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CORONA Es gibt keinen pandemischen Imperativ
ОглавлениеWie kommen wir da wieder raus? Im Frühsommer 2021 scheint mir diese Frage die dringendste.
Damit meine ich weniger das Infektionsgeschehen. Die Inzidenzen befinden sich derzeit im steilen Sinkflug, der R-Wert, der uns allen inzwischen so vertraut ist, liegt stabil unter 1 und die Impfquote steigt seit ein paar Wochen endlich nennenswert an. Sollte uns nicht wieder eine Mutante in die Quere kommen – Delta wird derzeit heiß gehandelt –, könnte wirklich die Beherrschbarkeit der Pandemie nahen.
Aber auch das Ende unserer „neuen Normalität“, an die wir uns während der Pandemie so erschreckend schnell gewohnt haben? Werden wir in wenigen Monaten wirklich wieder unbefangen Menschen zur Begrüßung umarmen, Schüler auf Klassenfahrt schicken und Freunde (aus mehreren Haushalten!) zum Abendessen einladen?
Ich fürchte: Erst mal nicht. Die Pandemie, mehr noch, unser Umgang damit, hat unser Denken und Fühlen, unsere Einschätzungen und Wertungen verändert. Viele von uns haben eine unbarmherzige Konsequenz im Umgang auch mit sehr kleinen Risiken entwickelt, die alle anderen Nebenfolgen dieser Handlung ausblendet. Wir haben uns an eine prinzipielle Umkehr der Begründungspflicht gewöhnt, wer „normal“ leben will, muss beweisen, dass er nicht ansteckend ist, wer Freiheiten wieder etablieren will, muss beweisen, dass damit kein Risiko verbunden ist. Wir haben eine Verwischung der demokratietheoretisch fundamentalen Zuständigkeiten von Wissenschaft und Politik zugelassen, Teile der Wissenschaft verkauften Werturteile als Tatsachenaussagen und viele in der Politik nahmen diesen angeblichen „pandemischen Imperativ“ dankbar an. Wir haben uns an Grundrechtseinschränkungen auf Verdacht gewöhnt, der legitime Zweck reicht aus, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit sind irgendwie 2019 verloren gegangen.
Unsere Maßstäbe sind verrutscht, dies empfinde ich spätestens seit Mai 2020 so. Und ich habe die Sorge, dass dies Folgen lange über die Pandemie hinaus haben wird. Denn Instrumente, deren Einsatz bisher in freiheitlichen Rechtsstaaten kaum vorstellbar waren, liegen jetzt nicht nur auf dem Tisch, sondern kamen zum Einsatz. Wir wissen, dass sie in einem gewissen Maß funktionieren und vor unseren Verfassungsgerichten weitgehend bestehen. Und dass eine stabile Mehrheit der Deutschen ihre Anwendung in einer krisenhaften Lage befürwortet, viele sogar ein noch härteres Vorgehen fordern. Dieses neue Bewusstsein wird, fürchte ich, so schnell nicht wieder weggehen.
Umso bemerkenswerter, dass über die entscheidende Frage dieser Pandemie kaum gesprochen wird: Haben wir, alles zusammengenommen, mit unseren Maßnahmen zur Bekämpfung wirklich insgesamt mehr Schaden verhindert als verursacht?
Ich halte es für denkbar, dass der Schaden überwiegt, vor allem bei einer längerfristigen Betrachtung. Und eine Betrachtung der weltweiten Praxis der Pandemiebekämpfung, die ja einem gigantischen Versuchsaufbau entspricht, das gleiche Virus mit unterschiedlichen Methoden zu bekämpfen, verstärkt meine grundlegenden Zweifel an der Verhältnismäßigkeit unseres deutschen Weges.
Als medizinischer Laie, der lediglich über statistisches Fachwissen verfügt, habe ich den Eindruck, dass überall der Löwenanteil der Dämpfung des Infektionsgeschehens auf die Anwendung der AHA-Regeln zurückgeht, auf Abstand, Hygiene und das Tragen von Masken. Hinzu kommt wohl der Verzicht auf Großveranstaltungen, wobei mir hier nur die in Innenräumen insgesamt relevant zu sein scheinen. Allein diese Maßnahmen, die die Menschen weltweit, ob staatlich vorgeschrieben oder nicht, inzwischen weitgehend internalisiert und habitualisiert haben dürften, scheinen mir gegen eine wirklich unkontrollierte Durchseuchung entscheidend gewirkt zu haben.
In den darüber hinaus geltenden Maßnahmen gingen die Länder uneinheitliche Wege: Manche schlossen den Einzelhandel, manche nicht, Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren wurden in sehr unterschiedlichem Maß verhängt und auch beim umstrittensten Punkt, den Schulschließungen, unterschied sich das Vorgehen der Länder Europas mit fortschreitender Pandemie immer stärker. Spanien und die Schweiz beispielsweise ließen die Schulen in der zweiten und dritten Welle komplett offen, in Deutschland waren sie insbesondere für die Mittelstufe viele Monate lang geschlossen. Wenn ich mir diese Maßnahmen anschaue, in denen sich die Länder weltweit unterscheiden, kann ich beim besten Willen kaum einen systematischen Zusammenhang mit Erfolgen in der Pandemiebekämpfung erkennen. Ihr Anteil an der Dämpfung des Infektionsgeschehens scheint mir bestenfalls ein geringer zu sein. Aber natürlich sind sie es, die je nach Qualität und Quantität die verheerenden Schäden psychischer, gesundheitlicher, sozialer und ökonomischer Art angerichtet haben.
Das angemessene Alternativszenario, mit dem wir unseren deutschen Weg harter und lang anhaltender Maßnahmen vergleichen sollten, ist daher keines, in dem das Virus einfach völlig ungebremst durchläuft, wie es von Anhängern eines strikten Kurses immer wieder drohend an die Wand gemalt wird. Ebenso wenig macht es Sinn, unseren Weg mit einer Welt ganz ohne Corona zu kontrastieren, wie es von vielen Maßnahmenkritikern immer wieder versucht wird. Sondern die Frage ist, wie unser deutsches Maßnahmenpaket abschneidet im Vergleich mit einem Szenario, in dem die AHA-Maßnahmen konsequent gelten und auf Großveranstaltungen verzichtet wird, Einzelhandel, Gastronomie und Schulen aber offen sind und keine strikten Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen gelten.
An dieser Stelle beginnt die Abwägung – und die Wertung. Relativ leicht ist es dabei noch, Kranke gegen Kranke, Tote gegen Tote abzuwägen. Ein Mensch, der an Covid-19 stirbt, wiegt genauso schwer wie einer, der an einem Herzinfarkt stirbt, weil er sich wegen des Lockdowns nicht in die Klinik getraut hat, oder wie einer, der sich umbringt, weil er vor den Scherben seiner Existenz steht. Und eine lebenslange gesundheitliche Folge aufgrund einer schweren Corona-Infektion muss ähnlich ernsthaft betrachtet werden wie diagnostizierbare Langzeit-Beeinträchtigungen eines Jugendlichen, der nach über einem Jahr, in dem ihm sämtliche Sportangebote in Schule und Freizeit verwehrt wurden, nie wieder zum Sport zurückfindet und daher vielleicht lebenslang mit Übergewicht und all dessen Konsequenzen zu kämpfen hat.
Aber was ist mit den anderen schwerwiegenden Folgen? Was zählt der Verlust von bis zu neun Monaten gemeinschaftlicher Schulzeit für Millionen von Kindern und Jugendlichen? Was zählt der sprunghafte Anstieg schwerer psychischer Erkrankungen insbesondere bei Jugendlichen? Was zählen ökonomische Wohlstands- und Existenzverluste, die Geschäfte und Restaurants, die nie wieder aufmachen? Was zählt der Verlust an kulturellem und sozialem Leben, der Männerchor, das Stadtteilfest, das Angebot zum Kinderturnen, die nach über einem Jahr Zwangspause oft schlicht nicht mehr existieren? Was zählen die Depressiven, die Abhängigen, die Gewaltopfer, deren Leid im häuslichen Elend meist noch schlimmer geworden sein dürfte?
Jede Antwort darauf ist subjektiv, hängt unmittelbar von individuellen Wertüberzeugungen ab. Ich persönlich neige dazu, diese gesamtgesellschaftlichen Folgen als langfristig schwerwiegender zu bewerten – zumal ich der Überzeugung bin, dass sich wesentliche Infektionsgefahren auch mit milderen Mitteln wie Luftreinigungsgeräten, dem früheren und gezielteren Einsatz von Schnelltests oder einer nicht durch einen geradezu paranoiden Datenschutz kastrierten App hätte wirkungsvoll eindämmen lassen. Aber selbstverständlich kann man hier begründet auch die gegenteilige Auffassung vertreten.
Was mich aber nachhaltig irritiert hat, war der in Politik und Wissenschaft verbreitete Versuch, zu negieren, dass wir es hier überhaupt mit notwendigen Abwägungen zu tun haben. „Das darf man nicht gegeneinander aufrechnen“, lautet die wohlfeile Variante dieses Arguments, das gnadenlos ignoriert, dass unser ganzes Leben aus Abwägungen dieser Art besteht, ohne die wir gar nicht handlungsfähig wären.
„Das Virus diskutiert nicht“ oder „Hört auf die Wissenschaft“, lautete der autoritärer daherkommende, aber gleichwohl durchschaubare Versuch, aus einer Tatsachenaussage ein Werturteil abzuleiten. Auch Sandra Cieseks Tweet aus dem April 2021 „Wenn wir als Ärzte klar gegen Evidenz handeln, hat das massive Folgen. Wenn dies Politiker tun, ist das egal?“, der über 22 000-mal geliked wurde, gehört in diese Kategorie. Für politische Werturteile gibt es keine Evidenz. Gäbe es sie, könnten wir uns den ganzen Aufwand unserer Demokratie sparen. Denn dann könnte man ja genauso gut mit wissenschaftlichen Methoden berechnen, was zu tun ist. Anhänger der Idee von „Expertenregierungen“, Verächter des politischen Streits (man solle doch stattdessen einfach mal das „Vernünftige“ tun) und die guten alten „Parteienkritiker“ tendieren zwar immer wieder in diese Richtung, kommen aber nie um das alte Problem herum: Wer legt denn dann fest, was die angebliche Volonté générale ist, wenn nicht demokratisch legitimierte Volksvertreter?
Aus Tatsachenaussagen lassen sich keine Werturteile ableiten. Der naturalistische Schluss bleibt ein Fehlschluss, auch in der Pandemie. Man kann von jeder einzelnen wissenschaftlichen Aussage aus über 100 Folgen Podcast mit Christian Drosten und Sandra Ciesek überzeugt sein – und dennoch auf der Ebene der Maßnahmen mit vielen guten Gründen auch einen anderen als den in Deutschland gewählten Weg für human, vernünftig und erfolgversprechend halten.
Denn zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen gibt es einen kategorialen Unterschied: Max Webers Schriften zum Postulat der Werturteilsfreiheit der Wissenschaft ist meines Erachtens im Kern bis heute wenig hinzuzufügen. Tatsachenaussagen sind empirische Aussagen über das Seiende. Sie sind oft umstritten, aber prinzipiell wissenschaftlicher Analyse zugänglich, sie sind unter anderem falsifizierbar. Werturteile hingegen sind normative Urteile über das Sein-Sollende. Sie rekurrieren auf subjektive Wertüberzeugungen über das „Gute“, objektive Geltung können sie deshalb prinzipiell nicht für sich beanspruchen, falsifizieren lassen sie sich ebenso wenig. Weber sprach in diesem Zusammenhang davon, dass jeder selbst wissen müsse, was „für ihn der Gott und was für ihn der Teufel“ ist. Und immer, wenn ich mit meiner besten Freundin, die seit unserer gemeinsamen Grundschulzeit den Grünen zuneigt, über Politik diskutiere und wir irgendwann an dem Punkt ankommen, an dem sie sagt: „Aber die Gleichheit …!“ und ich entgegne: „Aber die Freiheit …!“ und uns nur noch bleibt, darauf gemeinsam einen schweren Rotwein zu trinken – dann weiß ich, was Max Weber damit gemeint hat.
„Children may be as infectious as adults“, diese inzwischen berühmte Conclusio aus Christian Drostens Pre-Print einer Studie zur Viruslast bei Kindern, das im April 2020 am Tag vor den entscheidenden Verhandlungen der Kanzlerin und der Ministerpräsidenten zu Schulöffnungen in Deutschland erschien, ist eine Tatsachenaussage. Der berühmteste deutsche Virologe betreibt damit das, was seine Aufgabe ist: Wissenschaft.
Aber nur einen Satz weiter überschreitet er die Grenze: „Based on these results, we have to caution against an unlimited re-opening of schools and kindergartens in the present situation.“ Dies ist ein Werturteil. Eines, das sich zwar auf seriöse wissenschaftliche Forschung berufen kann („based on these results“), das aber dennoch so tut, als folge aus diesen Erkenntnissen notwendig („we have to caution against“) die Aufforderung, Schulen und Kindergärten vorerst nicht uneingeschränkt zu öffnen. Diese politische Forderung kann man natürlich vertreten, etwa unter Verweis auf das herausragende Ziel des Gesundheitsschutzes. Man kann aber selbstverständlich auch gegenteilig argumentieren, etwa indem man die Wertüberzeugung vertritt, dass man Kindern nicht unverhältnismäßig starke Lasten fremdnützig auferlegen dürfe oder dass der gesamtgesellschaftliche Schaden von Schulschließungen überwiege. Oder wie es der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit ausdrückte: „Was ich unter virologischem Aspekt gutheiße, kann unter sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen Aspekten desaströse Auswirkungen haben.“
Christian Drosten hat sein folgenschweres Werturteil nicht kenntlich gemacht, er hat nicht darauf hingewiesen, „wo der denkende Forscher aufhört und der wollende Mensch anfängt“, wie Max Weber es in seiner Schrift zur „Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ verlangt. Dabei wäre es problemlos möglich gewesen, auf Basis der vorliegenden Erkenntnisse eine einfache Zweck-Mittel-Relation zu formulieren, etwa: „Wenn die Schulen und Kindergärten uneingeschränkt geöffnet werden sollen, muss beachtet werden, dass Kinder so infektiös sein könnten wie Erwachsene.“ Damit wäre das Forscherteam auf dem Boden von Tatsachenaussagen und damit der Wissenschaft geblieben und Deutschland wären vielleicht viele weitere Wochen Schulschließungen erspart geblieben.
So tagten am nächsten Tag die Ministerpräsidenten und die Bundeskanzlerin und schoben die Öffnungen der Schulen und Kindergärten auf die lange Bank. Aus der drastischen, aber kurzfristigen Intervention zu Beginn der Pandemie, als die die Schulschließungen anfangs verkauft wurden, wurde spätestens hier eine monatelange Dauermaßnahme.
Christian Drosten will seine Rolle in diesem Drama nicht wahrhaben. In seinem Podcast verwies er auf mediale Darstellungen dieser entscheidenden Tage: „Da stand am Ende sogar drin, dass die Regierung diese Studie genommen hätte, um ihre Entscheidungen zu treffen. Das ist blanker Unsinn. Also das ist auf keinen Fall so. So läuft das einfach nicht.“
Ich fürchte, dass Christian Drosten hier irrt. So läuft das durchaus.
Denn nicht nur in Teilen der Wissenschaft, mindestens ebenso sehr in der Politik gab es seit Beginn der Krise die Neigung, die gewählten Maßnahmen als pandemische Imperative zu interpretieren. Nicht unbedingt in der engen und wenig anschlussfähigen Auslegung, die Drosten im November 2020 in seiner Schiller-Rede vorschlug. Sondern in Form einer sich rational und bescheiden gebenden Beschränkung der eigenen Entscheidungsmöglichkeiten, die die beschlossenen Maßnahmen als objektive Erfordernisse des pandemischen Geschehens deutet, statt als selbst gewählten Weg. Die demokratietheoretisch wichtige Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft und Politik wurde dadurch verwischt, der originäre Anteil politischer Entscheidungen an den fundamentalsten Freiheitseinschränkungen in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg blieb vor allem in der ersten Welle in der öffentlichen Debatte merkwürdig blass. Manche politischen Akteure gerierten sich fast wie eine Art Notar, der diese pandemischen Imperative nur noch feststellt, dann aber umso härter durchsetzt. Christian Drostens Veröffentlichung mitsamt ihrer politischen Forderung, die nun das Gütesiegel wissenschaftlicher Objektivität trug, kam unter diesen Umständen gerade recht.
Ähnlich unsauber war die Rollenverteilung zwischen Wissenschaft und Politik beim Beschluss des zweiten harten Lockdowns kurz vor Weihnachten 2020. Nach einem als gescheitert erachteten „Wellenbrecherlockdown“ im November sollte das Land nun über die Weihnachtsfeiertage weitgehend heruntergefahren werden. Wie stets lag ein besonderer Fokus auf den Schulen, debattiert wurde, die Weihnachtsferien früher beginnen zu lassen, und Bundeskanzlerin Angela Merkel flehte mit bewegter Stimme im Bundestag, „für diese drei Tage noch irgendeine Lösung zu finden“. Die Lösung fand sich und dauerte bis Mai. Bis dahin waren die Schulen zumindest für die meisten Mittelstufenschüler in Deutschland komplett dicht.
Berufen konnte sich Angela Merkel auf „die“ Wissenschaft, die einen solchen harten Lockdown fordere. Denn das hatte die Nationale Akademie der Wissenschaften, die Leopoldina, am Tag zuvor in einer Ad-hoc-Stellungnahme getan: Es sei „aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig, die weiterhin deutlich zu hohe Anzahl von Neuinfektionen durch einen harten Lockdown schnell und drastisch zu verringern“.
Eine bemerkenswert apodiktische Aussage, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass wir über die Kosten-Nutzen-Ratio von Lockdowns bis heute immer noch eher wenig wissen. Während der Nutzen in diesem Zusammenhang in der Zahl der durch einen Lockdown verhinderten Infektionen besteht und damit wissenschaftlicher Analyse zumindest prinzipiell zugänglich ist, ist der dadurch entstandene Schaden eher sozialer, ökonomischer oder psychologischer Art. Hier können die Sozialwissenschaften, die Ökonomie und die Psychologie zwar ebenfalls Aufschluss geben. Aber die Abwägung der Schwere dieser Folgen ist unmöglich ohne subjektive Wertüberzeugungen.
Dafür muss man aber vor allem erst einmal anerkennen, dass es diese Folgen gibt, und sie prinzipiell genauso in die Abwägung mit einbeziehen wie die medizinischen Aspekte. Wer dies bereits Ende März 2020, also auf dem Höhepunkt des ersten Lockdowns forderte, war Armin Laschet. Das derzeitige Vorgehen sei selbstverständlich nicht alternativlos, schrieb er in der WELT. „Wir müssen alle Konsequenzen unserer Maßnahmen bedenken: Welche sozialen, ökonomischen, psychologischen und letztlich auch gesundheitlichen Kollateralschäden hätte eine lang andauernde Politik der sozialen Distanzierung und des wirtschaftlichen Shut-downs? Wären nicht gerade die Kinder von den häuslichen und familiären Konflikten in ganz besonderer Weise betroffen?“ Daher bedürfe es einer öffentlichen Debatte über die Maßstäbe einer Öffnung, die Erkenntnisse aller relevanten Wissenschaftsdisziplinen mit einbeziehe, so Laschets Postulat. Die „schwierigen ethischen Abwägungsfragen, die sich daraus ergeben“, blieben aber „in der Verantwortung der Politik“.
Armin Laschet hatte es mit diesem klugen Kurs, den er die gesamte Pandemie über durchhielt und der sich beispielsweise auch in der Tatsache widerspiegelt, dass das Corona-Dashboard des Landes NRW konsequent auch soziale Kennziffern, wie etwa die Arbeitslosenquote oder den Anteil der Schüler im Präsenzunterricht, ausweist, oft nicht leicht. Ein Bündnis aus Vertretern meines eigenen politischen Lagers, die gerade in der Krise einen hart durchgreifenden Staat favorisieren, und den zumeist linken Anhängern der „No Covid-Bewegung“, die ein attraktives Ziel mit nach meiner Überzeugung teils totalitären Instrumenten durchsetzen wollten, erkor ihn zum populären Feindbild – und mit ihm etwa den Virologen Hendrik Streeck, zu dem man auf Twitter unter dem Hashtag #SterbenmitStreeck sogar Bezüge zu Auschwitz herstellte.
Ähnlich unterbelichtet wie die sozialen Folgen der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung waren die seit dem Zweiten Weltkrieg umfassendsten Einschränkungen von Grundrechten. Wie schwer wiegen sie, in Abwägung mit den Aspekten des Gesundheitsschutzes, dem damit hoffentlich gedient war? Dies kann auch kein Jurist abschließend beantworten, am ehesten liefert hier noch die Rechtsphilosophie Anhaltspunkte. Der liberale Wisssenschaftsphilosoph Michael Esfeld, Mitglied der Leopoldina seit 2010, traf den wunden Punkt, als er den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften in einem Brief zur Zurücknahme der 7. Ad-hoc-Stellungnahme für einen harten Lockdown kurz vor Weihnachten 2020 aufforderte:
„Ethisch gibt es insbesondere in der auf Immanuel Kant zurückgehenden Tradition Gründe, grundlegende Freiheitsrechte und die Würde des Menschen auch in der gegenwärtigen Situation für unantastbar zu halten. Zur Würde des Menschen gehört dabei insbesondere die Freiheit, selbst entscheiden zu dürfen, was die jeweilige Person als ein für sie würdiges Leben erachtet und welche Risiken sie für diesen Lebensinhalt einzugehen bereit ist …“
„Ethisch gibt es (…) Gründe“, schreibt Michael Esfeld. Mit anderen Worten: Man kann das so sehen, muss es aber nicht. Was zählt, ist die Kraft des Arguments und die wertgeleitete Abwägung derer, die vom Souverän zu solchen Entscheidungen legitimiert worden sind. Sie sind es, die sich dafür auch vor den Bürgern verantworten müssen. Eine Wissenschaft, die versucht, bestimmte Ergebnisse dieser Abwägung als „aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig“ durchzudrücken, schadet diesem für unseren Staat fundamentalen Prozess politischer Legitimation genauso wie eine Politik, die sich dankbar solcher angeblicher pandemischer Imperative bedient, um den originär politischen Anteil möglichst blass erscheinen zu lassen.
Ich fürchte, dass dies auf Dauer Folgen für unsere Gesellschaft haben wird. Uns droht ein Long-Covid politischer und gesellschaftlicher Art. Dass Bundesbildungsministerin Karliczek kurz vor den Sommerferien 2021 behauptete, dass angeblich niemand garantieren könne, dass die Schulen im nächsten Schuljahr offen blieben, „weil wir nicht wissen, was diese Mutationen, die auf der Welt unterwegs sind, uns da noch zumuten“, lässt nichts Gutes erahnen.
Aber auch abseits der Pandemie fürchte ich, dass viele von uns sich daran gewöhnt haben, bestimmte Themen besonderer Tragweite als der üblichen wertgeleiteten politischen Abwägung entzogen zu betrachten und uns deshalb künftig leichter mit einem schlichten „Hört auf die Wissenschaft“ zu begnügen. Aber „die Wissenschaft“ wird es auch in Zukunft nicht geben, meistens bereits nicht auf der Ebene der Tatsachenaussagen, niemals aber auf der der Werturteile. Künftig werden diejenigen in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft daher einen immensen Machtzuwachs erringen, denen es gelingt, ihre Deutung dessen, was „die Wissenschaft“ angeblich fordert, politisch durchzusetzen. Sind sie damit erfolgreich, sind unsere Gesellschaft und offenbar auch unsere Justiz bereit, sehr weit zu gehen oder zumindest mitzulaufen. Der Werkzeugkasten hierfür, dessen Gebrauch sich vor zwei Jahren fast niemand in unserem Land hätte vorstellen können, steht jetzt geöffnet auf dem Tisch. Bei der Bundestagswahl geht es daher auch um unsere Freiheit, weiter abwägen zu dürfen – und uns keine Imperative welcher Art auch immer aufzwingen zu lassen.