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Vorwort

Erkenne die Güte Gottes und Seine Strenge!

(Röm 11,22)

Mit Totenstille und der Geist der Prophetie sowie Auferstehung Jesu Christi als messianische Zeugung sollte ein Abschluss der Auseinandersetzung mit der Philosophie Nietzsches und Heideggers im Rahmen einer theologischen Deutung der Moderne erreicht sein. – Wie ein Geschenk des Himmels wirkt der im Oktober 2016 von Walter Homolka und Arnulf Heidegger herausgegebene Band Heidegger und der Antisemitismus. Positionen im Widerstreit. Mit Briefen von Martin und Fritz Heidegger [= HA; die weiteren Briefzitate zu Heidegger beziehen sich ausschließlich auf diesen Briefwechsel], da die Briefe Heideggers unsere Heidegger-Kritik vollauf bestätigen, obschon sie weitgehend vom Biographischen absah und sich auf das Werk sowie die vier publizierten Bände der sog. Schwarzen Hefte beschränkte.

Biographisches aber, im Sinne von Herkunft, ist für Heideggers Gedankenwelt von zentraler Bedeutung, weil es im engsten Zusammenhang steht mit dem, was ungesagt bleibt und doch allgegenwärtig ist: Abfall. So ist im oben genannten Buchtitel von Heideggers Antisemitismus die Rede. Doch der Ausdruck »Antisemitismus«, der auf den Judenhasser Wilhelm Maar zurückgeht und allgemein mit Rassismus assoziiert wird, ist sehr ungenau, da die sog. Antisemiten auch die Araber hassen müssten, was kaum der Fall ist. Heideggers Antisemitismus, genauer: Antijudaismus, ist theologischer Natur; am nächsten kommt dem Luca Di Blasi mit seinem Beitrag Vom nationalmessianischen Enthusiasmus zur antisemitischen Paranoia, in dem er auf Heideggers Seminar Über Wesen und Begriff von Natur, Geschichte und Staat aus dem Wintersemester 1933/34 verweist, demzufolge »den semitischen Nomaden« – gemeint sind die Juden – »die Natur unseres deutschen Raumes« »vielleicht überhaupt nie offenbar« werde (vgl. HA 197).

Nun wissen wir, dass Abraham, der Stammvater Israels, sein Vaterhaus und seine Verwandtschaft verließ, um in das Land der Verheißung zu ziehen; dass er und seine Nachkommen Isaak und Jakob Hirten, Nomaden waren. Nach Röm 4 wurde Abraham aufgrund seines Glaubens an die Verheißung zum Stammvater vieler Völker – eines Glaubens, der vor seiner Beschneidung und vor dem Gesetz geschah und ihm daher als Gerechtigkeit angerechnet wurde (vgl. Röm 4,3; Gen 15,6): Seine Gerechtigkeit bildet nach dem Apostel Paulus das Vorausbild für »die Gerechtigkeit Gottes aus dem Glauben an Jesus Christus« (vgl. Röm 3,22). Da Christus nach Hebr 13,12 »außerhalb des Tores gelitten« hat, sind die Christen, obschon sie keine »Nomaden« sind, aufgerufen, ihm zu folgen (Hebr 13,13 f.):

Lasst uns also zu ihm vor das Lager hinausziehen [vgl. Lev 16,27] und seine Schmach auf uns nehmen. Denn wir haben hier keine Stadt, die bestehen bleibt, sondern wir suchen die zukünftige.

Heimatlos in dieser Welt, gleichen sie den Juden, zumal »der Christ« aus dem Judentum hervorgegangen ist, das Heidegger zufolge in seiner Entwurzelung eine zerstörerische Kraft entfaltet, die das Christentum mit dem Wirken des Antichristen verbindet. Daher die Folgerung Heideggers ziemlich zu Beginn seiner Aufzeichnungen im vierten Band seiner Schwarzen Hefte (= GA 97) aus dem Jahre 1942 (ebd. 20):

Der Anti-christ muß wie jedes Anti- aus dem selben Wesensgrund stammen wie das, wogegen es anti- ist – also wie »der Christ«. Dieser stammt aus der Judenschaft. Diese ist im Zeitraum des christlichen Abendlandes, d. h. der Metaphysik, das Prinzip der Zerstörung.

Verständlich die allgemeine Empörung darüber, wenn anschließend Heidegger zu einer Zeit, als die Vernichtungsaktionen gegen die Juden auf Hochtouren liefen, jenes »Prinzip der Zerstörung« gewissermaßen auf ein säkularisiertes Weltjudentum zurückführt, für das der Name Marx steht – als ob die Nationalsozialisten nur mehr dessen Ausführungsorgane gewesen wären. Und als ob der Krieg nicht längst im Gange und der Massenmord nicht angelaufen wäre, dekretiert Heidegger (ebd.):

Wenn erst das wesenhaft »Jüdische« im metaphysischen Sinne gegen das Jüdische kämpft, ist der Höhepunkt der Selbstvernichtung in der Geschichte erreicht; gesetzt, daß das »Jüdische« überall die Herrschaft vollständig an sich gerissen hat, so daß auch die Bekämpfung des »Jüdischen« und sie zuvörderst in die Botmäßigkeit zu ihm gelangt.

Der Antisemit liefe also Gefahr, für »das wesenhaft ›Jüdische‹ im metaphysischen Sinne« zum Sprachrohr zu werden für eine Bewegung, hinter der sich Bolschewismus oder Kapitalismus oder beides verbergen mag; ja, er riskierte es gar, in den Sog jener Selbstvernichtung hineingezogen zu werden. Der Antisemit als unfreiwilliger Agent oder Agitator des Weltgeistes, »gesetzt, daß das ›Jüdische‹ überall die Herrschaft vollständig an sich gerissen hat«. Das mag nicht nur Heideggers Schweigen zur Shoah erklären; auch hier hätte der Philosoph besser geschwiegen, um der Nachwelt nicht Einblick in sein völlig krauses Weltbild zu geben, das jeden Realitätsbezug vermissen lässt.

Dass es sich jedoch dabei nicht etwa um eine krasse Fehleinschätzung eines Unpolitischen handelt, dem es allein um sein Denken geht, beweist die anschließende Aufzeichnung, so umständlich und gewunden die Formulierungen auch klingen:

Von hier aus ist zu ermessen, was für das Denken in [!] das verborgene anfängliche Wesen der Geschichte des Abendlandes das Andenken an den ersten Anfang im Griechentum bedeutet, das außerhalb [!] des Judentums und d. h. des Christentums geblieben.

Hier scheint jemand aus den Quellen des abendländischen Denkens zu schöpfen, wodurch er sein eigenes Denken mit der Aura des Unvordenklichen, des Seins, umgibt. Doch abgesehen davon, dass auch ihm nur mehr einige Fragmente der Vorsokratiker vorliegen, um sich »in das verborgene anfängliche Wesen der Geschichte des Abendlandes« hineinzudenken, wirkt es mehr als grotesk, von einem »Andenken« zu reden, das allenfalls ein »An-denken« sein kann. Aufschlussreich jedoch der abschließende Relativsatz, der immerhin einbekennt, dass der große Sprachkünstler mit seinem Sprung in die griechische Vorvergangenheit Judentum und Christentum zu umgehen vermag.

Und wie sie Heidegger zu umgehen, aus seinem Denken auszublenden versteht; wo dessen wirklicher Ursprung liegt, das geht aus dem Briefwechsel mit seinem Bruder Fritz in dem eingangs erwähnten Buch hervor, der dokumentiert, wo seine Herkunft zu suchen ist: in seiner Heimat an der oberen Donau mit der Exklave Schwarzwaldhütte in Todtnauberg; Freiburg i. Br. erscheint als Grenzstadt schon beinahe exterritorial. Mit Heimatliebe im herkömmlichen Sinne hat das nur bedingt etwas zu tun, weil immer wieder der Blick in die Vergangenheit geht, in eine Kindheit und Jugend, die Paradies und Gelobtes Land zu vereinen scheint, da eines aus ihr geschwunden ist: eine mehr als tausendjährige Geschichte des Christentums. Wie es Heidegger, der immerhin aus einer frommen Mesnerfamilie stammt und über die Sprachlehre des Duns Scotus habilitiert worden ist, gelungen ist, diese völlig auszublenden, zeigt sein Weihnachtsbrief an seinen Bruder Fritz und Familie vom 18. Dez. 1931, der mit folgenden Worten einsetzt (HA 20 f.):

Zum Weihnachtsfest senden wir Euch die herzlichsten Glückwünsche. Da es jetzt wohl auch bei Euch schneit, besteht die Hoffnung, daß das Fest wieder einmal seinen ganzen Zauber entfalten kann. Ich denke oft in diesen Tagen an die Vortage von Weihnachten in unserm kleinen Städtchen und ich wünschte mir die ganze künstlerische Kraft, um die Stimmung und den Glanz, das Spannende und still Aufregende dieser Tage wirklich darzustellen. Es ist natürlich eine Täuschung von uns Erwachsenen, wenn wir glauben, es sei für unsere Kinder nicht mehr da wie für uns. Gewiß mag Vieles geändert sein – das schlichte, einfache, bäuerliche – auch noch im Leben des Städtchens, die äußere Geruhsamkeit der ganzen Lage des Volkes, die äußere Abgeschlossenheit von dem Kitsch und dem Geschmack der Großstadt, die Ansprüche und die Grundsätze der Menschen – all das mag früher bodenständiger gewesen sein – aber auch so können wir vieles noch den Kindern bewahren und für ihr späteres Leben mitgeben als ein Gut, von dem man erst ganz spät einsieht, daß es einem unauffällig einmal geschenkt wurde, daß es unzerstörbar ist und nachhaltiger als das, was wir nur lernten.

Wir müssen die natürliche Kraft bewahren oder wieder gewinnen, um diesem zaubervollen deutschen Fest ganz gewachsen zu sein und alle seine Gehalte auszuschöpfen.

Möchte es Euch, Eur[er] ganzen Familie gelingen, dem Fest die Innigkeit zu geben, daß die Kinder später ihren Nachkommen es unzerstört überliefern können.

Obwohl Heidegger die Überlieferung des Erlebten am Herzen liegt – kein einziges Wort vom Festgeheimnis, von der Menschwerdung des Sohnes Gottes. Nicht einmal im folkloristischen Sinne, im Sinne religiösen Brauchtums, wie die anschließende Erinnerung Heideggers an die Anfertigung kleiner Weihnachtskerzen für die Kirche aus angewärmtem Wachsrodel in Kinderjahren zeigt: Die Abfälle wurden zu einem Klumpen Wachs »zusammen gedrückt, der dann in die Schublade von Mutters Nähmaschine wanderte, um damit den Nähfaden zu wachsen«. Nicht einmal ein Hauch des Geistes, der über die bloße Stimmung hinaus die Herzen der Menschen, zumal der Kinder, zu erfassen vermag, wie er etwa aus Reinhold Schneiders Tröstliche Kindheit, einem Rückblick auf das vorweihnachtliche Elternhaus in Baden-Baden am Ende des Zweiten Weltkrieges, zu vernehmen ist; oder man denke an Adalbert Stifters Erzählung Der heilige Abend. Das Heilige scheint aus Heideggers Welt verbannt, aus »diesem zaubervollen deutschen Fest«; allein sein Zauber ergötzt, gleich Wagners Karfreitagszauber. Gleichwohl hat Bruder Fritz die Botschaft wohl vernommen, wenn er in seinem Antwortschreiben vom 21. Dez. 1931 bemerkt: »Martins Brief ist wieder das reinste Weihnachtsmärchen. (Ein entsprechender Osterbrief wäre ebenso herzerquickend)« (Ebd. 23). Es sei angemerkt, dass die abgedruckten Briefe Heideggers zum Osterfest es dem Leser ersparen, sich mit dem Ostergeheimnis, der Auferstehung Christi zu befassen. Dass Heidegger seinen Weihnachtsfestbrief mit einem Plädoyer für die nationalsozialistische Bewegung beschließt, um seinen kritisch eingestellten Bruder umzustimmen, mag der Zeit geschuldet sein. Immerhin wird deutlich, wohin »die Emanzipation vom Heiligen« (Walter Benjamin) einen Denker führen kann, der sich seiner Zeit verschrieben hat (ebd. 22):

Es geht nicht um kleine Parteipolitik – sondern um Rettung und Untergang Europas und der abendländischen Kultur. Wer das auch jetzt noch nicht begreift, der ist es wert, im Chaos zerrieben zu werden. Die Besinnung auf diese Dinge stört nicht den Weihnachtsfrieden, sondern führt zurück in das Wesen und die Aufgabe der Deutschen, das heißt dorthin, wo die Gestalt dieses wundervollen Festes ihren Ursprung hat.

Es bedarf keines weiteren Kommentars, um zu zeigen, wohin es mit dem christlichen Abendland gekommen ist. Mochte sich auch Heideggers Euphorie in den Jahren nach 1933 gelegt haben, so deshalb, weil zunächst die Nationalsozialisten in der Rezeption seiner Arbeiten auf Distanz gingen, sei es, dass ihnen sein Seinsdenken nicht ganz geheuer war, sei es, dass ihnen aufgrund ihrer expansiven Politik so viel Heimatverbundenheit eher abträglich schien, da sich die neuen Herrenmenschen in den Weiten des Ostens heimisch fühlen sollten. Doch der Geist ist derselbe geblieben, wie etwa die Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936–38 = GA 65) belegen. Es ist der Geist des Antichristen. Denn Heidegger sollte sich nicht allein in seinen geschichtlichen Einschätzungen irren. Ebenso irrig sind seine theologischen Überlegungen wie die, dass der Antichrist aus der »Judenschaft« stamme; er kommt vielmehr »aus unserer Mitte«. So bemerkt der heilige Johannes (1 Joh 2,18 f.):

Meine Kinder, es ist die letzte Stunde. Ihr habt gehört, dass der Antichrist kommt, und jetzt sind viele Antichriste gekommen. Daran erkennen wir, dass es die letzte Stunde ist. Sie sind aus unserer Mitte gekommen, aber sie gehörten nicht zu uns; denn wenn sie zu uns gehört hätten, wären sie bei uns geblieben.

Mochte Johannes hier auch an Gnostiker oder ihre doketistischen Vorläufer denken, gemein ist ihnen die Leugnung der Fleischwerdung des Sohnes Gottes. Auch handelt es sich beim Antichristen nicht um irgendein Fabelwesen, das irgendwann auftaucht, sondern um einen bestimmten Typus, wie Adam oder Christus einen Typus verkörpern, wenngleich in einer einzigen Person. Die Ablehnung der Person Christi kennzeichnet das antichristliche Denken; bezeichnenderweise erscheint »der Christ« bei Heidegger apostrophiert, wie schon bei Nietzsche – für Heidegger nach den letzten Anmerkungen des vierten Bandes seiner Schwarzen Hefte »Nietzsche, der Unumgängliche« (GA 97, 464). Warum dem so ist, verrät dessen Credo, das Nietzsche in einem nachgelassenen Fragment vom Sommerhalbjahr 1888 folgendermaßen zusammenfasst (KGW VIII.3, 283):

Wir Wenigen oder Vielen, die wir wieder in einer entmoralisirten Welt zu leben wagen, wir Heiden dem Glauben nach: wir sind wahrscheinlich die Ersten, die es begreifen, was ein heidnischer Glaube ist: sich höhere Wesen als der Mensch ist, vorstellen müssen, aber diese Wesen jenseits von Gut und Böse; alles Höher-sein auch als Unmoralischsein abschätzen müssen. Wir glauben an den Olymp – und nicht an den »Gekreuzigten« …

Die Lossage vom »Gekreuzigten« steigert sich im Zarathustra bis zum Vorwurf der Unreinheit der Wüstenheiligen, ihrer Nähe zu Teufel und Schwein (vgl. KGW VI.1, 359) – ohne zu wissen, dass die heilige Hildegard in einer Vision der Endzeit deren letzte Phase mit dem Zeitalter des Schweines identifiziert, wie schon nach 2 Petr 2,22 das gewaschene Schwein sich wieder im Schlamm wälzt. Im Schlamm des Zeitalters wäre zu ergänzen, dem wir – so Heidegger in Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) – »eingeeignet bleiben«, ja, »ein wissender Ernst zusammentaugt« (vgl. GA 65, 242). Es ist daher absurd, zwischen dem Denken Heideggers und seinen – zugegebenermaßen zeitbedingten – Geschichtsauffassungen unterscheiden zu wollen: Es gibt keinen vergleichbaren Philosophen des 20. Jahrhunderts wie den Verfasser von Sein und Zeit, bei dem sein Denken und sein Zeitalter eine höchst unheilige Liaison eingehen. Heideggers Denken wirkt geradezu wie ein stummer Widerhall des Zeitgeschehens. Nur was er zu verschweigen hat, das hat er nicht gesagt – er hat es geschrieben. So vermerkt er in einem Brief vom 21. Sept. 1949 an seinen Bruder Fritz, sein Schüler Max Müller sei als erster Gratulant zu seinem Geburtstag erschienen mit dem ihm gewidmeten ersten Band des »Symposion«, eines neuen philosophischen Jahrbuches, worüber er sich offensichtlich freute. Dann weiter zu Müller (HA 141):

Die »Holzwege« kennt er noch nicht. Diese werden für das Publikum ein schöner Holzweg werden! Man wird meinen, jetzt hat Heidegger sein Schweigen gebrochen: er spricht das Entscheidende aus. Aber diese Mitteilung ist gerade das Verschweigen. Wir verraten das Schweigen nämlich, solange wir schweigen.

Denn so könnten die Zeitgenossen leicht Argwohn schöpfen, dass einer da etwas zu verbergen hat. Immerhin kommt Heidegger noch im selben Brief auf seine jüngste Vergangenheit zu sprechen (ebd. 142):

Inzwischen bekam ich auch, ohne weiteres Zutun, den Entnazifizierungsbescheid: Mitläufer, ohne Sühnemaßnahmen; der Zusatz ist besonders pikant. Mitläufer des Seyns war ich schon immer und möchte ich auch bleiben. Im übrigen bedeutet doch Entnazifizierung soviel wie: man ist jetzt endgültig als Nazi abgestempelt; man wird so etwas, was man gar nicht war in dem Sinne, wie die Welt das meint.

Und in der Tat war Heidegger nicht einfach ein Nazi, nicht einmal ein Mitläufer – er war als Philosoph ein Denker der Todes, der schuldhaften Todesbejahung; bezeichnenderweise taucht in seinem Denken – wie noch zu zeigen sein wird – der Begriff der Offenbarung so gut wie gar nicht auf. Darum geht es hier nicht im Sinne der neuzeitlichen Philosophie um Aufklärung, ebenso wenig im Sinne Heideggers um bloße »Lichtung«, die im Dunkeln lässt, was um sie herum und in einem selbst geschieht. Vielmehr geht es um dessen Erkenntnis im Licht der Offenbarung, des Offenbarwerdens der Dinge und der Herzen der Menschen in der Finsternis dieser Zeit. Anders als Heidegger, den seine Zeit einholte, gab es für Nietzsche nichts zu verbergen, insofern er, gemäß einer Notiz von Sommer/Herbst 1884, seine Mission im »Heraufbeschwören des Bösesten« (vgl. KGW VII.2, 241) erblickte – um es, wenn es denn kommt, nicht ansehen zu müssen. Kaum zufällig leitet das betreffende nachgelassene Fragment 26[353] eine Notiz ein: »Gebet um Blindheit« (ebd.). Einem, der das 19. Jahrhundert überblickte, dem Kardinal John Henry Newman (1801–1890), blieb es vorbehalten, das Geschehen des kommenden vorauszuschauen, obwohl er in seinem Brief an Schwester Maria Pia vom 3. Juli 1882 vorab bemerkt: »Ich bin schwachsichtig, schwerhörig, hinkend, und das Gehen und das Schreiben wird mir schwer. Mein Gedächtnis ist sehr schlecht« (Briefe und Tagebücher, 718). Doch dann, eher beiläufig, sein Ausblick:

Ich fürchte, die Feinde der Kirche wollen sie in Frankreich vollkommen zu Fall bringen. Die nächste und die übernächste Generation nach uns werden eine furchtbare Zeit erleben. Der Teufel ist losgelassen. Möchten wir vor jenem Tage alle geborgen sein.

Rückblickend hat Newmans prophetisches Wort auch von historischer Seite ihre Bestätigung erfahren durch das jüngste Werk seines Landsmannes Ian Kershaw: Höllensturz. Europa 1914 bis 1949 (dt. München 2016).

Dass sich der Zug – gegen den Zug der Zeit, auch im Frankreich jener Jahre – in die Gegenrichtung bewegen konnte, zeigt der Weg Charles de Foucaulds, der im Alter von 28 Jahren an einem Herbsttag 1886 die beliebte Pariser Beichtkirche St. Augustin, nahe dem Bahnhof Saint-Lazare, aufsuchte, um seinem Leben eine Wende zu geben. Fast wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn hatte er als Vollwaise sein reiches Erbe mit Dirnen und in Alkoholexzessen verprasst; bevor er aus der Armee entlassen worden war, nannten ihn seine Kameraden »das Schwein«. Hier erfolgte seine Reinigung, die ihn auf Umwegen in die algerische Wüste führte, in der er als strenger Einsiedler lebte und von den einheimischen Tuareg geschätzt wurde, bevor er vor hundert Jahren bei einem Aufstand den Märtyrertod erlitt. Mochte Nietzsche über die Unreinheit der Wüstenheiligen spotten – hier ist der lebendige Gegenbeweis, auch wenn die hygienischen Zustände am Rand des Hoggar-Massivs nicht besser gewesen sein dürften als zur Zeit der Wüstenväter.

Dass der Weg der Umkehr, der Versöhnung mit Gott, dem Vater, den Charles de Foucauld eingeschlagen hat, nicht Rückkehr in die Vergangenheit, sondern Aufbruch bedeutet, hat im zweiten Band seiner Recherche du Temps perdu der Schriftsteller Marcel Proust in einer Betrachtung über den Bahnhof von Saint-Lazare zum Ausdruck gebracht (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 2, dt. von W. Benjamin/F. Hessel, 277 f.):

Leider sind diese wunderbaren Stätten, die Bahnhöfe, von denen man sich zu fernen Bestimmungsorten aufmacht, zugleich tragische Stätten. Soll sich das Wunder vollziehen, das uns mitten in Ländern, die bisher nur in unseren Gedanken existierten, leben läßt, so müssen wir dagegen beim Verlassen des Wartesaals darauf verzichten, bald die befreundete Stube wiederzufinden, in der wir eben noch waren. Man muß alle Hoffnung aufgeben, zum Schlafen nach Hause zu kommen, sobald man sich entschlossen hat, in die verpestete Höhle einzudringen, aus der man zum Mysterium gelangt, in eine der großen Glashallen wie die von Saint-Lazare, in der nun ich den Zug nach Balbec suchte. Über einer auseinandergerissenen Stadt spannte sie ihren weiten wüsten Himmel voll drohender Dramen; so modern, so fast pariserisch sind manche Himmel von Mantegna oder Veronese, unter solcher Wölbung kann sich nur etwas Furchtbares oder Feierliches vollziehen, eine Abfahrt auf der Eisenbahn oder die Kreuzerhöhung.

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