Читать книгу Die Lohensteinhexe, Teil VII - Kristian Winter - Страница 3
Das Gericht
ОглавлениеNiemand hätte sagen können, wie lange sie so nebeneinander saßen, ohne ein Wort zu verlieren. Es herrschte ein bedrückendes Schweigen, das qualvoller war als jeder Vorwurf. Dabei schien es, als kannten sie ihre Gedanken genau. Nur fürchtete jeder, sie als erster auszusprechen.
Irgendwann erhob sich Jofree, richtete seine Sachen und machte Anstalten zu gehen. Dann aber, als habe er es sich anders überlegt, nahm er ihre Hand und zog sie ebenfalls hoch. So standen sie eine ganze Weile beieinander, ohne auch nur ein Wort zu verlieren. Dabei sah er ihr unverwandt ins Gesicht, wobei sie nicht die geringste Regung zeigte.
Plötzlich führte er ihre Hand zum Mund und küsste sie. Unfähig, sich dem zu widersetzen, sah sie ihn in angstvoller Erwartung an, wobei ihr die Unsicherheit anzumerken war. Erst nachdem eine erste Träne über ihre Wange rann, nahm er sie in den Arm und drückte sie an sich. Sie ließ es willenlos geschehen.
Die Situation hätte nicht absurder sein können. Eben noch entschlossen, sie umzubringen, übermannte ihn jetzt das Verlangen nach ihr in einer Intensität, die ihn alle Selbstbeherrschung verlieren ließ und er sie unwillkürlich zu küssen begann, erst Stirn, dann Wangen, dann Mund und Hals.
Nach anfänglichem Zögern erwiderte sie seine Liebkosungen, anfangs noch zaghaft, dann jedoch forscher und am Ende in einem ungeahnten Überschwang, der beide erneut in die Knie zwang. Flink öffneten ihre Finger, wie von Zauberhand geführt, sein verschnürtes Wams, derweil er ihr das Kleid von den Schultern streifte.
Kurz darauf waren sie völlig entblößt und begannen, sich auf dem Boden zu wälzen. Jetzt gehörten sie nur noch sich. Im Rausch der Sinne taumelnd, genossen sie ihre Leidenschaft, ohne auch nur eine Sekunde die Frage nach Möglichkeit oder Unmöglichkeit, Recht oder Unrecht, Moral oder Unmoral ihres Tuns zu stellen. Es war einfach ein höherer Zwang, der sie gleichermaßen befiel und dem sie willenlos gehorchten.
Alles Irdische schien sekundär. Allein dem Rausch der Lust verfallen, ergaben sie sich ganz ihren Gelüsten und beglückten einander mit ihren vor Wonne überschäumenden Herzen.
Immer wieder presste er sie an sich, indes sie ihn umschlang und in die Schulter biss. Wiederholt stemmte er sich so tief in sie, dass sie vor Wollust schrie und ihm den Rücken zerfurchte. Dann wieder umklammerten ihre Beine seinen Unterleib, als wollte sie sich nie mehr von ihm lösen und er umarmte sie nur noch inniger.
„Warum bist du zurückgekommen?“, hauchte er, ohne das Liebesspiel zu unterbrechen.
„Ich konnte nicht anders“, gab sie keuchend zurück, sich seinem Drängen willfährig ergebend.
„Aber damit hast du dich in Gefahr gebracht.“
„Ich weiß.“
„Ich wollte dich töten!“
„Warum hast du es nicht getan?“
„Oh, du Schlange, das weißt du ganz genau!“
Erneut drang er in sie, atmete ihren Duft, ihre Wärme und ihren ganzen weiblichen Zauber, auch wenn er sie irgendwo fürchtete. Aber ihm blieb keine Wahl. Irgendetwas trieb ihn, obwohl er wusste, dass es falsch war. Er spürte seine Schwäche mehr, als er sich bisher eingestand, doch all sein Bemühen einer Abwehr blieb vergeblich.
Niemals wurde ihm die eigene Ohnmacht schmerzlicher bewusst und mit ihr all seine moralische Verkommenheit als im Moment dieses ungewollten Beischlafs. Schlagartig ließ er von ihr ab wie jemand, der plötzlich zur Besinnung kommt.
‚Was tue ich?‘, fragte er sich und sah sie an, als erwarte er von ihr die Antwort. Sie zeigte sich jedoch davon unberührt, hatte den Arm hinter den Nacken gelegt und reagierte mit einem liebeslüsternen Lächeln, das ihr Gesicht nach wie vor verklärte.
So willfährig und voller Erwartung glich sie der blonden Madonna eines unbekannten Meisters, dessen Bild er vor zwei Jahren einmal im Schloss Camin bewundert hatte und sich fragte, ob ein Mann allein eine solche Göttin glücklich machen könnte. Er beantwortete sich diese Frage damals mit einem entschiedenen Nein.
Nun aber lag sie neben ihm, diese Göttin, und vertrieb all seine bisherige Abneigung gegenüber allem Weiblichen allein mit einem Lächeln. Wie war das möglich? Sie besaß etwas Animalisches, unglaublich Sinnbetörendes, das seine angeborene Scheu gegenüber Frauen auf wundersame Weise vertrieb. Ihr bloßer Geruch vermochte ihn um den Verstand zu bringen und damit seine ganze bisherige Welt zu zerstören. Dabei hatte er weiß Gott alles versucht, ihr zu widerstehen und versuchte es noch immer.
So schloss er die Augen, um sie nicht länger zu ertragen, und zwang sich, an etwas anderes zu denken. Doch selbst jetzt verfolgte ihn ihr Bild, auf dem sie sich vor ihm lasterhaft verbog und ihn erneut in Versuchung führte. Da gestand er sich seine Sehnsucht nach ihr ein, die er bisher stets verleugnet hatte. Aber je mehr er dies tat, umso mehr brach sie hervor und forderte mit ihrem Drängen unbarmherzig ihren Tribut.
Als er erneut zu ihr hinsah, kuschelte sie sich ganz in sich zusammen wie von einem Wonneschauer zärtlicher Verliebtheit durchströmt. Und als wüsste sie um seinen inneren Zwiespalt, glitt ihr Finger über seinen Hals, als läge eine Frage auf ihren Lippen, die sie nicht auszusprechen wagte. Ein seltsames Prickeln durchfuhr ihn daraufhin. Doch er blieb reglos auf dem Rücken liegen und vermied es, sie anzuschauen.
Sie aber schlang ihre Schenkel über seine Beine und lag nun, den Kopf in die Hand gestützt, neben ihm, ihn wortlos betrachtend und mit dem Finger zärtlich über die nackte Brust streichend.
„Wir dürfen das nicht mehr tun“, sagte er nach einer Weile, den Blick nach wie vor starr an die Decke gerichtet. „Das bringt Unheil über uns.“
Anstatt einer Antwort liebkoste sie seine Brust.
„Warum bist du zurückgekommen?“, wiederholte er seine Frage von vorhin.
„Du hast schöne blaue Augen.“
„Ich hab dich etwas gefragt.“
„Ich liebe dich.“
„Unsinn!“
„Warum?“ Ihre Verwunderung war echt.
„Weil das nicht sein kann! Du kannst mich nicht lieben, nicht nach alledem!“
„Wenn es aber so ist?“
„Es kann nicht so sein.“
„Und doch ist es so! Ich kann nichts dagegen tun! Und du? – Geht es dir nicht ebenso?“
„Ich weiß es nicht. Ich hätte niemals gedacht, das ...“ Er sprach den Satz nicht zu Ende.
„Was hättest du nicht gedacht?“, wollte sie sogleich wissen.
„Ach, nichts. Es ist alles ganz anders, als du denkst. Ich muss anderen Pflichten nachkommen, die nicht unbedingt ehrenvoll sind.“
„Ich weiß - Jofree“, sagte sie nach einem Moment des Schweigens, dabei diesen Namen betonend.
Er sah sie erschrocken an, lächelte dann aber und schüttelte den Kopf. „Er hat es dir also erzählt?“
„Ja.“
„Ein Grund mehr, mich zu verachten.“
„Ich verachte dich nicht.“
Erneut schmiegte sie sich an ihn und ließ ihren Finger um seinen Nabel kreisen. „Bist du glücklich so? Ich meine, wenn du mich jetzt liebst und morgen vielleicht schon wieder anders sein musst?“
Ihre Frage behagte ihm nicht. Barsch schob er sie fort, streifte sich entschlossen das Wams über und zog seine Hose wieder an.
„Was soll das jetzt werden, he? Willst du mir ins Gewissen reden?“, fuhr er sie an. „Das kannst du dir sparen! Ich brauche kein Mitleid, von niemandem! Dieses Leben habe ich mir gewählt! Niemand zwingt mich dazu! Und soll ich dir noch etwas sagen - ich bin glücklich dabei!“
Doch im selben Moment bedauerte er seine Worte. Für einen Moment wagte er sie gar nicht mehr anzusehen, so sehr schämte er sich jetzt seiner Unbeherrschtheit. Aber ihr plötzliches Mitgefühl kränkte ihn. Es setzte ihn herab und erinnerte ihn an all das, was er niemals sein wollte.
„Wir können unmöglich noch einmal zusammenkommen und das weißt du“, setzte er hinzu.
„Wovor hast du Angst?“
„Angst?“ Jofree wollte schon auflachen, unterdrückte es aber. Ihre Neugier begann ihn zu quälen und er erwiderte nur kurz, dass sie das nichts anginge. Es wäre ohnehin Zeit, zu gehen.
Als er aufstand, fasste sie noch einmal kurz nach seinem Arm. Doch er riß sich mit einem heftigen Ruck los und ging zur Treppe hin. Dort drehte er sich noch einmal um und sah sie mit völlig veränderten Augen an, Augen voller Hass und Verachtung, was ihr nach allem unerklärlich blieb.
„Lauf mir nicht noch mal über den Weg, hörst du? Beim nächsten Mal werde ich dich nicht mehr schonen!“
Dann ging er nach unten und ließ sie völlig verwirrt zurück. Das hatte sie tief getroffen. Im Nu spürte sie die Kälte an sich heraufkriechen und mit ihr auch die Wut und Ernüchterung. Da erwachte ein absurder Trotz in ihr, der sie augenblicklich allen Schmerz vergessen ließ. Zweifellos hielt er sie für eine Hexe und seine Angst resultierte nur aus seinem Unvermögen, ihr zu vertrauen.
Oh nein, das war keine Liebe und alles, was sie in ihm zu sehen glaubte, entsprang nur ihrer Einbildung. Er blieb der berechnende Egoist, dessen emotionale Schwäche allein seinem männlichen Lustverlangen entsprang, niemals aber wirklichen Gefühlen. Und wer weiß, womöglich empfand er noch eine befremdliche Freude dabei. Solche Menschen sind die schlimmsten Tyrannen. Sie lieben nur sich selbst und meinen, allein durch ihr Lustgebaren Liebe zu bezeigen.
Alles in ihrem Kopf geriet durcheinander und sie hätte nicht sagen können, warum sie sich jetzt ausgerechnet jener Frau erinnerte, die seinerzeit auf dem Schindkarren zu schlafen schien, als man sie zum Scheiterhaufen fuhr. Ihr ganzer Körper war von allerlei Farbtönungen gezeichnet, die man ihr infolge der Tortur beigebracht hatte.
Sie war so gequält worden, dass sie weder sitzen noch stehen konnte. Mit leicht geneigtem Kopf lag sie auf der Seite, lächelte ein wenig und drückte auf herausfordernde Weise die Brust heraus. Man hätte sie für eine Dirne halten könne, wäre nicht am Hals ein dunkler Streifen erkennbar gewesen, was wie ein Schattenhalsband wirkte, in Wahrheit aber die Würgemale der Garotte verriet.
Das kam in besonders hartnäckigen Fällen zur Anwendung, wenn man der Delinquentin so lange die Luft nahm, bis sie kurz vor dem Ersticken war, dann aber die Schlinge im letzten Moment wieder löste.
Das hatte sie wohl in den Irrsinn getrieben und ihr jämmerlicher Anblick ließ selbst die hartgesottensten Eiferer verstummten. Aber hier taten sich Abgründe auf, die teuflischer waren als jeder erhobene Vorwurf. Sie entlarven ihre Ankläger selbst als Teufel, wenn sie im Namen Gottes solche Qualen zuließen.
Die gleiche Verlogenheit meinte sie jetzt bei Jofree zu erkennen und sie verfluchte sich für ihre Schwäche, ihm nicht widerstanden zu haben. So verwundert es auch nicht, dass sie in ihrer Raserei eine große dunkle Spinne zerquetschte, die unter dem Fenster in einer Ecke saß, und ihre Reste auf dem Kalk der Wand zerrieb. Danach spuckte sie dreimal darauf, rief einen Fluch aus und wünschte ihn zur Hölle.
Es mutete wie ein eigenartiger Zufall an, dass gerade im selben Moment von unter her Lärm ertönte. Es war ein dunkles Klopfen und Poltern, gefolgt von einem Schrei, wie wenn man miteinander in Streit gerät.
Sofort lief sie die Treppe hinunter, um nachzusehen. Kaum unten, erblickte sie im Dämmerlicht zwei Gestalten in dunklen Umhängen und breiten Schlapphüten, die eine dritte wegführten - zweifellos Jofree. Sie konnte ihn eindeutig an Kleidung und Gestalt erkennen. Dabei war die Art, wie er ihnen folgte, eindeutig. Es geschah nicht freiwillig. Hin und wurde wieder er angestoßen, wie jemand, der sich gegen etwas sträubt und doch längst ahnt, was ihn erwartet.
Derart seines Willens beraubt und diesen Männern hilflos ausgeliefert, erwachte plötzlich eine unbestimmte Angst in ihr, die schlagartig all die vormaligen bösen Gedanken vertrieb. Was, wenn sich alles ganz anders verhielt und er sie am Ende doch nur schützen wollte, wenn ihr Zorn nichts weiter als Folge eines verletzten Ehrgefühls war?
Sie bereute ihren Fluch auf ihn und gab sich alle Schuld. Ohne darüber nachzudenken, begann sie, ihnen zu folgen. Ihr Weg führte sie die Straße entlang, hinauf in Richtung Südturm und hier zu einem kleinen Platz, auf dem ein dunkler Kutschwagen wartete. Sie konnte jetzt genau sehen, wie man ihm plötzlich die Hände über dem Rücken band, dann die Tür aufriss und ihn ziemlich unsanft hineinstieß.
Lydia war außer sich. Auch wenn sie die näheren Zusammenhänge nicht verstand, ahnte sie Schlimmes. Jofree wusste es, die ganze Zeit schon, und wenn er geschwiegen hatte, dann nur, um sie zu schonen, schoss es ihr durch den Kopf.
Doch ihr blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn plötzlich packte sie jemand im Nacken, drückte sie nach unten und riß ihr die Arme auf den Rücken. Zu Tode erschrocken fuhr sie um und blickte in die Fratze eines einäugigen Burschen, dem man die Backen ‚gebrannt‘ hatte. Das war die geläufige Strafe für Falschmünzer, denen man eine glühende Münze in die Wangen drückte und sie so dauerhaft stigmatisierte. Sie hatten einen besonders niederen Stand in der Rangordnung der Verbrecher und waren nicht selten für ein Handgeld sogar zu einem Mord bereit.
Ohne ein Wort zu verlieren, band er ihre Hände mit einem Lederriemen schmerzhaft zusammen. Dann führte er sie ebenfalls in Richtung dieser Kutsche, wo man sie offenbar bereits erwartete.
Doch seltsam – obgleich das alles gewaltsam geschah und nichts Gutes ahnen ließ, verspürte sie keine Angst. Vielmehr blieb sie von einer tiefen, inneren Teilnahmslosigkeit befangen, als wäre sie ein Außenstehender, der die Situation völlig teilnahmslos betrachtet. Dort wurde sie von den anderen beiden in Empfang genommen, die dem Falschmünzer sogleich etwas zusteckten und ihm die Schulter klopften. Dann schoben sie sie ebenfalls mit in den Wagen.
Jofree, der dort zwischen zwei Bewachern saß - zwei Höflingen ihrer Kleidung nach - erstarrte vor Schreck, als er sie erblickte. Als er etwas sagen wollte, schlug ihm einer der Wächter sogleich mit seinen Handschuh über den Mund und forderte ihn zur Schweigsamkeit auf. Er würde schon früh genug Gelegenheit zum Sprechen bekommen.
Dann ratterte die Kutsche los und es dauerte fast eine Stunde, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Wo genau das war, konnte niemand sagen, denn als sie endlich anhielten, war es längst finstere Nacht und während der ganzen Fahrt waren die kleinen Türfenster mit dunklen Jalousien verschlossen.
Eilig führte man sie in ein dunkles Gebäude und verbrachte sie hier sogleich in den Keller. Das war ein düsteres Gewölbe mit flacher Decke und mächtigen Stützpfeilern, an dessen Wänden in regelmäßigen Abständen Fackeln in bronzenen drachenköpfigen Haltern steckten - dem Wappen Dürens. Ebenso waren überall Stander und Wappen zu sehen, was so gar nicht zu einem Gefängnis passen wollte.
Hier wurden sie auch getrennt. Während Joffre nach links in seinen Seitengang geführt wurde, brachte man sie noch weiter nach hinten in einen kleinen mit einer Öllampe beleuchteten, fensterlosen Raum. Die Tür bestand aus massivem Eichenholz und besaß in Kopfhöhe eine von außen zu öffnende Luke. Dennoch wirkte dieses Zimmer nicht unbedingt wie eine Arrestzelle, sondern eher wie eine Zufluchtsstätte.
In der Mitte stand ein Tisch mit zwei Hockern, daneben eine kleine Kommode mit einem runden Spiegel darüber. Ihr gegenüber auf der anderen Seite befand sich eine Liege mit einer hölzernen Truhe am Kopfende. Am Verwunderlichsten aber war eine kleine Blumenschale auf dem Tisch, die geradezu liebevoll hergerichtet schien.
Nachdem die Laterne an der Wand entzündet wurde, ließ man sie allein mit dem Bemerken, sie brauche keine Furcht zu haben, sie sei in Sicherheit - was immer das auch heißen mochte.
Lydia fühlte sich seltsam betäubt. Ob es die Folge der Geschehnisse oder nur eine allgemeine körperliche Schwäche war, hätte sie nicht sagen können. In jedem Fall aber verspürte sie noch immer nicht die geringste Furcht. Im Gegenteil, fast wollte es scheinen, als sei sie tatsächlich in Sicherheit, wovor auch immer.
Lange stand sie inmitten dieser Kammer, ohne etwas zu denken oder zu fühlen, allein damit beschäftigt, in sich zu horchen. Es verging eine geraume Zeit, bis sie endlich von draußen her Schritte vernahm. Dann endlich öffnete sich die Tür und eine Frau trat in Begleitung zweier Höflinge herein.
Lydia ahnte sofort, dass sie keine gewöhnliche Dame war. Ihrem Gebaren und vor allem ihrer ungewöhnlichen Kleidung nach, schien sie die Herrin des Hauses zu sein oder eine sonstige höhergestellte Person.
Sie war von mittlerer Größe, schlank und trug ein langes Kleid aus dunklem Brokat. Von ihrer Schulter fiel eine türkisblaue Schärpe herab, die beim Laufen über den Boden glitt. Ihren Kopf bedeckte eine dunkle Haube und ein dunkler, halbdurchsichtiger Schleier verhüllte ihr Gesicht. Ihre Stimme klang warm und freundlich, als sie sie begrüßte und zum Platz nehmen aufforderte. Zugleich wies sie ihre Begleiter an, sie allein zu lassen.
Kaum war das geschehen, entschuldigte sie sich für diese Art der Begegnung, aber gewisse Umstände ließen ihr keine Wahl. Dann schlich diese Frau um sie herum und betrachtete sie von allen Seiten, indes Lydia wie angewachsen stehenblieb und sich nicht zu rühren wagte.
„Du bist also Lydia, die der Hexerei angeklagte Aufwärterin des Assessors Daniel Titius“, sagte sie und blieb vor der Befragten stehen. „Ich habe schon einiges von dir gehört und weiß, wie übel man dir mitgespielt hat ... Aber was ist das? Was hast du dort auf der Wange?“ Sie wies auf ihr Mal.
„Das weiß ich nicht. Das habe ich schon seit meiner Geburt.“
„Seit deiner Geburt? In der heutigen Zeit kann so etwas gefährlich sein. Die Leute sind dumm und voreingenommen und sehen oft nur Dinge, die sie sehen wollen. Sage mir, Lydia, stimmt es, was man sagt? Hast du wirklich dein Kind getötet?“
„Ja.“
„Dann sind die Vorwürfe also wahr. Was denkst du? Warum hat dich der Magister Titius zu sich genommen?“
„Das weiß ich nicht. Vielleicht glaubt er an meine Unschuld?“
„Bist du unschuldig?“
Lydia schwieg jetzt lange, aber die Art, wie diese Frau mit ihr redete, beunruhigten sie. „Nein, Herrin.“
„Nenn‘ mich Beatrice und betrachte mich als deine Freundin“, erwiderte die Frau, kam aber sogleich wieder zu ihrer Frage zurück. „Du gibst deine Schuld also zu?“
„Ja.“
„Das ist ungewöhnlich. Hast du keine Angst vor den Folgen? Man wird dich erneut der Hexerei anklagen.“
„Ich weiß.“
„Also bist du eine Hexe?“
„Vielleicht.“
„Was heißt vielleicht? Wenn du eine Hexe bist, musst du mit dem Teufel gebuhlt haben.“
„Weiß ich denn, wer der Teufel ist?“, erwiderte Lydia daraufhin, erschrak jedoch über die Respektlosigkeit ihrer Antwort, die sie so gar nicht hatte geben wollen.
„Da hast du Recht. Der Teufel kann viele Gestalten annehmen. Was glaubst du, ist es Jofree oder der Assessor?“
„Nicht der Assessor“, erwiderte sie spontan.
„Warum nicht?“ Die Frau schien sichtlich überrascht.
„Er ist ein guter Mensch.“
„Aber er hat dich geschlagen.“
„Dazu hatte er das Recht.“
„Du kannst mir vertrauen. Ich will dir nichts Böses“, sagte die Frau und strich ihr übers Haar. Doch Lydia zog den Kopf zurück. Ihr behagte das nicht. Sie fühlte, dass von der anderen eine Gefahr ausging.
„Ich hatte es verdient. Er hat richtig gehandelt“, erwiderte sie.
„Du traust mir nicht. Ich kann es spüren, aber wie solltest du auch, wenn man dich hier gefangen hält ... Sag mir nur eines - möchtest du noch einmal auf die Bank?“
Lydia sah sie erschrocken an. „Das ist nicht nötig!. Ich werde alles sagen, was Ihr hören wollt!“
„Ja, natürlich wirst du das, weil du Angst vor der Marter hast! Aber du sollst mir nicht zum Munde reden, sondern die Wahrheit sagen! Ist der Assessor Titius der Teufel, ja oder nein?“
„Nein, aber ich bin ihm schon begegnet“, fuhr sie fort. „Als ich noch ganz klein war, kam er jeden Abend zu mir ins Bett. Er streichelte und küsste mich, roch nach Bier, war unrasiert und schmutzig, und er tat mir weh. Manchmal schlug er mich auch, selbst wenn es gar keinen Grund dafür gab. Er schlug mich, weil es ihm Spaß machte, und da ich mich nicht wehren konnte, krümmte ich mich jedes Mal zusammen, in der Hoffnung, so die Schmerzen besser zu ertragen. Daher bin ich Schläge gewohnt und kann sie ertragen.“
„Ich will dir nichts zuleide tun, Lydia! Ich möchte nur, dass du verstehst, warum du hier bist. Wenn ich dir nun sage, dass du nur leben kannst, wenn Jofree stirbt - wirst du mir dabei helfen?“
Lydia erschrak. Schlagartig zog sich ihr Herz zusammen, aber diese Vorstellung war ihr unerträglich. „Ihr wollt, dass ich …“
„Ja“, fiel sie ihr sogleich ins Wort. „Du sollst mir helfen, ihn zu überführen.“
„Was hat er Euch getan, dass Ihr ihn anklagen wollt?“
„Die Frage ist wohl eher, was hat er dir getan?“
„Oh Herrin, verlangt so etwas nicht vor mir. So etwas kann ich nicht.“
„Du bist töricht und begreifst nicht, worum es geht!“ Die Frau wirkte jetzt sichtlich gereizt. „Jofree ist ein verdorbener und schlechter Mensch. Um ihn ist es nicht schade. Darum muss er sterben, allerdings öffentlich. Es gibt hier einige Dinge, die du nicht verstehst, Lydia. Aber hin und wieder verlangt die Gerechtigkeit auch Opfer.“
„Was soll das für eine Gerechtigkeit sein, die so etwas fordert?“
„Er hat versucht, dich umzubringen. Ist das nicht genug?“
„Aber er hat es nicht getan!“
„Weil du ihn verhext hast!“ Jetzt straffte sich ihre Haltung und sie trat näher an sie heran. „Versteh doch, mein Kind. Es liegt allein an dir, wer von Euch brennen wird. Wenn du ihn jetzt schützt, erwarte nicht das Gleiche von ihm. Er wird dich gnadenlos verraten, wenn er damit seine Haut retten kann! Wirst du es also tun?“
Lydia brachte jedoch kein Wort mehr heraus. Zu sehr lähmte sie der Schrecken.
„Warum seid Ihr so grausam?“
„Weil du mich dazu zwingst! Ich gebe dir Zeit bis morgen früh. Dann möchte ich eine Antwort! Und überlege sie dir gut.“
Mit diesen Worten klopfte sie an die Tür.
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