Читать книгу Bienen oder die verlorene Zukunft - Kornelia Schmid - Страница 5
ОглавлениеAuf der dunklen Seite des Mondes
Sebastian Loy
»Mit der Entdeckung eines bienenähnlichen Insekts ist unseren lunaren Wissenschaftlern ein Erfolg historischen Ausmaßes gelungen, der die Vormachtstellung der glorreichen Chinesischen Republik erneut eindrucksvoll unterstreicht. Unser Expeditionsleiter, Cheng Li, feierte seinen Fund als sensationellen Durchbruch auf dem Weg zur Erforschung der erdabgewandten Seite des Mondes. In seinen kühnsten Träumen habe er sich nicht vorstellen können, dass sich in dieser unwirtlichen Einöde komplexe Lebewesen behaupten könnten. So bald wie möglich werde er den Geheimnissen des Höhlensystems am Rande des Leizhou-Kraters weiter auf den Grund gehen.« Wie beiläufig strich Captain Madu Obafemi dem Abbild der Nachrichtensprecherin über die Wange. Ihre zur Schau gestellte Strenge befeuerte in ihm die Vorstellung, dass es bei den Staatsmedien Einstellungsvoraussetzung war, sich sämtliche Gesichtsmuskeln veröden zu lassen. »Der Präfekt der Mondmetropole Neu-Peking gab bekannt, dass man das Insekt für weitere Untersuchungen zum Forschungszentrum Morgenröte gebracht habe …« Mit einem Gedankenimpuls schaltete Madu den Projektor ab und der lebensgroße Hologrammkopf löste sich in tanzende Funken auf, die nach wenigen Augenblicken vollends erloschen. Nachdenklich sah er zu seiner Begleiterin hinüber. Die Mittfünfzigerin hatte es sich in ihrem Sessel bequem gemacht und meditierte mit geschlossenen Augen.
»Im Zustand absoluter Ruhe durchdringt mich die Macht der Weltenseele und spendet mir Energie für meine Rituale«, hatte sie ihm einmal erklärt. Verständnislos schüttelte der Soldat seinen kahlgeschorenen Schädel. Es war nicht so, dass er an ihren Fähigkeiten zweifelte. Dafür hatte er sie oft genug zu sehen bekommen. Aber er lehnte es rundweg ab, sich einer Macht auszusetzen, deren Wesen er nicht begriff. Viel lieber vertraute er auf seine eigenen Reaktionen – und Implantate.
»Was soll der Mist? Eine Biene auf dem Mond?«
Zufrieden registrierte Madu, wie sich Chipuna Alargi aus ihrer Konzentration löste und sich ihm zuwendete.
»Wir wissen ja nicht einmal, ob es sich tatsächlich um eine Biene oder um ein außerirdisches Wesen handelt. Immerhin gilt ihre Spezies seit den Pestizid-Kriegen als ausgerottet. Aber wer weiß, theoretisch ist vieles möglich.«
Madu blieb skeptisch. »Und was für Untersuchungen planen die überhaupt mit dem verdammten Viech?«
Chipuna bedachte Madu mit einem vorwurfsvollen Blick. Sie mochte es nicht, wenn sich jemand respektlos über die Natur ausließ. Andererseits verspürte sie nicht die geringste Lust auf Streit.
»Vermutlich werden sie es klonen. Damit hätten sie ein Monopol, das ihnen ein hübsches Sümmchen einbringen dürfte.«
»Na klar, und wir gehen mal wieder leer aus«, fauchte Madu aufgebracht.
Selbstbewusst bleckte Chipuna ihre Zähne. »Um genau das zu verhindern, schicken sie uns ja zur Morgenröte. Bald gehört die Biene der Afrikanischen Union!«
Auf einmal beanspruchte eine Meldung Madus volle Konzentration. »Die Systeme orten mehrere Lichtgleiter, die auf der Neu-Peking-Route patrouillieren.«
Chipuna sah besorgt aus, doch Madu blieb zuversichtlich. Die Frankenstein, wie er sein Schiff liebevoll getauft hatte, mochte zwar ein buntes Potpourri aus Wrackstücken, Weltraumschrott und vom Schwarzmarkt organisierten Ersatzteilen sein, aber es taugte immer wieder für eine Überraschung.
»Vor ein paar Wochen konnte ich Arun davon überzeugen, mir eines der modernen Tarnsysteme zu überlassen. Solange ihre Gleiter nicht auf Sichtweite an uns herankommen, stehen unsere Chancen gut, dass wir uns an ihnen vorbeischleichen können. Ich möchte unbedingt vermeiden, aufzufallen.«
»Sonst könnten sie eins und eins zusammenzählen, wenn ihre Biene plötzlich verschwunden ist. Und dann säße die Afrikanische Union tiefer in der Scheiße als die Larve eines Mistkäfers«, führte Chipuna seinen Gedanken zu Ende.
»Also ist Scheitern keine Option.« Als wollte sie die Bedeutung von Madus Worten unterstreichen, dimmte die künstliche Intelligenz der Frankenstein die Beleuchtung im Cockpit, deaktivierte den Autopiloten und verband sich mit der Schnittstelle zu seinen Implantaten. Sein Verstand und der des Schiffes verschmolzen zu einer Einheit. In solchen Situationen wurde Chipuna bewusst, wie weit die Vernetzung von Mensch und Technik vorangeschritten war und welchen Nutzen es bringen konnte, obwohl sie einen solchen Eingriff in ihren Körper stets abgelehnt hatte.
»Mach dich bereit, gleich erreichen wir die Zielkoordinaten«, befreite sie Madu Stunden später aus ihrer Angst, entdeckt zu werden. Chipuna löste ihren Gurt und ging zu einer der winzigen Fensterluken, die sich wie ein gelochtes Band entlang des Cockpits zogen. So weit das Auge reichte, stülpte sich draußen aschgraues Licht wie eine Glocke über die üppigen Felder und Wiesen. Der Anblick rief gemischte Gefühle in ihr hervor. Noch vor gut 70 Jahren war der Mond eine leblose Geröllwüste gewesen, die nur mit Schutzanzügen betreten werden konnte. Autarke Siedlungen inmitten blühender Landschaften galten als ferne Zukunftsvision unverbesserlicher Fantasten. Doch dann startete die Chinesische Republik mit enormem Aufwand ein ehrgeiziges Geoengineering-Projekt, das ihr Überbevölkerungsproblem dauerhaft lösen sollte. Innerhalb weniger Jahrzehnte erzeugten die Ingenieure eine künstliche Atmosphäre und sorgten für lebensfreundliche Bedingungen. Wenig später schossen die gigantischen Türme von Neu-Peking wie Pilze aus dem Boden. Heute zählte die Mondmetropole schon mehr als 900.000 Bewohner und die weitsichtigen Strategen der Republik planten bereits die Erschließung weiterer Siedlungsräume, bis hin zur erdabgewandten, der blinden Seite des Mondes, wie sie Chipuna nannte. Aller Errungenschaften zum Trotz gelang es ihr nicht, einen inneren Bezug zur Mondkolonie zu entwickeln. Die Welt hinter der Scheibe blieb für sie künstlich wie die virtuellen Räume, in die sich viele ihrer Landsleute flüchteten, um sich von dem Elend ihrer Existenz abzulenken.
»Mit wie viel weniger Aufwand könnte man das Wuchern von Afrikas Wüsten verhindern?«, haderte sie still mit dem Schicksal des vergessenen Kontinents. Ein Ruf von Madu löste sie aus ihren Gedanken.
»Gleich kommt die Morgenröte in Sicht.« Seine Hand deutete schräg nach vorn. Chipuna beugte sich weiter vor, um besser sehen zu können. Inzwischen rauschte die Frankenstein im Tiefflug über die Oberfläche des Mondes hinweg. Und tatsächlich wurde keine 10 Kilometer von ihnen entfernt das triste graue Licht vom gelblichen Schimmer einer Zeltkuppel durchbrochen, die sich wie eine aufgehende Sonne vom Horizont abhob. Ihr Grundriss musste gewaltig sein, bestimmt um ein Zweihundertfaches größer als die Migingo-Insel im Victoriasee.
»Da vorne gehen wir runter«, entschied Madu. Verborgen hinter einer flachen Hügelkette ließ er den Transporter knapp über dem Boden schweben und die beiden hüpften ins Freie. Ein angenehm kühler, leicht mineralisch duftender Luftzug begrüßte sie.
»Ab hier hilft uns das Tarnsystem des Schiffs nicht weiter. Wir sollten keine Zeit verschwenden«, trieb Madu seine Begleiterin zur Eile und half ihr in die Ausrüstung. Noch während er sich den Waffengurt umlegte, setzte er sich in Bewegung. Chipuna fluchte, aktivierte ihren Magnetkraftverstärker und heftete sich mehr schlecht als recht an seine Fersen. Trotz der technischen Unterstützung, die ihr ein halbwegs normales Laufen ermöglichte, war sie schon nach wenigen hundert Metern schweißgebadet.
Als sie endlich am Komplex anlangte, warf ihr Madu einen vorwurfsvollen Wo bleibst du?-Blick zu. Anstatt ihm eine passende Antwort an den Kopf zu werfen, ließ sie keuchend ihren Rücken gegen die Außenhaut der Kuppel fallen. Der gehärtete Kunststoff fühlte sich herrlich kühl an und Chipunas Puls beruhigte sich. Genüsslich legte sie ihren Kopf in den Nacken und ließ ihren Blick in die Höhe treiben. Anders als es ihr erster Eindruck gewesen war, war die Hülle des Zelts nicht glatt, sondern in Waben unterteilt, die von innen heraus in einem warmen Gelbton leuchteten.
»Nicht unpassend für einen Bienenstock«, war ihr erster Gedanke. Ihr zweiter galt der Anzahl von Ebenen, die sie im Inneren erwarteten. Doch der kurvenförmige Verlauf der Kuppel ließ keine ernstzunehmende Schätzung zu. Sicher war nur, dass sie über mehr Ebenen verfügte, als Chipuna lieb war. Angesichts der schieren Dimension der Forschungsanlage vermutete sie, dass das Zelt früher einem anderen Zweck gedient hatte. Wahrscheinlich handelte es sich um eine der ersten Mondstationen, die während der Terraforming-Phase errichtet und als Unterkunft für die Arbeiter und als Depot für ihre Gerätschaften genutzt worden war.
Nachdenklich sah sie zu Madu hinüber, der seinen rechten Arm wie eine Antenne auf die Anlage ausgerichtet hatte.
»Meine Sensoren melden menschliche und elektronische Aktivitäten. Für einen Einbruch herrscht hier zu reger Betrieb. Wir benötigen eine Ablenkung«, befand er in knappem, militärischem Ton.
»Woran hast du gedacht?«, wollte Chipuna wissen.
»Gleich an dieser Stelle befindet sich unter der Plane ein tragender Pfeiler. Ich bringe einen C7-Sprengsatz mit Zeitzünder an, und wenn es Kawumm macht, lasere ich im allgemeinen Chaos einen Durchgang in die Hülle.«
Chipuna traute ihren Ohren nicht. »Du Irrer! Deine Explosion wird Menschen in den Tod reißen!«
Anders als er war sie nicht bereit, für einen taktischen Vorteil unschuldige Leben in Gefahr zu bringen. Für Madu stand hingegen stets der Erfolg seiner Mission an erster Stelle, koste es, was es wolle. Gegen dieses skrupellose Denken empfand sie tiefe, vom Herzen kommende Verachtung.
Daran war Afrika zugrunde gegangen, als die Agrarfabriken begonnen hatten, den Hunger einer rasch wachsenden Bevölkerung mit rücksichtslosem Pestizideinsatz zu stillen. Leider wirkte das Gift, ohne zwischen nützlichen Insekten und Schädlingen zu unterscheiden. Wie bei einem Bürgerkrieg gerieten die Bienen und viele andere Arten zwischen die Fronten und wurden komplett ausgerottet. Danach nahm die Tragödie ihren Lauf. Wüsten zogen sich wie eine Schlinge um den Hals des Kontinents, drangen in ehemals fruchtbare Gegenden vor und verödeten ganze Landstriche. Der Lebensraum für Heerscharen von Menschen schrumpfte bedrohlich und Hunger, Elend und Krieg nahmen kataklystische Ausmaße an. Am Ende der Pestizid-Kriege mit seinen Abermillionen Toten hatten die Staatschefs endlich verstanden, dass ein Festhalten an den willkürlich gezogenen Landesgrenzen in den vollständigen Untergang führen und es Frieden erst nach Überwindung nationaler Egoismen geben würde. Also schlossen sich die Staaten – oder was von ihnen übrig geblieben war – zur Afrikanischen Union zusammen. Freilich war zu diesem Zeitpunkt Afrikas Zukunft schon längst verloren. Anders als die wohlhabenden Nationen verfügte es nicht über ausreichend Ressourcen, um sich mit kostspieligen genveränderten Pflanzen eindecken und großflächig verlorene Gebiete renaturieren zu können. Daher hatte das Landwirtschaftsministerium auch so schnell reagiert, als die chinesischen Staatsmedien vor wenigen Tagen vom Fang eines bienenähnlichen Insekts berichtet hatten. Womöglich stellte dieses winzige Wesen den letzten Silberstreifen am Horizont dar, bevor sich endgültig Dunkelheit auf den Kontinent senken würde.
Madus ungnädiges Schnauben ließ sie aufschrecken. Offenkundig wartete er auf einen Alternativvorschlag. Zwar mochte er ein kaltschnäuziger Kämpfer sein, der zur Not über Leichen ging, aber immerhin war er abgeklärt genug, nicht aus verletztem Stolz einen Ratschlag abzutun.
»Lass es uns mit dem Klassiker versuchen. Wir erkunden, ob die Anlage von Lieferanten versorgt wird, und spielen dann Trojanisches Pferd. Deine Brachialmethode würde in kürzester Zeit Verstärkung aus Neu-Peking auf den Plan rufen und dann könnten wir einpacken.«
Madus Kiefer mahlten, als würde er auf ihren Argumenten herumkauen, letztlich schluckte er aber ihren Einwand. Gebückt schlichen beide am bauchigen Rand des Zeltes entlang. Zum Glück verfügte es nur über rudimentäre, längst veraltete und somit störanfällige Sicherheitstechnik, was Chipuna in ihrer Vermutung zu dem ursprünglichen Zweck des Gebäudes bestärkte. Plötzlich winkelte Madu seinen Arm an und ballte dabei seine Faust. Chipuna kannte das weitere Vorgehen. Ohne dass es einer verbalen Anweisung bedurft hätte, kam sie zum Stehen und legte sich flach neben Madu auf den Boden. Dann robbten sie weiter vor, bis sie einen Busch fanden, hinter dem sie sich verbergen konnten. Im Sichtfeld vor ihnen tauchte der westliche Zugang zur Anlage auf. Wider Erwarten befand er sich nicht direkt an der Außenhülle, sondern lag hinter einem breiten Tunnel, den man in die Plane eingelassen hatte. Weder im Tunnel noch im freien Feld davor rührte sich etwas.
»Mir ist es hier zu ruhig«, raunte Madu misstrauisch.
Als hätte er es heraufbeschworen, erklang ein langgezogenes Zischen und die beiden Torhälften wurden kraftvoll auseinandergedrückt. Eine einzelne Gestalt, ein schwarzhaariger kleiner Mann mit mandelförmigen Augen, der einen weißen Forscherkittel trug, taumelte aus der Anlage in den Tunnel. Sein unnatürlich weit aufgerissener Mund entstellte sein Gesicht zu etwas Raubtierhaftem. Mehrfach packte er sich an den Hals, würgte und prallte, während er weiter vorwärtsstolperte, unentwegt gegen die Kunststoffwand. Hinter dem Tunnel hielt der Mann inne, nahm eine angespannte Haltung an und legte den Kopf schräg. Selbst auf die Distanz hörte Chipuna sein rasselndes Schnaufen, als er tief Luft einsog, wie um Witterung aufzunehmen. Unwillkürlich erinnerte sie sich an die Stammeslegenden über menschenjagende Asanbosam.
Sekunden vergingen, dann fixierte er mit klaren, kalten Augen den Busch. Pure Gier lag in seinem Blick. Als er sie nicht länger im Zaum halten konnte, stampfte er ruckartig los. Dabei passierte etwas Seltsames mit seinem Körper: Wie bei einer Sandburg, die vom Meer unterspült wird, rutschten seine Konturen ab und ordneten sich in einer fließenden Bewegung neu, wobei seine freien Hautpartien wie unter einer Schicht von Insektenflügeln zu flirren anfingen.
Chipuna konnte ihren Blick nicht von diesem Schauspiel abwenden. Ein unterschwelliges Kribbeln durchströmte jede Faser ihres Körpers, zupfte an ihren Muskeln und piesackte ihre Nervenbahnen. Madu hingegen zögerte nicht. Routiniert zog er seinen Handlaser und gab einen eigentlich tödlichen Schuss auf den Wissenschaftler ab. Eigentlich. Madu hasste dieses Wort. Anstatt zusammenzubrechen, zerfiel der Körper des Wissenschaftlers in eine summende Wolke wuselnder Leiber. Bienen!
Entsetzen packte Madu. Seine kampferprobten Instinkte witterten die Gefahr, die von den Tieren ausging. Ihre Bewegungen strotzten vor Aggressivität und ähnelten einem Kriegstanz. Schnell gab er weitere Salven ab. Einmal. Zweimal. Doch es war mehr Verzweiflungstat als taugliche Abwehr. Für jede getötete Biene rückten beängstigend schnell Dutzende nach. Kurz entschlossen ließ er den unnützen Laser fallen und zog Chipuna zu sich heran. Doch sie kamen nicht schnell genug von der Stelle, unerbittlich schlossen die wütend brummenden Insekten weiter auf. Keine drei Meter trennten sie nun von einer Flut todbringender Stiche. An eine gemeinsame Flucht war nicht zu denken.
Madu drosselte seinen Atem und fokussierte seinen Feind. In seiner Logik blieb ihm nur ein einziger ehrenhafter Ausweg. Sich in sein Schicksal fügend, angelte er aus seinem Waffengurt eine Granate. Noch während er die Sicherung löste, schritt er gefasst dem Schwarm entgegen. Wenn schon umsonst, würden sie beide zumindest nicht alleine sterben. Langsam zählte er die Sekunden bis zur Detonation, die letzten seines Lebens, runter. Er kam bis fünf. Dann kitzelten Madu intensive Duftnoten von Vanille und Flieder in der Nase und um ihn herum spross wie von Geisterhand ein Teppich aus blauvioletten Blüten aus dem Boden. Madus Herzschlag setzte aus. Keine Armlänge von ihm entfernt zerstob der Schwarm und zerstreute sich über die neu entstandene Wiese.
Mit einem verwirrten Gesichtsausdruck drehte er sich zur Schamanin um. Dieser Welt entrückt, kniete sie wogend auf dem Boden und hatte ihre Finger wie Wurzeln in das Erdreich gegraben. Ihre Lippen formten eine Beschwörung, deren honigwarme Melodie zart über den Boden schwang und ihm diese ungeahnte Schönheit entlockte. Erleichtert aktivierte der Krieger die Sicherung. Seine Sorge galt nun Chipuna, die zusehends schwerer atmete. Die Herbeirufung hatte ihre Kräfte aufgezehrt. Dicke Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn und ihr Körper zitterte heftig. Offenbar fiel es ihr auf dem Mond schwerer, Beschwörungen zu wirken, als auf Mutter Erde, deren Sichel sich ehrerbietig vor der Endlosigkeit des Weltraums abzeichnete. Doch nicht dieses Panorama zog Madus Aufmerksamkeit auf sich: Angelockt vom intensiven Duft verdichtete sich die Dunkelheit gleich an mehreren Stellen zu weiteren Schwärmen.
Madu reagierte sofort. Geübt warf er sich Chipuna über seine Schultern und rannte mit ihr auf den Tunnel zu. Noch im Vorbeilaufen pflückte er geistesgegenwärtig den Ausweis vom Laborkittel des Wissenschaftlers, der zuoberst auf dessen Kleiderhaufen lag, und hielt die Plastikkarte vor einen Scanner. Bange Momente später gaben die Türhälften unter lautem Ächzen den Weg frei.
Als Erstes gewahrte er die gespenstisch anmutende Stille, die sich bleiern über den Empfangsbereich gelegt hatte. Lediglich das Surren irgendwelcher Geräte und ein weiterer Kleiderhaufen wiesen darauf hin, dass hier bis vor Kurzem noch Menschen ihrer Arbeit nachgegangen waren. Zur Sicherheit scannte Madu das nähere Umfeld. Sein erster Eindruck bestätigte sich. Keine Menschenseele war anwesend, um ihn aufzuhalten, was ihn mehr beunruhigte, als es ein Trupp Wachleute hätte tun können. Zumal er unsicher blieb, ob seine Sensoren in der Lage waren, Insekten zu orten. Zumindest hatten sie bei der Verwandlung nichts angezeigt. Daher erschien es ihm klug, ein wenig Abstand zum Eingang zu gewinnen. Hastig trug er seine Partnerin zum erstbesten Raum. Chipuna wirkte immer noch blass, als hätte sie einen schweren Schock erlitten.
»Komm schon! Lass deinen Rettungszauber nicht umsonst gewesen sein!«, flehte er sie an. In seiner Hilflosigkeit tätschelte er ihr die Wangen. Als hätte er damit einen Schalter umgelegt, zogen sich Chipunas Augenbrauen pfeilförmig zusammen und ihre Kraftlosigkeit wich Strenge.
»Du verdammter Idiot, ich habe nicht uns gerettet, sondern verhindert, dass du die Bienen vernichtest.« Ihre kratzige Stimme verlieh den Worten ungewollt Schärfe.
Madu lachte überrascht auf. »Wirklich? Du wolltest diese aggressiven Viecher schützen? Ich meine … ohne dein Eingreifen hätten sie uns glatt umgebracht.«
Chipuna winkte ab. »Bienen sind nicht von Natur aus aggressiv.«
Erleichtert registrierte Madu, dass seine Partnerin wieder ganz die Alte war. »Von Natur aus verwandelt sich ein Mensch auch nicht in eine Armee verdammter Killerbienen. Was zur Hölle geht hier vor? Ich habe den Eindruck, direkt in Dr. Fu Manchus Genlabor spaziert zu sein.«
Chipuna schüttelte ihren Kopf. »Ich glaube nicht, dass es sich um gentechnische Manipulationen handelt. Während der Verwandlung schlugen meine übernatürlichen Sinne an. Mit Sicherheit war Magie im Spiel. Deshalb konnten sie sich trotz der Schwerelosigkeit auch so mühelos bewegen«, gab sich die Schamanin überzeugt. Madus Nasenflügel blähten sich. »Du meinst, wir haben es hier mit einer Art Gestaltwandler oder Werbiene zu tun?«
Ahnungslos zuckte Chipuna mit den Schultern. »Was sie sind, kann ich dir nicht sagen. Ich weiß nur, dass die Tiere eine Riesenchance bieten.«
Madu glotze sie verständnislos an. »Ernst zu nehmende Bedrohung trifft es wohl eher!«
Widerspruch blitzte in ihren Augen. »Verstehst du nicht? Der Mensch hat die Bienen ausgerottet, weil er dachte, nicht auf die Natur Rücksicht nehmen zu müssen. Das Ergebnis kennst du. Was meinst du, würde sich ändern, wenn wir eine einfache Biene zurück auf die Erde brächten? Soll ich es dir sagen? Überhaupt nichts! Ich wette, dass es nicht lange dauern würde, bis auch sie und alle ihre Nachkommen ausgerottet wären.«
»Worauf willst du hinaus?«, unterbrach sie Madu barsch.
»Denk nach. Ein Biene-Mensch-Hybrid birgt vielleicht die Lösung. Wenn sich Tier und Mensch einen Körper teilen, kann der Mensch nicht weitermachen wie bisher. Sein Blickwinkel auf die Umwelt würde sich völlig ändern. Im eigenen Interesse müsste er umdenken – endlich lernen, sich nicht länger als Herr, sondern als Teil der Natur zu verstehen und Rücksicht auf sie zu nehmen. Ich weiß, dass es in deinen Ohren naiv klingen mag, aber bitte, ziehe diese Möglichkeit zumindest in Betracht. Zerstöre nicht leichtfertig diese einmalige Gelegenheit!«
Madu sah nicht überzeugt aus. Im Gegenteil, seine vorgebeugte Körperhaltung verriet die innere Anspannung eines sprungbereiten Pumas. »Scheinbar bist du willens, für eine vage Chance offensichtliche Gefahren zu ignorieren. Ich bin das nicht und eins verspreche ich dir: Sofern ich nur leiseste Zweifel daran bekomme, dass dieses Wasauchimmer unter Kontrolle ist, werde ich es, ohne zu zögern, vernichten.«
Mit dieser Antwort hatte Chipuna gerechnet und er hatte natürlich nicht unrecht. Weder sie noch er noch vermutlich sonst jemand konnte wissen, wie viel Mensch tatsächlich in dieser Chimäre steckte und ob sie Afrika mehr Schaden als Nutzen bringen würde.
Daher schlug sie einen besänftigenden Ton an. »Zunächst sollten wir mehr herausfinden. Dann sehen wir weiter.«
Stumm signalisierte Madu seine Zustimmung, woraufhin Chipuna ihre übernatürlichen Sinne wie Fühler ausstreckte, um den Innenraum der Kuppel abzutasten. Auf den oberen Ebenen ortete sie Signaturen menschlichen Lebens, nichts Ungewöhnliches für ein Forschungszentrum. Fast schon enttäuscht ließ sie ihre Sinne tiefer gleiten, bis sie unterirdisch gelegene Hallen erreichten, in denen während der Terraforming-Phase vermutlich Maschinen und Material gelagert worden waren. Auch hier fand sie keine Auffälligkeiten. Wirklich nicht? Einen Atemzug später korrigierte sie sich. Bei genauer Betrachtung spürte sie die Gegenwart mehrerer Wesen, allerdings weit weniger intensiv als bei Menschen, weil ihre Strukturen diffuser wirkten.
Schwarmartig, schoss es ihr durch den Kopf. Leider schwächte die Distanz ihre Wahrnehmung. Gleichwohl weitete sie ihre Suche aus. Am tiefsten Punkt der Anlage weckte eine Konzentration der fremdartigen Signaturen ihr Interesse. Chipuna mochte sich irren, aber für sie hatte es den Anschein, als würden sie sich dort um ihre Königin scharen. Mit einer Geistesanstrengung fokussierte sie ihre Sinne auf das Zentrum des Bienenstamms, als die Kraftfäden heftig zu vibrieren begannen. Erschrocken ließ sie ihren Aufklärungszauber fallen und japste nach Luft.
Das abrupte Ende ihres Rituals erweckte Madus Misstrauen. »Was ist los? Was hast du gefunden?«
»Das kann ich dir nicht genau sagen«, gab sie mit zusammengebissenen Zähnen zu. »Ich war unvorsichtig und bin etwas Machtvollem zu nahe gekommen. Aber immerhin habe ich herausgefunden, wo wir suchen müssen.«
Mit Unterstützung von Madus Systemen gelang es ihnen rasch, den Knoten aus weit verzweigten Gängen, Treppen und in Mandarin gehaltenen Hinweistafeln zu entwirren. Am Ende standen sie in einem schlauchartigen Korridor, auf dessen gegenüberliegender Seite eine nach außen geöffnete Stahltür Zugang zu einer Halle bot, aus der gedämpftes Licht quoll. Mit Sicherheit war dies kein Zufall. Entweder es handelte sich um eine Einladung oder um eine Falle. Zumindest war Vorsicht angebracht. Flink gab Chipuna Madu einen Wink und schob sich lautlos an ihm vorbei. In dieser Situation schätzte sie, dass ihre Fähigkeiten hilfreicher sein dürften als seine Technik. Für den Fall, dass sie schnell handeln musste, fingerte sie einen Klumpen Erde aus ihrer Jackentasche, spuckte darauf und knetete sie dann zu einer murmelgroßen Kugel, auf die sie eine Beschwörung hauchte. Anschließend schlich sie, sorgfältig darauf bedacht, sich nicht durch den Hall ihrer Stiefel zu verraten, zum Türrahmen und lugte vorsichtig in den Raum.
Der Anblick überwältigte sie.
Die Wände und die Decke der Halle waren mit Bienenwaben übersät, in denen mit Leichtigkeit ein Kind Platz gefunden hätte. Als wäre das nicht Wunder genug, verströmten sie ohne erkennbare Quelle das warme Licht von Wachskerzen. Das gesamte Gewölbe war von einem eifrigen Brummen erfüllt.
Chipunas magische Sinne überschlugen sich. Für einen Moment meinte sie, mit eiskalten Nadeln malträtiert zu werden. Nachdem sie sich gefangen hatte, gab sie Madu mit einer Geste zu verstehen, dass er warten solle, bis sie ihn heranwinke. Dann eilte sie ohne Umweg auf einen Stapel Kisten zu, hinter dem sie sich verstecken und die Lage sondieren wollte. Doch kaum hatte sie den Raum betreten, erscholl in ihrem Rücken ein metallischer Knall. Chipuna wirbelte herum. Ein asiatisch aussehender Mann hatte sich hinter der Stahltür verborgen und sie mit Wucht zugeworfen. Ihre Finger wurden eiskalt und ihre Beine wackelig – der Mann hatte sie von Madu getrennt.
»Guten Abend, Schamanin«, schnurrte er in ihrer Sprache. Sein dunkles Haar trug er strubbelig gestylt, was gut zu seinem flachgedrückten Gesicht und dem modernen Anzug passte. Wären da nicht die gelben Sprenkel in seinen Pupillen gewesen, hätte man ihn glatt für einen normalen Manager halten können. Chipuna erkannte ihn wieder. Augenscheinlich handelte es sich um den Expeditionsleiter aus dem Fernsehbericht, Cheng Li. Doch sie ließ sich von seiner Maskerade nicht in die Irre führen. Für einen einfachen Menschen besaßen seine Worte zu große Macht und strahlte seine Aura zu intensiv. Kein Wunder, dass ihre Sinne eben überreagiert hatten. Im Nachhinein ärgerte es sie, ihm trotzdem in die Falle gegangen zu sein. Doch schon im nächsten Moment gewann ein anderes Gefühl, eine skurrile Mixtur aus Neugier und Unbehagen, die Oberhand. Denn zweifelsohne stand sie dem Wesen gegenüber, das sie gesucht hatte, auch wenn sie sich für ihr erstes Treffen deutlich mehr Abstand gewünscht hätte. Jetzt hielt es alle Fäden in der Hand und Chipuna konnte nicht einschätzen, an welchen es ziehen würde. Andererseits, wenn es wirklich in der Absicht des Wesens gelegen hätte, sie zu töten, hätte es dies längst erledigen können. Daher entschied sie sich, in die Offensive zu gehen.
»Was soll die Scharade? Sie sind nicht Cheng Li«, fuhr sie ihr Gegenüber an. Dieser lächelte und unter den Schichten von Haut und Gesichtsmuskeln zeichnete sich auf einmal der lumineszierende Umriss einer Biene ab, die Richtung Stirn krabbelte.
Chipunas Herzschlag setzte für eine Sekunde aus, als ihr dämmerte, mit wem sie es zu tun hatte.
»Mutter Biene? Dich hat die Expedition gefunden?«, stotterte die Schamanin erstaunt. In der Mystik ihres Stammes war Mutter Biene direkt aus dem Urei geschlüpft und somit die Erste und Älteste ihrer Art. Eine Geburt der Schöpfung, weit mehr Naturgewalt als Tier. Mit der Auslöschung ihres Volkes galt auch sie als verschwunden.
»Ich bin es, und bin es nicht«, gab sich Mutter Biene rätselhaft. Mit tänzelnden Schritten bewegte sich Cheng Li auf Chipuna zu und umrundete sie mehrmals in scheinbarer Seelenruhe, doch seine Augen verrieten ihn. Der Gelbstich seiner Pupillen war ins Rötliche gewechselt. Und je enger er seine Kreise zog, desto mehr schien er um seine Selbstbeherrschung kämpfen zu müssen. Nur mühsam gelang es ihm, seinen Hunger und seine Gier zu zügeln. Nun fiel Chipuna der phenolähnliche Geruch auf, der ihn umgab. Zweifelsfrei stammte er vom Gelée Royale, Mutter Bienes einziger Nahrungsquelle. Allerdings war er mit einem unangenehmen metallischen Duft durchsetzt, den sie nur zu gut kannte.
»Seit wann ernähren sich Bienen von Blut?«, fragte sie sich. Anstatt sie abzuschrecken, versetzte dieser Aspekt ihrer Neugier einen zusätzlichen Schub. Selbstbewusst trat sie einen Schritt auf Cheng Li zu. Sie musste herausfinden, warum Mutter Biene die Reinheit ihrer Schöpfung – ja, was eigentlich? - geopfert oder verloren hatte. Denn wenn ihre Essenz beschmutzt war, hatte sich dies wahrscheinlich auch auf ihre Kinder übertragen. Zumindest würde dies das aggressive Verhalten des Wissenschaftlers am Tor erklären.
»Was ist mit dir passiert, Mutter Biene?«, fragte sie ohne jede Spur von Furcht.
Cheng Li trat ein Stück zurück, neigte seinen Kopf zur Seite und lächelte anerkennend.
»Du zeigst wahren Mut. An dir haftet weder der Duft von Angst noch von Verzweiflung und dein Gesicht spricht Bände. Du willst wissen, auf wen du dich einlässt.«
Mit seiner Zungenspitze fuhr sich Cheng Li über die Lippen, als wären sie ausgetrocknet. »Vor Kurzem befand ich mich in einer ähnlichen Situation. Während der Kolonialisierungsphase sah ich den Untergang kommen und nistete mich in einer Mondfähre ein, die mich nach Neu-Peking brachte. Die Menschen, die Mörder meines Volkes, widerten mich an und so zog ich mich in die Ödnis der anderen Mondhälfte zurück, weit weg von eurer Zivilisation. Im Nachhinein kam dies einem Selbstmord gleich. Meine Magie ist an die Energien der Erde gebunden und hier auf dem Mond und besonders auf seiner dunkeln Seite nur ein Schatten ihrer selbst. Zu überleben hatte all meine Kräfte aufgezehrt. Ich spürte mein Ende nahen, war einsam. Dachte ich zumindest. Bis ich am Leizhou-Krater auf eine Fährte stieß. Sie zu wittern, ließ mich erschaudern und zog mich zugleich in ihren Bann.«
Sein Gesicht nahm einen fragenden Ausdruck an. »Kennst du den Ursprung des Kraters?«
Gespannt schüttelte Chipuna den Kopf.
»Vor tausenden von Jahren steuerten aus der Tiefe des Alls zwei Asteroiden auf unser Sonnensystem zu. Nicht anders als ein Raumschiff transportierten sie in ihrem Kern außerirdische Wesen. Einer schlug auf dem Mond ein, der andere auf der Erde.«
Chipuna schluckte. »Was für Wesen?«, flüsterte sie.
»Vampire.« Cheng Li lachte bitter. »Wir Bienen und sie teilen dasselbe Schicksal. Unsere Völker wurden vom Angesicht der Erde getilgt und nur die dunkle Seite des Mondes garantierte bislang Sicherheit vor den Menschen. Die Vampire harren dort fest schlafend wie Tote aus, bis etwas Lebendiges ihren Durst weckt.«
»Du warst das Lebendige«, entfuhr es Chipuna.
»Nicht anders als du mich jetzt, fand ich sie faszinierend und entschloss mich, einer von ihnen zu werden. Ich bin ein magisches Wesen. Statt mit Blut nährte ich sie mit Teilen meiner Essenz und nahm dafür ihre auf. Ihre Fähigkeiten und die Art, sich fortzupflanzen, rettete nicht nur mein Leben, sondern bot mir die Chance, wieder ein eigenes Volk zu gründen.«
Langsam setzte sich in Chipunas Geist ein Mosaik zusammen.
»Du fielst in Tiefschlaf. Bis das Expeditionsteam von Cheng Li auftauchte. Selbst die Live-Übertragung aus dem Höhlensystem hielt dich nicht davon ab, diese einmalige Gelegenheit zu ergreifen. Damit sie zur Station zurückkehren müssen, hast du einen von ihnen gestochen und dich dann einfangen lassen. Habe ich recht?«, suchte Chipuna nach Bestätigung.
»Die Mannschaft auf der Station traf es völlig unvorbereitet. Mein neuer Stamm verbreitete sich schnell und unbemerkt unter ihnen. Niemand hatte die Gelegenheit Neu-Peking zu warnen«, schloss Cheng Li die Erzählung. Konzentriert kniff er die Augen zusammen, als müsse er seinen Blutdurst unterdrücken.
»Aber warum haben wir dann menschliche Signale geortet, wenn ihr Vampire seid?«, warf Chipuna ein.
»Schenke den Hollywood-Streifen keinen Glauben. Mein Stich tötet nicht. Meine Kinder sind keine Untoten. Er pflanzt ihnen lediglich ein Stück meiner Natur ein. Und die drängt regelmäßig an die Oberfläche. Dann verwandeln sie sich in Bienen.«
»In Vampirbienen«, warf Chipuna ein.
»Nicht immer. Verwandeln sie sich tagsüber, sammeln sie Pollen, nur nachts, wenn sich nichts Besseres finden … Blut. Und dennoch bleiben meine Kinder die meiste Zeit über Menschen. Die, die mein Volk vernichtet haben, bilden nun mein neues.«
Chipunas Gedanken überschlugen sich. »Sie bleiben Menschen!«, hallte es in ihr nach.
Dann kam ihr ein Gedanke.
»Warum hast du mich bisher nicht gestochen?«
Cheng Lis Blick nahm ernste Züge an.
»Der Mond ist nicht meine Heimat. Ich muss zurück, wieder die Erde spüren, ihre Luft atmen und ihre Pollen schmecken. Ich bin empathisch genug, um zu erkennen, dass du mich dort hinbringen möchtest und dass ich dir vertrauen kann und dass du dich für den Fortbestand meines Volkes einsetzen wirst. Dort unten werde ich Verbündete brauchen.«
Bevor Chipuna Antwort geben konnte, erbebte die Halle. Mit ohrenbetäubendem Lärm riss es die Stahltür aus den Angeln und eine Druckwelle rollte über die Schamanin hinweg. Allem Anschein nach hatte Madu sie gesprengt. Augenblicke später stürmte er hinein.
»Verrecke, Vampirbrut!«, brüllte er mit absoluter, unerschütterlicher Stimme. In einer Hand hielt er eine Granate. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er bereit war, bis zum Äußersten zu gehen.
»Chipuna, bring dich in Sicherheit. Ich werde hier alles ausräuchern!«
Entsetzt verstand sie: Mithilfe seiner Elektronik hatte Madu das Gespräch belauscht, die Vampirbienen als unkalkulierbares Risiko eingestuft und zugleich ein Todesurteil über sie verhängt.
Simultan schwoll das allgegenwärtige Brummen zu einem Getöse an, das wie ein Kampfhubschrauber klang, der zum Angriff überging. Aus allen Ecken der Halle stürzten dutzende Bienenschwärme heran, um ihre Stockmutter zu schützen. Madu würde sie alle ins Verderben reißen. Erschrocken sah Chipuna zu Mutter Biene hinüber.
Ihr Partner hatte sie in eine Situation gebracht, in der sie sich für eine Seite entscheiden musste. Verdammt, sie hätte sich einfach mehr Zeit dafür gewünscht. Aber diesen Luxus hatte sie nicht. Ihr blieben allenfalls 30 Sekunden, bis Madu sein Urteil vollstrecken würde. Im Sprint umrundete er sie und steuerte auf das Zentrum der Halle zu, wo eine Detonation den größtmöglichen Radius abdecken und somit maximalen Schaden anrichten würde. Indem er bei hoher Geschwindigkeit Haken schlug und Hindernisse übersprang, war es schwer, seinen gewählten Weg vorauszuahnen. Durch diese Taktik machte er es den langsamer fliegenden Bienen nahezu unmöglich, zu ihm aufzuschließen. Für Chipuna stand schon nach wenigen Augenblicken fest, dass Madu sein Ziel erreichen und den Heldentod finden würde. Niemand außer ihr würde ihn aufhalten können, selbst Mutter Biene nicht. Doch auch wenn sie sich entschließen sollte, ihren Partner zu töten – allein bei der Vorstellung drehte sich ihr der Magen um -, würde er den Auslöser loslassen und damit alles Leben in der Halle auslöschen. Auf der verzweifelten Suche nach einem Ausweg pochten ihre Gedanken so heftig hinter ihrer Stirn, dass sie Kopfschmerzen bekam.
Madus wütendes Fluchen riss sie zurück in das Geschehen. In der Hektik hatte er eine bauchhohe Kiste übersehen und musste gezwungenermaßen sein Tempo drosseln. Diesen Moment passte ein dort positionierter Schwarm ab. Er stob auseinander, um ihn einkreisen zu können, und stieß dann von oben auf ihn hinab. Aber so leicht ließ sich der erfahrene Krieger nicht überrumpeln. Geübt rollte er sich mit der Schulter über die Kiste ab, stolperte jedoch bei der Landung unglücklich über seine Beine und schlug auf den Boden. Um sich wieder aufzurichten, stützte er sich mit der Faust, die die Granate hielt, ab. Sein Missgeschick kostete ihn wertvolle Sekunden. Zeit, die Chipuna benötigte. Dies war ihre Gelegenheit.
Mit der magisch geladenen Erdkugel zielte sie auf Madu, konzentrierte sich auf die gewünschte Wirkung und löste den Zauber aus. Unnatürlich schnell schoss der Klumpen auf Madu zu und zerplatzte auf seiner Hand. Sofort wurde sie von einem dichten, stark klebrigen Rankengewirr umschlossen, das ihn daran hinderte, den Auslöser loszulassen. Als Nebeneffekt fixierten die Ranken Madus Hand fest auf dem Beton. Während der Krieger mit ruckartigen Bewegungen versuchte, seine Hand zu befreien, verwandelte sich Cheng Lis Körper in eine große, hell leuchtende Biene und ging ihrerseits zum Angriff über. Chipunas Zauber hielt. Noch bevor er sich mit einem kleinen Laser losschneiden konnte, war Madu von einem riesigen Bienenschwarm eingehüllt.
***
»Gleich überfliegen wir den Viktoriasee«, informierte sie Madu.
Chipuna sah nachdenklich aus einem der winzigen Bugfenster der Frankenstein und sann über die Ereignisse des letzten Tages.
Mit einem kleinen Seufzer begrub sie den letzten Funken Wehmut und wendete sich der Zukunft zu. Nach der Verbindung von Mensch und Technik begann nun eine Ära der Verbindung von Mensch und Natur. Sie schenkte Madu ein ehrliches Lächeln. Unter seiner Stirnhaut leuchtete ein bienenartiger Schemen auf. Unbeholfen verneigte sich die Schamanin vor Mutter Biene und breitete einladend ihre Arme aus.
»Willkommen zurück auf der Erde!«, begrüßte sie Afrikas neue Hoffnung.
Sebastian Loy lebt mit seiner Familie am Übergang zwischen urban geprägtem Rheinland und idyllischer Eifel. Die phantastische Literatur begleitete ihn seit seiner Kindheit, zum Schreiben fand er ab 2015. Einige Geschichten wurden bereits veröffentlicht.