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Kapitel 1

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Die kaum sichtbaren Härchen richteten sich an ihren Unterarmen auf, als sie versuchte, ihre Erregung im Zaum zu halten. Ein kalter Schauer überlief sie, während tief in ihr das Feuer der Begeisterung aufflammte. Sie ließ die Hand in ihren Schritt gleiten und gleich darauf entwich ihren intensiv geschminkten Lippen ein lustvolles Stöhnen. Dann blätterte sie eine Seite weiter.

Es war kein typisches One-Hand-Read, dieses Buch. Es war nicht einmal ein typisches, soll heißen, gedrucktes Buch. Und genau genommen dürfte sie es nicht einmal lesen, doch bis Joe nach Hause kam, würde sie ...

"Ich hoffe die SM-Praktiken meiner Großmutter langweilen dich nicht", riss eine angenehme Frauenstimme sie aus ihren Gedanken.

"Joe, ich dachte ..." Sandra war so verdutzt, dass sie ganz darauf vergaß, die Hand von ihrer Scham zu nehmen.

Joe drehte den Schreibtischsessel, in dem Sandra saß, zu sich.

"Wie ich sehe, hat meine Oma wohl gerade wieder eine neue Leserin gewonnen. Eine, die so begeistert ist, dass sie es kaum noch aushielt, auf mich zu warten."

Unendlich langsam, als wäre die Bewegung für ihr Gegenüber unsichtbar, zog Sandra ihre Hand zurück. Joe packte sie am Gelenk und steckte Mittel- und Zeigefinger in den Mund.

"Drei Hauben."

"Was?"

"Du schmeckst so gut, Sandra. Drei Hauben wären nicht zuviel."

Sandras Teint färbte sich so dunkel wie das Rot ihrer Lippen. Gleich darauf grinste sie verlegen.

"Hab' ich mir's gedacht, dass dich das Geschreibsel von Großmutter Johanna antörnt. Aber, es versteht sich natürlich von selbst, dass ich dich bestrafen muss."

Sandra ließ ihren Kopf hängen und nickte stumm.

"Und wofür werde ich dich bestrafen?" Joes Ton klang scharf. "Antworte!"

"Weil ich ein unanständiges Mädchen war und mit meinen Fingern ..."

Joe lachte laut auf. "Das hättest du wohl gern."

"Warum dann?"

"Weil du das Buch ohne Erlaubnis genommen hast."

"Aber, es lag doch breit auf deinem Nachtkastl."

Joe zog die Augenbrauen hoch, als hätte sie nicht richtig verstanden. "Hör ich da einen Widerspruch?"

Sandra sah sie groß an.

"Bei Dominanz und Unterwerfung gibt es keine demokratischen Entscheidungen."

Sandra erinnerte sich. Das waren ihre eigenen Worte gewesen, als sie Joe damals ... Aber das schien ihr schon so lange her.

"Jawohl, Herrin! Ich meine ... natürlich nein, Herrin."

"Braves Mädchen", sagte Joe und strich mit ihren schlanken Fingern durch Sandras Haar.

Diese schlug die Augen nieder. Der dezente Lidschatten gab ihrem mädchenhaften Gesicht etwas Erwachsenes.

"Großzügig, wie ich nun einmal bin ..."

Sandra dachte das Aufblitzen eines verschmitzten Lächelns in Joes Gesicht gesehen zu haben.

"... überlasse ich dir die Wahl der Bestrafung."

Sandra blinzelte durch die tiefschwarz getuschten Wimpern. Eine Kribbeln lief wie ein Heer von Ameisen über ihre Haut.

"Bis morgen Abend einundzwanzig Uhr wirst du mir mindestens zwei Vorschläge unterbreiten.- Noch Fragen?"

"Darf ich jetzt endlich weiterlesen?, Herrin."

Joe lachte. "Du bist wirklich ein hoffnungsloser Fall, meine Große."

*

Joe fühlte eine Ruhe und Ausgeglichenheit, als sie hinter ihrem Schreibtisch in der Ordination saß, die sie früher nie verspürt hatte. Sie rekelte sich in ihrem ledergepolsterten Sessel und besah sich ihre Beine, die sie zwecks Entspannung auf dem Tisch hochgelagert hatte, als ihr nächster Patient ins Zimmer trat.

Joe war so verdutzt, dass sie kein Wort herausbrachte.

"Guten Tag, Hudl", stellte er sich vor.

"Guten Tag", kam es von der Ärztin wie in Trance. Langsam rollte sie mit dem Sessel zurück und ließ ihre Beine, wie sie es als kleines Mädchen gelernt hatte, sittsam unter dem Tisch verschwinden.

"Hab' ich Sie schon aufgerufen?" Es war eine Mischung aus Vorwurf und Frage.

"Ihre Assistentin hat mich hereingeschickt. Sie sagte, Sie wären schon so weit." Helmut Hudl verzog sein Gesicht, als wollte er fragen, ob die Antwort als Rechtfertigung genüge.

"Soso, meine Assistentin."

"Doch-doch. Übrigens eine ausgesprochen hübsche Person ihre Vorzimmerdame, mit ihren roten Locken und den hochhackigen Stiefeln. Wie alt ist sie eigentlich? Mitte zwanzig?"

Joe war verwirrt. "Frau Schober, meine rechte Hand, ist korpulent, Ende vierzig und trägt wegen ihrer Spreiz-Senk-Füße stets Birkenstock Hausschuhe während der Arbeitszeit."

"Oh, dann hat man mich offensichtlich ..."

"Ja, offensichtlich hat man das, Herr Hudl." Joe straffte ihren Rücken und war nun im Sitzen beinahe so groß wie ihr Gegenüber. "Was kann ich für Sie tun?" Dabei strahlte ihm ihr professionelles Lächeln entgegen.

Sein gerade noch so sympathisches Gesicht verzerrte sich, seine Wangen leuchteten als hätte er Rouge aufgelegt. Er rutschte auf dem Besuchersessel vor und zurück, schlug ein Bein über das andere. "Wie soll ich sagen ..." Fahrig strich er über seine Jeans, als entferne er eine Fussel. "Die Sache ist etwas delikat."

Fragend hob Joe die Augenbrauen. "Da können Sie ja von Glück reden, dass Sie zu mir gekommen sind. Ich bin nämlich Spezialistin für delikate Angelegenheiten", schmunzelte sie. "Sie können mir alles anvertrauen."

Er holte tief Luft. "Ich habe vor einer Woche ein nettes Mädchen kennengelernt ... neunzehn, acht Jahre jünger als ich."

Joe hatte ihre Hände vor der Brust gefaltet und versuchte ihren Patienten durch zustimmendes Nicken zum Weiterreden zu animieren.

"Wir hatten etwas getrunken. Nicht viel. Zwei, drei Aperol-Spritzer vielleicht, ein paar Glas Weißwein, zum Abschluss noch ein paar Wodka - doppelte."

"Wollen Sie mir ein Drehbuch verkaufen?", unterbrach ihn Joe unwirsch.

"Bitte?"

"Kommen Sie auf den Punkt."

"Dann fuhren wir zu mir - mit den Öffis. Wir küssten uns. Dann, ich weiß nicht mehr genau, hatte sie mir plötzlich meine Hose runtergezogen, drängte mich zur Couch und verpasste mir ..." Hudls Gesicht leuchtete mittlerweile dunkelrot. "... einen Blowjob. Ihre Lippen waren so zärtlich, ihre Zunge so ..."

Und nun erwarten Sie das gleiche von mir, lag Joe schon auf der Zunge. Doch sie entgegnete nur: "Herzlichen Glückwunsch. Doch warum sind Sie eigentlich hier?"

"Nun ... ich kenne sie noch nicht lange, weiß nichts über sie ..."

"Herr Hudl, bitte. Draußen warten noch andere Patienten."

Er riss die Augen auf. "Könnte ich mir dabei Aids eingefangen haben?"

Dämliche Frage, dachte Joe. Aids durch Blowjob? Was sollte der Schwachsinn! Sie legte die Stirn in Falten, was zwar nicht immer, doch in diesem Fall ein sicheres Indiz dafür war, dass sie ernsthaft nachdachte. Vielleicht war die Frage gar nicht so dämlich. "Hat sie Sie gebissen?"

"Natürlich nicht." Er grinste. "Das hätte ich gemerkt."

"In ihrem Zustand?"

"Bitte?"

"Hatte die Frau Verletzungen im Mund?"

"Wie?"

"Oder Zahnfleischbluten? Eine offene Wunde?, ... etwas in der Art."

"Ich denke nicht. Weiß nicht."

"Schauen Sie, Herr Hudl. Ich würd' mir deswegen jetzt keine grauen Haare wachsen lassen. Wir können natürlich gern einen Test machen, aber ich stufe die Wahrscheinlichkeit so gering ein, dass ich es vorerst nicht für notwendig halte."

Helmut Hudl schien erleichtert.

"Aber ..."

Er war gerade im Aufstehen begriffen und ließ sich nochmals auf die Sitzfläche zurückfallen.

"... ich würde Sie gerne morgen Früh Punkt sieben Uhr zur Blutabnahme sehen."

Unsicherheit war mit einem Mal in seinen Augen zu lesen. "Aber Sie sagten doch gerade ..."

"Ihre Leberwerte, Herr Hudl." Dabei grinste die Ärztin schelmisch.

"In Ordnung", sagte er resigniert und gab Joe zum Abschied die Hand.

"Schicken Sie mir bitte umgehend meine Assistentin herein! - Danke!"

Als es gleich darauf klopfte, war die Anklopfende nicht gewillt auf eine Aufforderung einzutreten zu warten. Einen Augenblick später stand Christine Schober, ihre Sprechstundenhilfe, bereits raumfüllend im Zimmer. "Bitte?", sagte sie knapp.

"Ach sie sind's?"

"`tschuldigung! Wen haben Sie erwartet?"

"Ich dachte nur ..."

"Haben sie draußen eine schlanke große Frau, Mitte zwanzig, mit hochhackigen Stiefeln gesehen."

"Soviel ich mich erinnern kann, haben sie mich für die Anmeldung und Betreuung ihrer Kunden - Verzeihung! - Patienten eingestellt. Ich kann mir wirklich nicht die Klamotten auch noch merken. - Aber, um die Frage zu beantworten, an eine schlanke, junge Frau kann ich mich nicht erinnern."

Joe kratzte sich am Kopf.

"Sie wissen doch. Heut' ist Montag."

Joe hatte das Gefühl, in einem Paralleluniversum festzustecken. "Und?"

"Montags sind immer die Fettleibigen, die Couch-Potatoes und die Alkohol-Hedonisten. Und die Lustigen, die glauben, bei dm und Billa gibt's die Sonnencreme zum Spaß zu kaufen."

"Verstehe. Und Sie glauben ein Mädchen in den Zwanzigern fällt in keine der genannten Kategorien?"

Frau Schober stellte sich breitbeinig hin und verschränkte die Arme vor ihrer ausladenden Brust. "Schwer. Meiner Meinung nach zumindest."

"Danke. Das wär' für den Moment alles. - Schicken Sie mir bitte den nächsten Patienten."

"Sofort." Und noch ehe das Wort verhallte, war die Sprechstundenhilfe wieder verschwunden, ebenso flink, wie sie aufgetaucht war.

Joe warf einen raschen Blick auf ihren Bildschirm. Dr. Bertram war der Nächste. Eine unangenehme Hitze stieg in ihr hoch. Rasch schloss sie auch noch den obersten Knopf ihrer Bluse.

Gleich darauf stand freudestrahlend Dr. Bertram in ihrer Ordination und schleuderte ihr ein gutgelauntes "Guten Tag, Frau Doktor" entgegen.

*

Ihrer Frauenrunde hatte Joe zugesagt, dass sie zuverlässig um halb acht im Santo Spirito sein werde. Da half es auch nichts, dass sie sich nun müde und abgezehrt fühlte und am liebsten gleich ins nächste Bett gefallen wäre. Doch versprochen war versprochen - echtes Frauenehrenwort. Ein Nichterscheinen war nur bei schwerer Krankheit oder Tod tolerierbar.

Als sie zehn Minuten vor der Zeit in das Lokal in der Kumpfgasse kam, war Andi schon da. Klassische Musik plätscherte wie gewohnt aus der Stereo-Anlage.

Andrea, die bereits bei ihrem ersten Spritzer saß, war so mit der Speisekarte beschäftigt, dass sie Joe gar nicht bemerkte. Das lange dunkelbraune Haar, das ihr einseitig über die Schulter fiel, gab ihr, missverständlicherweise, etwas Unschuldiges.

"Ist hier noch frei?"

"Joe! Schön dich zu sehen."

"Schön dich zu sehen", sagte Joe, als spreche sie zu George Clooney. "Was tut sich im Burgenland?"

"Ja, weißt eh, tut sich eh immer was."

"Na dann. Wie geht's Reinhard?"

"Hat jetzt endlich die Meisterprüfung geschafft. Aber die Tischlerei, die ihm versprochen hat ihn einzustellen, ist mittlerweile Pleite gegangen."

"Oh, das ist ja Pech."

"Also, wenn du `ne Tischlerwerkstatt kennst, die noch nicht Pleite ist ... Ich bin dir für jeden Tipp dankbar."

"Klar", sagte Joe und dachte, dass es durchaus denkbar war, Teile der Inneneinrichtung der Mühle von einer Tischlerei anfertigen zu lassen. "Und bei dir?"

Der Kellner kam und sie bestellte einen weißen Spritzer.

"Jobmäßig nichts Neues. Aber ..."

"Aber?" Joe horchte auf.

"Ich glaub', mein Mann hat eine Freundin."

"Ist nicht wahr. Tatsächlich?" Joe fragte sich, woher so ein langweiliger, mürrischer Spießer wie Reinhard wohl eine Freundin gezaubert hatte. Der Mann war ihr ein Rätsel. Nur weil er ganz gut aussah, war das doch noch lange kein Grund, dass er sich gleich ...

"Und, dir geht's gut? Siehst großartig aus."

Joe grinste.

"Hast du endlich deine große Liebe gefunden?"

"Kann man das je mit Bestimmtheit sagen?" Joe legte die Stirn in Falten. "Aber bisher sieht's ganz gut aus."

"Wer ist es denn?" Andis Augen begannen zu leuchten. " Ein Manager, ein Anwalt, ein Zahnarzt?

Joe holte tief Luft.

"Ein Banker, ein Chirurg, ein Architekt?"

"Es ist eine SIE."

Andi lachte laut auf. "Jetzt verschaukelst du mich."

Joe verzog keine Miene. Für einen nicht enden wollenden Augenblick entstand eine peinliche Stille.

Andrea sprang auf, fiel Joe um den Hals und küsste sie. "Ich freu' mich so für dich! Ich hab' mir immer gewünscht, dass du wen findest, den ... äh ... die du lieben kannst."

"Na, da geht's ja schon lustig zu." Es war die Stimme von Karin.

"Darf ich auch?", fragte Renate und warf sich Joe an den Hals, um diese zu begrüßen. "Worum geht's überhaupt?", wollte die große, schlaksige Freundin wissen. Der Schalk brannte in ihren blauen Augen und das brünette Haar schmiegte sich um ihre Schultern wie ein seidener Vorhang.

"Wir feiern Joes große Liebe", antwortete Andi.

"Oh, wie nett. Hat es endlich gefunkt. Freut mich für dich." Karin - böse Zungen behaupteten sie sei Michelin für das gleichnamige Männchen Modell gestanden - gab Joe einen nassen Kuss auf beide Wangen. Ihre Prinz-Eisenherz-Frisur schimmerte diesmal zur Abwechslung in einem dezenten Rotblond.

"Danke", sagte Joe. "Ihr seid wahre Freundinnen."

"Sag schon, wie ist er, wer ist er, was ist er? Hat er Geld?"

Andi sah verstohlen zu Joe, die drohte, gleich von zwei Augenpaaren verschlungen zu werden.

"Er ist eine Sie und heißt Sandra."

Wieder dieses betretene Schweigen. Renates Augen waren weit aufgerissen, ebenso ihr Mund.

Nach einer Ewigkeit durchbrach Karins selbst für eine Frau zu hoch geratene Stimme die peinliche Stille. "Habt ihr auch solchen Durst? Ich brauch' jetzt unbedingt was Alkoholisches." Sie rief den Kellner, um ein Krügel zu bestellen.

Renate bestellte einen Kaiser-Spritzer.

"Wie ist sie denn?", wollte Renate wissen, nachdem der Ober die Getränke gebracht und die vier sich zugeprostet hatten.

Joes Augen verrieten eine gewisse Unsicherheit. "Nett, einfühlsam, die zweite Hälfte von mir, die ich so lange vermisst habe."

Karins Bauch, der ohne Probleme als der einer Schwangeren im achten Monat durchgehen konnte, drängte energisch gegen den Tisch. Sie verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf, ehe sie schulmeisterte: "Wie soll denn das gehen. Eine Frau die zweite Hälfte einer Frau?"

"Ich ... keine Ahnung. Ich kann es dir auch nicht sagen."

Karin zog eine verächtliche Grimasse.

"Vor zwei Monaten hätte ich es mir auch noch nicht vorstellen können", meinte Joe nicht ganz wahrheitsgemäß.

"Es gibt also kein Yin & Yang mehr, sondern nur noch Yin & Yin", ätzte die füllige Prinzessin Eisenherz.

Joe saß da, ohne ein Wort zu sagen. War das Intoleranz, Unsicherheit oder schlicht und profan Gehässigkeit? Möglicherweise Neid? Karin, Mutter zweier Kinder, war seit Jahren nur noch auf dem Papier verheiratet. Ihre Ehe war gleich nach der Geburt des zweiten Kindes brüchig, ihr Mann Alfons abtrünnig geworden. Aus dem stets wortkargen Alfons war sie nie schlau geworden.

"Das verstehst du nicht", platzte Andi mit einem Mal heraus. "Warum soll sie nicht eine Frau lieben?"

"Das sagst gerade du, die du mit einer abgespeckten Mischung aus David Beckham und Josh Holloway verheiratet bist. "Würdest du deinen Mann gegen eine Frau tauschen?"

Andi lächelte das Lächeln der Wissenden, die über den Dingen stand. "Wie ich gerade sagte, Karin, das verstehst du nicht."

Renate saß noch immer, wie von einem plötzlichen Wintereinbruch überrascht und tiefgefroren, mit sperrangelweit geöffnetem Mund in der Runde.

Andi legte ihre Hand auf Joes Schulter und lächelte sie an. "Ich finde es ganz großartig, dass du auf deine innere Stimme und deine Gefühle hörst und dich nicht von anderen in blöde Klischees drängen lässt."

Ha! Siehst du, Joe, ich hab's ja immer schon gewusst, dass ich für was gut bin, hörte sie ihre innere Stimme sagen.

Renate brachte nun doch ein zustimmendes Nicken hervor.

*

Aufgrund der späten Stunde hatte Joe es vorgezogen, die Nacht in ihrer Wiener Wohnung zu verbringen. Bevor sie zu Bett ging, checkte sie noch einmal die Textnachrichten auf ihrem Smartphone. Es gab nur eine, mit dem schelmischen Konterfei Sandras.

"Hab dich lieb. Dickes Bussi. S."

Joe kam sich mit einem Mal einsam und verloren in dem viel zu großen Bett vor. Sie schickte eine knappe Liebeserklärung zurück: "Vermisse die Wärme deiner Haut!!!! J."

Mit sanften Händen strich sie über ihre Brüste, ihren Leib bis hinunter zu ihren Schenkeln, als ein Piepsen den Eingang einer neuen Nachricht anzeigte.

Ein lachendes Emoticon erschien auf dem Display gefolgt von: "Der Polier war heut da und wollt dich sprechen. Sagt es wär wichtig."

Joe fragte sich, was denn so wichtig sei, da sie doch mit Baumeister Kaefer alle relevanten Punkte, was die Sanierung der Mühle betraf, bereits besprochen und eventuelle Unklarheiten abgeklärt hatte. Vermutlich weiß er jetzt schon, ging es ihr durch den Kopf, dass er den Kostenvoranschlag nicht einhalten wird können. Allgemeines Krankenhaus Wien, Phyrnautobahn, Semmeringbasistunnel, Skylinkterminal Flughafen Wien. War in Österreich jemals ein Kostenvoranschlag eingehalten worden? Oder ein Zeitplan? Nun schien das Schicksal einer Nation auch auf die ländliche Idylle ihrer Mühle überzuschwappen. Dabei hatte er so einen seriösen und kompetenten Eindruck gemacht, der Baumeister.

Entspannt saß Joe hinter dem Schreibtisch. Ihre Entspannung währte allerdings nur kurz, bis Dr. Bertram - dem ein chronisches Leiden anzuhaften schien - die Ordination betrat.

An diesem Tag hatte sie den schwer zu widerlegenden Verdacht, dass er nur gekommen war, um sie zu sehen und mit ihr zu sprechen. Wie stets machte er einen seriösen und äußerst kompetenten Eindruck, was sie nicht zuletzt seinem akribisch gebügelten Anzug und dem perfekt sitzenden Windsorknoten zuschrieb. Mit den grauen Schläfen und den aufgeweckten Augen, die aus seinem runden Gesicht strahlten, sah er aus wie ein zu bürgerlich geratener Adeliger. Joe versuchte den Gedanken an seinen vorletzten Besuch weit wegzuschieben, bei dem sie ihm nicht ganz freiwillig in die Arme gefallen war und ihm dabei großzügige Einblicke in ihr Dekolleté gewährt hatte. Peinlich, das war ausgesprochen peinlich. Unprofessionell noch dazu. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.

"Haben Sie sich erkältet?", wollte Dr. Bertram wissen.

Sie versuchte einen möglichst herablassenden Blick aufzusetzen.

"Vielleicht sollten Sie sich selbst etwas ..."

Joe hob fragend die Brauen.

"... verschreiben. Ich meine, Sie sitzen doch quasi an der Quelle. Ein Schrank voll mit Ärztemustern ..."

Sie verengte ihre Augen zu schmalen Schlitzen, aus denen sie nur zu bereitwillig ein paar Laserstrahlen auf ihren Patienten abgefeuert hätte.

"Ich meine, Sie sollten Ihre Gesundheit nicht auf's Spiel setzen ... Selbst im Sommer, wenn es ..."

"Dr. Bertram, was kann ich für Sie tun", setzte Joe endlich dem Geschwafel ihres Patienten ein Ende. "Wie gestern? Wieder der Blutdruck?"

Er nickte.

Als sie zu ihm ging, um ihm die Manschette anzulegen, bemerkte sie seinen neugierigen Blick an ihrem Kleid. Eine innere Befriedigung überkam sie, weil sie wusste, dass der hautfarbene BH eine großartige Idee für die Ordi gewesen war. Da gab es nichts, was ihre Patienten weiß oder schwarz oder womöglich gar spitz durchschimmern sehen konnten.

"Glauben Sie nicht, dass ein BH für diese Jahreszeit ... zu warm ... sein könnte?"

Die Ärztin lächelte ihn sicher an, während sie Luft in die Manschette pumpte. Wie die Kopfhörer eines iPods stöpselte sie sich die Enden des Stethoskops in die Ohren, und lauschte, was ihr Dr. Bertrams Blut gleich sagen würde.

Besorgt sah er zu ihr auf.

"Es ist alles Bestens, mein lieber Doktor. Leicht erhöht, aber keineswegs bedenklich."

Der Patient nickte.

Als sie sich von ihm verabschiedete, sah sie noch, wie sein Blick ihre Beine hinauf bis zum Saum des Kleids wanderte, um schließlich von ihr abzulassen. "Danke und auf Wiederschauen. - Der Nächste bitte!"

Um vierzehn Uhr, nachdem sie auch den letzten Patienten, wie sie hoffte, zu seiner Zufriedenheit behandelt und ihrer Sprechstundenhilfe noch einen angenehmen restlichen Dienstag gewünscht hatte, schloss sie die Praxis ab, um mit der Schnellbahn nach Wien Mitte zu fahren. Von dort mit der U3 bis Stubentor. Baumeister hin, Polier her, sie hatte noch eine dringende Besorgung zu machen, die keinen Aufschub duldete.

Zügigen Schrittes klapperte sie mit ihren Pumps das Kopfsteinpflaster der Bäckerstraße entlang. Wie eine Unsichtbare schlängelte sie sich durch die Zeitschriftenabteilung der Buchhandlung Morawa bis zum Schalter, wo sie ihre bestellten Bücher abholen wollte.

"Ich habe zwei Bücher bei Ihnen bestellt", meinte Joe und versuchte dabei mit fester Stimme zu sprechen. Sie hoffte ihr Make-up, das sie in der Ordi noch einmal aufgefrischt hatte, sei dick genug, um eine etwaige Röte ihrer Wangen nicht durchscheinen zu lassen. Sie überreichte der Frau mit dem blonden Wuschelkopf eine Zettel mit den Buchtiteln. Diese setzt ihre Lesebrille auf.

"Englisch, nicht wahr?" Dann sah sie auf und musterte Joes Physiognomie.

Ich bin ganz ruhig, ich bin ganz ruhig, ich bin ganz ruhig, schienen alle Zellen in Joes Körper zu rufen.

"Auf welchen Namen?"

"Bitte?" Joe war auf ein Verhör in einer so heiklen Angelegenheit nun wirklich nicht gefasst gewesen. "Dr. B... haha." Joe brach in dieses gekünstelte Lachen aus, mit dem Frauen ihrem Gegenüber zu verstehen gaben, dass ihnen diese Situation nun mehr als peinlich war. "Was red' ich denn da? - Kienzl, Sandra Kienzl, natürlich."

"Ja, Frau Kienzl ...", sagte die Verkäuferin und blinzelte verächtlich zwischen ihren Locken hervor, als wolle sie Joe sagen, sie wisse genau, dass das nicht ihr richtiger Name sei. "... Ihre Bestellung ist eingetroffen." Sie verschwand für einen Moment, um gleich darauf mit zwei Büchern, die sie wie ein Heiligtum mit beiden Händen vor ihrer Brust hielt, zurückzukehren. "Hier, bitte."

Joe schnappte die Bücher, um sich damit unverzüglich zur Kassa zu verdrücken, ehe die Angestellte noch auf die Idee kam, die Buchtitel vor allen Anwesenden laut auszusprechen.

"Viel Spaß damit", hörte sie die Verkäuferin in ihrem Rücken noch sagen. An der Kassa zahlte sie bar. Sie hatte zuvor extra noch beim Bankomat Geld behoben, da sie weder mit der Kredit- noch mit der Maestrokarte elektronische Spuren ihrer zweifelhaften Einkäufe hinterlassen wollte. Nachdem sie auch diese Hürde, zwar nicht mit Bravour, aber doch gemeistert hatte, packte sie ihre Schätze in den Rucksack.

Trotz des luftigen Sommerkleids, das ihre Knie umspielte, war sie schweißgebadet, als sie wieder auf die Straße trat.

Joe, du bist wirklich zu dämlich. Jetzt hast du heute die Ordi so stressfrei rübergebracht und nun in deiner Freizeit machst du dir Stress pur. Warum bestellst du das Zeug nicht das nächste Mal beim Bookdepository oder Amazon? Bevor du dich nochmal in der Buchhandlung zum Affen machst!

Die Idee war schon verführerisch, auch wenn Joe für Internetshops nicht allzuviel übrig hatte.

"Du kommst spät", raunzte Sandra, die in ihrem winzigen Garten in der Hängematte lag.

"Geschäfte", nuschelte Joe, ohne auf deren Art näher einzugehen.

"Der Polier war schon wieder da. Warum hat der eigentlich nicht deine Nummer?"

"Der Baumeister hat sie. Warum hat er sie nicht weitergegeben?"

Sandra legte die Stirn in Falten. "Datenschutz?"

"Haha, der war nicht schlecht." Joe musste tatsächlich lachen. "Datenschutz in Österreich, in der EU? In welcher Galaxis, glaubst du eigentlich, leben wir?"

"Okay, war `ne blöde Idee von mir. - Wie war dein Treffen gestern?"

Joe streckte ihren rechten Arm aus und wackelte mir ihrer Hand wie ein in Turbulenzen geratenes Flugzeug. "So lala. War schon mal netter."

Ihre Freundin sah sie an, sagte aber nichts.

Joe streifte ihr Kleid ab und stellte sich nur in Unterwäsche in die Sonne.

"Vornehm, wirklich vornehm, deine Blässe."

"Wer hat, der hat", entgegnete Joe.

Sandra, deren Haut bereits von einer ansprechenden, hellen Bräune überzogen war, schmunzelte. "Könntest ja noch zur Mühle schauen. Vielleicht sind die noch da."

Joe sah auf die Uhr. "Jetzt um halb sechs. Glaub' ich kaum." Sie ging zur Hängematte, beugte sich weit über und küsste Sandra, die ohne ihren Körper mit einem Fleckchen Stoff zu verschandeln drinnen lag, küsste sie auf das kurzgeschorene blonde Dreieck und die Brüste, bevor sie mit ihrer Zunge ungestüm in deren Mund eindrang.

Sandra verdrehte ihre Augen in süßer Verzückung. Als der Kuss doch irgendwann geendet hatte, hauchte sie mit der Stimme der Verführerin: "Magst du spielen?"

"Immer", kam wie aus der Pistole geschossen die Antwort.

"Immer, Herrin", heißt das, setzte Sandra sofort nach. Damit waren die Rollen für den weiteren Abend verteilt.

Splitterfasernackt lag Joe auf dem Bett. Ihre Arme und Beine hatte Sandra mit Handschellen am Kopf- und Fußteil fixiert. "Moment mal. Solltest du dir nicht überlegen, wie ich dich für das unerlaubte Lesen von Omas Tagebüchern bestrafe?"

Sandra grinste breit. "Zu spät, zu spät!"

Plötzlich durchbrach das Schrillen der Türglocke die prickelnde Zweisamkeit.

"Scheiße", kam es von Joe und Sandra, als hätten sie nur auf ihr Stichwort gewartet.

"Wer kann denn das noch sein?"

Sandra, die außer hochhackigen Stiefeletten genauso viel am Leib trug wie Joe, warf sich rasch den Morgenmantel über und lief zur Tür. "Ah, Sie sind's schon wieder", ließ Sandra ihre nicht gerade freundliche Begrüßung vom Stapel, während sie die Tür mit einem Ruck aufriss.

"Ja, tut mir leid. Ich schon ..." Der Polier, der sie irgendwie an Sawyer aus der Serie Lost erinnerte, hielt inne. Er betrachtete die Schuhe mit den Wahnsinnsabsätzen, den seidenen Mantel und ihr wirres Haar. "Ich störe grad, nehm' ich an ..."

"Sie nehmen richtig an."

"Sagen Sie bitte der Frau Doktor Binder, dass sie mich unbedingt kontaktieren soll."

Joe horchte auf. Diese Stimme, diese angenehme Stimme. Sie wand ihre Gelenke in den Handschellen und wusste, dass das morgen wieder böse Abschürfungen geben würde. Hätte sie nur eine Hand freibekommen, ...

"Ich hab's ihr schon gesagt."

"Bitte richten Sie es ihr nochmals aus." Sein Bizeps zeichnete sich durch sein T-Shirt ab und seine Bartstoppeln verliehen ihm eher die Aura eines Abenteurers als die eines Bauarbeiters. "Wir können nicht weitermachen ohne ihre Anweisungen. Ich bin aber erst übermorgen ab sieben wieder auf der Baustelle. Vielleicht kann sie vorbeischauen."

"Übermorgen. Ab sieben. Ich werd' mein Möglichstes tun", lächelte Sandra, ehe sie die Tür schloss.

Wie akustisches Aphrodisiakum war die angenehme Stimme des Poliers über Joes Körper gefegt und hatte nicht nur ihre Härchen im Nacken und auf den Armen zum Stehen gebracht.

Sandra warf ihren Mantel auf den Boden, kniete sich auf die Matratze und langte zwischen Joes Beine. "Du leckst wie ein Sieb, Frau Doktor." Sie kontrollierte die Handschellen, die eng Joes Gelenke umschlossen.

Joe verdrehte die Augen in peinlicher Verlegenheit.

"Freut mich, dass es dich so antörnt, wenn ich zwischen Tür und Angel mit deinem Polier rede."

"Tut mir leid. Ich wollte nicht, aber ..." Joes Stimme war kaum noch zu hören.

*

Ihre Vision war verschwommen, unklar. Unsicher tastete sie sich durch ein Labyrinth von Gängen, möglicherweise war es auch nur ein einziger. In ihrem Zustand, irgendwo zwischen vom Alkohol betäubt und von Amphetaminen aufgestachelt, vermeinte sie in weiter Ferne einen hellen Punkt zu sehen. Tollpatschig und doch zielstrebig wankte sie ihm entgegen. Als sie näherkam, sah sie, dass es sich um einen in krankenhausweiß ausgemalten, verschwenderisch beleuchteten Raum handelte. Doch es gab keine Tür zu dem Raum, lediglich einen Durchgang, einen wundervoll mit alten rotbraunen Ziegeln gemauerten Rundbogen. Unsicher, als wäre sie gerade im Begriff etwas Verbotenes zu tun, betrat sie den Raum. Plötzlich erstarrten ihre Glieder mitten in der Bewegung. Wo kam die Frau mit einem Mal her, die sich gleich einer Statue von Rhodin mitten im Raum erhob? War sie einen Augenblick zuvor auch schon da gewesen? Sie rieb ihre Augen, sah erneut hin. Kein Zweifel. Es war eine Frau, die durch ihre unnatürliche Haltung etwas Beängstigendes ausstrahlte.

"Hallo", sagte sie, ohne die Stimme zu erheben. "Hallo? Geht es Ihnen gut?"

Doch es kam keine Antwort.

Außer hochhackigen Schuhen trug die Frau nur ein einziges Kleidungsstück. War das tatsächlich eine ... konnte das wirklich eine ... Sie tat noch einen vorsichtigen Schritt und mit einem Mal erkannte sie, was ihre Augen schon die gesamte Zeit über wahrnahmen - eine Zwangsjacke. Aus grobem Leinen oder Segeltuch gearbeitet, an den Enden der Ärmel noch mit Leder verstärkt. Massive Schnallen, die mit dreifach vernähten Lederriemen geschlossen wurden. Einer dieser Riemen lief zwischen den Beinen hindurch um die Trägerin am Abstreifen der Jacke zu hindern. Als wäre das nicht schon genug, waren die Oberarme noch mit einem Strick an den Körper geschnürt und die Beine an den Knöcheln zusammengebunden. Lang und strähnig hing das schwarze Haar vom Kopf. Jetzt erst fiel ihr auf, dass im Nacken eine schwarze Krawatte verknotet war, die offensichtlich als Knebel diente.

Sie schreckte zurück, als sie den Strick bemerkte, der straff um den Hals geschlungen war und zu einem monströsen Haken an der Decke führte.

Verdammt, was sollte das alles? Wo war sie? Joe was tust du hier? Wie bist du hier überhaupt hergekommen?

Die Frau im Raum konnte schwerlich auf ihren Füßen stehen, da ihre Zehenspitzen kaum den Boden berührten. Vielmehr hing sie von der Decke, was die seltsame, abschreckende Körperhaltung erklärte.

"Hallo?", fragte Joe leise und stupste mit dem Zeigefinger gegen ihren Rücken.

Nichts rührte sich. Kein Zucken, kein Stöhnen, kein Anzeichen von Leben.

Joe, tu doch was, du musst sie da runterschneiden!

Und wie?

Sie suchte den Raum ab, nach einem Messer, einer Säge, einer Axt. Doch außer ihr und der Frau schien nichts und niemand zu existieren. Sie rannte auf und ab, starrte in den düsteren Gang, der sie hergeführt hatte, konnte aber auch dort nichts ausmachen, was sie möglicherweise verwenden hätte können. Dann warf sie einen verächtlichen Blick in das Gesicht dieser Frau, als wolle sie ihr zu verstehen geben, was sie ihr mit dieser Erhängten-in-der-Zwangsjacke-Nummer für Schwierigkeiten bereitete.

"Oh, mein Gott", stieß sie hervor, ehe die Beine unter ihr nachgaben und sie zusammensackte, den Eindruck dieses schmerzverzerrten Frauengesichts auf ewig in ihr Gedächtnis gebrannt.

Wie von der sprichwörtlichen Tarantel gestochen schreckte Joe, an der das schweißnasse Leintuch wie mit Sekundenkleber befestigt haftete, aus ihrem Traum hoch. Mit aufgerissenen Augen starrte sie in das Dunkel des Schlafzimmers. Ihr Atem ging keuchend und unregelmäßig. Ein zarter Mädchenduft, der so gar nicht in die Situation passen wollte, kroch ihr in die Nase.

"Was is', mein Schatz" rekelte sich Sandra neben ihr. In ihre Decke bis über die Ohren eingerollt sah sie aus wie eine ägyptische Mumie.

"Es ist ... nichts", sagte Joe nach einer Weile.

"Dann is' gut", drehte sich Sandra auf die andere Seite und vergrub das Gesicht in ihrem Kopfpolster.

Gar nichts ist gut, dachte Joe, und nahm ein paar Tropfen Bachblüten von ihrem Nachttisch.

*

Als der Smartphone-Wecker Joe brutal aus dem seichten Schlaf riss, waren sie sofort wieder zur Stelle, ihre Erinnerungen an den furchtbaren Albtraum, der sie während der Nachtstunden heimgesucht und ihre so harmlosen Gedanken und kaum vorhandene Fantasie bis zum Äußersten strapaziert hatte. Ihre schlimmsten Ängste hatten, unglaublich real, vor ihrem geistigen Auge Gestalt angenommen, hatten ihr gezeigt, dass das Spiel mit Seilen kein ungefährliches war und dass Vertrauen eine unabdingbare Voraussetzung für das war, was Sandra und sie teilten und sie selbst, nach anfänglicher Ablehnung, mittlerweile doch lieb gewonnen hatte: das Spiel, sich der Liebsten auszuliefern, sich ihr zu unterwerfen, sich komplett fallen zu lassen und die Verantwortung für den eigenen Körper abzugeben.

Das sonst so angenehme Prickeln, das sie bei diesen Gedanken üblicherweise verspürte, wurde diesmal allerdings von Gänsehaut und einem undefinierbaren Knoten in ihrem Magen abgelöst. Joe schlich sich wie jeden Morgen, an dem Vormittagsordination war, aus dem Schlafzimmer und ließ ihrer Geliebten noch ein paar Stunden auf Wolke sieben. Sie machte sich mit ihrer Espressomaschine - ohne N vor dem Espresso -, die noch ohne Strom und Kapseln, nur mit Wasser, gemahlenem Kaffee und einer heißen Herdplatte funktionierte, Kaffee. Widerwillig schlang sie eine Banane hinunter, von der sie hoffte, dass sie auch unten bleiben würde. Ihrer Handtasche entnahm sie, nachdem sie jedes noch so kleinste Seitenfach durchstöbert hatte, eine zerknitterte Schachtel mit den beruhigenden Filmtabletten, die Baldrian und Hopfenextrakt enthielten. Als sie eine davon mit dem Kaffee runterspülte, dämmerte es ihr erst, dass es nicht besonders gescheit war, eine beruhigende Tablette mit einem aufputschenden Getränk zu nehmen. Spontan drückte sie noch eine zweite aus der Verpackung und spülte sie gleich hinterher. Das Medikament beeinträchtigte zwar die Reaktionsfähigkeit, doch in ihrem zarten Nervenkostüm konnte sie darauf nun wirklich nicht Rücksicht nehmen.

Wie ferngesteuert setzte sie sich in ihren Smart. Sie konnte sich nicht erinnern, im Bad gewesen zu sein und sich angezogen zu haben. An sich hinabblickend stellte sie beruhigt fest, dass sie mangels Kreativität wohl automatisch zu ihrer Standardgarderobe gegriffen hatte: einer an den Schenkeln nicht zu eng sitzenden Sommerhose in pastellem Hellblau und einer orangefarbenen Bluse. Sie startete den Wagen. Die Gleichmäßigkeit, mit der der Motor ihr auch akustisch zu verstehen gab, dass er zuverlässig seinen Dienst versah, machte sie bald schläfrig. Wie absurd ihr plötzlich dieser Traum erschien. Er konnte doch gar nichts mit der Realität zu tun haben, oder doch? Der Raum, den sie so genau vor sich gesehen hatte, war in der Mühle gewesen. Doch es gab in deren Keller nicht einen Raum, der auch nur annähernd wie das Gewölbe aus ihrem nächtlichen Hirngespinst aussah. Im Keller der Mühle gab es - so fing es schon einmal an - gar kein Gewölbe.

Dann hatte sie noch eine Zwangsjacke gesehen, so genau und detailliert, als wäre sie vor ihr gelegen. Unvermittelt sah sie wieder den Riemen vor sich, der tief zwischen den Pobacken der Gefesselten verschwand. Eine Übelkeit, als hätte sie bereits zwei Wochen gegen Windstärke zwölf vor Kap Hoorn angekämpft, trieb ihr die Blässe einer Leiche ins Gesicht. Hatte da gerade jemand gehupt? Oder war das schon vor Minuten geschehen? Joe konnte weder das eine noch das andere bestätigen bzw. ausschließen. Gedankenverloren blickte sie in den Rückspiegel. Sie spürte, wie sich selbst unter der langärmeligen Bluse die Härchen an ihren Armen aufrichteten. Nie im Leben würde Joe so eine Jacke freiwillig anziehen.

Womöglich hat die Frau in deinem Traum sie nicht "freiwillig" angezogen?

Möglich. Ganz bestimmt sogar.

Intensiv versuchte sie nachzudenken. Nein. Sie kannte ihres Wissens niemanden, der eine solche Jacke besaß oder besitzen könnte. Nicht einmal annähernd.

Dann war da noch dieses schwarze, so unnatürlich glänzende Haar dieser Frau. Noch nie zuvor hatte Joe im realen Leben Haare gesehen - egal in welcher Farbe -, die bei künstlichem Licht so intensiv schimmerten.

Vermutlich, weil es nur ein Traum war, Joe.

Ja, vermutlich, versuchte sie sich selbst zu beruhigen.

Aber ... warum hab' ich dann die Jacke so genau vor mir gesehen, so plastisch, so real, dass ich sie hätte anfassen können?

Tja ...

Ups. War das nicht eine Achtziger-Beschränkung gewesen? Dann bist du ja schon beinah da. Jetzt nur nicht die Abfahrt Strebersdorf verpassen, sonst kannst du wieder mühsam schauen, wo du in dem Straßengewirr umdrehen kannst.

Joe sah auf ihre Finger, die eiskalt und zitternd das Lenkrad umklammerten, dass die Knöchel weiß hervortraten. Das was sie wirklich fertig machte, was sie nicht mehr fähig war aus ihrem Gehirn zu vertreiben, war dieses furchtbar schmerzverzerrte Gesicht dieser Frau, dieses leblose, starre Gesicht - Sandras Gesicht.

Am nächsten Morgen, bereits zehn Minuten vor sieben war Joe auf der Baustelle bei der Mühle. Joe hatte sich dem Anlass entsprechend ... Das ist natürlich quatsch. Joe hatte sich der Stimme des Poliers entsprechend aufgebretzelt. Mit engem Top, oberschenkelkurzem Pencilskirt und den Sieben-Zentimeter-Pumps war sie den dreiviertel Kilometer bis zu der Baustelle gegangen, um dort mit ihren Schuhe in der aufgewühlten Erde zu versinken.

Ein großgewachsener, kräftiger Mann kam ihr entgegen und drückte ihr die Hand. "Jevtic", sagte er, "ich bin der Polier. Danke, dass Sie kommen konnten."

Joes Emotionen rannten mit einem Mal in wildem Amok durcheinander. Ein wohliges Prickeln lief durch ihren Körper, von dem sie nicht sagen konnte, ob es von seiner angenehmen Stimme oder dem etwas schmerzhaften Händedruck herrührte. Sein schwarzes Haar war schulterlang und Joe roch ein dezentes Aftershave und das, obwohl er sich schon seit Tagen nicht mehr rasiert zu haben schien. Wie lange war sie schon wie gelähmt herumgestanden, ehe sie ihm ein charmantes "Ich bin Joe Binder" entgegnete.

Michael Jevtic hatte daraufhin endlich Gelegenheit sein "Freut mich Sie kennenzulernen" an die Frau zu bringen. "Kommen Sie bitte mit. Ich muss Ihnen was zeigen. Aber seien sie vorsichtig, dass sie nicht in die Künette fallen."

Vorangehend betrat er die Mühle, öffnete die Tür, die in den Keller führte. Joe, vorsichtig über die schmalen Stufen stöckelnd, folgte ihm. Ihre Fantasie arbeitete, als hätte sie sich gerade eine Überdosis Amphetamine kombiniert mit Marihuana hineingezogen und zum Drüberstreuen noch den gesamten Vorrat ihrer angesparten Hanfkekse. Die Geschichten ihrer Großmutter fielen ihr ein, wie sie mit ihren "Freunden, Liebhabern, Kunden" in den Keller gegangen war, um dort ihre erotischen Spielchen mit ihnen zu treiben oder mit sich treiben zu lassen. Oma Johanna war wirklich vielseitig - und flexibel. Würde der Polier mit der erotischen Stimme ihr Ähnliches antun? Würde er sie gegen ihren Willen fesseln, knebeln, sie wehrlos machen, um sie dann ihrem Höhepunkt entgegen zu treiben? Und sie würde es geschehen lassen, würde sich nicht wehren, vielleicht etwas, um den Schein zu wahren, weil es gar nicht gegen ihren Willen war? Würde er sie auf brutalste Art foltern, mit seiner angenehmen Baritonstimme, die sie vermutlich schon allein zum Orgasmus bringen könnte, auch wenn er ihr nur den Wetterbericht oder die Börsenkurse vorlas?

"So, da wären wir" unterbrach er ihren orgastischen Tagtraum. Knöchelhoch verteilte sich Staub und abgeschlagener Putz über den Boden. Jetzt erst sah sie, warum er sie hierher geführt hatte. Keine Seile, keine Handschellen, keine Knebel und keine Reitgerte warteten hier auf sie. Sie hoffte ihre Enttäuschung war nicht zu offensichtlich.

"Geht es Ihnen gut?"

"Es sind nur ..." die Schuhe, hätte sie beinah gesagt. Steile Treppen in Stöckelschuhen war sie noch nicht gewohnt zu gehen. "... ich bin etwas schwindlig."

"Hier", sagte er und wies auf ein beinah türgroßes Loch, das in der Wand klaffte und den Blick in einen anderen Raum freigab.

"Um Gottes willen", entfuhr es Joe. "Statt die Mühle zu sanieren, reißen Sie sie immer weiter ein."

"Nicht ganz, Frau Binder", sagte er. "Als wir draußen anfingen, die Kellerwände bis runter zum Fundament freizulegen, um sie gegen Feuchtigkeit zu isolieren, haben wir bemerkt, dass der Kellergrundriss nicht mit dem des Erdgeschosses übereinstimmt. Wir haben dann hier ...", er wies auf die Wand mit der ausgefransten Öffnung, "... den alten Verputz abgeschlagen und diesen Durchgang gefunden. Er war provisorisch mit Holzstaffeln und Brettern zugemacht und dann schleißig verputzt worden. Hielt natürlich nicht besonders. War `ne Husch-Pfusch-Aktion. Aber sehen Sie hier, ein Rundbogen."

Joe betrachtete den halbkreisförmigen, mit alten Ziegeln gemauerten Bogen, der in den neu gefundenen Raum führte. "Was ist dahinter?"

"Nicht wirklich viel."

Eine aufwendig gearbeitete Holztruhe stand neben einem halb zusammengefallenen Regal. Von der Decke hing eine leere Lampenfassung, nicht weit daneben ein massiver Haken, an dem man ein Pferd hätte aufhängen können.

Fasziniert wie eine Teenagerin, der man soeben angeboten hatte, sie könne die Rolle der wunderschönen, entführten Prinzessin in Star Wars - Episode sieben spielen, stand Joe mit offenem Mund in all dem Durcheinander, das sich allerdings zum Großteil in ihrem Kopf abspielte. Sie spürte, wie sich ihre Wangen röteten. Obwohl sie den Raum zum ersten Mal in ihrem Leben sah, kannte sie ihn sehr gut. DAS war der Raum, der Dungeon - allerdings hieß er damals noch nicht so -, in dem ihre Großmutter so viele glückliche Stunden erlebt hatte.

"... hallo ... Ihnen gut?"

Joe stützte sich gegen die Wand. "Nur der Kreislauf. In der Früh braucht er immer, um in Schwung zu kommen. Geht gleich wieder." Für einen Augenblick glaubte sie, so etwas wie Besorgnis in seinen Augen zu sehen.

"Jetzt wollte ich von Ihnen wissen, sollen wir den Durchgang komplett freilegen und den angrenzenden Raum in die Sanierung mit einbeziehen, oder sollen wir ihn - diesmal ordentlich - mit Ziegeln abmauern und ..."

"Auf gar keinen Fall", platzte Joe echauffiert heraus.

Abwehrend, wie ein Eindringling, den frau gerade beim Durchstöbern ihres Kleiderschranks ertappt hatte, hob Michael Jevtic beide Arme und hielt ihr die offenen Handflächen entgegen. "War nur `ne Frage. Die Entscheidung liegt natürlich bei Ihnen."

Wenn er noch lange weiterquasselt, wirst du noch hier unten, mitten in Omas Folterkeller, kommen, Joe.

"Scheiße", fauchte Joe leise. Doch nicht leise genug.

"Bitte?" Der Polier fuhr sich durchs Haar und brachte damit seinen muskulösen Oberarm genau in Joes Blickfeld.

"Ich ..." Joe sog die staubige Luft ein. "Auf jeden Fall möchte ich, dass der Rundbogen freigelegt und renoviert wird, wie der Raum dahinter auch."

"In Ordnung. Um den Rundbogen wäre es auch ewig schade."

"Gibt es noch etwas?"

"Nein, das war schon alles ..."

"Ich muss nämlich gleich ..."

"Verstehe. Als Ärztin haben Sie sicher jede Menge zu tun."

Sie versuchte ein Schmunzeln aufzusetzen. Als sie ihm ihren Arm hinstreckte und er ihre Hand drückte, wurden ihre Knie weich.

"Ups", sagte er nur, als wäre ihm grad ein Bleistift aus der Hand gefallen, während er sie an den Schultern packte und auffing.

"Danke. Es geht schon wieder." Joe glättete in ihrer Verlegenheit ihre Frisur, die wie frisch vom Coiffeur aussah.

"Einen schönen Tag noch", hörte sie ihn sagen, während sie vorsichtig die Treppe hinaufging.

"Ebenfalls", rief sie in das Verlies nach unten, als sie schon die Tür zum Vorraum erreicht hatte.

Sie strich über ihren Rock und kämpfte sich durch das Erdreich zurück zur asphaltierten Hauptstraße samt Gehsteig.

Joe, es ist wirklich keine Schande, wenn dir bei diesem Typen die Knie weich werden. Da würden ja sogar mir ...

Halt doch endlich mal die Klappe, ja?

Wenn ich mal deiner Meinung bin, passt's dir auch nicht.

Konzentriert und doch mit abschweifenden Gedanken klapperte sie zu ihrem Smart zurück, der bei Sandras Haus geparkt stand.

Da wär' noch was, meldete sich schüchtern ihre Stimme. Ist dir eigentlich aufgefallen, dass der neue Kellerraum aussieht wie der in deinem Traum?

Joe hielt inne, wollte in ihre Erinnerungen eintauchen, um das Bild, das sie im Traum so klar vor sich gesehen hatte, erneut hervorzukramen. Der Boden unter ihren Füßen schien plötzlich zu schwanken. Sie fasste sich an die Stirn. "Sicher nur ein blöder Zufall", wisperte sie schließlich.

Joe war froh, als ihre Ordination vorüber war. So unkonzentriert wie an diesem Tag war sie, soweit sie sich erinnern konnte, noch nie gewesen. Lag das nun an dem Josh-Holloway-Verschnitt mit dunklen Haaren oder an der Tatsache, dass diese Archäologen, die sich für einfache Bauarbeiter ausgaben, einen neuen Raum in dem unterirdischen Lusttempel ihrer Großmutter freigelegt hatten? In ihrer Erregung, zwischen Ekstase und Lähmung, hatte sie jedoch etwas Wichtiges vergessen. Sofort wischte sie die Nummer des Baumeisters auf ihr Smartphone. Beim zweiten Klingeln hob er auch schon ab. Was es denn gäbe? Die Sache mit dem Raum, so sagte er, hätte ja Herr Jevtic schon mit ihr geklärt.

"Könnten Ihre Leute vielleicht so gut sein und mir die Truhe, die sich dort befindet, an die Adresse von Frau Kienzl bringen. Ich kann sie unmöglich die schmale Treppe hinauf ..."

"Kaefer, Baumeister!", sagte er plötzlich, der Sarkasmus aus dem Telefon triefend.

"Bitte?"

"Soll heißen, wir sind keine Spedition, sondern eine Baufirma. Aber für so eine gute Kundin wie Sie", er machte eine Pause, "denke ich, kann ich eine Ausnahme machen."

"Danke. Ich bin Ihnen sehr verbunden."

Als Joe am folgenden Nachmittag von ihrer Ordination zurückkam, sah sie gerade, wie Josh Holloway und ein zweiter die Truhe in Sandras Haus schleppten. Sie kamen eben wieder heraus, als sie Joe bemerkten.

"Guten Tag, meine Herren", sagte Joe und hoffte, weit souveräner als am Vortag aufzutreten. Bitte, kommen Sie noch kurz mit rein."

Die Männer, die sich ratlos ansahen, folgten ihr ins Haus. Joe öffnete die Tür zum Vorratsraum, wies auf eine Kiste Bier, auf der obenauf noch eine Flasche Schnaps lag. "Wenn Sie so lieb wären und die Kiste samt Inhalt mitnehmen. - Die ist für Ihre Bemühungen."

Harriet

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