehen. Kung ist das historisch gewordene Ideal der überwältigenden Mehrheit des chinesischen Volkes, und niemand kann ein Volk richtig beurteilen, ohne dessen Ideale zu verstehen. Dennoch ist man in Europa weit davon entfernt, zu einer eindeutigen Würdigung dieser Persönlichkeit durchgedrungen zu sein. Im rationalistischen Zeitalter wurde er vielfach aus seiner Umgebung herausgelöst und genoß als weiser und tugendhafter Sittenlehrer, der in mancher Beziehung der damaligen Zeitströmung verwandte Züge zeigte, große Verehrung. Seit China jedoch in neuerer Zeit eine wesentlich ungünstigere Beurteilung in Europa fand, hatte auch sein historisches Ideal darunter zu leiden. Um so mehr, als immer deutlicher erkannt wurde, daß er zu eng mit der ganzen chinesischen Geschichte zusammenhängt, als daß man ihn daraus willkürlich losreißen könnte. Ja, so stark scheinen die Fäden, die ihn auch nach seinen eigenen Aussprüchen mit dem chinesischen Altertum verknüpfen, daß unserer Zeit, die in den Heroen des Menschengeschlechts nur immer nach dem Originalen und Genial-Persönlichen sucht, oft kaum mehr etwas Bemerkenswertes an dem vielverehrten Meister der Chinesen übrig zu bleiben schien. Und nicht vereinzelt sind die Urteile, die den Konfuzianer Menzius, der einige Jahrhunderte nach Kungs Tode eine literarisch überaus geschickte Propaganda für dessen Lehren betrieb, noch über den Meister stellen. Diese Geringschätzung entfernt sich aber ebenso weit von der Wahrheit wie jene frühere Verehrung des individualistisch betrachteten Tugendlehrers. Um die Größe einer historischen Persönlichkeit objektiv festzustellen, muß man alle persönlichen Geschmacksrichtungen zunächst beiseite lassen und nur seine tatsächliche Wirkung in Betracht ziehen. Jede hervorragende Persönlichkeit hat eine ganz bestimmte Auffassung der metaphysischen Gründe des Weltgeschehens. Und dieser Auffassung entsprechend gestaltet sie ihr Leben. Wie in der Musik ein jeder Komponist seinen bestimmten Rhythmus hat, der alle seine Werke einheitlich durchdringt, so hat jeder große Mann eine besondere Rhythmik des Handelns und Erlebens, die sich mehr oder weniger von dem passiven Gelebtwerden der großen Menge unterscheidet. Die Größe einer Persönlichkeit hängt nun einerseits davon ab, wie hoch sich diese Eigenart des Erlebens über das Niveau ihrer Zeit erhebt, und andererseits davon, wie groß ihre Kraft ist, auch andere Menschen in diese neue Art des Lebens hineinzuziehen und so ihr Leben gestaltend zu bestimmen. Von diesem Gesichtspunkt aus muß man Kung entschieden als einen der ganz Großen der Menschheit bezeichnen; denn seine Wirkung auf die ganze ostasiatische Welt, zusammen wohl nahezu ein Drittel der Menschheit, hat sich bis heute erhalten, und ebenso ist das sittliche Ideal, das er vertritt, ein solches, das wohl einen Vergleich aushält mit den übrigen Weltreligionen. Und mancher schon, der mit großen Vorurteilen an die intimere Beschäftigung mit ihm heranging, hat sich schließlich das Bekenntnis abringen müssen: Er war doch ein großer Mann.

Der Versuch einer Lösung des Problems der Persönlichkeit Kungs als Faktors der Menschheitsentwicklung wird als notwendige Voraussetzung seine historische Eingliederung in den Zusammenhang des Lebens der chinesischen Rasse haben. Wir fragen daher zunächst: was fand er vor? – dann: was hat er erstrebt? – und weiter: was hat er erreicht? Eine Würdigung dessen, was er an bleibenden Werten dem geistigen Besitz der Menschheit hinzugefügt hat, möge den Abschluß bilden!

Für eine genaue Anschauung der Verhältnisse in der chinesischen Urzeit fehlt zurzeit noch das nötige kritisch gesichtete Quellenmaterial. Allerdings wird man ebenso vorsichtig sein müssen gegenüber einer zu weit gehenden Skepsis, wie gegenüber einer unbesehenen Übernahme des ganzen chinesischen Traditionsstoffs. Es hat eine Zeit gegeben, da man das Vorhandensein einer chinesischen Schrift vor dem Jahr 800 v. Chr. leugnen zu müssen meinte, ja manchen Kritikern war selbst dieses Datum noch zu hoch gegriffen. Neuerdings sind Funde alter, beschriebener Knochen gemacht worden, die seit uralten Zeiten zu Orakelzwecken dienten. Durch diese Funde wurden ganz neue Einblicke in ein altes chinesisches Schriftsystem eröffnet, und es ist keineswegs ausgeschlossen, daß mit der Zeit noch Monumente ans Tageslicht kommen, die die chinesische Urgeschichte in neuem Licht erscheinen lassen. Vielleicht daß dann auch die jetzt noch gänzlich ungeklärte Frage nach dem Ursprung der chinesischen Kultur ihre Antwort findet.

Was uns jetzt an Quellen für die chinesische Urzeit zur Verfügung steht, ist im wesentlichen alles durch die Redaktion Kungs hindurchgegangen. Es sind die fünf kanonischen Schriften der »Urkunden«, »Lieder«, »Wandlungen«, »Annalen des Staates Lu« und der – erst später fixierten – »Riten«. Wir haben Anhaltspunkte darüber, daß Kung bei seiner Redaktionsarbeit ziemlich radikal vorgegangen ist. Nicht darum war es ihm zu tun, eine historische Darstellung der Vergangenheit zu geben, sondern er wollte die Geschichte als einen Spiegel für die Zukunft überliefern. Er schrieb die Geschichte nur vom Standpunkt seiner Lehre aus, die er in ihr zusammengefaßt sieht. Ebenso ging er bei der Sammlung der Lieder und Bräuche durchaus kritisch vor.

Immerhin bewegen sich die redaktionellen Änderungen Kungs in ganz bestimmten Bahnen. Er läßt manches ihm unrichtig dünkende weg, rückt anderes in eine neue Beleuchtung; aber wir dürfen das Zutrauen zu ihm haben, daß er den wesentlichen Gehalt der ihm vorliegenden Quellen unangetastet ließ. Als ungünstiges Moment kommt jedoch in Betracht, daß keine der von ihm redigierten Schriften sich in ihrer ursprünglichen Gestalt erhalten hat. Weit mehr als die Bücherverbrennung des Tsin Schï Huang, die von den Chinesen für den Zustand ihrer alten Literatur verantwortlich gemacht wird, sind die allgemeinen Unruhen der auf Kung folgenden Jahrhunderte dafür verantwortlich. Die alte chinesische Welt fiel rettungslos dem Untergang anheim, und als sich aus den Trümmern später die Handynastie erhob und man begann, sich auf die Schätze alter Wissenschaft wieder zu besinnen, da war vieles schon sehr stark mitgenommen vom Sturm der Jahrhunderte. So ist uns denn die ganze alte Literatur nur so überliefert, wie sie aus dem Schutt der Zeiten hervorgezogen wurde.

Trotzdem diese Literatur zum Teil recht bedeutend gelitten hatte, sind uns dennoch in ihr die Richtlinien dessen aufbewahrt, was Kung in der Vergangenheit als Grundlage seiner Arbeit anerkannte. Die Heroen der Vergangenheit, die Schöpfer der chinesischen Kultur, die Kung vor Augen stehen, sind sieben an der Zahl: Gott Yau (Erhaben), Gott Schun (Gütig), der Große Yü, der Vollkommene Tang, ferner die drei Begründer der Dschoudynastie: König Wen und dessen zwei Söhne König Wu und der Fürst von Dschou. Wohl geht Kung nicht in jene grauen Urzeiten zurück, die in späteren Geschichtswerken immer ausführlicher behandelt werden; aber das große Dreigestirn der Kulturschöpfung Yau, Schun und Yü1, deren Zeit von 2300–2200 v. Chr. angesetzt zu werden pflegt, ist doch wohl auch kaum historisch. Schon daß Yau und Schun den Titel »Gott« tragen – denn die gewöhnliche Übersetzung mit »Kaiser« ist schon durch die Stellung des Wortes vor dem Namen ausgeschlossen – macht bedenklich. Aber auch die Zustände, wie sie unter diesen Herrschern sind und an das goldene Zeitalter anderer Mythen erinnern, finden im Verlauf der Geschichte keine Fortsetzung. Was von Yau, Schun und Yü erzählt wird, kommt aber dennoch in Betracht als Ideal, das Kung von der Vergangenheit besaß und an das er anknüpfen konnte. Die Ideale, die jene Heroen darstellen, sind die Grundlagen einer geordneten Regierung eines ackerbautreibenden Volkes. Was von Yau erzählt wird, bewegt sich durchaus in dieser Richtung. Ein ackerbautreibendes Volk braucht eine geordnete Zeitrechnung, damit die Beschäftigungen der Menschen in Einklang kommen mit dem Naturlauf, gut geordnete Wasserläufe, um Dürre und Überschwemmungen fernzuhalten, und endlich eine Regierung, die sich möglichst wenig durch Eingriffe in das persönliche Leben und Treiben des Volkes bemerkbar macht. So wird denn von Yau außer seiner persönlichen Tugend berichtet, daß er die Himmelserscheinungen in einem Kalender zur Darstellung brachte und in dem von seiner Familie verfolgten, aus ganz einfachen Verhältnissen hervorgegangenen Schun sich einen Gehilfen und Nachfolger herangezogen hat. Doch gelang es ihm noch nicht, der Überschwemmungen Herr zu werden. Dieses Werk vollendete Schun mit Hilfe des Großen Yü, der den sämtlichen Flüssen Nordchinas ihren Lauf anwies. Während Yau mehr mit den Himmelserscheinungen in Zusammenhang steht, ist Schun, der in seiner Jugend Landmann war, mehr mit den irdischen Verhältnissen verknüpft: Ackerbau, Töpferei, Fischfang und Jagd sind Tätigkeiten, die ihm die Legende zuschreibt. Und ähnlich wie Yau, unter Hintansetzung seines unwürdigen Sohns, sein Reich an Schun abgibt, – nachdem, wie taoistische Legenden nicht ohne Bosheit berichten, eine ganze Anzahl taoistischer Heiliger den Thron ausgeschlagen hatten – so wählt auch Schun als seinen Nachfolger den würdigsten seiner Beamten, den Bändiger der Gewässer: Yü. An Yü den Großen schließt sich die erste durch Erbfolge begründete Dynastie, die Hiadynastie an. Im Verlauf der Dynastie folgt auf das goldene Zeitalter jener Herrscher allmählicher Niedergang, bis mit dem letzten Herrscher aus dem Hause Hia, dem ausschweifenden und tyrannischen Giä, die Unmoral einen Gipfel erreicht, der »die Strafe des Himmels« herausfordert. Der Tyrann wird gewaltsam abgesetzt, und der »Vollkommene«, Tang, gründet die zweite Dynastie, die sogenannte Schangdynastie, deren Bezeichnung später in Yin umgewandelt wird. Die Gestalt des Tang ist dadurch im chinesischen System bemerkenswert, als wir in ihm den Heiligen als Empörer haben. Nachdem der Tyrann die Berufung des Himmels verscherzt hatte, geht diese auf den würdigeren Gründer einer neuen Dynastie über. An der Zuneigung des Volkes erkennt man, daß er wirklich einen höheren Beruf hat; denn des Volkes Stimme ist Gottes Stimme. Im übrigen übernimmt die neue Dynastie die Einrichtungen der alten unter zeitgemäßen Abänderungen. Auch das bleibt Grundsatz für die Jahrtausende in China: das große Erbe der Vergangenheit, die Summe der Kultur und Autorität kann wohl von einem Haus an das andere übergehen, aber die Tradition bleibt gewahrt, ähnlich wie auf anderem Gebiet im Papsttum. Von dieser theoretischen Erwägung abgesehen zeigt sich die zweite Dynastie ziemlich genau als Dublette der ersten; namentlich der Tyrann, der den Zorn des Himmels herabbeschwört, trägt unverkennbare Familienähnlichkeit mit dem Tyrannen Giä. Er heißt Schou Sin, und seine ausschweifende Gemahlin heißt Da Gi; im übrigen aber ist sein Lebenswandel nur eine Wiederholung der Ausschweifungen und Grausamkeiten des letzten Herrschers der Hiadynastie. Es fehlen zurzeit noch die Mittel, um festzustellen, wie das historische Verhältnis ist, ob es sich um zufällige Übereinstimmung handelt, oder ob der Thronsturz des Giä einfach eine in die Vergangenheit zurückprojizierte Analogie der Ereignisse zur Zeit des Schou Sin ist.

Soweit uns die vorhandenen Urkunden gestatten, uns ein Bild von den Zuständen der alten Zeit zu machen – und außer den konfuzianischen Quellen kommen hier auch taoistische in Betracht, die in mancher Hinsicht den alten chinesischen Zuständen noch näher treten als der eine »Reformation« darstellende Konfuzianismus – scheinen die Verhältnisse recht einfach gewesen zu sein. Selbst der Herrscher, dessen Macht oft übrigens mehr nominell gewesen zu sein scheint, lebte noch keineswegs luxuriös. Manche Schilderungen aus der alten Zeit, besonders in Beziehung auf Yü, geben recht primitive Bilder. Die Wirtschaftsform war agrarisch. Bedeutender als kriegerische Eroberung war friedliche Durchdringung weiter, noch unkultivierter Gebiete. Infolge davon ist die Gesellschaftsstruktur wesentlich von der westlichen verschieden. Im Okzident baute sich die Volksgemeinschaft fast durchweg auf dem Grund der kriegerischen Organisation der wehrfähigen Mannschaft auf. Darum war der Einzelne aus dem Kreis der Krieger Träger selbständigen Rechts innerhalb der Sippen. Der einzelne freie Mann bildete die Zelle der Gesellschaft, die sich je nach den Verhältnissen zur Demokratie oder Militärdespotie weiter entwickeln konnte. Auf alle Fälle waren damit die Grundlagen für eine Entwicklung des Individuums und somit auch für individuelle Religion und individuelle Moral gegeben. Ganz anders in China. Hier steht nicht kriegerische Eroberung, sondern friedliche Durchdringung am Anfang. Schon frühe hören wir von der Einteilung des Landes in Felder, die den einzelnen Familien zur Bebauung übergeben wurden. Die Feldbebauung setzt aber in der Familie ganz von selbst eine kollektivistische Wirtschaftsform voraus. So ergibt sich als Grundzelle des chinesischen gesellschaftlichen Organismus nicht das Individuum, sondern die kommunistische Familie. Es verdient hier hervorgehoben zu werden, daß sich Spuren eines Zustandes der Mutterfolge noch nachweisen lassen, doch scheint die Familie unter der Herrschaft des Vaters schon ziemlich weit zurückzugehen, wenn auch in der fast religiösen Betonung der väterlichen Autorität noch der Einfluß der Umwandlung der Sippe in die Familie durchklingt. Da aber zur Sicherung und Regelung des Lebens gemeinsame Unternehmungen unter einheitlicher Leitung, wie z. B. die schon erwähnte Flußregulation, notwendig waren, so bildet sich das Familienpatriarchat zum gesellschaftlichen Patriarchat mit dem Fürsten an der Spitze weiter. Wir finden die ethischen, religiösen und naturwissenschaftlichen Verhältnisse des vorkonfuzianischen China durchaus in Übereinstimmung mit den theoretischen Folgerungen, die sich aus diesen Zuständen ziehen lassen. Während in der Ethik des Westens die kriegerische Tugend des Muts und die damit zusammenhängenden Tugenden des Forschungstriebes und Wahrheitssinnes die Keimzelle für die ethische Entwicklung bilden, steht in China die gewißenhafte Einordnung in den Familienorganismus und durch ihn in den Gesellschaftsorganismus obenan, eben weil das die Tugend war, die innerhalb der gegebenen sozialen Verhältnisse am nötigsten und wertvollsten sich erwies. Von hier aus wird uns die Rolle, welche in China die Pietät spielt, ohne weiteres klar, und ebenso klar ist, wie ungerecht eine Beurteilung der chinesischen Kultur sein muß, die, wie das immer wieder geschieht, als Maßstab die auf ganz anderem Boden erwachsenen Prämissen unserer Kultur anlegt.

Dieselben Folgerungen ergeben sich auf religiösem Gebiet. Die Religion hat in China niemals die individuell-selbständige Entwicklung gefunden wie im Westen. Das Altertum kennt Zauber und Divination als wesentliche Züge des Lebens. Namentlich scheint auch die Schrift, die die Bilder der Gegenstände festzuhalten vermochte, als Zaubermittel hoch bewertet worden zu sein. Noch bis auf den heutigen Tag gelten geschriebene Zeichen für etwas einigermaßen Heiliges. Ebenso finden sich Spuren der Zaubermacht des Namens, in dem man Gewalt über das zugehörige Ding besitzt. Aus einer späteren Schicht stammen die Opfer, deren Vollzug als geheimnisvoll mit dem Weltlauf in Zusammenhang stehend betrachtet wurde. Verehrt wird der Gott des Himmels, ferner die Erde, und zwar die Erde (di) als Mutter im Gegensatz zum Himmelsvater, aber auch der männlich gedachte Gott der Ackerkrume (Hou Tu); außerdem die wichtigsten Naturgottheiten, die dem höchsten Gott beim Opfer beigeordnet werden. Daß auch der Ahnenkult in ältere Zeit zurückgeht, ist wohl selbstverständlich. Immerhin dürfte die feste Ordnung des Ahnenkultes erst mit der Dschoudynastie ihren Anfang genommen haben. Die Beschränkung des Kultes des höchsten Gottes auf den Altar bei der Hauptstadt und die Reservierung seines Vollzugs für den Herrscher hat sich, ähnlich wie das Opfer für Jahwe allein in Jerusalem, im Laufe der Zeit immer strenger durchgesetzt. Die Tempel des höchsten Gottes auf den Höhen im Land umher sanken mit der Zeit im Rang. Heute wird der »Nephritherr« darin verehrt, ein für das Volk zurechtgemachtes Surrogat des »lieben Gottes».

Die Begrenzung auf den Gebrauch der staatlich organisierten menschlichen Gesellschaft gibt der Wissenschaft der vorkonfuzianischen Periode ihren bestimmten Charakter. Interesselose Forschung aus bloßer Wißbegier kennt das chinesische Altertum so gut wie gar nicht. Auch das Wissen ist praktisch orientiert. Es ist für die Menschen, die Ackerbau treiben, ein unabweisbares Bedürfnis, daß sie den Verlauf ihrer Tätigkeiten dem Naturverlauf und seinen Gesetzen anpassen, daß die menschlichen Ordnungen sich einfügen in die Weltordnung.

Die Welt ist durch göttliche Vernunft (das Tao) regiert, und diese Prinzipien gilt es zu erforschen, damit der Kreis der menschlichen Tätigkeiten entsprechend gestaltet werden kann. So findet sich schon in ältesten Zeiten eine verhältnismäßig hohe Stufe der astronomischen Beobachtung, um mit ihrer Hilfe den Gang der Jahreszeiten und die entsprechenden Arbeiten des Ackerbaus festzulegen. Die Sorge für den Kalender war denn auch zu allen Zeiten eine wichtige Pflicht der kaiserlichen Regierung; es gab ein kaiserliches Hofamt, dem es oblag, jährlich den Kalender herauszugeben, in dem die geeigneten Tage für alle möglichen Unternehmungen des Lebens angegeben wurden. So suchte man seit urältester Zeit den Naturkräften und ihrer Ordnung durch eine an pythagoräische Lehre erinnernde Zahlensymbolik beizukommen. Der Dualismus der Urkräfte (Licht – Finsternis, männlich – weiblich usw., chinesisch yang yin) sowie die an die Fünfzahl sich anschließende Einteilung alles Bestehenden in Natur- und Menschenwelt (es gibt fünf Farben, fünf geographische Punkte – nämlich Mitte, Süden, Norden, Osten, Westen – fünf Tugenden usw., die alle in einem geheimnisvollen Zusammenhang stehen) bilden einen Hauptbestandteil dieser primitiven Naturphilosophie. Wie nun das chinesische Denken der Welt durch die Kategorie der Zahl beizukommen suchte, so war es andererseits von überaus großer Wichtigkeit, das Erkannte durch Begriffssymbole festzuhalten. Die Schrift, die sich der Sage nach aus geknoteten Stricken und primitiven Bildern der Gegenstände entwickelt hat, galt als etwas Heiliges und ist es, wie schon erwähnt, bis auf diesen Tag geblieben. Ihr Hauptzweck ist ebenfalls der, die rechten religiösen Riten und Gesetze festzuhalten und zu verbreiten. Auch sie war in erster Linie Mittel zur Staatsordnung. Ähnlich verhält es sich mit den übrigen Errungenschaften der Zivilisation, welche die chinesische Überlieferung ins höchste Altertum zurückprojiziert: die Erfindung der Kleidung, des Hausbaus, des Ackerbaus, der Seidenkultur usw. Alles sind technische Errungenschaften, für den unmittelbaren praktischen Gebrauch bestimmt. Daß die Überlieferung als Hüterin dieser Kulturgüter gerade in jenen ältesten Zeiten eine besonders wichtige Rolle spielte, damit das mühsam Erworbene nicht wieder verloren gehe, versteht sich von selbst, ebenso daß sich im Lauf einer jahrhundertelangen Entwicklung viel unzuverlässiges und minderwertiges Material in diese Überlieferung eingeschlichen hatte.

Die Kulturentwicklung hatte es im Wechsel der Dynastien schon damals zur Folge gehabt, daß kein einheitliches Volksbewußtsein mehr existierte, sondern verschiedene Linien geistiger Strömungen sich herausgebildet hatten. Während die eine Linie, die sich im späteren Taoismus fortsetzte, sich mehr an die Traditionen der Schangdynastie hielt, deren bedeutende Männer im Lauf der Jahrhunderte vom Taoismus fast alle deifiziert wurden, zeigen sich ums erste Jahrtausend zu Beginn der Dschoudynastie bereits gewisse Anfänge strafferer Organisation der Gesellschaftsordnung, die in Kung und seiner Lehre ihren Abschluß und ihre Vollendung fanden.

Mit der Dschoudynastie kommen wir auf Einflüsse aus dem Westen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese Dynastie, die Generationen lang mit großer Umsicht an der Befestigung und Ausbreitung ihrer Macht gearbeitet hat, nicht chinesischen Ursprungs ist, sondern von außen her in China eindrang. Noch Menzius nennt – allerdings in bewußtem Paradox – den König Wen, den tatsächlichen Gründer dieser Dynastie, einen Barbaren aus dem Westen. Natürlich weiß die Tradition einen genealogischen Zusammenhang dieser neuen Dynastie mit dem »Ackerbauminister« Hou Dsi, der dem göttlichen Yau und Schun zur Seite stand, herzustellen. Seine Nachkommen seien zu den Barbaren ausgewandert und von dort später wieder nach China zurückgekehrt. Es erübrigt sich auf diese Tradition einzugehen, um so mehr als wir noch ziemlich gut die einzelnen Etappen verfolgen können, die die neue Dynastie bei ihrem allmählichen Eindringen in China zurückgelegt hat. Es muß eine Art Völkerwanderung gewesen sein, und die Art, wie die eindringenden Barbaren allmählich sich Kultur und Macht in China verschafften, hat ihre Parallele in der Übernahme des römischen Imperiums durch die einrückenden Germanen.

Abgesehen von den früheren Häuptlingen dieser Stämme, von denen einer geschildert wird, wie er zu Pferd – von seiner Frau begleitet – die neuen Wohnsitze für die Seinen aussucht, sind es hauptsächlich drei Männer, die in der konfuzianischen Tradition die Siebenzahl der berufenen Heiligen voll machen: der König Wen, der moralisch den Einfluß der Familie im Reiche durchgesetzt hat, ohne den letzten Schritt der Usurpation zu tun, der König Wu, sein Sohn, der in hohem Alter die kriegerische Aktion gegen den Tyrannen Schou Sin unternommen, und dessen jüngerer Bruder Dan, der Fürst von Dschou, der für seinen unmündigen Neffen die Regierung führte, und dessen Familie mit dem Heimatstaat des Kung, dem Fürstentum Lu, belehnt wurde.

Durch König Wu und noch mehr durch seinen bedeutenderen Bruder, den Fürsten Dschou, wurden nun neue Lebensordnungen für das ganze Reich geschaffen, die sich wohl den Überlieferungen der guten alten Zeit im allgemeinen anschlossen, bei denen aber auch schon andere Linien in Erscheinung zu treten beginnen, die später durch Kung zum unveräußerlichen Bestand der chinesischen Geistesstruktur gemacht wurden, und zwar ist es vor allem die Familienidee, die in den Mittelpunkt gerückt wird. Die Familie findet ihre Ausgestaltung nicht in der Einzelfamilie, sondern in der mehrere Generationen umfassenden Gesamtfamilie, die bis auf den heutigen Tag in China besteht. Aus der Dschoudynastie scheint die Einrichtung zu stammen, die eine Heirat zwischen Gliedern derselben Sippe2 verbietet. Monogamie ist in der Weise durchgeführt, daß neben die eine legitime Hauptfrau deren Dienerinnen als Nebenfrauen treten können. Die Einrichtung eines fürstlichen Harems ging hier voran, obwohl sie eigentlich den monogamisch ausgelegten Verpflichtungen zwischen Mann und Frau widerspricht.

Die Ausgestaltung dieser Familienidee in der Praxis führt zum Lehenswesen. Die Dschoudynastie macht das Reich zum Lehensstaat, dessen einzelne Lehen vorzugsweise an Familienglieder vergeben wurden; auch zeigt sich in der Art, wie der verewigte König Wen als Genosse des höchsten Gottes angerufen wird, ein Aufrücken des Ahnenkults neben die Gottesverehrung. Begräbnisbräuche, die bisher sehr zurückgetreten waren, wurden betont, und der Ahnenkult wurde für den Mann aus dem Volk, der als solcher nicht mehr die Berechtigung hat, mit seinem Opfer vor den höchsten Gott zu treten, die religiöse Betätigung schlechthin. Damit hängt zusammen die Aufstellung des Pietätsprinzips als des moralischen Grundverhältnisses, aus dem die anderen Beziehungen erst abgeleitet werden. Eine reiche Ausgestaltung aller Lebensformen nach bestimmten Regeln (Li) ordnete alle Handlungen und schuf den äußeren Ausdruck, ohne den die innere Gesinnung nach antiker Auffassung nicht bestehen kann.

Dieses soziale System, gegründet auf die natürlichsten sozialen Triebe des Menschen, die Familiengefühle, ist ein wundervoll in sich abgeschlossenes Gebilde: der ganze Staat eine erweiterte Familie, die Fürsten oben und das Volk unten zusammengehalten von einem starken Gefühl der Zusammengehörigkeit. Das ganze Leben und alle Beziehungen zu Menschen und Göttern geregelt durch feste sittliche Normen, die zugleich der ästhetischen Ausgestaltung nicht entbehren. Eine hoch entwickelte Kunst, entsprechend der Zeitrichtung vorzugsweise Musik, die von psychologisch-systematischen Grundsätzen ausgehend eine harmonische Stimmung des Seelenlebens direkt erstrebte: das ist die Schöpfung der Dschoudynastie. Eine Lebensgestaltung, die gerade mit unserer modernen Zeit der Ausdruckskultur manche Verwandtschaft zeigt, nur daß, entsprechend den primitiveren Verhältnissen, alles einheitlicher, vollendeter in die Erscheinung trat. Eine solche höchste Blüte der Lebensgestaltung, soweit sie allein von den Herrschenden getragen wird, während das gewöhnliche Volk ohne individuelle Ausbildung passiv das Glück genießt, ist aber auf die Dauer nur aufrecht zu erhalten, solange ein hochbedeutender Genius an der Spitze steht. Gerade weil alles auf das freie Verhältnis persönlicher Autorität gestellt war, so mußte der ganze Bau ins Wanken geraten, sobald der Fürst keine Persönlichkeit mehr war, die durch ihr Wesen Autorität ganz von selbst erzeugte. Dieser Verfall blieb denn auch nicht aus. Allmählich lockerten sich die Bande des Feudalsystems; die einzelnen Territorialfürsten suchten sich so viel wie möglich von der Zentralgewalt selbständig zu machen. Schließlich führten die Könige der Dschoudynastie, auf ein verhältnismäßig kleines Stammland beschränkt, nur eine Art Schattendasein, während die Lehensfürsten untereinander mit Ränken und im offenen Krieg um die Hegemonie kämpften, die mit wechselndem Erfolg bald dem einen, bald dem andern zufiel. Dieselbe Erscheinung setzte sich nach unten fort. Während ein Fürst die königliche Autorität offen verachtete, war er oft nicht mehr Herr im eigenen Land, da die vornehmen Adelsgeschlechter, die in einflußreichen Ministerposten waren, die tatsächliche Macht an sich gerissen hatten, wobei es sogar vorkam, daß der eine oder andere Fürst, wenn er ihren Zorn sich zugezogen hatte, landesflüchtig werden mußte. Aber selbst diese Geschlechter genossen ihre Macht nicht ungestört. Es ist eine Reihe von Beispielen bekannt, wo deren Hausbeamte, gestützt auf eine feste Stadt in ihrer Jurisdiktion, sich ihren Brotherren erfolgreich widersetzten. Daß diese allgemeine Usurpation und Anarchie demoralisierend auf die gesamten öffentlichen Zustände einwirken mußte und infolge davon auch unter dem Volk alle sittlichen Bande sich lösten, versteht sich von selbst. Die Zustände waren zur Zeit von Kungs Geburt so zerfahren, daß der Versuch einer Besserung der Verhältnisse aussichtslos erschien. Die staatsmännischen Kreise beschränkten sich auf die Durchführung einer opportunen Realpolitik. Die Grundsätze von der Macht der Moral als Staatspolitik waren in Vergessenheit geraten, der Einfluß der einzelnen Staaten beruhte auf ihrer Militärmacht, die durch vermehrten Steuerdruck auf einen möglichst hohen Stand gebracht werden sollte. Alles in allem bekommt man von den letzten Zeiten der Dschoudynastie den Eindruck des tiefsten Verfalls. Es war eine Art Weltuntergang einer großen Kultur, der sich langsam, aber sicher vollzog. Eine tiefgreifende Fäulnis hatte alle Kreise durchsetzt, und die alten Grundsätze der Kultur waren in voller Auflösung begriffen. Wie es häufig in solchen Dekadenzzeiten zu sein pflegt, war ein gewißer Schimmer intellektueller Regsamkeit über das Ganze gebreitet. Frech und geistreich wurde an den Einrichtungen der Vergangenheit Kritik geübt. Neue Gesellschaftstheorien wurden erdacht, so namentlich die für Einfachheit und Natürlichkeit unter dem Namen Kommunismus in Europa bekannte des Mo Di. Auf der andern Seite machte sich eine frivole Preisgabe aller Ideale zugunsten des bloßen Auslebens der animalischen Natur geltend, wie sie mit dem Namen Yang Dschu verknüpft ist. Man muß die Schilderungen des Buches Liä Dsï lesen3, die ja an sich aus etwas späterer Zeit stammen, aber doch etwa die Zustände zeichnen, wie sie ihre Keime in der Zeit Kung Dsï’s hatten.

Gegenüber dieser Not der Zeit hatten die geistig bedeutenden Männer, die die Traditionen des alten Taoismus fortführten, und unter denen Laotse der berühmteste ist, keinen Rat als den, sich aus der Wirrsal der Welt zurückzuziehen und sie ihrem Gang zu überlassen. Bei Laotse war der Grundgedanke der, daß durch das »Nichthandeln« der kranke Organismus der Gesellschaft wieder zur Ruhe und Genesung kommen werde, während andere ihm verwandte Geister schlechthin verzweifelten und unter Preisgabe der bösen Welt ihrer eigenen mystisch-magischen Vervollkommnung lebten. Vertreter solcher Richtungen treten uns besonders im XVIII. Buch der »Gespräche« entgegen. – Das waren die Verhältnisse, die Kung bei seinem Auftreten vorfand.

Kung entstammt einer alten chinesischen Familie, die ihre Anfänge auf das königliche Geschlecht der Yindynastie zurückführte. Der späten Ehe eines alten Mannes mit einem blutjungen Mädchen entsprossen, hat er in frühester Jugend den Vater verloren. Er gehört aber nicht zu den Naturen, die durch äußere Familienverhältnisse wesentlich bestimmt werden. Schon in früher Kindheit regte sich in ihm ein mächtiger Zug zu den heiligen Bräuchen der Vorzeit. Sein liebstes Kinderspiel war es, mit kleinen Gefäßen die Opferriten nachzuahmen, – ein kleiner Zug, der manche Verwandtschaft mit den Jugendspielen anderer Geistesheroen hat; man denke nur an Goethes Puppenspiel! Dieser Zug zum Altertum blieb ihm sein ganzes Leben lang treu. Man kann wohl sagen, daß in ihm das chinesische Lebensideal der alten Zeit Person geworden ist. So finden wir ihn denn vom Erwachen des bewußten Lebens an damit beschäftigt, immer tiefer einzudringen in das Erbe der Vergangenheit. Mit fünfzehn Jahren, sagte er von sich, sei sein Ziel das Lernen gewesen, und im höchsten Alter seufzt er einmal: »Wenn mir noch ein paar Jahre vergönnt wären, um das Studium des heiligen Buches der Wandlungen zu vollenden, so wollte ich es wohl dahin bringen, von großen Fehlern frei zu sein.« Dieses gewißenhafte Eindringen in das Ideal des Altertums, dieses Lernen, ohne zu ermüden, dieser Fleiß im höchsten Sinne ist es, was sein Genie ausmacht. Selbstverständlich handelt es sich nicht um eine nur äußerliche Aneignung des Wissensstoffs, sondern mit allen Fasern seines Wesens ist er dabei. Es wird von ihm erzählt, daß, wenn er seinen Blick senkte beim Essen, er in der Schüssel das Bild Yaus sah; und wenn er den Blick erhob, so erblickte er Schun an der Wand. Er selbst klagt einmal: »Ich bin sehr weit heruntergekommen, denn schon seit langer Zeit habe ich den Fürsten von Dschou nicht mehr im Traum gesehen.« Diese innere Verwandtschaft mit den alten Idealen gab ihm denn auch die Möglichkeit, das gesamte Wissen seiner Zeit sich anzueignen. Was vor ihm getrennte Gebiete waren, von Spezialisten gepflegt und in der Stille schulmäßig überliefert, das vereinigte er in sich zu einem einheitlichen Ganzen. So konnte es nicht fehlen, daß der Ruf seiner Gelehrsamkeit sich bald ausbreitete und daß sich bald Schüler aus allen Kreisen um ihn sammelten, die er in freiem, persönlichem Verkehr einführte in die Weisheit des Altertums. Das war etwas absolut Neues im damaligen China. Es gab wohl königliche Schulen zur Heranbildung der fürstlichen und adligen Söhne, aber eine private Vereinigung von Lernbegierigen um einen Lehrer hat es vor Kung nicht gegeben. Er freute sich der Freunde, die von fernen Gegenden kamen, und gab ihnen sein Bestes, anfangend mit den Riten und Prinzipien der Moral und vordringend – entsprechend der Begabung und dem Interesse der Zuhörer – zu den tieferen Prinzipien des Weltzusammenhangs, die er mehr esoterisch behandelte.

Aber das war mehr ein Nebenerfolg seines Strebens. Nicht eine Philosophenschule wollte er gründen, sondern das heilige Erbe, das er überkommen hatte, wollte er zur Wahrheit machen in der Welt. Dazu brauchte er einen Fürsten, der auf ihn hörte und geneigt war, seine Prinzipien praktisch durchzuführen. Daß diese Prinzipien imstande wären, die Welt zu erneuern, daran hat er keinen Augenblick gezweifelt. Aber entsprechend der gesamten Überlieferung kam ja das Heil von einem heiligen Fürsten. Ihm selbst war es vom Schicksal nicht vergönnt worden, einen Thron innezuhaben. Vielleicht aber durfte er hoffen, als Ratgeber wenigstens mit einem Herrn zusammen die beiden Seiten des Heiligen auf dem Thron zur Wahrheit zu machen. Hatte doch auch sein innig verehrtes Vorbild, der Fürst von Dschou, nicht selbst an der Spitze des Reiches gestanden, sondern nur als Berater seines Bruders, des Königs Wu, – und er hatte doch als Vormund von dessen Sohn so Herrliches vollbracht!

Diesem Interesse am Altertum kommt ein Erlebnis entgegen, das die große Wahrheit bestätigt, die uns Goethe mit plastischer Deutlichkeit offenbart: wie dem strebenden Menschen jederzeit vom Schicksal das geboten wird, was seinem Wesen entspricht und was er zu seiner Vervollkommnung braucht.

Als Reisebegleiter eines Zöglings, den sein Vater sterbend an ihn verwiesen hatte, hat er seine erste Reise in die alte Reichshauptstadt Lo (im heutigen Honan) gemacht, von der so manche Sagen überliefert sind. Wenn auch die alte Herrlichkeit der Dschoudynastie längst geschwunden war, so fand er sich doch hier noch in der Umgebung der Überreste jener großen Zeiten, deren Kenntnis er damals schon besaß wie kein Zweiter im Reich. Und so sehen wir ihn mit Eifer und Wißbegier alles in sich aufnehmen, was von der Gegenwart jener Helden und Weisen zeugte, mit denen er selbst in seinen Träumen verkehrte. Er wird wohl ausgelacht wegen seiner Lernbegier, aber er läßt sich nicht irremachen; jeden kleinsten Zug, der ihm aus jenen Zeiten entgegenkommt, eignet er sich an. Es ist einer jener denkwürdigen Augenblicke, da ein Menschheitsgenius mit den Resten der Vergangenheit in unmittelbare Berührung kommt und Fühlung sucht mit dem, was gewesen ist, um seinem eigenen Werk den Platz in der großen Menschheitsentwicklung anzuweisen. Daß für Kung diese Begegnung mit dem Altertum noch ungleich wichtiger sein mußte; als z. B. für Luther seine Reise nach Rom, ergibt sich aus der durchaus positiven Stellung, welche er bewußtermaßen zu den Schöpfern und Begründern dieser Kultur einnahm. Am ehesten könnte man eine Analogie finden mit Goethes römischem Aufenthalt, wo dieser auch sein Wesen in den Geist des Altertums untertaucht, der seinen späteren Werken die Vollendung der Form gegeben hat. In jene Zeit wird auch die bekannte Begegnung mit Laotse verlegt, bei der er so wenig Lob von seinem älteren Kollegen geerntet haben soll. Die Erzählungen über das, was bei dieser Gelegenheit von den beiden chinesischen Weisen eigentlich gesprochen wurde, sind aber wohl durchweg apokryph. Sie tragen zu deutlich den Stempel taoistischer Erfindung, die dem Haupt der philosophischen Rivalenschule gerne etwas am Zeug flicken möchte, als daß sie für historisch unanfechtbar gelten könnten. (Vgl. Legge a. a. O. pag. 65; E. Chavannes, Mémoires historiques de Se-Ma Tsien, Paris 1905, Band V, pag. 300 f.)

Von der Hauptstadt des alten Reichs zurückgekehrt, widmete sich Kung aufs neue der Erziehung von Jüngern, die in immer größerer Zahl durch seinen Namen angezogen wurden. Kurz darauf verwickelten sich aber die politischen Verhältnisse in seinem Heimatlande. Einer der Hausbeamten der herrschenden Adelsfamilie hatte die Regierung an sich gerissen, und der Fürst des Landes war genötigt, in einem Nachbarstaate Zuflucht zu suchen. Um einer Anstellung, die vom Usurpator beabsichtigt war, zu entgehen, zog auch Kung es vor, seine Heimat zu verlassen. Sein Weg führte ihn nach Tsi, dem nordöstlichen Nachbarstaate. Dort hörte er zum erstenmal die aus dem hohen Altertum überlieferte Schau-Musik. Er wurde von ihrer Kraft und Reinheit so hingenommen, daß er drei Monate lang den »Geschmack des Fleisches« vergaß. Diese Begeisterungsfähigkeit und Vorliebe für Musik, die er sein ganzes Leben hatte, ist übrigens auch ein Beweis dafür, daß er keineswegs der pedantische Philister war, für den man ihn so häufig hält.

Kungs Name hatte in jener Zeit schon Klang genug, um es dem dortigen Fürsten wünschenswert erscheinen zu lassen, seine nähere Bekanntschaft zu machen. Er hat verschiedene interessante Unterredungen über Staatsangelegenheiten mit ihm geführt. Auch hatte er Lust, ihn in seinen Diensten zu verwenden. Die Sache scheiterte jedoch an den Gegenvorstellungen des Ministers Yän. Kung wollte auch die Politik auf ethische Grundlage gestellt wissen. Yän hielt das für Utopie; Tsi war damals die erste Militärmacht im Lande. So erkaltete dann allmählich das Verhältnis. Der Fürst ließ verlauten, er sei zu alt und könne sich nicht mehr mit Reformplänen abgeben. Man wollte den Weisen aus Lu mit einem Ehrentitel und ausreichendem Einkommen abfinden. Kung war jedoch nicht gewillt, eine solche Sinekure anzunehmen. Er verließ Tsi und kehrte um eine Erfahrung reicher in seine Heimat zurück.

Dort wurde er von den herrschenden Adelsfamilien lebhaft umworben; aber er widerstand allen Versuchungen, in ihre Dienste zu treten, und wartete ruhig, bis seine Zeit gekommen war. Endlich kam es wieder zu einigermaßen geordneten Verhältnissen. Der alte Fürst war gestorben, das Haupt der mächtigsten Lehnsfamilie war ihm im Tode nachgefolgt. Der neue Fürst, der zur Regierung gekommen war, suchte die Dienste seines berühmten Untertanen, indem er ihm zunächst einen Kreis zur Verwaltung übergab. Kung war damals 50 Jahre alt, und nun beginnt die kurze, aber glänzende Zeit, die wir als seine Meisterjahre bezeichnen können, jene Jahre, da er Gelegenheit bekam, zu zeigen, was seine Prinzipien auf dem praktischen Gebiet der Staatsverwaltung zu leisten imstande waren. Es war eine glänzende Rechtfertigung. Es sind uns einzelne Züge aus seiner öffentlichen Wirksamkeit überliefert, die zeigen, mit welcher Umsicht und Energie er in unglaublich kurzer Frist in den verrotteten Verhältnissen, die er antraf, Wandel zu schaffen vermochte. Selbstverständlich tragen diese Überlieferungen in ihren Details legendarische Züge. Sie sind aber als Symptome für den Eindruck zu werten, den seine Wirksamkeit auf das Volksleben gemacht hat. Die hauptsächliche Quelle, aus der wir diese Traditionen übernehmen, sind die sogenannten Gia Yü, die, anfechtbar nach der Art ihrer literarischen Entstehung, immerhin altes Traditionsmaterial enthalten. Als er sein Amt antrat, herrschte Lug und Trug in Handel und Wandel. Das Verhältnis der Geschlechter war mehr als zweideutig, die Straßen waren unsicher. Nach drei Monaten war alles umgewandelt. Der Marktverkehr war musterhaft; all die kleinen Kniffe, womit man sonst die Waren täuschend herausgeputzt hatte, waren abgeschafft, die Beziehungen der Geschlechter waren geregelt, und das ging soweit, daß selbst auf den Straßen Männer und Frauen auf verschiedenen Seiten gingen – die Männer rechts, die Frauen links. Die Sicherheit des Verkehrs war so groß, daß niemand es wagte, verlorene Gegenstände für sich zu nehmen, sondern der Verlierer sie regelmäßig zurückerhielt. Auch die Verwaltungsangelegenheiten waren in bester Ordnung. Die Lasten der Steuern und Frohnden waren der Leistungsfähigkeit entsprechend verteilt. Die Toten wurden in allen Ehren bestattet, doch wurde verhindert, daß der Dienst der Toten auf den Lebenden laste. Aller unnötige Prunk bei Beerdigungen wurde vermieden, die Gräber durften nur auf unfruchtbaren Hügeln angelegt werden, keine Grabhügel wurden aufgeschüttet, keine Totenhaine nahmen dem Lebenden das Brot weg. In wenig Monaten war er soweit, daß, vom Ruf dieses Paradieses auf Erden angezogen, von allen Seiten die Bevölkerung herbeiströmte, um sich dort anzusiedeln, und die Fürsten der Umgegend sich bei Kung in Verwaltungsfragen Rat erholten. Wenn wir auch diese Legenden auf das Maß des Wahrscheinlichen reduzieren müssen, so war doch jedenfalls die Leistung Kungs so hervorragend, daß ihm sein Landesfürst einen Ministerposten übertrug: zuerst in der Verwaltung der öffentlichen Arbeiten, dann in der Justiz. Auch hier hatte er in kurzem glänzende Erfolge zu verzeichnen. Ein Schüler hat ihn einmal gefragt, worauf es in der Verwaltung eines Staates vorzüglich ankomme. Er antwortete: »Auf ein tüchtiges Heer, auf Wohlhabenheit des Volks und darauf, daß das Volk Vertrauen zu seinem Herrscher hat.« Der Schüler fragte weiter: »Wenn aber nicht alles zu erreichen ist, worauf kann man am ehesten verzichten?« »Auf das Heer«, war die Antwort. Als der Schüler noch weiter fragte, antwortete er: »Speise und Trank sind zum Leben notwendig, allein früher oder später muß doch jeder sterben; ohne Vertrauen aber ist es unmöglich, daß ein Staat auch nur einen Tag besteht.« Ein anderes Mal fragte ein Schüler beim Anblick einer zahlreichen Bevölkerung, was für sie getan werden müsse, um sie emporzubringen. »Bereichere sie«, sprach der Meister. »Und dann?« »Belehre sie.« Nach diesen Grundsätzen hat er sein Leben gestaltet. Er hat umfassende Anordnungen über die Ausnutzung des Ackerlandes getroffen und durch Versuche feststellen lassen, welche Pflanzen für die verschiedenen Bodenarten am geeignetsten seien.

Als Justizminister fängt er mit großer Energie an. Ein Vater verklagt seinen Sohn wegen Ungehorsams. Nun ist ja bekanntlich Pietät und Kindlichkeit das Grundprinzip in der Lehre des Konfuzius, und man hätte denken sollen, er werde den pietätlosen Sohn strenge bestrafen. Stattdessen nimmt er Vater und Sohn in Haft, ohne sich mit dem Fall weiter zu beschäftigen. Darüber befragt, gibt er zur Auskunft, daß der Ungehorsam dieses Sohnes mindestens ebensosehr der Fehler des Vaters sei, der es an der nötigen Belehrung habe fehlen lassen. Und erst als der Vater von seiner Klage absteht, läßt er beide frei. Dieses Beispiel erläutert, wenn es auch einem modernen Juristen noch so bedenklich erscheinen mag, die großzügige Art seiner Justiz. Er behielt dabei fortwährend Fühlung mit dem Rechtsbewußtsein des Volks und hat es durch diese pädagogische Handhabung der Gesetze soweit gebracht, daß die schlechten Elemente sich verzogen und die guten zur Ordnung und Besinnung gebracht wurden.

Noch interessanter vielleicht ist die Art seiner diplomatischen Tätigkeit. In der inneren Politik war das größte Übel die Terrorisierung des Fürsten durch die drei vornehmen Adelsgeschlechter. Deren Macht stützte sich vornehmlich auf die befestigten Städte, die sie inne hatten und an deren Mauern alle Wünsche des Fürsten sich brachen. Kung hat in der kurzen Zeit seiner Amtstätigkeit die politischen Verhältnisse so umsichtig auszunutzen gewußt, daß jene Geschlechter sich herbeiließen, ihre Mauern selbst zu schleifen, wodurch natürlich das Ansehen des Fürsten sehr gesteigert wurde.

In ähnlicher Weise erprobt er sich in der äußeren Politik: in der berühmten Zusammenkunft der Fürsten von Lu und Tsi bei Gia Gu. Der Fürst von Tsi erschien umgeben von der barbarischen Leibwache der Leute aus Lai, um den Fürsten von Lu zu überrumpeln und unschädlich zu machen, da ja dessen Ratgeber ein Gelehrter sei, der nichts vom Kriege verstehe. Kung hat die Erwartungen der Feinde bitter enttäuscht, indem er bei der Abreise von dem ganz modernen Grundsatz ausging, daß, wie man im Krieg die Werke des Friedens vorbereiten müsse, so auch für die Erhaltung des Friedens der sicherste Weg sei, wenn man zum Krieg gerüstet ist. Auf seinen besonderen Rat nimmt der Fürst eine militärische Bedeckung mit. Es ist uns eine interessante Schilderung des Zusammentreffens erhalten. Der Empfang war frostig. Dreimal macht der Fürst von Tsi den Versuch, seinen Gegner, den Fürsten von Lu, aus dem Wege zu räumen. Erst läßt er verkleidete Soldaten unter den Tönen der wilden Lai-Musik heranrücken, dann versucht er es mit Schauspielern, endlich sucht er ihn zu einem Gastmahl zu gewinnen, um seine Absichten bei dieser Gelegenheit zu verwirklichen. In allen drei Fällen sieht er sich in seiner Absicht von Kung erkannt, der mit Energie und teilweise unter persönlicher Lebensgefahr seinen Fürsten rettet und mit vollendeter Höflichkeit alle jene hinterlistigen Versuche zurückweist. Das Ergebnis dieser Zusammenkunft ist, daß der Fürst von Tsi dieser Überlegenheit gegenüber sich moralisch geschlagen fühlt und einige strittige Grenzgebiete an Lu herausgibt.

Aber lange sollte diese glänzende Zeit steigender Erfolge nicht dauern. Den Fürsten von Tsi ließen die Erfolge des Nachbarstaates nicht schlafen. Da er erkennen mußte, daß er dem staatsmännischen Geschick des Ministers nicht gewachsen war, so kam er auf eine andere Auskunft. Er sandte dem Fürsten von Lu eine Truppe von Schauspielerinnen zum Geschenk. Das wirkte. Der Fürst und seine Großen konnten sich diesen Genüssen nicht verschließen. Drei Tage wurde kein Hof gehalten, und alle Staatsgeschäfte ruhten, weil man dem Schauspiel zusah. Kung, der unbequeme Warner, wurde beiseite geschoben und auffällig vernachlässigt. Mit blutendem Herzen mußte er erkennen, daß seine Zeit vorüber sei. Er ging.

Und nun beginnen die späten Wanderjahre des Meisters, 13 Jahre lang ist er umhergezogen als Fremdling in den verschiedenen Staaten des damaligen China. Diese ganze Zeit lang suchte er nach Menschen, nach einem Menschen auf dem Thron, der Willensenergie und Beharrlichkeit genug besäße, gemeinsam mit ihm die Ideale der alten Zeit ins Leben einzuführen. Er hat vergebens gesucht. Zwar war er ein Mann von Ruf. Die Fürsten der Staaten, durch die er kam, sandten ihm meist Geschenke und waren gern bereit, mit ihm über dies und das zu reden. Aber weiter kam es nirgends. Hatte je ein Fürst im Sinn, ihn anzustellen, so fand sich sicher ein ungünstiger Beamter, eine lebensfrohe Favoritin, die es zu hintertreiben vermochten. »Ach, ich habe noch niemand gesehen, der die Wahrheit so liebt wie ein hübsches Gesicht!« ruft er einmal verzweifelt aus. Neben die Lauheit der Fürsten trat der Spott pessimistischer Philosophen, die fernab von dem Getriebe der Öffentlichkeit lebten, und die ihn verhöhnten, daß er noch immer meine, die Welt könne gebessert werden. Verschiedene Mal sieht er sich durch Mißverständnis oder Mißwollen in ernste Lebensgefahr gebracht. Einmal ist er am Verhungern, weil sämtliche Lebensmittel ausgegangen waren. Aber immer hält er sich aufrecht, und er läßt sich auch im tiefsten Unglück den Glauben an seine Bestimmung nicht nehmen. »Ich habe meinen Beruf vom Himmel, was können mir Menschen tun?« Mit diesem Wort tröstet er seine Jünger, als diese nach einem mißlungenen Anschlag auf sein Leben ihm erschreckt zur eiligen Flucht raten. Auf die Dauer konnte er sich dennoch dem Eindruck nicht verschließen, daß seine Zeit noch nicht gekommen sei. Vorübergehend hat er wohl den Gedanken erwogen, mit dem einen oder anderen energischen Aufrührer, die seine Dienste suchten, gemeinsame Sache zu machen und durch Umsturz des Alten die ideale Ordnung zu begründen. Auch wirft er einmal hin, daß er ins Ausland wolle – da in China kein Boden für seine Lehren sei – um unter den Barbarenstämmen des Nordens und Ostens eine neue Kultur zu gründen. Mehr als flüchtige Gedanken sind diese Stimmungen nie bei ihm geworden; dazu war er innerlich zu fest mit der chinesischen Gesamtkulturentwicklung verbunden, als daß er die Möglichkeit gehabt hätte, ein derartiges Abenteuer zu wagen. Leicht ist ihm die Resignation aber nicht geworden. Er sieht die Not der Zeit, er weiß in sich die Kraft, ihr abzuhelfen, und dennoch fehlt ihm die Möglichkeit, diese Kraft zu entfalten. Da reift in ihm der große Verzicht. Was er während seines Lebens nicht erreichen konnte, das will er als Erbe der Zukunft überliefern. Deshalb steigt in ihm die Sehnsucht auf nach seinen Jüngern. Zu ihnen will er wieder heim, um ihre guten Eigenschaften durch seine Anwesenheit zu vervollkommnen und so in ihnen einen Stamm von Getreuen heranzuziehen, die geeignet wären, seine Lehren dereinst auf die Nachwelt zu bringen. In diesem Zusammenhange kann man auch das Wort verstehen, in dem er es als seinen Beruf bezeichnet, zu beschreiben und nicht schöpferisch tätig zu sein, treu zu sein und das Altertum zu lieben. Endlich, nach langen Jahren in der Fremde, erreicht ihn der ehrenvolle Ruf, in die Heimat zurückzukehren, nachdem ein neuer Fürst dort auf den Thron gekommen war. Dort vollendete er das Werk, das er früher begonnen, und an dem er auch auf seinen Wanderungen immer gearbeitet hatte, die Festigung und Ausbildung der Schüler, die sich um ihn gesammelt. Allmählich wurde es einsam um den alten Mann, seine Schüler traten in ihre Ämter ein, mehrere mußte er auch vor sich ins Grab sinken sehen, so den hoffnungsvollsten von allen, den einzigen, der ihn ganz verstanden hatte, seinen Liebling Yän Hui. Das hat ihm fast das Herz gebrochen und ging ihm näher als selbst der Tod seines Sohnes. Sein Leben erlosch im 72. Jahre nach viel Arbeit, viel Mühe und viel Enttäuschung, aber ohne daß er sich hätte verbittern oder an seinem Ziel irre machen lassen.

In den letzten Jahren nach seiner Rückkehr in die Heimat hat er dann noch das Werk zum Abschluß gebracht, das seinen Namen mit der chinesischen Kultur unauflöslich verbunden hat: die Herausgabe der heiligen Schriften. Um die Bedeutung dieser Arbeit zu verstehen, muß man sich klar machen, daß er wie kein anderer in den Geist der alten Kultur eingedrungen war. Er war sozusagen im Besitz der Pläne dieses hohen und erhabenen Hauses. Er hatte sein Leben lang versucht, die zerfallenen Trümmer an der Hand dieser Pläne vor dem Untergang zu retten. Es ist ihm nicht gelungen. Niemand unter den Herrschenden hat seine Dienste hierfür begehrt. So mußte er den andern Weg einschlagen: Nachdem der alte Bau der chinesischen Kultur nicht mehr zu retten war, mußte man ihn dem Untergang überlassen. Was aber Kung vollbracht hat, das ist die Rettung der Baupläne dieser alten Kultur. Nach diesen Plänen konnte dann seinerzeit beim Erstehen eines neuen Herrschers aus den Ruinen des gesellschaftlichen Zusammenbruchs der Bau der chinesischen Kultur aufs neue errichtet werden.

Bei der Sammlung der Urkunden des Altertums ging er von diesem Gesichtspunkt aus. Es lag ihm nichts daran, eine aktenmäßige Darstellung des zufälligen Geschichtsverlaufs zu geben, nicht ein antiquarisches Interesse war es, das ihn bestimmte, sondern er gab die Urkunden der Vorzeit heraus, in einer Weise, daß daraus die Grundlinien der großen Kulturideen, die ihnen zugrunde lagen, hervorleuchten sollten. Mit diesem, seinem größten Werk schließt seine Lebensarbeit.

Es ist ohne weiteres verständlich, daß es sich für ihn nicht darum handeln konnte, neue Lebensordnungen ausfindig zu machen, vielmehr kam es ihm nur darauf an, die vorhandenen auf spätere, bessere Zeiten zu retten. Wir dürfen daher erwarten, daß er nur die Lebensordnungen der Dschoudynastie mit neuem Leben erfüllte. Das trifft auch durchaus zu. In seinem eigenen Leben war er bestrebt, diesen Lehren nachzuleben. Er hat nichts gelehrt, das er nicht auch in seinem Leben zur Darstellung gebracht hat. Bis in die kleinsten Züge hinein ist sein Leben ein Kunstwerk; darin beruht die Macht seiner Ideen, daß sie nicht bloß Gedanken, sondern Wirklichkeit waren. Die Grundfrage für ihn war die Lösung des Problems: Was ist zu tun, damit das Zusammenleben der Menschen so gestaltet wird, daß es den großen Gesetzen der Weltordnung entspricht und dadurch zum Glück der Gesamtheit führt? Um zwei Brennpunkte bewegt sich dabei alles: die Kultur der Persönlichkeit und die Gesetze des sozialen Lebens. Um die Welt in Ordnung zu bringen, dazu braucht es durchgebildeter Persönlichkeiten an der maßgebenden Stelle. Nur der vornehme Charakter (gündsï, im Text mit: »der Edle« übersetzt) kann wirklich Menschen beherrschen. Das Grundgesetz dieses Charakters ist die Gewißenhaftigkeit (dschung), ein Begriff, den wir mit dem Kant’schen Begriff der autonomen Sittlichkeit gleichsetzen dürfen, wenn auch zugegeben werden muß, daß die Form des Ausdrucks einen gewißen Anachronismus enthält. Das Verhältnis zu den andern Menschen ist »die freie Anerkennung ihrer Persönlichkeit, als eines dem eigenen Ich gleichgeordneten Selbstzwecks« (schu, das gewöhnlich fälschlicherweise mit Gegenseitigkeit übersetzt wird.)

Wie sehr Kung von allen eudämonistischen Begründungen entfernt war, geht aus der Stelle hervor, die sich in Lun Yü XV, 1 in Übereinstimmung mit Sï-ma Tsiäns Biographie Kungs findet. Als eines Tages auf der Wanderung infolge von Feindseligkeiten mächtiger Beamten die Lebensmittel so knapp wurden, daß die Begleiter vor Hunger krank wurden und nicht mehr imstande waren, sich zu erheben, da hielt sich Kung immer noch aufrecht, redete und las, spielte die Laute und sang, ohne sich niederschlagen zu lassen. Der Jünger Dsï Lu trat mit der Äußerung lebhaften Mißfallens vor ihn und sprach: »Muß der Weise auch in solches Unglück kommen?« Kungdsï antwortete: »Der Weise erträgt es mit Festigkeit, im Unglück zu sein, aber wenn ein gemeiner Mensch ins Unglück kommt, so kennt er keine Schranken mehr.« Dsï Lu errötete. Eine besonders charakteristische Parallelerzählung, die den zugrunde liegenden Gedanken noch deutlicher hervorhebt, findet sich bei dem Philosophen Sün dsï (Han schï wai tschuan, Kap. 7). Dsï Lu fragte, wie es möglich sei, daß der Meister in solches Unglück komme, vorausgesetzt, daß der Satz wahr sei, daß der Himmel den Tugendhaften durch Verleihung von Glück belohne und den Schlechten durch Verhängung von Unglück bestrafe. Kung antwortete: »Erstens dringen die Weisen nicht immer durch in der Welt. Die Geschichte hat das Andenken einer großen Zahl von Männern bewahrt, die durch ihre Tugend berühmt waren und dennoch ein tragisches Ende fanden. Das einzige, worüber der Mensch Meister ist, ist sein eigen Herz. Erfolg oder Mißerfolg hängt von den Umständen ab. Zweitens gibt es viele Fälle, in denen wir Menschen, die sich in verzweifelten Umständen befanden, späterhin zu der höchsten Bestimmung aufsteigen sehen. Man kann daher nicht sagen, daß äußeres Unglück immer ein Übel ist. Es ist häufig nur eine Probe, aus der der Charakter gestählt hervorgeht. Endlich haben die Zeitumstände, unter denen man lebt, einen großen Einfluß auf das Leben des Einzelnen. Wer unter einem weisen Herrscher zu den höchsten Ehren gelangt ist, würde vielleicht zum Tode verurteilt sein, wenn er am Hof eines Tyrannen gelebt hätte. Glück und Unglück sind daher in keiner Weise ein Maßstab für den inneren Wert eines Menschen.« Die vollständige sittliche Autonomie geht auch aus einer anderen Stelle hervor, wo es heißt: »Unter Wahrheit der Gedanken ist der Zustand zu verstehen, da auf sittlichem Gebiet Selbsttäuschung ebenso ausgeschlossen ist, wie auf natürlichem, wo jeder sich von einem schlechten Geruch abwendet, zur Schönheit aber sich hingezogen fühlt. Dies ist die wahre Selbstgewißheit. Deshalb achtet der Edle zumeist auf sich, wenn er allein ist, der Gemeine macht vor keiner Schlechtigkeit halt, wenn er unbeobachtet ist; trifft er mit einem Edlen zusammen, so sucht er sich zu verstellen, er verbirgt seine Schlechtigkeit und kehrt seine guten Seiten hervor, aber es nutzt ihm nichts, der andere durchschaut ihn bis auf Herz und Nieren. Das ist der Sinn des Wortes: der wahre Zustand des Innern drückt sich in der äußeren Erscheinung aus; darum achtet der Edle zumeist auf sich, wenn er allein ist.« Die Sache liegt tatsächlich so, daß für Kung nichts gut ist, denn allein ein guter Wille; und daß als Triebfeder für den Willen nichts anderes in Betracht kommt, denn allein die erkannte Pflicht.

Beruht nun die eine Seite der konfuzianischen Ethik auf dem denkbar einfachsten Grundverhältnis der absoluten Verpflichtung des Sittengesetzes ohne alle Rücksicht auf äußere Belohnung oder Strafe, so ist auch für das soziale Zusammenleben der Menschen auf ein möglichst einfaches Grundverhältnis zurückgegriffen – die Familie. Innerhalb der Familie haben alle Beziehungen etwas Natürliches, da sie schon durch die Bande des Blutes gefestigt sind. Die Familie bildet für Kung sozusagen die Zelle, auf der sich der gesamte Staatsorganismus aufbaut. Die menschliche Gesellschaft setzt sich für Kung nicht zusammen aus einzelnen Individuen, die einander unterschiedslos gegenüberstehen, und deren Beziehung höchstens durch utopische Theorien geregelt werden könnte. Er dagegen sieht in der menschlichen Gesellschaft einen fest gegliederten Organismus, in dem jedem Individuum seine bestimmte Stelle zugewiesen ist. Das ist der Sinn der berühmten fünf Beziehungen, die das sittliche Verhalten der Menschen zueinander regeln, der Beziehungen zwischen Vater und Sohn, Mann und Frau, älterem und jüngerem Bruder, Fürst und Beamten, Freund und Freund. Dementsprechend ist für die Ordnung des Zusammenlebens der Menschen in der Welt notwendig, daß zuerst die Familien in Ordnung kommen, auf Grund davon die Territorialstaaten und auf Grund davon endlich das Reich. Alles ist patriarchalisch gedacht, indem der Kaiser der Vater des Reiches ist, wie die Fürsten Landesväter sind und die einzelnen Bürger Familienväter. So rundet sich alles in wohldurchdachter Ordnung, und die so geeinigte Menschheit bildet mit Himmel und Erde zusammen die große Dreiheit der Grundprinzipien.

Jeder Geist braucht seinen Leib, ebenso braucht jede Gesinnung ihren adäquaten Ausdruck. Die Gesinnung der Ehrfurcht und Liebe, die allen diesen menschlichen Beziehungen zugrunde liegt, braucht ihre Form, durch die sie sich äußern kann. Diese rechte Form für die rechte Gesinnung, das chinesische »Li«, wird nicht in ihrer ganzen Tiefe erfaßt, wenn man darin nur Anstandsregeln oder äußere Zeremonien sieht. Diese Formen sind vielmehr moralisch bindend und geben die ästhetische Abrundung und Durchbildung des gesamten Lebens, sie sind Ausdruckskultur im höchsten Sinne des Wortes. Hand in Hand damit muß die Harmonie der gesamten Seelenstimmung gehen, denn nur ein tiefes und zugleich wohlgestimmtes Gemüt ist imstande, in all seinen Äußerungen Maß und Mitte zu treffen, ohne seine Grenzen zu überschreiten oder hinter dem Rechten zurückzubleiben. Diese Harmonie der Seelenstimmungen wird für Kung vorzugsweise erreicht durch die Pflege der Musik, die daher als Abschluß des gesamten Systems eine besonders große Bedeutung hat.

Sein Verhältnis zur Religion ist von dieser Betonung der ethischen Grundlagen des Menschenlebens aus zu verstehen. Er hat nicht die Absicht gehabt, an den überkommenen Religionsvorstellungen etwas zu ändern; er ist weit entfernt davon, der Skeptiker oder Agnostiker zu sein, den man unter Heranziehung einiger mißverstandener Stellen aus ihm hat machen wollen. Daß er mit Vorliebe statt des Ausdrucks Gott den Ausdruck »tiän« (Himmel) anwendet, hat seinen Grund darin, daß in jener Zeit der Ausdruck Gott oder höchster Herrscher in ziemlich weitgehendem Maß mißbraucht worden war. Er hat ein sehr starkes Bewußtsein seiner göttlichen Berufung gehabt, das in Zeiten höchster Not verschiedene Male zum Ausdruck kam. Vgl. Lun Yü Buch IX, 5: Als der Meister einst in Kuang in Lebensgefahr war, sprach er: »Ist nicht nach dem Tod des Königs Wen seine Kulturaufgabe mir zugefallen? Hätte der Himmel diese Kultur vernichten wollen, so hätte nicht ich, ein Sterblicher späterer Jahrhunderte, das Verständnis für diese Kultur erreicht. Wenn aber der Himmel diese Kultur nicht verloren gehen lassen will, was können dann die Leute von Kuang mir anhaben?« Zwar hat er nicht gerne über diese höchsten Probleme geredet, aus Furcht vor Profanierung; nur ganz gelegentlich erfahren wir ein Wort, das uns über den mystischen Zug des innersten Wesens, den er mit allen wahrhaft Großen gemein hat, Aufschluß gewährt. Vgl. Lun Yü XIV, 37: Der Meister sprach: »Ach es gibt niemand, der mich kennt!« Dsï Gung erwiderte: »Was heißt das, daß niemand den Meister kennt?« Der Meister sprach: »Ich murre nicht wider den Himmel und grolle den Menschen nicht; ich strebe nach Erkenntnis hier unten, doch dringe ich empor zu dem, was droben ist. Einer ist’s, der mich kennt, der Himmel.« Wenn er so in einsamem Streben den Problemen der Gotteserkenntnis nachging, so ist klar, daß ihm der abergläubische Kult der Götter der Masse, geboren aus Furcht und Hoffnung, aufs tiefste zuwider sein mußte. Als ihm einmal jemand eine Frage in Beziehung auf Wirkung und Ranghöhe von Laren und Penaten vorlegte, da schnitt er die ganze Erörterung ab mit dem Wort: »Nicht also, sondern wer gegen den Himmel sündigt, der hat niemand, zu dem er beten kann.« Vgl. hierzu auch die Stelle Lun Yü II, 24.

Dennoch hat er den Ahnenkult, den er vorgefunden hat, nicht nur bestehen lassen, sondern zusammen mit den Begräbnisriten in den Bereich der höchsten Pflichten der Pietät mit aufgenommen. Es braucht aber kaum gesagt zu werden, daß dieser Ahnenkult von allen niederen animistischen Vorstellungen vollständig frei ist. Er hat es ausdrücklich abgelehnt, über die Beziehungen des Opfernden zum Jenseits eine definitive Behauptung aufzustellen, und hat einen Schüler, der ihn über das Schicksal der Verstorbenen fragte, aufs Leben zurückverwiesen, als das Gebiet, das man zuerst kennen müsse, ehe man sich Gedanken über das Jenseits zu machen brauche. Welchen Sinn hat nun aber der Ahnenkult im konfuzianischen System? Man kann im Zweifel sein, ob man ihn überhaupt zur Religion stellen will, oder ob man ihn nicht besser unter die ethischen Verpflichtungen einreiht. Wie wir gesehen haben, ist die kindliche Ehrfurcht gegenüber den Eltern eine in der menschlichen Natur begründete absolute Verpflichtung. Deswegen muß sie einen adäquaten Ausdruck finden, unabhängig von den zufälligen Verhältnissen des Objekts dieser Ehrfurcht. Ebenso wie ein Sohn auch unwürdigen Eltern gegenüber zu dieser Ehrfurcht verpflichtet ist, in welchem Falle die Ehrfurcht sich zwar verschieden äußern wird, aber dennoch als Gesinnung dieselbe bleibt, so ist der Ahnenkult das Mittel, dieser Ehrfurcht einen entsprechenden Ausdruck zu verschaffen, auch über den Tod der Eltern hinaus, und ein Band zu bilden, das Vergangenheit und Gegenwart innerhalb des Kulturkreises der Menschheit verbindet. Darum hat Kung auch immer wieder betont, daß nicht der äußere Prunk der Begräbnisriten und Ahnenopfer irgendwelchen Wert habe, sondern daß alles von der rechten Gesinnung abhänge. Mit derselben Innerlichkeit hat er auch das gesamte System der Riten und geheiligten gesellschaftlichen Beziehungen zu durchdringen gesucht. Auf Schritt und Tritt begegnen wir Äußerungen, in denen aller Wert auf die rechte Gesinnung gelegt wird und die äußere Form nur als das zweite, weniger wichtige bezeichnet wird. Nichts ist darum verkehrter, als aus der Gewissenhaftigkeit, mit welcher er auch die äußere Form beachtete, ihm den Vorwurf des leeren Formalismus zu machen.

Auf jeden Fall wird man anerkennen müssen, daß die Religion für Kung sozusagen einen ganz andern Ort im Seelenleben des Einzelnen und der Gesamtheit hat als im Christentum oder dem alttestamentlichen Prophetismus. Eine persönliche Beziehung des Einzelnen zu Gott als höchstes Streben liegt ihm vollkommen fern. Er bindet den Einzelnen durchaus an die diesseitige menschliche Gesellschaft. Und für diese Bindung benutzt er die Seelenkräfte, die anderwärts für die Religion frei wurden. Darum kann man wohl sagen, er hat der Religion, als der persönlichen Beziehung der Menschen zu Gott, die Kräfte entzogen und diese Kräfte dazu benutzt, um den Menschen an die Organisation der menschlichen Gesellschaft zu binden. An Stelle der Religion tritt für ihn die religiös betonte Pietät.

Aus dieser Stellung ergibt sich von selbst die wesentlich optimistische Beurteilung des Wesens des Menschen. Wo der Mensch in Beziehung tritt zum Unendlichen, zu Gott, erwacht als Reflex das Bewußtsein des Unzureichenden, der Sünde. Wo dagegen der Blick auf das Diesseits beschränkt bleibt, kann von »Sünde« im religiösen Sinn nicht die Rede sein. So ist denn auch für Kung der Begriff der Sünde etwas Fremdes. Der Mensch ist von Natur gut, und es liegt in der Hand jedes Einzelnen, durch einfachen Willensentschluß die Anlagen seines Wesens zur Entfaltung zu bringen. Alles Nichtgute und Schlechte ist nur ein Stehenbleiben der Entwicklung und kann durch vermehrte Kraftanstrengung überwunden werden. Daher steht er auch der Vergangenheit durchaus positiv gegenüber. Alles, was die Menschheit braucht zu einem Paradies auf Erden, ist in den Prinzipien der heiligen Könige des Altertums schon vorhanden; daher nirgends der Gedanke bei ihm, daß ein neuer Anfang, eine Weiterentwicklung und Überwindung des Vergangenen notwendig sei. Alle Mißstände der Zeit, die er in seinem eigenen Leben zur Genüge kennen gelernt hat, sind zu überwinden durch Reform. Der Erlösungsgedanke liegt ihm fern; es bedarf nur eines Fürsten, der den Idealen des Altertums in seiner Person praktische Wirksamkeit verleiht, und alles wird wieder gut. Sind erst die Menschen in Ordnung, so werden auch Himmel und Erde und der gesamte Naturverlauf in Ordnung kommen. Alle Störungen des Naturverlaufs sind nur Folgen von Unordnungen im Menschenleben, ebenso wie alle Verbrechen unter der Bevölkerung nur Folgen einer mangelhaften Charakterentwicklung in der Person des Herrschenden sind. Auch in diesen Anschauungen liegt letzten Endes eine große Wahrheit. Aber was sozusagen auf der höchsten Stufe idealer Geschichtsbetrachtung seine Berechtigung hat, gewinnt doch ein ganz wesentlich anderes Gesicht mitten im Kampf und Streit der Entwicklung. Wenn wir uns daher fragen: Was hat Kung erreicht? – so darf nicht verschwiegen werden, daß gerade diese optimistische Grundauffassung verschiedene Mißerfolge zu verzeichnen hat.

Schon im Leben Kungs hat sich das deutlich gezeigt. Seine starke und reine Persönlichkeit hat allerdings auf die ihm Nahestehenden einen bleibenden Eindruck gemacht und ihm ein unauslöschliches Recht verschafft in der Geschichte der Menschheit. Aber den Gang der Ereignisse im ganzen konnte er nicht aufhalten, es fand sich kein Platz für ihn, von wo er seine Zeit hätte umgestalten können. Schritt für Schritt mußte er zurückweichen in seinen Hoffnungen, und es läßt sich nicht leugnen, daß er schließlich in einer gewissen Schwermut gestorben ist. Auch nach seinem Tod gingen die Dinge ihren Gang unaufhaltsam weiter, es kam alles, wie es kommen mußte; noch jahrhundertelang dauerte der Verfall der alternden Dschoudynastie, und nicht Kung und seine Lehren haben China umgestaltet und die auseinander fallenden Einzelgebiete wieder vereinigt, sondern ein rücksichtsloser Real-Politiker von der Art Napoleons, der in allen Stücken ungefähr das Gegenteil war von dem, was Kung sich unter einem idealen Fürsten dachte: der berühmte Tsin Schï Huang Ti. Der hat mit militärischer Gewalt die Lehensfürsten beseitigt und aus China einen bürokratischen Beamtenstaat mit absoluter Monarchie gemacht. Und damit hat er – und nicht Kung – der äußeren Gestalt des chinesischen Staates bis in die neueste Zeit sein Siegel aufgedrückt. Das Staatsideal Kungs deckt sich durchaus mit dem Lehensstaat auf der Grundlage der Familienverwandtschaft, wie ihn die Dschoudynastie geschaffen hatte. Dieses Staatsideal ist nicht mehr zur Wirklichkeit geworden, die Geschichte schlug andere Bahnen ein, auch die späteren Dynastien haben daran nichts mehr geändert. Auch eine Reihe seiner sonstigen Anregungen, namentlich auf ethisch-ästhetischem Gebiet sind nicht durchgedrungen. So ist besonders die Musik, auf deren Einfluß zur Erziehung des harmonisch gestimmten Seelengrundes er große Stücke hielt, in den Stürmen und Umwälzungen der kommenden Jahrhunderte verloren gegangen. Die Kontinuität der Tradition wurde unterbrochen, und von der hohen altchinesischen Musik mit ihren Wirkungen hat heutzutage in China niemand mehr eine Ahnung; nur märchenhafte Sagen über ihren Einfluß sind noch erhalten, die an die Orpheussagen des griechischen Altertums gemahnen. Was dagegen heute in China als Musik produziert wird, entstammt ganz anderen Quellen und würde von Kung nicht der Beachtung für wert gehalten werden. Fiel somit ein wesentliches Hilfsmittel zur Ausgestaltung der Innerlichkeit fort, so ist es nur zu verständlich, daß die Innerlichkeit und der Ernst der Gesinnung, die für Kung ein und alles waren, im Lauf der Zeit immer mehr zurücktraten, immer mehr die äußere Form sich in den Vordergrund drängte. Im Zusammenhang damit nahm auch die geistige Weite und Toleranz unter den Anhängern Kungs immer mehr ab, und es wurde nicht vermieden, daß sich auch an seine Persönlichkeit eine starre und unduldsame Orthodoxie im Laufe der Zeiten anschloß, die anders Denkende verfolgte und zu unterdrükken strebte, wenn auch zu ihrer Ehre gesagt werden muß, daß sie doch nie den Gipfel der Intoleranz erreichte, zu dem die christliche Kirche in ihren schlimmsten Zeiten unter Preisgabe ihrer eigenen Prinzipien sich hinreißen ließ. Je mehr die hohe Innerlichkeit des Meisters verloren ging, desto mehr suchte das Volk für seine Gemütsbedürfnisse andere Quellen auf, und ein dichtes Netz von allerlei Aberglauben umstrickte die Gemüter; die Wind- und Wasserlehre, der Gräberkult in seiner heutigen Form, die Anfertigung von Götzenbildern und all die hypnotisch-spiritistischen Zauberlehren, die so lange Zeit charakteristisch für China waren und allen geistigen Fortschritt hemmten, die trotz und entgegen der konfuzianischen Lehre ihren Siegeszug machten. Aber alle diese Mißerfolge dürfen den Blick nicht trüben dafür, daß Kung dennoch einen Erfolg erreicht hat wie wenige der Heroen der Weltgeschichte. Gewiß, der Verfall des alten Bauwerks der chinesischen Kultur ließ sich nicht mehr aufhalten. Die Bedingungen, unter denen zur Hanzeit im dritten Jahrhundert vor Christus eine neue Welt aus den Trümmern zu steigen begann, waren sehr wesentlich verschieden von denen, die Kung vorausgesetzt hatte. Der bürokratisch zentralisierte Staat wurde auch künftig übernommen und durch alle Zeiten mehr oder weniger beibehalten. Infolge davon mußte der von Kung überlieferte Plan sich einige Änderungen in der Durchführung gefallen lassen. Doch bewies sich das Werk Kungs lebensfähig genug, um diese Änderung zu überstehen. Allmählich hob er sich von der Masse der Tagesgrößen immer klarer ab, und es entstand ein neuer Bau, der der chinesischen Kultur Obdach gab. Wiederholt im Lauf der chinesischen Geschichte sind gefährliche Stürme über den stolzen Bau der konfuzianischen Kultur hingegangen. Ja, man darf wohl vermuten, daß selbst die Menschen, die heute in China leben, Rassenelemente in sich tragen, die vom alten Chinesentum wesentlich verschieden sind. Dennoch hat Kungs Werk alle diese Stürme überdauert. Zu einem so gefährlichen Zusammenbruch wie am Ende der Dschouzeit ist es nie wieder gekommen. Der Grund davon ist, daß Kung eine wesentlich solidere Basis für die chinesische Kultur geschaffen hat. Die Dschoukultur mußte zugrunde gehen, weil ihre Prämisse, der Heilige auf dem Thron, etwas war, das in einer Dynastie mit Erbfolge notwendig versagen mußte. Kung hat eine breitere Grundlage geschaffen. Vor ihm war der Heilige als Herrscher der Träger der Kultur, durch ihn wurde der gebildete Mittelstand in seiner Breite der Träger der Kultur. Hier wurde die öffentliche Meinung erzeugt, der kein Fürst auf die Dauer entgegenarbeiten konnte. Dadurch bekam das Fundament der Kultur, das nun demokratisch gestürzt war, eine so lange Dauer. Man darf sich jedoch nicht vorstellen, daß dieses Durchdringen seiner Lehren kampflos vor sich gegangen sei. Bei seinem Tode hinterließ er eine Reihe von Philosophenschulen, die in kleinlicher Eifersucht sich befehdeten, und von denen jede die reine Lehre des Meisters zu haben vorgab. Allmählich setzte sich dann aber doch die eine Richtung als maßgebend durch, welche, von dem treuesten und hingebendsten Schüler des Meisters, Dsong Schen, begründet und von dem genialen Enkel Kungs, Dsï Si, fortgeführt, in Mong Ko (Menzius) ihren begabtesten Propagandisten gefunden hat. Dadurch war zunächst innerhalb der Schule eine gewisse Einheit der Tradition gesichert. Hand in Hand damit ging eine Auseinandersetzung mit den andern Philosophenschulen. Man darf nie vergessen, daß Kung nicht der alleinige und vollständige Zusammenfasser des chinesischen Altertums war. Im Taoismus liegen Seiten des altchinesischen Wesens vor, die noch über Kung zurückführen. Die konfuzianische Schule war eben nur eine unter den vielen Philosophenschulen der Zeit, von denen neun sich einen besonderen Namen gemacht haben. Namentlich der Dialektiker Mong machte es sich zur Aufgabe, durch Disputation in Kontroversen mit Andersdenkenden der guten Sache zum Sieg zu verhelfen. Es ist seiner Redekunst auch gelungen, eine ganze Reihe bedeutender Denker dauernd als schwarze Schafe zu brandmarken. Doch war dieser Sieg auch mit gewissen Nachteilen verbunden. Die große, freie Art des Meisters, der seine Wahrheit niemand aufdrängte, sondern nur dem mit Interesse und Verständnis Suchenden stufenweise erschloß, wich unter den Händen des eifrigen Reisepredigers einer logisch durchgearbeiteten, dogmatisch gefärbten Schullehre.

Seine schwerste Probe hatte der Konfuzianismus zu bestehen im Kampf mit dem Zäsarismus des Tsin Schï Huang. Einer solchen, auf Realpolitik gegründeten Despotennatur mußte das ethische Staatsideal des Konfuzianismus, das weit mehr die Pflichten der Herrschenden betont als ihre Rechte, prinzipiell zuwider sein. So ist es denn begreiflich, daß Tsin Schï Huang mit Feuer und Schwert gegen die Bücher des Konfuzianismus und seine Anhänger vorgegangen ist. Dennoch hat der Fürst letzten Endes nichts erreicht; an dem charaktervollen Widerstand der Gelehrten, die auch den Tod für ihre Überzeugung nicht scheuten, scheiterte das Machtgebot des Einzelnen. Die Dynastie verschwand schon nach der zweiten Generation, und die neu aufkommende Handynastie ließ es sich von Anfang an angelegen sein, den Meister und seine Anhänger in ihre alten Ehrenrechte einzusetzen. Die verbrannten Schriften wurden teils in einzelnen Exemplaren wiedergefunden, teils auf Grund mündlicher Tradition neu zusammengestellt, teils auch nach Bedarf fabriziert. Das Andenken des gewalttätigen Gegners auf dem Throne aber wurde von den Literaten für Jahrhunderte verfemt.

Weitere Auseinandersetzungen, namentlich mit dem von Süden her nach China importierten Buddhismus, brachten eine fortgehende Gedankenarbeit, die in der Sungdynastie von dem berühmten Gelehrten Dschu Hi zu einem gewissen Abschluß geführt wurde, nicht ohne Aufnahme verschiedener buddhistischer Gedankenlinien in die konfuzianische Schulphilosophie. Nachdem noch unter der Mingdynastie, namentlich durch Wang Schou Jen, eine von Dschu Hi abweichende, mehr historisch-kritische Richtung sich geltend machte, die besonders im japanischen Konfuzianismus bis auf den heutigen Tag großen Einfluß hat und von hier aus neuerdings auf China zurückzuwirken beginnt, ist von den ersten Kaisern der Mandschudynastie Dschu Hi’s Interpretation als autoritativ bezeichnet worden. Unter dem Kaiser Kiän Lung wurde der revidierte Text der dreizehn als klassisch bezeichneten Schriften auf steinernen Tafeln im Konfuziustempel zu Peking eingegraben, der seitdem durch kaiserlichen Befehl als maßgebend festgelegt ist.

Die hohe Verehrung, die Kung durch die Mandschudynastie gezollt wurde und die soweit ging, daß er beim großen Opfer als Genosse des höchsten Gottes verehrt wurde, hat nun neuerdings eine schwere Gefahr für ihn gebracht. Mit der Mandschudynastie brach auch die Verehrung Kungs in Trümmer. Sein Tempel verfällt. Keine Opfer werden ihm mehr gebracht. Die Literaten haben sich zum Teil anderen Idealen zugewandt, zum Teil stehen sie einflußlos abseits. Es scheint, als sei für den Konfuzianismus wieder eine ähnlich gefährliche Zeit gekommen wie die des Tsin Schï Huang. Ja, gewißermaßen ist heute die Gefahr noch größer. Denn was zusammengebrochen ist, ist nicht wie damals nur ein Glied im großen Zusammenhang, vielmehr sind die gesamten Grundlagen erschüttert. Der Fürst ist beseitigt und damit die notwendige Form des konfuzianischen Staates. Denn man mag sagen, was man will: auf eine Republik läßt sich die konfuzianische Staatslehre nicht aufpfropfen. Aber die Auflösung geht weiter. Die gesellschaftliche Struktur kommt ins Wanken. Die Familie, in der die wichtigsten Beziehungen der konfuzianischen Lehre wurzeln, ist in einer radikalen Umgestaltung individualistischer Art begriffen. Allerdings werden neuerdings wieder von den Autoritäten Versuche gemacht, die Stellung Kungs zu heben. Mit dem bisherigen Radikalismus kommt man nicht weiter. Doch die konfuzianische »Kirche», die in der Gründung begriffen ist und vom Christentum manche Formen geborgt hat, ist jedenfalls etwas prinzipiell anderes als was Kung gewollt.

Die Frage ist nun: Wird Kungs System die Wirren des heutigen Tages überdauern? Oder wird es untergehen in der Umwandlung der alten chinesischen Welt? Für alle Fälle ist es der Mühe wert, diesen Versuch der Menschheitsorganisation zu retten zu einer Zeit, da unmittelbare Anschauung seine Kenntnis noch ermöglicht; denn es handelt sich um eine der wichtigsten Erscheinungen in der Menschheitsgeschichte.

Fragen wir uns zum Schluß, was Kung Dauerndes geschaffen hat, so ist wichtiger als alle kunstvoll verschlungenen Linien seines Gedankengebäudes das persönliche Moment, das uns in ihm entgegentritt. Kurz gesagt: Es ist die Souveränität der sittlichen Persönlichkeit, die uns an ihm imponiert. Diese Unabhängigkeit von allen äußeren Gesichtspunkten wie Lohn und Strafe, die ruhige Klarheit, die sich von allem Abergläubischen und Verzerrten besonnen zurückhält, diese Energie des Forschens, die unermüdlich einzudringen sucht in die Wahrheiten des Lebens, diese abgerundete Einheit, die konsequent der inneren Gesinnung in allen Äußerungen den rechten Ausdruck zu geben sucht, – das alles sind Momente, die ihn über seine Zeit wie überhaupt jedes zeitlich beschränkte Niveau emporheben und seinem Beispiel Kraft verleihen. Kung ist eine Natur, die unserem Kant in vielen Stücken wesensverwandt ist, soweit man einen praktischen Politiker mit einem wissenschaftlichen Forscher überhaupt vergleichen kann. Dieses Vorbild hat denn auch immer wieder in der chinesischen Geschichte seine Nachahmer gefunden, die charaktervoll und unentwegt im Strudel der Ereignisse dastanden und auch unter ungünstigen Verhältnissen den Mut zur energischen Vertretung der Wahrheit und Gerechtigkeit fanden. Aber auch unter den Grundsätzen, die er für das Zusammenleben der Menschen aufgestellt hat, sind manche, die bis auf den heutigen Tag noch nicht Allgemeingut geworden sind, so der Grundsatz, daß sich Menschen dauernd nur beherrschen lassen durch die Macht einer sittlich ausgebildeten Persönlichkeit, nicht durch äußeren Zwang der Gesetze. Dem zur Seite steht der andere Grundsatz, daß die gesamte staatliche Ordnung auf natürlichen Grundtatsachen des menschlichen Wesens beruhen muß. Die sittliche Grundlage der gesamten Politik wird trotz allen Schwierigkeiten und der temporären Unmöglichkeit ihrer Durchführung so lange als ein forderndes Ideal vor der menschlichen Gesellschaft stehen, bis sie auf irgendwelche Weise ihren wahrheitsgemäßen Ausdruck gefunden hat.

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