Читать книгу Die Lohensteinhexe, Teil V - Kristian Winter (winterschlaefer) - Страница 4
Der ewige Fluch
ОглавлениеZwei Jahre nach den geschilderten Ereignissen treffen wir Daniel Titius in der ritterlichen Residenz des von Gottes Gnaden ernannten Herrn zu Lauenburg, Markgraf Gero, Fürst zu Minden und Camin und residierenden Commendator zu Düren wieder. Er hat dort unlängst eine Anstellung als ‚ordentlicher Obmann‘ gefunden und verfügt seither über die geachtete Position eines amtlichen Assessors.
Das erscheint umso verwunderlicher, zumal er nach seinem Fortgang von der Wendenburg jeden Halt zu verlieren drohte und sich schon an einem Baum aufknüpfen wollte. Da der Ast aber gebrochen war und er außer ein paar Blessuren nichts davontrug, deutete er es als ein ‚Zeichen‘ und ließ von weiteren Versuchen ab.
Nach einer Zeit ziellosen Umherirrens, durchsetzt von Zechgelagen, Hasardspiel und der Gesellschaft schamloser Weiber, geschah das Unglaubliche. Man bestellte ihn vor den städtischen Rat, wo er nach einer kurzen Einführungsphase ohne die nötige Proberelation bald in dieses Amt gehoben wurde.
Auch wenn das unter den dortigen Bediensteten große Verwunderung bis hin zu mancherlei Verärgerung auslöste, wagte niemand, dagegen zu intervenieren. Vielmehr begegnete man ihm mit gestelltem Wohlwollen, aber auch Vorsicht.
Sickerte doch schnell durch, dass er in der Gunst der edlen Beatrice von Ringfeld stand, die sich ihm aus irgendwelchen Gründen verpflichtet fühlte. So soll sie sich persönlich beim Markgrafen für ihn verwandt haben, obgleich sie – wie man sagte - nicht mehr recht bei Sinnen war.
Ganz in schwarz gekleidet, würde sie ihre Kammer nie verlassen und ihr Gesicht stets mit einem Schleier verhüllen. Noch niemand habe sie näher zu sehen bekommen. Das wiederum nährte die wildesten Spekulationen, sie litte unter einer schweren Entstellung, wäre blatternvernarbt bis hin zur Behauptung, sie sei womöglich gar kein Weib.
Schon deshalb erschien diese Fürsprache mehr als verdächtig. Und da auch er zu mancherlei Absonderlichkeiten neigte, die ihn bisweilen nicht recht bei Sinnen erscheinen ließ, stellte man schnell Parallelen her.
So erschien er zum Bespiel oftmals unrasiert und mit zerknitterten Gamaschen und erfüllte somit schon rein optisch nicht die Attribute eines Obmanns. Auch trug er oft anstelle des weißen Seidentuches mit der silbernen Brosche, was ihn als ordentliches Ratsmitglied auswies, nur einen grob verknoteten Filzschal. Zudem hüllte er sich nur gelegentlich in den Talar und auf das purpurne Barett verzichtete er ganz.
Am Verwunderlichsten aber war sein offen zu Schau getragener Gleichmut. So pfiff er auf alle Konventionen, wirkte stets aufgekratzt und tat für das allgemeine Rechnungswesen nur das Nötigste.
Sobald er sich aber mit dem Problem der Hexerei beschäftigte, entwickelte er einen ungeahnten, geradezu krankhaften Eifer. Das wurde bisweilen so schlimm, dass er sich manchmal unter der Last der inneren Anspannung in den Finger biss oder mit einem Male zu lachen begann, einmal sogar so laut, dass ein erschrockener Beamter herbeigeeilt kam. Nur mit Mühe konnte er den besorgten Mann beruhigen, auch wenn er genau spürte, in welcher Verwirrung er ihn zurückließ.
Was jedoch niemand wusste - er litt unter diesem Zustand, der für ihn sehr qualvoll war und ihn noch ruinieren würde. Aber von der Obsession einer grundlegenden Nivellierung der Hexerei beherrscht, die für ihn einer Verwissenschaftlichung des Unwissens gleichkam, konnte er nicht anders, als seinen Protest dagegen in aller Form zu bezeigen.
Hinzu kamen Bilder aus der Vergangenheit, die gleich einer Mahnung urplötzlich vor ihm auftauchten, einmal sogar so deutlich, dass er darüber erschrak und ein Tintenfass danach warf. Erst der Fleck an der Wand brachte ihn wieder zur Besinnung.
Dabei ahnte er längst die Ursache. Obgleich nunmehr schon ein Jahr vergangen war, verfolgte sie ihn immer noch. Dabei wurden seine Gedanken und Träume von der quälenden Frage beherrscht, ob sein Fortgang ohne Abschied wirklich rechtens war und ob sie das, was sie danach tat, auch im Falle seines Bleibens getan hätte?
Längst war er zu der Überzeugung gekommen, dass sie zu jener Art Frau gehörte, deren Außergewöhnlichkeit sie unberechenbar machte. Niemals konnte man sich ihrer sicher sein. Denn wer die Kälte im Herzen allein durch Charme und Liebenswürdigkeit derart zu überspielen versteht, dass selbst der dahinter lauernde Vorteil unbemerkt bleibt, ist schon mehr als ausgekocht. Der muss seine Emotionen völlig beherrschen, dass kein Raum für ein Herz bleibt, obgleich sie gerade das immer zu zeigen verstand.
Warum er sie dennoch nicht hasste, konnte er nicht erklären, aber selbst wenn, hätte er es wohl kaum akzeptiert. Befand er sich doch damals in einem Zustand der Tollheit, der ihn dazu brachte, selbst die ungeheuerlichsten Dinge für sie zu begehen.
Ja, er hatte diese Frau geliebt, liebte sie bis zur Raserei und fühlte sich vielleicht gerade deshalb jetzt missbraucht und weggeworfen wie ein alter Lappen. So was war ihm noch nie passiert und hatte sein Selbstverständnis schwer beschädigt. Folglich war ihm jede Erinnerung an diese Leidenschaft zur Qual geworden, deren er sich bis zu Tränen schämte.
Es hatte lange gedauert, bis er sich wieder fing. Danach bemühte er sich, das Ganze zu vergessen. Zwar war es ihm noch nicht gelungen, aber er verspürte keinen Hass mehr. Er vermochte jetzt unvoreingenommener und vor allem gerechter über sie zu urteilen und begann zu begreifen, dass er für sie nur eine Figur in einem Spiel gewesen war. Zwar hatte sie ihm ein weiteres Mal das Leben gerettet, doch auch das nur wegen ihres Vorteils.
Dennoch hatte sie etwas, was einen solchen Eindruck auf ihn machte, dass er sie manchmal zum Teufel wünschte, im selben Moment jedoch schon wieder um sie sorgte. Dabei vermisste er sie jeden Tag, auch wenn er dieses Gefühl als Irritation, als quälendes Rudiment einer ‚Sinnestäuschung‘ abtat. Im Herzen fühlte er anders.
Niemals wurde ihm das schmerzlicher bewusst, als in jenem Moment, da ihn die Nachricht von ihrem Tod erreichte.
Demnach soll kein Geringerer als Marschall Tilly die Stadt mit seinem Heer geschliffen und geplündert haben, nachdem man ihm zuvor das Winterquartier verweigert hatte. Kaum ein Haus, das nicht verwüstet oder in Brand gesteckt, kaum ein Weib, das verschont wurde.
Die meisten Ratsmitglieder wurden erschlagen oder zur Belustigung der aufgebrachten Menge aus den Fenstern geworfen, in Jauche gesuhlt und danach mit Tritten zum Richtplatz befördert, darunter auch Amtmann Kunze und Kunibert. Letzterem band man noch in demütigender Weise ein Schild um den Hals mit der Aufschrift ,misera limus‘, was nichts anderes als elender Schmutzfink bedeutet, bevor er auf dem Marktplatz öffentlich enthauptet wurde. Nicht besser erging es dem Kunze, dem man beide Hände abhackte und ans Stadttor nagelte.
Maries Spur hingegen verlor sich im Nichts. Niemand wusste etwas über ihren Verbleib zu sagen. Doch war angesichts dieser Umstände ihr Überleben kaum wahrscheinlich.
Als er sich dessen bewusst wurde, ließ ihn das erstaunlicherweise völlig kalt. Sagte er sich doch, dass jemand wie sie gar nicht sterben könne, da sie immer einen Weg fände, durch irgendeine Teufelei wieder herauszukommen. Dafür meinte er sie zu gut zu kennen.
Diese Überzeugung war ihm bald so fest geworden, dass er tatsächlich daran glaubte und es nur für eine Frage der Zeit hielt, bis sie wieder vor ihm stünde.
Und in der Tat war dieser Gedanke nicht so fern. Denn als er erfuhr, dass zur gleichen Zeit von einer Seherin die Rede war, die dieses Unheil kurz zuvor prophezeit und den gesamten Rat vor der Gefahr gewarnt haben soll - freilich, ohne ernst genommen zu werden – beschlich ihn ein ganz eigenartiges Gefühl.
Nun hätte er dem sicher keine weitere Bedeutung beigemessen, wüsste er nicht aus verschiedenen Quellen, dass dieses Weib nicht nur außergewöhnlich schön und klug gewesen sei, sondern auch verschlagen und überaus kaltherzig. So soll Markgraf Gero höchst selbst auf ihren Ratschlag hin den Feldherrn nach Zahlung einer größeren Summe vom ursprünglichen Weg durch die hiesige Comturei abgebracht haben. Daraufhin wäre er geradewegs nach Wendenburg gezogen, wo das Unheil seinen Lauf nahm.
Ob nun ein sachliches Kalkül dahinter stand oder einfach nur Glück blieb dahingestellt. In jedem Fall aber erwies sich diese Frau als Dürens Rettung, wofür er sie übrigens noch reichlich entlohnt haben soll.
Das alles erschien ihm sehr merkwürdig, so dass er darüber nicht zur Ruhe kam. War das wirklich nur Zufall, am Ende gar nur ein Produkt seiner überreizten Nerven? Oder steckte eine höhere Notwendigkeit dahinter, die er nur noch nicht begriff?
Meist saß er bis spät abends im Skriptorium des Ratshauses, den Kopf in die Hände gestützt und grübelte, verglich alte Prozessakten und Aussagen beeidigter Zeugen, stellte Analysen an und meinte bald ein Schema zu erkennen, wonach er solcherlei Zufälle zu erklären hoffte. Sobald er jedoch nach einer Verallgemeinerung suchte, brach alles wieder zusammen und er begann von Neuem. Das trieb er so lange, bis er es nicht mehr ertrug und die Akten entnervt beiseite warf.
Kann es denn sein, dass sich etwas dauerhaft unserer Erkenntnis entzieht, obwohl es doch so offenkundig erscheint? resümierte er für sich im Stillen. Und wenn, warum kommt schon die Suche danach stets etwas Krankhaftem, ja Diabolischem, gleich, das man nur im Geheimen betreiben kann, um nicht in Verdacht zu geraten?
Er kam zu dem paradoxen Schluss, dass die Natur der Suche letztlich unwesentlich bleibt, so lange das Resultat dafür entschädigt. Was macht es schon, wenn man vom Teufel besessen ist, wenn sich der Moment der Erleuchtung als klarste und letzte Einsicht in die Dinge darstellt, als ein unerhörtes, bis dahin nicht erahntes Gefühl der Auflösung und des verzückten Einswerdens mit sich selbst?
Das schien ihm in jenem Moment durchaus plausibel, ängstigte ihn aber auch, da ihn solche Gedanken als gottlos entlarvten. Was blieb, waren Zweifel, die ihn fast bis in den Wahnsinn trieben. Das wiederum führte zu seiner zunehmenden Verunsicherung, was seinen Ruf als Sonderling verstärkte.
Wenn er sich dann derart aufgewühlt auf den Heimweg begab, geschah das meist erst in der Dunkelheit, immer in der Angst, beobachtet und erkannt zu werden.
Aber auch das war natürlich pure Einbildung, zumal er sich nach allem rehabilitiert wähnte. Sogar seinen alten Namen trug er wieder und bekannte sich offen zu seiner Vergangenheit.
Dennoch behielt er wie zum Trotz seinen exzentrischen Lebensstil bei, pfiff auf alle Privilegien, die einem Mann seines Ranges zukamen und zog die kärgliche Kammer eines heruntergekommenen Bürgerhauses einem komfortablen Zimmer im hiesigen Stift vor.
Auch verweigerte er als Diener Christi jede gebotene Askese, sondern gönnte sich schon mal einen Krug Wein in einer Taverne, wo er lautstark mit allerlei Grobvolk zechte.
Doch das alles linderte seine innere Zerrissenheit nicht.
Nur so ist es zu erklären, dass er neuerdings die Asche von gerösteten Krähenfedern an der Türschwelle zu verstreuen pflegte. Ebenso bewahrte er stets eine Flasche Schweineurin unter seinem Tisch auf. Jedoch nicht aus Aberglaube, wie er stets versicherte, sondern nur, um dessen Unwirksamkeit nachzuweisen, wie er überhaupt der Ansicht war, dass man Hexerei nur durch solcherlei Gegenbeweise widerlegen konnte.
So war er denn entschlossener denn je, jeden okkultistisch motivierten Prozess fortan als Lüge und somit Mittel der Willkür zu entlarven.
Kein Wunder, dass er sich schon bald mit einigen Befürwortern dieser Praxis überwarf, von denen es hierzulande reichlich gab. Bot doch diese Form der Exekutive unter dem Vorwand der Gottesfurcht ein probates Mittel zur Bewältigung ganz anderer Probleme. Außerdem war es noch nie zu einem Protest gekommen.
Im Gegenteil - die dadurch ausgelöste Hysterie demonstrierte demnach nichts anderes als die allgemeine Zustimmung für die Richtigkeit und Rechtmäßigkeit eines solchen Verfahrens. Schon deshalb konnte jeder daran offen geäußerte Zweifel nur vom Teufel selbst stammen.
Darüber war er sich natürlich im Klaren. Doch sonderbarer Weise kümmerte ihn das nicht. Vielmehr wagte er, noch einmal nachzulegen, als könne er die Wahrheit damit erzwingen.
So platzte er erst kürzlich in eine ‚peinliche Befragung‘ hinein und verspritzte vor der Inquisitin gleich eine halbe Flasche dieses stinkenden Urins, von dem man zu wissen meinte, dass er jede echte Hexe sofort verätzen müsse. Da jedoch nichts geschah und ebenso die gerösteten Krähenfedern keinerlei Wirkung zeigten, konnte er den Vorwurf sofort in Zweifel ziehen, und das, obgleich er in diesem Verfahren kein anerkannter Syndikus war.
Damit verstieß er nicht nur gegen die allgemeine Gerichtsordnung, sondern düpierte vor allem den vorsitzenden Richter, Amtmann Devers – ein von sich eingenommenen Choleriker, der schrecklich viel aß und für gewöhnlich keinen Widerspruch duldete. Hinzu kam, dass jener die Beklagte bereits kurz vor dem Geständnis hatte, denn sie war schon vor ihm auf die Knie gegangen und bereit, seine Füße zu küssen.
Niemand wagte aber einen Einwand, nicht mal er. Zu groß die Furcht vor seiner Gönnerschaft auf höchster Ebene, so dass dieser neue Assessor sogar eine ‚Wägeprobe‘ durchsetzen konnte – ein umstrittenes Verfahren aus dem vergangen Jahrhundert, das normalerweise nicht mehr statthaft war.
Hier aber machte man eine Ausnahme und stellte bald fest, dass die Beklagte angesichts der ermittelten Schwere niemals hätte fliegen können, wie es für Hexen nun mal erforderlich ist. Und als dann noch der Besenstiel unter ihrer Last zerbrach, nachdem man sie zum Zwecke des Gegenbeweises darauf gesetzt und angehoben hatte, sprach das für ihre Reinheit. So war man um eine Begnadigung nicht umhingekommen, wenn auch mit der Auflage einer lebenslangen Verbannung.
Aber erneut interveniert er, da eine nicht bewiesene Schuld nicht zusätzlich geahndet werden dürfe und erwirkte neben ihrem Bleiberecht zu allem auch noch ihre Anstellung zu seiner Aufwärterin.
Er meinte das im Ernst und begründete dies mit dem Umstand, dass sie durch den Prozess alles verloren hätte und nunmehr völlig mittellos dastünde. Dem Rat obliege somit eine Fürsorgepflicht, welcher er in seiner Person nachkommen wolle.
Damit brüskierte er das Tribunal ein weiteres Mal. Aber selbst das war kalkuliert. Wollte er doch den Nachweis ihrer Unschuld selbst danach noch erbringen. Und wie gelänge das besser, als ihr das Vertrauen auf solche Art auszusprechen und durch eine Bewährung ihre Unschuld zusätzlich zu untermauern? Nebenbei böte sich ihm die Gelegenheit, seine Studien anhand eines aktuellen Falles fortzusetzen und mit diesem Erfolg zweifellos ein Zeichen zu setzen.
Dabei war dieses Weib, eine Wäscherin mit Namen Lydia (über einen Zunamen war nichts bekannt), trotz ihrer gerade mal 18 Jahre alles andere als harmlos. Nicht umsonst verbrachte sie drei Monate im dunklen Verlies, da sie im Verdacht stand, ihr eigenes Kind getötet zu haben – durch Ersäufen wie eine Katze, wie man sagte.
Das mochte man ihr angesichts ihrer zarten Gestalt und des unschuldigen Gesichts gar nicht zutrauen. So glich sie mit ihrem schmächtigen Körper, den tiefliegenden, dunklen Augen und dem erstaunlich ausdruckslosen Gesicht eher einem unbedarften Mädchen, als einer eiskalten Mörderin. Lediglich das markante Muttermal auf der linken Wange hatte etwas Besonderes und hob sie von der grauen Masse sonstiger Bauernweiber heraus, machte sie aber auch in den Augen der Inquisition verdächtig. Sie redete auch nicht viel. Doch was sie sagte, klang erstaunlich offen und ehrlich. Schon deshalb sagte ihm sein Gefühl, dass sie unschuldig sein musste.
Dennoch wirkte etwas an ihr befremdlich. Auch wenn sie trotz ihrer Unscheinbarkeit durchaus nicht hässlich war, ja sogar etwas Einnehmendes ausstrahlte, besonders, wenn sie lächelte, blieb das für ihn irritierend. Es lächelte nur der Mund, nicht aber die Augen, welche in einer sonderbaren Starrheit verharrten und ihrem Gesicht etwas Maskenhaftes, Unwirkliches gaben.
Vielleicht war es gerade das, was ihn trotz aller Überzeugung von der Richtigkeit seiner Entscheidung dazu brachte, sie eines Abends noch einmal nach den näheren Umständen dieses doch recht schweren Vorwurfs zu befragen.
Er stellte diese Frage übrigens gerade heraus ohne große Umschweife, vielleicht in einem etwas zu harten Ton, aber doch so, dass sie um eine Antwort nicht umhinkam. Sofort nahm sie eine überaus demütige Haltung ein, kniete vor ihm nieder und wollte seine Füße küssen.
Doch er riss sie sofort empor und schleuderte sie so entschieden gegen die Wand, dass der obere Spundbalken zitterte und sie vor Angst erstarrte. Dabei legte er ihr die Hand um die Kehle und sah ihr tief in die Augen. Und bei Gott - er hätte sie auf der Stelle erwürgt, hätte sie es gewagt, ihn jetzt noch anzulügen.
Das war aber gar nicht nötig, denn sie begriff sofort. Nach einem Moment des Schweigens, in dem sich ihr Gesicht mehrfach schmerzhaft verzog, rannen ihr schließlich Tränen über die Wangen und sie begann am ganzen Leib zu zittern.
Dann aber kam sie, zunächst noch etwas zögerlich, mit der Sprache heraus und erzählte ihm etwas, was er so nicht erwartet hätte. Zu seinem Entsetzen gab sie plötzlich alles zu und das in einer Deutlichkeit, wie sie es zu einer Verurteilung nicht besser hätte passen können.
Im ersten Moment mochte er es gar nicht glauben und hielt es für eine Überreaktion infolge seiner bedrohlichen Geste. Doch sie blieb dabei und verteidigte sogar die Anklage, die mit ihrer Bestrafung nur rechtens getan hätte.
Während sie das sagte, so voller Ruhe und Gleichmut, wurde ihm für einen Moment schwarz vor Augen. Er begann zu wanken und sackte schließlich kraftlos auf den Stuhl, wo er sich, die Haare raufend, diese schier unglaubliche Geschichte anhörte.
Ja, es sei wahr. Sie habe das Kind getötet, weil es aus einer inzestuösen Beziehung mit ihrem Vater stamme; eines, das durch Hasenscharte und Wolfsrachen furchtbar entstellt und ‚unsauber‘ gewesen wäre, weil es ihr der Teufel selbst eingepflanzt habe.
Auch wenn sie die Erinnerung mit Schmerz erfülle, so würde sie es wohl wieder tun, schon um der Schande zu entgehen. Ohne nachzudenken habe sie den kleinen Körper mehrfach gegen einen Baum geschlagen. Aber als es selbst nach dem dritten Schlag noch wimmerte, musste sie es ersäufen, um ganz sicher zu gehen. Sie sagte es tatsächlich so.
Nachdem er das gehört hatte, verlor er jede Fassung. Aber die Vorstellung, einen Mord gedeckt zu haben, brachte ihn schier um den Verstand.
Völlig kopflos sprang er auf, lief vor ihr auf und ab, indes sie ihm stumm nachschaute. Mal blieb er stehen, fasste sich an den Kopf, nahm seine Wanderung dann aber wieder auf.
„Großer Gott, was habe ich getan?“, rief er aus. Und was ging ihm jetzt nicht alles durch den Kopf. Am liebsten hätte er ihr die Misericodia in den Hals gerammt. Wie brachte sie es nur fertig, ihn auch noch so emotionslos anzusehen? Hatte sie denn kein Gewissen?
Aber wie sollte sie. Ein solcher Auswurf verdiente keine Achtung. Er sollte sie auf der Stelle hinauswerfen. Dann aber, inmitten seiner Wut, erwachte in ihm eine große Angst, und er beschwor sie in einem Anflug von Raserei, mit niemandem darüber zu reden.
Doch als er sie dabei packte und unter der Frage, ob sie ihn verstanden habe, vor Angst und Entsetzen zu schütteln begann, begriff er zugleich die Unsinnigkeit dieser Forderung und stieß sie angewidert fort. Sie könne tun, was sie wolle, von ihm habe sie keinen Schutz mehr zu erwarten.
Das Mädchen aber, das in diesem Moment seinen Zustand erkannte, wagte es noch, ihm zaghaft die Hand auf die Schulter zu legen.
„Grämt Euch nicht, edler Dominus. Ihr seid frei von aller Schuld. Ich allein habe gesündigt und muss es vor Gott verantworten.“
„Woher willst du das wissen?“, fuhr er sie daraufhin an und schlug ihre Hand fort. „Woher, verdammt nochmal, soll eine gottverdammte Mörderin wie du wissen, ob ich frei von aller Sünde bin? … Wäre ich es, hätte ich dich bestimmt nicht gerettet!“
In einem Anflug der Raserei erhob er seine Faust und streckte sie mit einem einzigen Schlag zu Boden. Kurz darauf erschrak er und wich entsetzt zurück.
Was hatte er getan? Hatte er sie tatsächlich geschlagen? Zweifellos muss es so gewesen sein, denn sie lag plötzlich vor ihm. Damit nicht genug – der Hieb muss sie so unglücklich getroffen haben, dass sie rücklings gegen den Tisch gefallen und danach mit der Stirn aufgeschlagen war. Die Folge war eine Platzwunde über ihrem linken Auge, aus der dunkles Blut sickerte.
Als er sie plötzlich so reglos vor sich liegen sah, so geschunden und verletzt, kniete er erschrocken neben ihr nieder, bettete ihren Kopf auf seinen Schoß und wischte das Blut von ihrer Wange. Er verfluchte seine Impulsivität, die er in letzte Zeit nicht mehr steuern konnte.
„Verzeih mir“, wimmerte er. „Ich war nicht Herr meiner Sinne.“
„Es ist schon gut, Dominus“, erwiderte sie. „Schlagt mich, wann Ihr wollt. Es wird mir ein Segen sein, denn ich habe es verdient.“
„Du solltest so nicht reden. Selbst ein Sünder verdient Vergebung.“
„Aber nicht jemand wie ich.“
„Du bist ungerecht zu dir selbst. Nur deshalb frisst dich deine Verbitterung auf.“
Sie sah ihn daraufhin verwundert an. „Dann vergebt Ihr mir?“
Er brachte jetzt kein Wort mehr heraus. Von tiefem Mitgefühl übermannt, umschlang er sie und presste sie an sich, als wollte er seine Grobheit dadurch ungeschehen machen.
Aber als habe sie nur darauf gewartet, begann auch sie ihn sogleich zu umschlingen, schmiegte sich an seine Wange und übersäte ihn mit Küssen. Wieder und wieder berührten ihn ihre Lippen, bis sie schließlich den Weg zu den seinen fanden und mit ihnen verschmolzen.
Von einem eigenartigen Gefühl zwischen Schmerz und Wollust umnebelt, spürt er gar nicht, wie das von ihrer Stirn rinnende Blut seine Lippen benetzte, während sie ihn mit verzehrenden Küssen auf sich zog. Derart unter ihm liegend, raffte sie alsbald ihren Rock herauf, umschlag seinen Unterleib mit ihren sehnigen Beinen und bedeutete ihm ihre Willfährigkeit.
Obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte, durchfuhr ihn plötzlich eine jähe Wollust, ein Empfinden, gemischt aus lustvollem Kitzel und Sündenbewusstsein wie es ein frommer Mensch empfinden muss, der die Angst vor der Hölle spürt.
Doch das Tosen in seinem Blut samt der darin empor steigenden Glut, verdrängte jede Furcht. Wieder war es der Hauch des wilden Tieres, der ihn mit jener brennenden Süße umfing, dem etwas Abartiges, Widerwärtiges entsprang.
Ihr Atem begegnete einander so heiß und heftig, dass es bald in ein heiseres Keuchen überging. Unfähig jeden klaren Gedankens, ergab er sich diesem unerklärlich süßen Drang.
Doch es blieb krankhaft und abnorm. Seine Leidenschaft war nicht wirklich, blieb nur Resultat einer aufgestauten, krankhaften Erregung infolge seiner Hypersensibilität.
Zwar wurde ihm bewusst, dass er erneut der Sünde verfiel, dennoch blieb sein Begehren stärker, zumal sie seine Leidenschaft mit selber Heftigkeit erwiderte und sich meisterlich darauf verstand, seine beginnende Schwäche von Neuem zu stimulieren.
Derart vom Rausch der Wonne benebelt, durchfuhr ihn bald ein Schauer nicht endenwollenden Lust, so dass er am Ende völlig erschöpft und von ihr zärtlich umfangen, an ihrer Brust einschlummerte.
Als er am nächsten Morgen erwachte und begriff, was er getan hatte, befiel ihn eine tiefe Angst.
Welcher Teufel hatte ihn nur geritten, dass er sich derart vergessen konnte? Dieses Weib aber, das seine Tochter hätte sein können und zudem eine kaltblütige Mörderin war, hatte ihn zur Liebe verführt und schien daran überhaupt nichts zu finden.
Im Gegenteil, in der Gewissheit, ihm in Gänze genügt zu haben, meinte er auf ihrem schlafenden Gesicht ein sanftes Lächeln zu erkennen.
Kaum aber wurde er sich dessen bewusst, ergriff ihn eine überschäumende Wut und er fühlte sich versucht, ihr die Kehle durchzuschneiden. Und tatsächlich griff er nach seinem Dolch und setzte ihn unter ihr Kinn.
Beim Himmel, er hätte es getan, wenn sie nicht im gleichen Moment die Augen aufgeschlagen und ihn angeschaut hätte.
Da brachte er es nicht fertig. Vielmehr gebot er ihr, sich anzukleiden und ihn auf der Stelle zu verlassen. Für einen Moment schimmerten daraufhin so etwas wie Tränen in ihren Augen, aber sie gehorchte.
Kaum aber hatte sie die Kammer verlassen, sprang er auf und stürzte ihr nach. Fast wollte es scheinen, als habe sie nur darauf gewartet, denn sie stand noch immer im Flur und schaute nach der Türe hin.
Da nahm er sie erneut in den Arm, nannte sich einen Narren und revidierte seine Laune als dumm und überzogen und tat es mit seiner gegenwärtigen Verwirrung ab.
*****