Читать книгу JAMES HARRISON - Konstantin Müller - Страница 4
ОглавлениеDie Auswahl
Ich schlug meine Augen auf, als der erste schwache Sonnenstrahl durch die hohen Baumkronen brach und sich auf meine Wange legte.
Der Geruch von frischem saftigen Moos und feuchter Rinde drang in meine Nase. Der Wald hatte seinen ganz eigenen Charakter. Anders als die Stadt oder das Meer. Anders als Felder oder Wiesen. Er war einmalig, unverwechselbar. Sein Klang, sein Temperament und eben sein Geruch.
Er war vielfältig. Dunkel und undurchschaubar, ein Meer aus Ästen, Blättern und Tieren. Doch auch verführerisch und einladend. Er war Beschützer und Verfolger zugleich. Er war mein Freund.
Ich stütze mich auf meine Ellenbogen. Der Boden, auf dem ich die, für diese Jahreszeit ungewöhnlich warme, Nacht geschlafen hatte, war von Moos bedeckt. Welche Tiere sich darin tummelten, wollte ich lieber nicht genau wissen. Doch gestern Abend war mir das gleichgültig gewesen. So erschöpft hatte ich mich hier zusammengerollt und war augenblicklich eingeschlafen.
Ein Tautropfen, der sich an der Blattspitze einer Lilie zu meinen Füßen gesammelt hatte, glänzte im Sonnenlicht wie ein Kristall. Ich beobachtete ihn, während er allmählich größer wurde, das schwache Blättchen immer weiter bog und schließlich mit einem beinahe lautlosem Platsch der Erde etwas Wasser schenkte.
Ich atmete ruhig und zog die kühle Luft in meine Lungen. Dann richtete ich mich auf. Hinter mir raschelte es und ein gelbgefiederter kleiner Vogel flatterte aus einem Gebüsch. Er landete auf einem Ast einer alten Kiefer hoch über mir und stimmte in das Gezwitscher der anderen Vögel ein. Doch die Nacht im Freien hatte ihre Tribute gefordert. Bei jedem Stritt verspürte ich ein unangenehmes Stechen an meiner Hüfte und auch mein linker Arm, der mir als Kopfkissen gedient hatte, war verspannt.
Langsam schritt ich den schmalen Pfad entlang. Das herbstliche Laub knisterte unter meinen Füßen. Ich kannte diesen Teil des Waldes. Er war mir so vertraut, als wenn er mein zweites Zuhause sei – nun ja, mehr oder weniger war er dies auch. Denn es dauerte auch nicht lange und ich hatte die Waldgrenze erreicht. Vor mir erstreckte sich nun eine weitläufige Wiese, die von einem kleinen Bach durchkreuzt war. Trotz des fernen Gelärm der hupenden und brummenden Autos der Hauptstraße, die sich nur wenige hundert Meter weiter einen Weg durch die bergige Landschaft bahnte, konnte ich deutlich das fröhliche Plätschern des Gewässers hören. Schnell eilte ich über die Wiese und übersprang den Bach bis ich zu einem mit hellen Steinen geschotterten Fußweg gelangte. Diesem folgte ich bis hinter die Terrasse eines Hauses. Die Schlüssel klimperten, als ich vorsichtig die Hintertür aufschloss und mich hineinstahl. Niemand war zu hören. Auf Zehenspitzen ging ich den breiten Gang entlang und lugte an dessen Ende um die Ecke. Die Küche war noch dunkel. Allem Anschein nach schliefen meine Eltern noch. Umso besser. Lautlos huschte ich eine gläserne Treppe hinauf und schloss die Badezimmertür hinter mir.
Nachdem ich mich geduscht hatte trocknete ich meinen Körper ab und blickte in den, von der Feuchtigkeit angeschlagenen Spiegel. Ein vierzehnjähriger Junge schaute mich mit glänzenden nussbraunen Augen an. Seine kurzen schwarzen Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab eine einzelne kleine Narbe zog sich an seiner rechten Wange entlang.
Ich streifte mir ein frisches T-Shirt über und schnallte beim Hinausgehen den Gürtel zu. Aus der Küche im Erdgeschoss konnte ich Geschirr klappern hören. Mina musste schon aufgestanden sein. Mein Vater dagegen hatte immer so ein Problem mit dem Wachwerden. Ich war mir sicher, dass er noch immer zerknautscht in den Federn lag.
Tatsächlich stand in der Küche Mina. Meine Mutter war eine attraktive Frau, mit langen roten Haaren, einer geraden Nase und Sommersprossen auf den mit Grübchen versehenen Wangen. Ja, Mina lachte sehr gern und sehr oft. Hätte man einen Bekannten gefragt, was ihr charakteristischstes Merkmal sei, hätte er ihr unverschämt nettes Lächeln erwähnt.
»Morgen«, begrüßte ich sie und schenkte ihr eine Umarmung. Sie strahlte mich an und verstrubbelte mir die noch feuchten Haare.
»Heute ist dein Tag«, flüsterte sie und machte sich pfeifend an der Herdplatte zu schaffen. Ich blickte mich um. Das Esszimmer, das sich an die Küche anschloss, war ein großer Raum, der größte im Hause der Harrisons, mit einer riesigen Glasveranda, durch die die herbstliche Morgensonne lange Schatten der Fichten, die vor dem Anwesen wie Messer in den Himmel wuchsen, hineinwarf. Auf dem Kaminsims konnte man dicke Wälzer über viele wissenswerte Sachen finden. Ein Bild irgendeines berühmten Malers – ich hatte mich noch nie für Malerei interessiert – nahm fast die ganze westliche Zimmerfront ein. Die restlichen Wandteile waren in einem einladenden Hellgrün tapeziert und selbst die Küchenregale aus ihrem hellen Holz harmonierten mit den übrigen Möbeln, mit denen der Raum bestückt worden war.
Ich ließ mich auf meinem Stammplatz am mit Granitstein bedeckten Tisch nieder und schaute Mina zu. Der Geruch von gebratenem Speck und Gemüse wehte von den Pfannen, die sie mit geschickten Händen bearbeitete, zu mir herüber. Mein Magen knurrte geräuschvoll.
»Wie hast du geschlafen?«, fragte Mina.
Ich zögerte. »Nicht schlecht. Warum?«
»Du siehst recht müde aus.« Mina musterte für einen Moment mein Gesicht, bevor sie sich wieder den Pfannen zuwandte.
Als ich keine Antwort gab fuhr sie fort. »Du weißt, dass es deinem Vater und mir nichts ausmacht, wenn du eine Nacht lang bei deinen Freunden oder sonst wo bleibst, doch wir wollen darüber informiert sein.«
Jetzt begriff ich, worauf sie hinaus wollte. »Gestern Abend konnte ich nicht einschlafen. Ich war aufgeregt und dann bin ich raus. Ich wollte eigentlich nur kurz Luft schnappen. Aber dann... es war eine so schöne Nacht. Keine Wolken, Vollmond«, versuchte ich zu erklären.
»Dass du aufgeregt warst, kann ich mir gut vorstellen«, kicherte meine Mutter. »Ich persönlich konnte die gesamte Woche vor meinem Tag nicht schlafen. Ich würde mich in Zukunft dennoch freuen, wenn...«
In diesem Moment kam John, mein hochgewachsener Vater, in die Küche. Sein Gesicht war durchdrungen von einem Paar strahlend blauer Augen. Sie spiegelten Tiefgründigkeit, Intelligenz und Erfahrung wieder.
Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er sich mir gegenüber setzte. Bevor er etwas sagte, nahm er einen Schluck Kaffee.
»Herzlichen Glückwunsch, du hast’s erreicht.«
»Mach mich nicht noch aufgeregter«, lachte ich, »ich bin so dermaßen nervös.«
»Glaubst du, ich war das nicht? Ich wünschte nur, ich könnte ihn noch einmal erleben, meinen Tag. Und ist zudem die Aufgeregtheit nicht ein Geschenk, ohne das wir uns gar nicht freuen könnten? Hat man es nämlich erst einmal geschafft, hat man die Nervosität endlich überwunden, ist die Freude umso größer.« Da hatte er wohl Recht, mein kluger Vater.
Mina begann uns ein reichhaltiges Frühstück aufzutischen. Gierig bahnte ich mir meinen Weg durch Früchte, Müsli, Toast und was es sonst noch so auf einem derartigen Buffet zu finden gab.
»Wann fahren wir?«, fragte ich, nachdem ich einen Bissen Spiegelei heruntergeschluckt hatte.
»Bald. Phillip will in einer halben Stunden hier sein«, sagte John mit einem Blick auf seine Uhr. »Dennoch schadet es nie, früher startklar zu sein.« Ich nickte und stand auf.
In meinem Zimmer nahm ich mein Handy und wählte die Schnellruftaste für William Parker. Es tutete einige Male, bis eine Stimme aus dem Lautsprecher zu hören war.
»Hi James, alles Gute!«, begrüßte mich William. Er war einer meiner engsten Freunde, ein halbes Jahr älter als ich und der einzige Sohn des angesehenen Ehepaars Parker.
»Besten Morgen«, sagte ich.
»Den musst du ja wohl haben«, entgegnete er.
»Das weißt du natürlich am besten und deswegen ruf' ich dich an. Weißt du noch, wie lange du damals gebraucht hast? Vielleicht könnten wir uns heute Abend noch treffen?« William hatte vor drei Monaten seinen besonderen Tag erlebt, seine Auswahl.
»Du, ich glaub', das wird nichts. Ihr braucht bis dorthin schon eine Weile und danach bist du so erschöpft, dann möchtest du nichts mehr machen.«
»Wenn das so ist…«
»Ja, ich wünsche dir dennoch für heute viel Spaß, ich muss jetzt Schluss machen, ich werde schon wieder gerufen…«, und er legte auf. Auf jeden Fall, ich würde heute viel Spaß haben, heute bei meiner Auswahl.
Gedankenverloren warf ich mein Handy auf das Bett und schaute aus dem Fenster, meinen Kopf auf die Arme gestützt. Von hier aus hatte man einen fantastischen Blick auf die höchsten Berge der Umgebung. Kleine Schneekuppen bedeckten wie wollige Pelzmützen die Gipfel und darunter, in einer nun dunkelgrünen Tönung, lag der dichte Nadelwald, gespickt mit schroffen autogroßen Felsblöcken, die über die Jahrhunderte hinweg von Moos befallen wurden. Man konnte das kleine Dörfchen Waldhusen von hier aus sehen. Ein altmodischer Kirchturm markierte den mittelalterlichen Marktplatz, um den sich – so wusste ich – kleine Lädchen, in denen Andenken, Sammlergegenstände und vieles mehr zu bewundern gab, tummelten. »James, bist du fertig?« kam plötzlich die Stimme meines Vaters aus dem unteren Stockwerk. Erschrocken richtete ich mich auf und beeilte mich, mein Zimmer annähernd ordentlich aussehen zu lassen. Dann stürmte ich die Wendeltreppe hinunter, vorbei an der Küche und durch die Haustür hinaus.
Meine Eltern standen vor unserem Wagen, Phillip hatte bereits den Motor laufen. Phillip war sozusagen die alles tragende Stütze der Familie. John hatte ihn vor Jahren zum Dienste unserer Familie angeworben. Mein Vater hatte damals lange auf die richtige Person warten müssen, denn viele Bewerber hatten sein erwartetes Niveau nicht erreichen können, bis Phillip kam. Wir hatten ihm viele Dinge erklären müssen, und die durfte er nicht ausplaudern. Das war einer der wichtigsten Voraussetzungen gewesen: Man musste Geheimnisse für sich behalten können.
»Ich, ich bin schon da«, keuchte ich, wischte mir eine Schweißperle verstohlen von der Stirn und schwang mich auf den Rücksitz neben Mina. Johns Geschäftswagen war im Inneren mit cremefarbenem Leder und edlen Hölzern veredelt. Die getönten Scheiben allerdings hatte ich noch nie ausstehen können. Nicht, dass ich klaustrophobisch wäre, doch ich wollte die Sonne auf meiner Haut spüren und nicht wie ein Gefangener von der Außenwelt isoliert sein – auch wenn das nur das Auto war.
Phillip fuhr uns die von Bäumen gesäumte Auffahrt hinunter und bog scharf auf eine Landstraße ab. Sie war überfüllt mit wanderlustigen Urlaubern, die alle auf dem Weg zum Alpingebiet, wenige Kilometer von hier entfernt, waren. Auch ich hatte diese Herbstferien vor, mit meinen Freunden einige Touren in der Umgebung zu unternehmen. Leider kannten wir die meisten Strecken und Wege bereits in- und auswendig.
Kurz darauf nahmen wir einen schmalen Waldweg, der uns schließlich bis vor eine weitläufige Wiese führte. Ein Helikopter, im Morgenlicht wie ein Diamant funkelnd, stand abflugbereit auf einem gemähten Stück der ansonsten hüfthoch wachsenden Wiese. Sie gehörte einem Landwirt aus Waldhusen, dieser hatte meinem Vater, allerdings widerwillig, dieses kleine Stück Land verkauft, nachdem wir uns den Heli zugelegt hatten. Dies war unmittelbar nach Phillips Einstellung passiert, denn er hatte, zur Freude meines Vaters, damals schon einen Pilotenschein aufweisen können.
Wir stellten den Wagen am Straßenrand ab und bahnten uns einen Weg durch die bunten Gräser und die sich dem Herbst strotzenden Blumen zum Fluggerät. Der Wind auf dieser flachen Ebene stach uns messerscharf ins Gesicht und trotz der dicken Jacke fröstelte ich. Während sich Phillip seinem letzten Kontrollgang um den Helikopter annahm, setzten sich meine Eltern und ich in die gläserne Kabine. Gespannt schaute ich unserem Piloten daraufhin zu, wie er geschickt die Checkliste durchging und die Rotorblätter zum Laufen brachte. Mina lächelte mir beruhigend zu. Jetzt, da wir uns unserem Ziel unaufhaltbar näherten, begannen meine Nerven wild zu flattern. Die Freude wich mehr und mehr ängstlicher Aufregung, doch ich versuchte an Johns Satz festzuhalten.
Ohne die Aufregung ist das Glück nicht halb so groß.
Wir entfernten uns schnell vom harten Boden. Ich schaute zu, wie der Wagen immer kleiner und kleiner wurde, bis er nur noch ein kleiner weißer Fleck in der ansonsten braungoldenen Landschaft war. Eine innere Stimme sagte mir mit einem gewissen Stolz: James, wenn du wieder hier ankommst, bist du wie neu geboren. Heute Abend wirst du dein Leben vor dir haben, du wirst deine Zukunft vor dir sehen können. Dann hast du das Wichtigste, das du im Leben bekommen kannst. Du wirst deine Existenz, das, für das du Wert bist zu leben, in der Hand halten. Du wirst dich bekommen, dich und dein Icerotes.
Wir wechselten nicht viele Worte, während wir immer weiter Richtung Süden flogen. John hatte einen Arm um seine Frau und den Kopf in den Nacken gelegt. Mina dagegen hatte sich nach vorn gebeugt und starrte mit einem verträumten Blick den vorbei gleitenden Wölkchen nach. Phillip pfiff leise ein mir unbekanntes Lied vor sich hin und ich, ich dachte über mich und meine Zukunft nach. Was würde wohl auf mich zukommen? Jetzt konnte ich noch so viele Wege vor mir sehen. Doch ich durfte keine der Möglichkeiten einschlagen - noch nicht. Hier, an der Abzweigung meines Lebenswegs, musste ich geduldig warten, warten auf den heutigen Tag, auf meine Auswahl. Denn sie würde für mich den richtigen Weg wählen. Mein Schicksal lag in diesem Tag. Es war eine Frage, was man zu Weihnachten geschenkt bekäme, eine andere, als welches einmalige und unwiderrufliche Geschenk ich heute erhalte. Es ging nicht um etwas Umtauschbares, Käufliches. Es ging um alles, die Familie, die Freunde, die Ausbildung, die Gedanken – es ging um mein Leben!
Wir hatten schon die Schweizer Grenze zu Italien überquert und es musste nicht mehr lange dauern, bis sich das offene Meer an der obersten Westküste Italiens auftat, als John sagte: »Wie fühlst du dich?« Es war offensichtlich, wer gemeint war, doch ich wartete kurz, bis ich antwortete.
»Einerseits wie das glücklichste Lebewesen, das auf Erden lebt und andererseits wie ein zum Tode Verurteilter.« John grinste.
»Ja, so habe auch ich mich gefühlt. Als wäre es der Anfang und das Ende meines Lebens. Allerdings, es ist doch das Ende des Alten und somit der Anfang des Neuen.« Ich verzog mein Gesicht.
»Seit wann bist du so philosophisch?« fragte ich, die Augenbrauen hochziehend.
»Meinst du? Ich glaube, ich werde alt.« Ich musste lachen.
»Das wird langsam Zeit. Stell dir vor James, dein Vater war bis jetzt psychisch jünger als du«, witzelte Mina und küsste John.
»Wir sind gleich da, Chef«, gab uns Phillip über die Schulter blickend bekannt. Zu meiner Überraschung lag nun unter uns eine glitzernde Wasserfläche, auf der sich das Sonnenlicht spiegelte. Vor uns ragte eine kleine Insel aus dem Mittelmeer. Sie war wirklich sehr klein, zum Großteil mit dichtem Wald bewachsen und fast unbebaut. Einzig und allein eine Holzhütte oberhalb der Küste, an der sich die flachen Wellen brachen, zeugte von menschlichem Leben auf der Insel, die unter dem Namen Li Metro bekannt war. Dort, auf dieser kleinen unbedeutenden Insel gab es sie, die Icerotes.
Die Rotorblätter fegten das Laub von fleischigen sehr kleinen Bäumen in den Wald, in dem wir auf einer Lichtung landeten. Phillip schloss das Fluggerät ab und zusammen bahnten wir uns einen Weg durch das Gestrüpp. Meine Nervosität hatte endgültig ihren Höhepunkt erreicht. Mein Herz raste und das Blut pochte in meinem Kopf, übertönte sogar die Geräusche vom Meer und den exotischen Tieren, die hier hausten. Langsam wurde der Boden unter unseren Füßen trockener und die Bäume kleiner. Schließlich durchbrach John das letzte Stück Wald und wir fanden uns auf einer Klippe wieder. Keine hundert Meter von uns entfernt stand das kleine Häuschen. Von Nahem konnte ich Details am Gebäude erkennen. Die Eingangstür war mit vielen merkwürdigen Zeichen versehen.
Eine Glocke läutete weiter hinten in dem alten Gebäude, als Mina, John, Phillip und ich eintraten. Auf den ersten Blick hätte man nicht genau sagen können, wofür der Raum benutzt wurde. Da standen abgenutzte Stühle und verkratzte Tischchen in der Ecke. Auf der anderen Seite ruhte ein zimmerhohes Bücherregal, das mit Steinen, Gläsern und... Wasserflaschen bestückt war. Den Tisch vor uns sollte man wohl als eine Art Theke interpretieren, doch sie war mit alten Zeitschriften, Tüchern und herausgerissenen Buchseiten übersät. Keine Kasse, geschweige denn ein Verkäufer, war zu entdecken. Alles in allem konnte man sich nicht vorstellen, dass hier etwas verkauft wurde, dass diese Hütte ein Laden sein sollte. Doch sie war einer. Hier wurden die Icerotes verkauft.
Gepolter und ein Stöhnen waren plötzlich aus einem Gang hinter der Theke zu hören und der Inhaber des Ladens kam stolpernd zum Vorschein.
Horan – man hatte mir zuvor schon gesagt, wie er hieß - war ein fahlgesichtiger, kleiner Mann mit tiefen Falten und ich musste feststellen, dass er verdammt alt aussah. Seine grauen Augenbrauen waren eng zusammengezogen und die Augen schauten mich weise an. Ich überragte ihn gut einen Kopf und musste mich konzentrieren, um seine raspelnde Stimme zu verstehen.
»Das ist also Ihr Junge, Mr und Mrs Harrison?«
»Oh ja«, sagte meine Mutter stolz und legte ihre Hand auf meinen Kopf. »James heißt er und möchte heute sein Icerotes abholen.«
»Ja, was sonst sollte Sie auf diese verdammte Insel führen. Wie lange soll das wohl noch weiter gehen?« Horan sagte das zu niemand Bestimmtem. Dann meinte er mit einer völlig anderen Stimme: »Kommen Sie James. Dann wollen wir mal nach Ihrer Hoffnung schauen.«
Ich wollte schon hinter ihm hergehen, als ich feststellen musste, dass meine Eltern keinerlei Anstalten machten, uns zu folgen. Auf meinen fragenden Blick hin, erklärte Mina: »Es ist dein Geheimnis. Du solltest entscheiden, ob wir von deinem Schicksal erfahren sollen oder nicht. Geh schon.« Argwöhnisch drehte ich mich auf meinen Fußballen zu Horan, der schon auf der Türschwelle einer krummen und ramponiert aussehenden Tür stand.
Das Zimmer, in das mich Horan führte, war völlig schwarz. Meine Augen konnten nichts mehr erkennen, als die Tür hinter mir in die Angeln fiel. Ich vermutete, dass der Raum, so wie das Verkaufszimmer aus demselben roten Stein gebaut worden war, den es auf der ganzen Insel gab und die Wand schwarz angemalt wurde. Oder waren meine Augen vom hellen Tageslicht so getrübt worden, dass es mir hier, in der plötzlichen Finsternis nur noch dunkler vorkam, als es eigentlich war? Zumindest gab es weder ein Fenster noch einen Spalt, durch den Licht hätte dringen können.
So blieb ich, blind wie ein Maulwurf, knapp hinter der Tür stehen und lauschte auf eine Anweisung. Doch Horan ließ mich warten und es dauerte nicht lange, bis mir mulmig wurde.
»Mr. Horan, was ist das hier…? Mr Horan?« Und als immer noch niemand antwortete, packte mich die Angst. Ich wollte aus der Tür hinter mir stürzen, als es plötzlich geschah.
Ein Übelkeit erregendes Gefühl machte sich in meinem Bauch breit. Ein undefinierbares Brummen füllte meinen Kopf. Der Raum begann sich um mich herum zu drehen, immer schneller – was passierte hier? Ich konnte mich nicht wehren, nichts dagegen tun. Ich konnte nicht sagen, ob das wirklich geschah oder sich nur in meinem Kopf abspielte, doch es fühlte sich alles andere als erholsam an. Vereinzelte Lichtblitze durchzuckten den Raum und dann, mit einem letzten Blitz, heller als alle anderen, hörte es auf. Das Brummen, das Rotieren, mein Keuchen. Ein Flackern, und der kreisrunde Raum war in das schwache Licht einer fast gänzlich abgebrannten Kerze getaucht.
Horan stand vor einer weiteren kleinen Tür gegenüber jener Tür, durch die ich gekommen war.
»Alles in Ordnung?« Horans Stimme war voller Mitgefühl.
»Geht… geht schon«, würgte ich und stützte mich gegen die Wand. Sie war tatsächlich aus dem porösen Gestein der Insel, wie ich feststellte.
»Tja, die meisten müssen sich bei der Auswahl übergeben«, gestand er. Ich verkniff mir eine Bemerkung und der alte Mann sprach weiter: »Bei der Auswahl, die du gerade durchlitten hast, wurde eine Art lebendiges Schwert hergestellt. Es ist dir angepasst. So kennt es deine Gefühle, Sehnsüchte und größten Ängste. Es weiß über dein ganzes Leben Bescheid. Ab diesem Tag, deiner Auswahl, bist du für immer mit Libras verbunden. Libras ist der Name deines Icerotes. Mit der ersten Berührung zwischen dir und Libras wird ein fester magischer Bund geschlossen. Libras wird dir von Tag zu Tag dein Leben lang beistehen. Er wird all sein Können gibt, um dich zu beschützen und beizustehen mit der Gegenleistung, dass du Libras vertraust, nicht vernachlässigst und es nicht – und das kann ich nicht oft genug sagen – wirklich nicht als ein Eigentum, Gegenstand oder als ein nicht denkendes und liebendes Lebewesen anerkennst! Es gehört zwar dir, hört immer auf dich, ist aber ein eigenes und viel mächtigeres Lebewesen, als wir es sind. Die Icerotes sind eine Spezies für sich. Sie kann man nicht als eine Art Lebewesen betrachten, weil sie übernatürlich, für uns unbegreiflich, sind. Doch sie sind nicht leblos. Bitte berücksichtige dringend meine Worte dein Leben lang, auch wenn sie dir jetzt noch widersprüchlich und übertrieben erscheinen. Das ist mein Rat.«
Ich schwieg und dachte sprachlos über Horans Worte nach.
»Äh, könnten Sie vielleicht noch einmal die Bedingungen wiederholen?«, bat ich ihn. Horan lächelte und ging auf die Mitte des Raumes zu, wo sich ein steinerner Tisch befand. Auf einer Metallhalterung ruhte ein glänzendes Schwert, das am Griff mit weißen Steinen verziert war. Libras hatte einen goldgefassten Schriftzug in die blank polierte bronzene Klinge graviert bekommen. Sie verursachte darauf ein goldenes Schimmern. Es war ein überwältigender Anblick, mein Icerotes.
Ohne auf die Erlaubnis zu warten, streckte ich meine Hand aus und umgriff Libras. Bei dieser Berührung ging von meiner rechten Hand, die mit dem Icerotes verbunden war, ein berauschendes Gefühl aus. Vom Kopf bis in die Fingerspitzen, in meinem ganzen Körper konnte ich spüren, wie sich die Kraft von Libras ausbreitete. Geschmeidig passte sich das Schwert meinem Griff an – wie für mich gemacht.
Der alte Mann trat einige Meter von mir und dem Steintisch weg. Kurz darauf wusste ich auch wieso. Denn nun begann das Schwert zu leuchten, heller und heller. Eine Art Lichtkuppel bildete sich über mir. Der schwarze Raum war in gleißendes Licht getaucht. Libras Kraft brach in mein neues Leben, in meinen Körper, meine Seele ein, durchdrang das Innerste meiner Gedanken. Und dann war alles zu Ende. Das Licht löste sich auf und hinterließ ein einziges kraftvolles Glücksgefühl. Libras lag ruhig in meiner Hand. Horan fing an zu klatschen und ein breites Lächeln machte sich auf meinem Gesicht breit.
»Nun, du kannst gehen, doch achte auf meine Worte.« Unfassbar starrte ich Libras an, meinem Icerotes, meinem Wegbegleiter.
Meine Mutter hatte auf einem gepolsterten Stuhl Platz genommen, John saß auf dessen Lehne und las die heutige Zeitungsausgabe und Phillip schaute aus einem der großen achteckigen Fenster. Von hier aus hatte man einen beachtenswerten Blick auf das Mittelmeer. Wenn mich nicht der Schmutz auf dem Glas täuschte, konnte man sogar die Küste Italiens sehen. Sie war per Schiff nur einige Minuten von dort entfernt. John hatte mir erzählt, es ginge ein allgemeines Gerücht umher, dass Li Metro eine Privatinsel irgendeines reichen Amerikaners sei. Doch das war natürlich Quatsch. Allerdings half das Gerücht, unliebsame Besucher von der kleinen Insel fern zu halten.
Horan kehrte zurück ins Zimmer und Mina schaute auf.
»Wie war’s?« Ich wollte ihr stolz Libras zeigen, doch sie schaute abrupt weg. Auch John würdigte meinem Icerotes keines Blickes. Nur Phillip warf ihm beiläufig einen Blick zu und begann dann sein Mantelärmel zu richten.
»Was ist los?«, fragte ich perplex.
»Hast du schon die Inschrift gelesen?«, fragte meine Mutter spitz, auf den Boden blickend. Was war mit ihnen los?
»Wieso denn?«, fragte ich beleidigt, »Ich kann diese Runen eh nicht entziffern.« Aber es war nicht Mina, die antwortete.
»Deine Mutter hat vollkommen Recht, Mr James. Ich selbst kenne Ihre Inschrift nicht. Sie ist nur für Sie bestimmt. Bevor Sie sie nicht kennen, ist es jedem anderem nicht gestattet, Ihre Inschrift zu studieren. Moment bitte, ich habe hier irgendwo ein Runenwörterbuch. Damit können Sie Ihr Schicksal entziffern. Warten Sie bitte…«, und er ging hinter die Ladentheke und kramte in seinen Unterlagen herum. Daraufhin hievte er ein sehr dickes, in Leder gebundenes Buch auf die Tischplatte. Es sah verstaubt aus und das bräunliche Leder war gewellt, wie Meerwasser am Strand.
»Hier, hiermit schaffen Sie es bestimmt. Nehmen Sie sich etwas Zeit. Wer möchte Kaffee, Tee oder Saft? Gebäck hätte ich noch.« Der gebrechliche Mann ging durch die Tür, aus der er gekommen war, als wir in den Laden gekommen waren. Man konnte Geklapper und fließendes Wasser hören.
»Ein sehr netter Mann, oder?«, fragte John, holte sich einen weiteren Stuhl und forderte Phillip auf, sich zu setzen. Ich selbst ging zur Theke und trug das schwere Buch zu einem der storchbeinigen Tische. Das Leder fühlte sich abgegriffen und rau an. Libras deponierte ich neben das Buch und schlug es erwartungsvoll hüpfenden Herzens auf.
Es war von Hand geschrieben. Da gab es Zeichen, die ineinander flossen, große, kleine, manche mit Zacken und wieder andere stilvoll gewellt. Doch die Tinte war an manchen Stellen schon so verblichen, dass ich Mühe hatte, die Übersetzung der jeweiligen Rune zu entziffern. Vorsichtig blätterte ich die vergilbten Seiten um. Hier und da gab es sogar einzelne Bilder. Ich war begeistert. Nie zuvor hatte ich so etwas Antikes in der Hand gehabt. Dann schenkte ich Libras meine Aufmerksamkeit und inspizierte die geschwungene Gravur. Horan kam mit einem befüllten Tablett zurück und stellte es auf den Tisch, um den sich die anderen gesellt hatten.
»Mr. Horan,… äh… schauen Sie einmal hier. Ich glaube, diese Zeichen auf Libras gibt es gar nicht in diesem Buch«, sagte ich langsam und fuhr mit den Fingern die Symbole auf meinem Schwert nach.
»Wie bitte, mein Lieber?«, sagte Horan und trat zu mir.
»Ja, schauen Sie. Die Zeichen auf meinem Icerotes sind in einer ganz anderen Schriftart geschrieben.« Er beugte sich interessiert über meine Schulter.
»Nein, das kann nicht sein«, sagte er, genau so entsetzt wie ich. »Das kann nicht wahr sein. So etwas war noch nie zuvor…«
Aber doch, ich hatte die Zeichen genau begutachtet. Die Runen sahen im Gesamten kantig und unübersichtlich aus, aufgebaut aus diversen Strichen. Doch die auf meinem Schwert waren alle geschwungen, eines Ansatzes geschrieben und nicht zu vergleichen mit den Runen des Buches.
»Nun, ich habe keine Erklärung dafür. Eigentlich sind alle Runen, die auf einem Icerotes stehen können, in diesem Buch vermerkt.«
»Gibt es ein Problem?« Mein Vater war aufgestanden, um sich die Sache genauer anzuschauen und stand nun zu meiner Rechten.
»Schau.« Er nahm sein eigenes Icerotes und hielt es ans Licht, um die Inschrift entziffern zu können. Es trug dieselbe Art Runen wie sie im Buch abgebildet waren, aber keines Falles ähnelten sie den meinigen.
»Das Liebste gehört nicht dir. Erst die Liebe, Freude und das Verständnis zu ihm macht es zu Deinem größten Schatz«, übersetzte er. »Das Beste: Du und Mina.« Er schaute mich strahlend an.
Es war das erste Mal, dass ich diesen Satz hörte und ich verspürte tiefste Zuneigung zu meinem Vater. Mina hatte Tränen in den Augen und Horan wurde knallrot, als würde er sich hier auf einmal sehr unwohl fühlen.
»Nun ja, da es offensichtlich keine Runenübersetzung für Ihre Inschrift gibt, wird es sich hierbei um einen Sonderfall handeln. Ich habe zwar noch nie von einem solchen Vorkommnis gehört, aber ich könnte mir vorstellen, dass es Ausnahmen gibt, bei denen die Inschriften erst im Laufe der Zeit entschlüsselt werden. Es tut mir leid James, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Warten Sie ab, ob sich etwas ergibt«, sagte Horan schließlich und nahm das Runenbuch wieder an sich.
Fragend schaute ich meinen Vater an, er zuckte mit den Achseln und begann, in seiner Jackentasche nach etwas Bestimmtem zu suchen. Zum Vorschein kamen ein Personalausweis und ein zusammengerolltes Blatt Papier. Dieses legte er auf die überfüllte Theke und wartete, während Horan sie inspizierte, nachdem er sich eine Lesebrille aufgesetzt hatte. Es war üblich, das Icerotes nicht mit Geld zu bezahlen. Horan musste lediglich die Geburtsurkunde und den jeweiligen Ausweis der betreffenden Person zur Kenntnis genommen haben.
Der alte Mann starrte uns noch lange hinterher, nachdem wir seinen Laden verlassen hatten. Der Blick seines eingefallenen Gesichts hinter der verdreckten Glasscheibe verfolgte uns den steinernen Weg entlang, bis wir die Waldgrenze erreicht hatten und zwischen dem verkrüppelten Gestrüpp verschwanden. Das Laub knirschte unter unseren hastigen Füßen und als wir an einem dicken Busch vorbeieilten, hetzten wir einen Schwarm kleiner brauner Vögel auf.
Das Erste, das mir auffiel, als wir vor unserem Haus hielten, war der überfüllte Briefkasten. Er stand an der Ecke eines lang gezogenen Blumenbeets, worin Mina über den Sommer südliche Pflanzen hegte und pflegte. Nun, kurz vor Wintereinbruch waren die kostbaren Blumenzwiebeln mit tiefrotem Laub bedeckt.
Die Briefe waren alle an mich adressiert. Da gab es einen von Rosy Seem, Stev Finley und William. Zusammen mit diesen Dreien bildete ich einen unschlagbaren Freundeskreis. Auch Tante Lisa, die Frau des Bruders meines Vaters, hatte an mich gedacht. Und es gab noch einen Brief aus schwerem cremefarbenem Papier. Mit schwarzer Tinte war darauf geschrieben: An das neue Mitglied James Harrison, Fluglerstraße 10, Waldhusen. Der Brief kam aus Athen und wurde von einer gewissen RDA geschickt. Doch ich hatte schon eine Vermutung wer das sein könnte.
In der Küche legte ich Libras auf den Esstisch und öffnete gespannt den ersten Brief. Wie die Anschrift war der Inhalt handgeschrieben.
»Ist der von…«, wollte John wissen und ich nickte erwartungsvoll.
Sehr geehrter James Harrison,
an diesem Tag erwartet Sie Ihre Auswahl. Mit dem Vollenden der Auswahl werden Sie in die International Vereinigte Asgardtfamilie aufgenommen. Mit dem Erhalt Ihres Icerotes, haben Sie folgende Aufgaben und Pflichten: Sie m ü ssen Ihrem Stamm (Murex) in jeder Situation die Treue halten. Ihnen wird untersagt, den Amerikanischen Boden ohne spezielle Erlaubnis zu betreten. Jeder Kontakt mit einem Fosit oder Clatura ist Ihnen strengstens verboten. Bewahren Sie das Geheimnis um die Asgardtfamilie und f ü hren Sie Ihr Icerotes keinesfalls einer unautorisierten Person vor. Beteiligen Sie sich an der Aufrechterhaltung des bestehenden Friedens. Zus ä tzlich stehen Sie unter den allgemeinen und internationalen Grund- und Menschenrechten, insbesondere den Staatsrechten der Vereinigten Europ ä ischen Union. Bei Fragen oder Problemen richten Sie sich bitte an Ihren Stammesleiter.
Einen erfreulichen Tag Ihnen und Ihrer Familie.
Hochachtungsvoll,
der international ernannte Rat der vereinigten Asgardtfamilie
»Förmlichkeit muss eingehalten werden«, murmelte John, der über meiner Schulter den Brief gelesen hatte. »Ich habe Harry schon oft genug gesagt, dass es unsinnig sei, seinen Neffen einen derart formellen Brief zu schreiben. Doch er meinte, es solle offiziell und traditionell bleiben.«
Harry war das Stammesoberhaupt der Murex und der jüngere Bruder meines Vaters.
»Kommt der wirklich aus Athen?« fragte ich.
»Ich glaube schon, schließlich ist dort die Zentrale und der Sitz des Rates«, überlegte mein Vater. Er schmunzelte. »So James, du hast es gehört – oder besser gesagt gelesen. Nun bist Du Teil der Asgardtfamilie.«
Die Asgardtfamilie. Der winzige Teil der Menschheit, die sich vor gut dreitausend Jahren von den anderen Menschen abgekapselt hatte, um das Geheimnis der Icerotes vor den anderen zu bewahren und den Nachkommen zu überliefern. Der Geschichte der Asgardtfamilie nach, waren es sieben Personen gewesen, die das Geheimnis der Icerotes entdeckt hatten. Vielmehr waren sie dazu bestimmt worden, die Icerotes zu kennen und sie, wie ich jetzt, zu besitzen. Es soll eine übernatürliche Kraft gewesen sein, die diese sieben zu den ersten Mitgliedern der Asgardtfamilie gemacht hatte. Aus ihnen entstammten meine Ahnen, die mit dem Wissen, die Icerotes vor anderen Menschen zu verbergen, gelebt hatten. Aus ihnen wurde schließlich ein kleiner Stamm. Mit der Auswahl war ich ein Teil dieser Asgardtfamilie und hatte die Aufgaben, mit denen sich auch schon meine Vorfahren herumschlugen. Leben mit den Icerotes und Leben für die Icerotes. Das war und ist das Motto der Asgardtfamilie. Denn sie schenkten uns das Leben. Der Rat, das waren die Ältesten und Stammesführer der Asgardtfamilie, kümmerte sich um alle politischen und sozialen Angelegenheiten. So war auch Harry als Stammesoberhaupt ein Angehöriger dieses Rats.
Der persönliche Brief von Lisa und Harry war eine Glückwunschkarte, die ich auf ein Bücherregal neben ein Bild, das meine Großeltern zeigte, stellte. Den Brief meiner Freunde wollte ich mir für später aufheben.
Nach dem Abendessen setzten wir uns im Wohnzimmer vor dem knisternden Kamin zusammen.
»War es schön?«, flüsterte Mina und strich mir durch meine Haare. Lange sagte ich nichts, doch dann lächelte ich zufrieden und nahm ihre Hand. Wir hörten dem knackendem Holz im Ofen zu und lauschten dem Wind, der gegen die Hauswand hämmerte. Lange blieben wir so zusammen sitzen, ruhig und einfach nur froh.
Bevor ich zu Bett ging, schaute ich mir den Brief meiner Freunde an.
Hi James,
wir w ü nschen dir alles alles Gute f ü r deine Auswahl und hoffen, du hast einen wundersch ö nen Tag. Wir sind schon gespannt darauf, deinen Icerotes kennenzulernen. Stev siehst du ja morgen. Bis bald,
Rosy, William und Stev
Überglücklich, meine unersetzbaren Freunde zu haben, legte ich mich in mein weiches Bett. Doch einschlafen konnte ich trotz meines Glücksgefühls nicht. Mich beschäftigte zu sehr, was alles an diesem Tag geschehen war. Die unheimliche Insel, der merkwürdige Horan, die Übelkeit erregende Auswahl und natürlich Libras mit den unbekannten Zeichen. Was der Satz wohl hieß? Ich hatte gedacht, nach diesem Tag würde mein Leben in eine ganz bestimmte Richtung gelenkt werden. Stattdessen sah ich nun hunderte, ja tausende Wege für meine Zukunft offen stehen und ich wusste nicht, welchen ich gehen sollte.