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Vorwort
ОглавлениеWer zur Auferstehung Jesu Christi steht, sieht sich – nicht anders als zu den Zeiten der Apostel Petrus, Paulus und Johannes – einer breiten Phalanx ihrer Leugner, ja der Apologeten des Todes gegenüber, die sich der öffentlichen Aufmerksamkeit gewiss sein können. So sorgte die Veröffentlichung des vierten Bandes der sog. Schwarzen Hefte Martin Heideggers aus den Jahren 1942–1948 (weiterhin zitiert als GA 97), der gerade rechtzeitig vor dem Abschluss des vorliegenden Buches erschienen ist, wegen seiner antijüdischen Auslassungen für Schlagzeilen, zumal sie aus der Zeit nach Heideggers nationalsozialistischem Engagement herrühren. Doch nur die wenigsten stießen sich bislang an deren Ursache: an Heideggers Verherrlichung des Todes im Zuge seiner Ablehnung des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs, des Gottes Jesu Christi, für den er auch hier nur abfällige Worte findet (vgl. GA 97, 409). Im Gegenteil, von hier aus erklärt sich – nicht zuletzt in jenen Jahren, zumal in Frankreich – die Faszination, die Heidegger auf zahlreiche Intellektuelle ausübte; selbst Theologen suchten seinem Seinsdenken etwas abzugewinnen, obwohl es nicht etwa unchristlich als vielmehr durch und durch antichristlich ist. Man muss nur einmal den im Jahre 2009 postum veröffentlichten Briefwechsel 1925–1975 zwischen Bultmann und Heidegger lesen, darin die peinlich devote Haltung des Marburger Theologen, der sich mit seiner sog. Entmythologisierung des Neuen Testaments hervortat, gegenüber dem Philosophen, der bereits bei seinem Vortrag vor der Marburger Theologenschaft im Juli 1924 unter dem Titel Der Begriff der Zeit (vgl. ebd. 6) seine Hörer wissen lässt: »Der Philosoph glaubt nicht. Fragt der Philosoph nach der Zeit, dann ist er entschlossen, die Zeit aus der Zeit zu verstehen bzw. aus dem ἀεί, was so aussieht wie Ewigkeit, was sich aber herausstellt als ein bloßes Derivat des Zeitlichseins.« Was darunter – bald darauf, in Sein und Zeit, wird Heidegger von Geschichtlichkeit reden – zu verstehen ist, erläutert er abschließend anhand der Aussage: »die Zeit ist das rechte principium individuationis. Das versteht man zumeist als nicht umkehrbare Sukzession, als Gegenwartszeit und Naturzeit. Inwiefern aber ist die Zeit als eigentliche das Individuationsprinzip, d. h. das, von wo aus das Dasein in der Jeweiligkeit ist? Im Zukünftigsein des Vorlaufens wird das Dasein, das im Durchschnittlichen ist, es selbst; im Vorlaufen wird es sichtbar als die einzige Diesmaligkeit seines einzigen Schicksals in der Möglichkeit seines einzigen Vorbei. Diese Individuation hat das Eigentümliche, daß sie es nicht zu einer Individuation kommen läßt im Sinne der phantastischen Herausbildung von Ausnahmeexistenzen; sie schlägt alles Sich-heraus-Nehmen nieder. Sie individuiert so, daß sie alle gleich macht. [!!] Im Zusammenhang mit dem Tode wird jeder in das Wie gebracht, das jeder gleichmäßig sein kann; in eine Möglichkeit, bezüglich der keiner ausgezeichnet ist; in das Wie, in dem alles Was zerstäubt« (ebd. 26 f.). Hier wird als »Möglichkeit« verkauft, was nur wenige Jahre zuvor für Millionen bitterste Wirklichkeit war, die mehr oder weniger freiwillig in den Tod liefen, so dass ihnen »im Zukünftigsein des Vorlaufens« jegliche Zukunft geraubt wurde.
Darauf – auf der Nivellierung des Menschen durch den Tod – beruht Heideggers Zeitbegriff; perfide ist kein Ausdruck, wie jemand in diesem Zusammenhang von »Individuation« zu reden vermag. Allenfalls wurde diese Todeswirklichkeit keine zwanzig Jahre später durch eine andere überboten: durch die der Gaskammern und Krematorien, durch die hindurch Menschen überführt wurden »in das Wie, in dem alles Was zerstäubt« [vgl. hierzu den Schlussteil von Kap. III]. Erst von hier aus lässt sich die ganze Perfidie und Verkommenheit der Philosophie Heideggers ermessen, der in einem Brief vom 5. Oktober 1972 an den »Freund« Rudolf Bultmann bemerkt: »Vielleicht bleiben noch Wenige, die unter sich einig eine verborgene Überlieferung des Bleibenden retten und weitertragen.« Und hinzufügt: »Bestärkt in diesem Gedanken übernehmen wir unser Alt-sein« (Briefwechsel 1925– 1975, 247).
Heidegger wie Bultmann, beide Zerstörer der philosophischen wie der theologischen Überlieferung auf je ihre Weise, brauchten sich gleichwohl um ihren Nachruhm nicht zu sorgen. So hat etwa noch vor wenigen Jahren George Steiner in Gedanken dichten (Berlin 2011) Heidegger als dem Sprachdenker ein Denkmal gesetzt; immerhin gilt Steiner – als Kind jüdischer Eltern 1929 in Paris geboren, später in Genf und Cambridge lehrend, ein Kosmopolit durch und durch – als einer der führenden zeitgenössischen Literaturwissenschaftler und Komparatisten, zudem mit theologischem Sachverstand, wie sein Buch Von realer Gegenwart (München 1990) beweist. Heidegger wäre in der Tat ein einsamer Denker geblieben, zu dem er sich schon zu Lebzeiten gern stilisierte: ein Denker »Für die Wenigen – Für die Seltenen« bzw. für »Die Zukünftigen«, an die sich seine Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) [weiterhin zitiert als GA 65] richten (vgl. ebd. Nr. 5 sowie Nr. 248); er wäre es geblieben, wenn nicht sein Werk von Anfang an durch und durch den Geist dieses unseres Zeitalters atmete, dem »der Tod das höchste und äußerste Zeugnis des Seyns« ist (vgl. ebd. 284). Es ist das antichristliche Zeugnis schlechthin, ein Widerspiel gegen das Zeugnis des Lebens (vgl. 1 Joh 5,11; Joh 5,26), gegen das Zeugnis der Wahrheit (vgl. Joh 18,37). Es ist ein Denken, das keine Wahrheit kennt, sondern »nur sieht und faßt, was ist, um aus diesem Seienden, darin das Unwesen waltet als ein Wesentliches, in das Seyn hinauszuhelfen und die Geschichte in ihren eigenwüchsigen Grund zu bringen« (vgl. GA 65, 244 f.). Nichts anderes ist das Ziel von Heideggers Seinsdenken und Seinsgeschichte, mag die Geschichte schließlich auch einen ganz anderen Lauf genommen haben als in seinem Denken; ja, auch ohne dessen Hilfe geschafft haben, das in ihr herrschende Unwesen in die Tat umzusetzen.
Obgleich Heidegger unter dem Eindruck des verlorengegangenen Zweiten Weltkriegs gar »die Eschatologie des Seyns« verfasste (vgl. GA 97, 335, 391) und aus seiner zum »Ereignis« aufgeblähten geschichtlichen Selbstmanifestation eingetreten ist »in den Brauch«: »nur das gehörende Hören in die Stille des Brauchs vermag horchsam zu gehorchen« (vgl. ebd. 398) – so hat es nichts von seinem pseudogöttlichen Wesen bzw. Unwesen eingebüßt. »Das befehlende Wesen des Denkens, das nur aus dem Seyn erfahrbar wird, insofern dieses sich als das Ereignis des Brauchs gelichtet hat, setzt uns erst in den Stand, das zu bedenken, was dem vorstellenden Denken zugänglich wurde als das vorherige Vernehmen der Seiendheit des Seienden« (ebd. 399). Über das Seiende hinaus öffnet es das Auge bzw. das Ohr für das schlechthin Unvorstellbare – für die Ewigkeit des Todes, für die absolute Todesverfallenheit menschlichen Daseins. Das ist die frohe Botschaft des Todesäons, die Heidegger für alle bereithält, die bereitwillig dem Kultus des Todes huldigen, der doch so befreiend für alle wirken muss, die die Fesseln des Gottesgehorsams von sich werfen, um »horchsam zu gehorchen« – den Einflüsterungen des Todes.
Denn bei allen Metamorphosen, die Heideggers Philosophie kennt, ist er sich in einem treu geblieben: im Kultus des Todes – »der Tod als das höchste und äußerste Zeugnis des Seyns«. Obschon selbst das »Seyn« seit dem vierten Band der Schwarzen Hefte kontaminiert erscheint durch die Seinsverlassenheit – kaum zufällig erscheint das Wort »Seyn« meist durchstrichen bzw. durchkreuzt –, so verschafft dem Verzweifelten Trost, dass die verhasste Welt der Technik, des Machens, der Machenschaften nicht das letzte Worte behält, sondern die Stille des Todes. Gleich einem philosophischen Brechkübel umfasst jene Welt alles, was dem Seinsdenken zuwider ist, letzthin dem Seienden Verhaftete: vom biblischen Schöpfergott über die »Judenschaft«, die kirchlichen Dogmen bis hin zum Amerikanismus, der mit dem Sieg der Alliierten nun auch in Europa Einzug hält.
Dabei ist es Heideggers Denken selbst, sein Kultus des Todes, der jener Welt näher steht, als er selbst zuzugestehen geneigt ist. Einer, dem jener Kultus nicht unvertraut war, hat das ausgesprochen: der Philosoph Walter Benjamin, der noch im zweiten Abschnitt seines Theologischpolitischen Fragments aus der Zeit 1920/21 schrieb, messianisch sei »die Natur aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis« (vgl. GS II.1, 204), um später – im Ursprung des deutschen Trauerspiels – über »das Wesen melancholischer Versenkung« zu vermerken, »daß ihre letzten Gegenstände, in denen des Verworfnen sie am völligsten sich zu versichern glaubt, in Allegorien umschlagen, daß sie das Nichts, in dem sie sich darstellen, erfüllen und verleugnen, so wie die Intention zuletzt im Anblick der Gebeine nicht treu verharrt, sondern zur Auferstehung treulos überspringt« (vgl. GS I.1, 406). Gleichsam als theologischer Grenzgänger hat Benjamin in seinem Fragment Kapitalismus als Religion aus dem Jahre 1921 in der Welt des Kapitalismus einen Kult des Todes gewahrt, bevor Heidegger diesen Kult in eine Ontologie ummünzen sollte. Es entbehrt nicht der Ironie, dass sich Benjamin noch kurz zuvor gegenüber Gershom Scholem höchst abschätzig über Heideggers Habilitationsschrift Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus äußerte, da er seinerseits eine Habilitationsarbeit zum Problemkreis Wort und Begriff bzw. Sprache und Logos im Hinblick auf die Scholastik zu verfassen beabsichtigte (vgl. hierzu GS I.3, 868 ff.). Dazu sollte es nicht kommen, wie auch jenes Fragment unveröffentlicht blieb: ein knapper, jedoch wahrhaft visionärer Text, der seine volle Bestätigung Jahre, wenn nicht Jahrzehnte später erfahren sollte. »Der Typus des kapitalistischen religiösen Denkens«, heißt es da, »findet sich großartig in der Philosophie Nietzsches ausgesprochen. Der Gedanke des Übermenschen verlegt den apokalyptischen ›Sprung‹ nicht in die Umkehr, Sühne, Reinigung, Buße, sondern in die scheinbar stetige, in letzter Spanne aber sprengende, diskontinuierliche Steigerung. Daher sind Steigerung und Entwicklung im Sinne des ›non facit saltum‹ unvereinbar. Der Übermensch ist der ohne Umkehr angelangte, der durch den Himmel durchgewachsne, historische Mensch. Diese Spannung des Himmels durch gesteigerte Menschhaftigkeit, die religiös (auch für Nietzsche) Verschuldung ist und bleibt〈,〉 hat Nietzsche pr〈ä〉judiziert. Und ähnlich Marx: der nicht umkehrende Kapitalismus wird mit Zins und Zinseszins, als welche Funktion der Schuld (siehe die dämonische Zweideutigkeit dieses Begriffs) sind, Sozialismus« (GS VI, 101). Im Abschnitt zuvor bringt Benjamin auch Freud mit jenem Kult in Verbindung: »Die Freudsche Theorie gehört auch zur Priesterherrschaft von diesem Kult. Sie ist ganz kapitalistisch gedacht. Das Verdrängte, die sündige Vorstellung, ist aus tiefster, noch zu durchleuchtender Analogie das Kapital, welches die Hölle des Unbewußten verzinst.«
Es versteht sich, dass Benjamin, am Anfang einer hoffnungsvollen akademischen Karriere stehend, vor einer Veröffentlichung seiner Gedanken zurückschreckte; hatte er sich doch buchstäblich zwischen alle Stühle gesetzt, wobei der vierte Stuhl, den Heidegger einige Jahre später, mit seinem großen Wurf von Sein und Zeit, einnehmen sollte, damals noch unbesetzt war. Denn nicht um eine soziologische Bestandsaufnahme handelt es sich bei seiner Deutung des Kapitalismus als Religion; ebenso wenig um eine sozialphilosophische Diagnose im Sinne der späteren Frankfurter Schule bzw. Kritischen Theorie als vielmehr um eine theologische Deutung. »Der Nachweis dieser religiösen Struktur des Kapitalismus, nicht nur, wie Weber meint, als eines religiös bedingten Gebildes, sondern als einer essentiell religiösen Erscheinung, würde heute noch auf den Abweg einer maßlosen Universalpolemik führen. Wir können das Netz in dem wir stehen nicht zuziehn. Später wird das jedoch überblickt werden« (ebd. 100). Heute – nahezu einhundert Jahre später – können wir es überblicken, wenngleich Benjamin keine maßlose Universalpolemik zu fürchten hätte; er dürfte eher damit rechnen, totgeschwiegen zu werden, weil er den wunden Punkt einer Gesellschaft berührt, die sich als so frei und offen empfindet, dass sie keiner übergreifenden metaphysischen, gar göttlichen Ordnung bedarf, da sie mit der Akkumulation menschlicher Schuld so gut leben zu können glaubt wie mit der Anhäufung der Schuldenberge in den heutigen Staats- und Privathaushalten. »Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus. Hierin steht dieses Religionssystem im Sturz einer ungeheuren Bewegung. Ein ungeheures Schuldbewußtsein das sich nicht zu entsühnen weiß, greift zum Kultus, um in ihm diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen« (ebd. 100), vermerkt Benjamin. »Darin liegt das historisch Unerhörte des Kapitalismus, daß Religion nicht mehr Reform des Seins sondern dessen Zertrümmerung ist« (ebd. 101).
Nichts anderes aber vollzieht Heideggers Seinsdenken, mochten ihm ökonomische Überlegungen, gar die Welt des Kapitalismus noch so fern liegen. Doch die Welt zuvor, bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein, keineswegs allein eine christlich geprägte, war ohne eine bestimmte kosmische Ordnung gar nicht denkbar, da es ohne sie kein zivilisiertes, geregeltes Zusammenleben von Menschen geben konnte; zu bedrohlich war der Rückfall in Tyrannei oder in ein barbarisches Hordenwesen. Genau diese Ordnung aber wird von Heidegger in Abrede gestellt, und zwar nicht aus irgendwelchen anarchistischen Instinkten heraus als vielmehr unter Berufung auf einen Ursprung vor aller metaphysischen Ordnung unter dem Namen des »Seyns«, der geradezu auf eine Gegenwelt, wenn nicht Vorwelt gegenüber jener Welt der Technik zu weisen scheint, deren Verachtung allein deshalb absurd wirkt, als ob der Mensch zuvor, in einem vortechnologischen Zeitalter, in paradiesischen Zuständen gelebt hätte! Doch um ein paradiesisches Leben war es Heidegger niemals zu tun, wie vor ihm der Nietzsche von Jenseits von Gut und Böse an alles andere als ein Leben in Unschuld dachte. Mochte es Heidegger auch in die Welt der Vorsokratiker ziehen, wie Nietzsche in das tragische Zeitalter der Griechen – die Attitüde des Unzeitgemäßen vermag hier wie dort nicht darüber hinwegzutäuschen, dass zumal Heidegger in seiner Lossage vom Gott der Offenbarung jenen Typus der kapitalistischen Religion, den Typus universaler Verschuldung, geradezu in Reinkultur verkörpert: Es handelt sich nicht etwa um einen Typus der Vorzeit, sondern der Endzeit – der Apokalypse: um den Menschen der Gesetzwidrigkeit, der anomía (vgl. 2 Thess 2,3; 1 Tim 4,1; 1 Joh 2,18; 4,3). »Laßt Welt nur welten, sie bedarf der ›Ordnung‹ nicht. Aber ›Welt-Ordnen‹ – d. h. das Wirken verwirkt alles – verwirkt das Denken des Seyns und verwirkt sogar die Vergessenheit. Sie ordnet die ›Welt‹, bevor sie vermögen, Welt welten zu lassen« (GA 97, 89 f.). Was hier anscheinend harmlos daherkommt, bildet den Gipfel der Heuchelei. War schon Nietzsche heuchlerisch, insofern er den Übermenschen propagierte und den amor fati, die Liebe zum Schicksal, predigte, selbst aber den »Heutigen« die Augen auszustechen trachtete, weil seine Zeitgenossen dem großen Philosophen die gebotene Ehrerbietung versagten [man denke an sein Lamento über seine »Hundestall-Existenz« (vgl. KGW VIII.1, 202)], so reicht nichts an die Heuchelei Heideggers heran, wenn man bedenkt, dass jene Zeilen in einer Zeit geschrieben wurden, als Millionen unsägliches Leid erlitten: »Laßt Welt nur welten, sie bedarf der ›Ordnung‹ nicht.« Sie bedarf fürwahr der Ordnung nicht, wenn kein anderes Recht gilt als das des Gewalttäters; Gottes Gesetz wie die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, von Gerechtigkeit gar nicht zu reden. Und nicht nur dass der bloße Gedanke an Recht und Gerechtigkeit dem »Denken des Seyns« abträglich ist, das sich mal am Unwesen der Geschichte ergötzt, mal in der Stille des Brauchs zu sich findet – es »verwirkt sogar die Vergessenheit«, die den Toten winkt und alles Leid begräbt. »Seyn« bedeutet letzthin nicht mehr als eine Umschreibung seiner selbst: seines Selbstmitleids und seiner Selbstgerechtigkeit, wie sie Heidegger im Zuge seiner Amtsenthebung ungeniert zur Schau stellt – als »Verrat am Denken« (vgl. ebd. 61 f.; 82 ff.); ja, er entblödet sich nicht, sich angesichts seines vormaligen NS-Engagements mit Churchill zu vergleichen, der über Jahre hinweg mit Stalin paktiert habe – als hätte der britische Premier nach dem Scheitern der britischen Appeasement-Politik und der Niederlage Frankreichs überhaupt eine Wahl gehabt, sich die Kriegspartner auszusuchen … Weltfremdheit und Weltverschriebenheit bilden offensichtlich keinen Gegensatz, wie Lächerlichkeit und Vermessenheit zusammengehören.
Der Mensch der Vermessenheit aber deckt sich mit dem Menschentypus der anomía, der Gesetzwidrigkeit, dessen Erscheinung nach dem Apostel Paulus dem Tag des Herrn vorausgeht. Daher seine Mahnung an die Thessalonicher: »Lasst euch durch niemand und auf keine Weise täuschen! Denn zuerst muss der Abfall von Gott kommen und der Mensch der Gesetzwidrigkeit erscheinen, der Sohn des Verderbens, der Widersacher, der sich über alles, was Gott oder Heiligtum heißt, so sehr erhebt, dass er sich sogar in den Tempel Gottes setzt und sich als Gott ausgibt« (2 Thess 2,3 f.). Nun hat sich Heidegger nicht gleich in den Tempel Gottes gesetzt, obschon er in den Beiträge(n) zur Philosophie sich seinen »letzten Gott« geschaffen hat. Gleichwohl scheute er auch in der Stunde des Abfalls nicht den Gedanken an eine Ehrung im »Heiligtum«: »Der Antichrist aus der Verzweiflung des Denkens, das, wahrhaft denkend, gegen das Denken zu denken vermag, ist ›christlicher‹, wenn Christlichkeit schon sein konnte, als die Meute der klerikalen Theologen, die nicht einmal wissen, daß sogar noch das Gerüst ihrer abgestandenen Theologie auf einer erborgten und fremden, nämlich der platonisch-aristotelischen Philosophie beruht, die zum Überfluß durch Thomas bereits in ihrer römischen Umdeutung angeeignet wurde. Was wird dann wohl ›eine Akademie des heiligen Thomas‹ in Rom über ein Denken ausmachen können, das einmal wagte, das Seyn selber erst als Denkwürdigkeit zu zeigen?« (GA 97, 193). Kaum ein Satz, der nicht die Sprache der Anmaßung spricht, als wäre nicht längst in der Dogmengeschichte über jenes »Gerüst« der platonisch-aristotelischen Philosophie geforscht worden. Denn Heidegger denkt wahrhaft »gegen das Denken«, nämlich gegen das Vernunftdenken der griechischen Philosophie, von dem her die meisten Kirchenväter her das Wort der biblischen Offenbarung zu deuten suchten. Denn bei der biblischen Überlieferung handelt es sich in erster Linie um eine Bildersprache, reich an Symbolen, Allegorien und Typologien – allein Gott erscheint ohne Bild, da alle menschliche Vorstellung transzendierend. Dagegen basiert das Denken der griechischen Philosophie auf dem Begriff, auf dem Versuch einer umfassenden Weltdeutung. Und hier ergeben sich bei der Rezeption der Schriften des Alten wie des Neuen Testaments grundlegende Probleme: angefangen bei der Schöpfungstheologie, der creatio ex nihilo, der Schöpfung aus dem Nichts, da das griechische Denken von einem ewigen Kreislauf ausgeht; über die Christologie, da das griechische Denken keinen Begriff für die Gleichzeitigkeit der menschlichen und der göttlichen Natur in Christus kennt, so dass selbst bei Leo dem Großen, dem Schirmherr über das Konzil von Chalcedon (451), die Verbindung der beiden Naturen in Christus ihrer Struktur nach wie die Doppelhelix der menschlichen Erbanlagen wirkt, obwohl nach Joh 1,14 das Wort, der göttliche Logos Fleisch geworden ist; schließlich die Eschatologie, die Rede vom Ende der Zeit, die aufgrund des neuplatonischen Dualismus von Zeit und Ewigkeit selbst für einen genau differenzierenden Denker wie Augustinus nur schwer begrifflich zu fassen ist, insofern kairos, der Begriff der messianischen bzw. eschatologischen Zeit, nicht von chronos, dem innergeschichtlichen Zeitgeschehen, unterschieden werden kann. Von all diesen Problemen nimmt Heidegger keinerlei Notiz, zumal sein Zeitbegriff über die bloße »Geschichtlichkeit« des chronos nicht hinausführt, im Grunde auch keine Eschatologie kennt, da seine »Eschatologie des Seyns« dem Zustand der sog. Seinsverlassenheit entspricht. Daher der Mangel an Symbolkraft seiner Sprache, den Heidegger dadurch zu kompensieren trachtet, dass er die einzelnen Worte wie eine Zitrone auspresst, um ihnen eine Bedeutung abzugewinnen. Während noch die Beiträge zur Philosophie auf den Begriffscharakter der philosophischen Sprache verweisen – und in der Tat wirkt die Argumentation in seinen früheren Arbeiten trotz eines spezifischen Jargons und einiger Wortungetüme durchaus luzide –, tritt mit dem vierten Band der Schwarzen Hefte eine Art babylonische Sprachverwirrung ein: Wortbildungen, deren Sinn kaum noch nachvollziehbar ist; eher Beschwörungen von Worten, die dem offenkundig Sinnlosen Sinn verleihen sollen; kein philosophisches Denken als vielmehr eine sich philosophisch gerierende Esoterik, die Heideggers Seinsdenken als das enthüllt, was es von Anbeginn war: als Kult einer Pseudoreligion.
Mag Heidegger auch, wie abschließend zu zeigen sein wird, den Antichristen mit der »Judenschaft« identifizieren, so manifestiert sich in keinem anderen Denken – selbst in Nietzsches Konzeption des Übermenschen nicht – so treffend das antichristliche Unwesen der Selbstzerstörung. »Der Anti-christ muß wie jedes Anti- aus dem selben Wesensgrund stammen wie das, wogegen es anti-ist – also wie ›der Christ‹. Dieser stammt aus der Judenschaft. Diese ist im Zeitraum des christlichen Abendlandes, d. h. der Metaphysik, das Prinzip der Zerstörung« (GA 97,20). Doch Heidegger täuscht sich, nicht allein hier, in den Anmerkungen I seiner Schwarzen Hefte 1942–1948, also zu einer Zeit, als die Vernichtungsaktionen gegen das jüdische Volk auf Hochtouren anliefen. Denn nicht nur für die Zeit des heiligen Johannes gilt, dass die Antichristen aus unserer Mitte gekommen sind (vgl. 1 Joh 2,19), mehr noch für unser Zeitalter, das den Massenmord auf seine Fahnen geschrieben hat; für das – mit Heideggers Worten – »der Tod das höchste und äußerste Zeugnis des Seyns« bedeutet (vgl. GA 65, 284).
Allein aus diesem Grunde hat die Theologie zu Beginn des dritten Jahrtausends keinerlei Kompromiss mit dem Unwesen ihrer Zeit einzugehen, sondern es mit aller Entschiedenheit beim Namen zu nennen. Nur so gilt für sie die Verheißung, die im Buch der Offenbarung im Sendschreiben an die Gemeinde in Philadelphia gerichtet ist: »Du hast dich an mein Gebot gehalten, standhaft zu bleiben; daher werde auch ich zu dir halten und dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die über die ganze Erde kommen soll, um die Bewohner der Erde auf die Probe zu stellen« (Offb 3,10). Mag sein, dass diese Stunde schon heute – seit gut einem Jahrhundert – angebrochen ist. Doch nicht weniger aktuell ist ein anderes Heute, das mit der Auferstehung Jesu Christi als Akt messianischer Zeugung seinen Anfang nimmt: »So verkünden wir euch das Evangelium: Gott hat die Verheißung, die an die Väter ergangen ist, an uns, ihren Kindern, erfüllt, wie es schon im zweiten Psalm heißt: Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt« (Apg 13,32 f.).