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An der Madatowskij-Insel

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An der Madatowskij-Insel

Das Hotel London in Tiflis liegt hart an einem Seitenarm der Kura.


Kura-Fluss

Die Kura bildet hier eine Insel, die Madatowskij-Insel, über die die Nikolaibrücke führt. Von unserem Hotelzimmer sieht man über diese Insel die Altstadt langsam bis zur Bahn und den dahinter liegenden Hügeln, den letzten Ausläufern des hohen Kaukasus, emporklettern. Alte Häuschen mohammedanischen Stils. Dazwischen kleine Plätze, von denen die Sonne alles Grün abgefressen hat. Dahinter kahle, gelbe Hügel, die sich aus braun gebrannten Äckern und Wiesen erheben, auf denen der Sonnenbrand das letzte Leben getötet hat. Auf der Insel verwahrloste Hunde, die von Abend bis Morgen einen Heidenspektakel vollführen und tagsüber mit irgendwelchem stinkenden Raub herumliegen. Wie es früher in Konstantinopel war. In dem immer seichter werdenden Kura-Arm, der am Hotel vorbeifließt, tummeln sich am Nachmittag halb erwachsene Burschen der ärmeren Bevölkerung zusammen mit trächtigen Mutterschweinen, die ebenfalls im Wasser einige Kühlung suchen.

Dies die Aussicht von unserem Hotelfenster, die wir anderthalb Monate auszuhalten hatten, denn so lange war es mir verboten, das Hotel zu verlassen. Nur meine Frau durfte sich auf der Straße zeigen.

Wir starren aus dem Fenster zur Nikolaibrücke. In scharfem Trab kommt ein kleiner Wagen über die Brücke. Auf seinem Sitz thront eine Kiste. Rechts und links davon sitzen je zwei Soldaten mit aufgepflanztem Seitengewehr.


Vor dem Wagen ein berittener Kosak. Hinter ihm drei weitere Kosaken. Gleich muss es Mittag sein, denn kurz vor Mittag erscheint jeden Tag dieser kleine Wagen mit Staatsgeldern von der Bahn und fährt zur Reichsbank. Da steigt auch schon hoch oben am Berg ein blauweißes Wölkchen auf. Dann ein Kanonenschuss. Es ist Mittag.

Frühstück im Zimmer, denn in das Restaurant dürfen wir uns nicht mehr wagen.

Um Mittag haben wir jetzt durchschnittlich 35-40 Grad Hitze. Kein Lüftchen regt sich.

Wieder am Fenster. Über die Nikolaibrücke bewegt sich der halbe Orient. Perser auf kleinen Eseln, die Holzkohlen befördern. Mullahs in grünen oder weißen Turbanen. Schäbige Pferde mit Wasserschläuchen über den eingesunkenen Rücken und mit dicken Bäuchen, gezerrt von braungebrannten Kerlen, die zum Schutz gegen die Sonnenglut sich weiße Tücher seltsam über Kopf und Schulter geschlagen haben. Sie gleichen alten Ägyptern. Zerlumpte Tataren in Fellmützen. Eine Kosakenpatrouille. Aber nie Militär. Das wird nur nachts befördert, und dann meist auch nicht durch die Stadt, sondern auf weiten Umwegen um die Stadt herum.

Bunt, grell, abenteuerlich, orientalisch. Wie es Bodenstedt schon besungen hat. Aber sechs Wochen lang immer dasselbe und in unserer Verfassung, man wird immer ungeduldiger. Das Heimweh nach Deutschland wächst erst recht.

Man setzt sich mit dem Rücken zum Fenster und greift zu den Zeitungen. Wir bekommen den „Temps“. Er schimpft auf allen Seiten, in allen Rubriken auf die barbarischen Deutschen und weiß in jeder Spalte neue Ungeheuerlichkeiten über deutsche Grausamkeiten und Niederträchtigkeiten zu erzählen. Es stimmt nicht freundlicher.

Man nimmt den „Petersburger Herold“ vor, eine deutsche Zeitung. Man könnte geradeso gut die „Nowoje Wremja“ lesen. Dies Schandblatt deutscher Zunge ist nicht weniger gemein.

Meine Frau liest mir die Londoner „Times“ vor. Es ist einfach nicht zum Aushalten. Es ist, als atme man unausgesetzt Gift ein, sowie man eins dieser Blätter in die Hand nimmt. Man fühlt, mit der Zeit wird man verrückt darüber. Keine Zeitung darf mir mehr ins Zimmer. Nur noch die Telegramme des russischen Generalstabes.

Vier Wochen ist nun Krieg, und die Deutschen haben immer noch nicht Lüttich genommen? Was ist denn aus den deutschen Soldaten geworden? Überall werden sie zurückgeschlagen. In Ostpreußen wird schon eine russische Verwaltung eingesetzt.


Rennenkampff in Insterburg in Ostpreußen

Ein Herr mit dem echt russischen Namen Müller soll diese Verwaltung leiten, und in einem Interview erklärt er, dass er alle europäischen Sprachen spreche, aber in Ostpreußen nur Russisch sprechen werde, damit sich die Deutschen dort gleich an die neue Heimat gewöhnen und erkennen, mit Deutsch ist es ganz und gar nichts mehr.


Paul von Rennenkampff

Rennenkampf steht schon dicht bei Berlin. Die Franzosen haben das ganze Elsass besetzt. England hat die deutsche Handelsflotte ruiniert und bei Helgoland der deutschen Kriegsflotte eine schwere Niederlage beigebracht, von der sie sich nicht mehr erholen wird. Man rechnet stündlich damit, dass englische Kriegsschiffe die Elbe hinauffahren und Hamburg bombardieren.

Ein bisschen viel auf einmal für einen guten Deutschen. Das kann unmöglich wahr sein. Man greift doch wieder zu den Zeitungen und forscht zwischen den Zeilen nach der Wahrheit, da sie in ihnen einfach nicht stehen kann. Da, fett gedruckt im Petersburger Herold: der deutsche Kaiser hat hundert Sozialdemokraten erschießen lassen. Dann eine fette Notiz: Revolution und Hungersnot in Berlin. Unter den Linden ist es zu wilden Straßenkämpfen gekommen. Das Militär schoss auf die Tumultuanten, die gegen den Krieg demonstrierten. Hundert Tote blieben auf dem Platz ... Schon quält Hunger die Berliner Bevölkerung. Das Pfund Rindfleisch kostet in der Reichshauptstadt jetzt schon eine Mark.

Ich zu meiner Frau: „Sag mal, weißt du noch, was wir im Frühjahr in Berlin für ein Pfund Rindfleisch bezahlt haben?“

Meine Frau: „Natürlich, das weiß ich noch ziemlich genau, durchschnittlich eine Mark zwanzig.“

Meine Frau glaubt, ich bin verrückt geworden, denn ich lache, dass mir die Tränen über die Backen laufen.

Und ich werde wieder eifriger Zeitungsleser. Die Forts von Lüttich leisten immer noch tapferen Widerstand, aber die Deutschen sind in Brüssel. Das ist zwar ohne jede Bedeutung und braucht keine Beunruhigung hervorzurufen, denn es liegt durchaus im Kriegsplan der „Verbündeten“ ... Hm, na, schön, ich habe nichts dagegen.


Meldung aus Paris: Die französische Regierung verlässt Paris, weil der Stadtkommandant es so wünscht, und begibt sich nach Bordeaux. Langer Bericht, wie klug die Franzosen daran tun, und wie ehrlich von der Regierung, das vor aller Welt bekanntzugeben. Man sieht, was für eine moralische Wandlung mit der großen Nation vor sich gegangen ist. 1870 leider viele Lügenberichte, jetzt diese Ehrlichkeit. Eine völlige Neugeburt der französischen Nation. Sie geht sogar wieder in die Kirchen, die überfüllt sind ... Muss das allen russischen Herzen wohl tun...

Von Ostpreußen hört man gar nichts mehr. Der echte Russe, Herr Müller, scheint seine Abreise nach Königsberg aufgeschoben zu haben. Da dürfte etwas dazwischen gekommen sein? Wenn man nur erfahren könnte, was?

Auf meinem Zimmer erscheint gegen Abend wieder einmal ein Pristavstellvertreter, um wieder einmal ein Protokoll mit mir aufzunehmen. Es wäre einfacher, er schriebe die früheren Protokolle ab, denn mehr erfährt er doch nicht von mir, aber dazu kann er sich nicht entschließen. Auch hat ihm die Behörde noch besondere Aufträge gegeben. Er soll in Erfahrung bringen, ob ich politisch irgendwie verdächtig sei, ob ich schon im Zuchthaus gesessen habe, und ob ich für die Dauer des Krieges in Tiflis zu bleiben beabsichtige.

Wie soll der arme Pristavstellvertreter nun die Wahrheit über mich erfahren, da mich niemand genauer kennt? Er kommt also direkt zu mir, dass ich sie ihm sage. Die Frau des jüngeren Sohnes vom Haus kommt mit, um den Dolmetsch spielen. Der Polizist bittet die Dame, da er nicht federgewandt sei, für ihn das Protokoll zu schreiben. Das geschieht, und die Dame nimmt zu Protokoll, dass ich politisch durchaus unverdächtig sei, nie im Zuchthaus gesessen habe und darum bäte, als nicht militärpflichtig und Mann von 45 Jahren ins Ausland abreisen zu dürfen. Dazu kommt dann noch das Gewohnte von früheren Protokollen her über meine archäologisch-chetitischen Interessen. Die Arbeit dauert anderthalb Stunden. Der Polizist sitzt zufrieden auf seinem Stuhl und raucht, meine Frau und ich sitzen um ihn herum und versorgen ihn immer wieder mit neuen Zigaretten. Die Dame des Hauses schreibt. Das Protokoll ist fertig. Aber es braucht nun noch drei Zeugen, die die Wahrheit der Aussagen durch ihre Unterschrift beglaubigen sollen. Woher nehmen? Wir holen einen Kellner aus dem Restaurant und zwei x-beliebige Leute von der Straße, die für zwei Rubel als Zeugen fungieren. Als somit alles in schönster Ordnung ist, fragt mich der Polizist nach dem jungen österreichisch-polnischen Privatdozenten aus. Ich weiß nichts und habe nichts über ihn zu berichten. Der Polizist will das nicht glauben. Er holt die Pässe von mir und meiner Frau hervor, die mit dem Pass des polnischen Ehepaars zusammengeheftet sind. Für ihn ein Beweis, dass die Behörde uns ebenfalls für gute Bekannte hält. Ich habe aber nichts über den Mann zu sagen, dem die Polizei erlaubt hat, sich in der Stadt eine billigere Wohnung zu nehmen, während sie mich zwingt, in dem teuren Hotel zu bleiben und vom Pump zu leben. Da wir nichts miteinander zu tun haben, bitte ich den Polizisten, das auch äußerlich dadurch kenntlich zu machen, dass er die Pässe voneinander trennt. Aber er tut es nicht...

Wieder einmal wird es Nacht. Um diese Zeit pflegen sonst die wahren Patrioten mit dem Bild des Zaren durch die Straßen zu ziehen und die Nationalhymne zu singen. Seit einigen Tagen hört man sie nicht mehr. Der Statthalter hat es verboten. Die patriotische Manifestation machte auch einen gar zu kläglichen Eindruck. Auf mehr als fünfzig bis achtzig Bürschchen brachte sie es nie. Und die Zahl des lichtscheuen Gesindels wurde immer größer unter ihnen. Sie wollten nicht nur singen, sondern vor allem die deutschen Läden plündern. Aber man fürchtet, dass diese Analphabeten dabei auch französische Läden nicht würden schonen. Und so verbot man denn die Manifestationen überhaupt. Sicher ist sicher.

Überhaupt ist das mit dem russischen Patriotismus in Transkaukasien so eine Sache. Die Russen sind in der Minderheit. Den Grusinern ist durchaus nicht zu trauen, wie sie bei der Revolution 1904/05 deutlich genug gezeigt haben. Die Armenier gebärden sich zwar als russische Überpatrioten, aber misstrauisch ist man auch ihnen gegenüber. Lieber gar keine patriotischen Manifestationen, als so klägliche, worüber die Grusiner längst lachen. Sonst kommen sie am Ende mit Gegenmanifestationen, und die russischen Behörden stecken, ehe sie sich dessen versehen, wieder mitten in einer Revolution. Die ganze mohammedanische Bevölkerung ist sowieso erregt, und man kann sich nicht auf sie verlassen. Der Kaukasus ist ein heißer Boden für russische Füße. Vorsicht ist geboten. Nur gegen die Jagd auf Deutsche ist nichts einzuwenden. Irgendwie muss sich doch der Patriotismus der echt russischen Leute Luft machen. Auch der Gouverneur hat es nötig, sich durch Gemeinheiten gegen die Deutschen als guter Patriot zu erweisen. Er ist Pole, hasst die Deutschen und hat es nicht schwer, sich von der besten russischen Seite zu zeigen. Der alte, grämliche, kränkliche Statthalter aber wäscht nach alterprobtem Rezept seine Hände in Unschuld. Er ist alt, er ist krank, er kann sich nicht kümmern um das, was der Gouverneur macht, dem er das Ressort über die Deutschen übertragen hat. Der arme kranke Mann!

Mitten in der Nacht fahren wir beide jäh in die Höhe und lauschen. Was ist das? Wildes Schreien, Säbelrasseln und Schießen in nächster Nähe. Ich springe auf den Gang. In dem kleinen Hotelgarten eine Menge Offiziere, die brüllen, wild um sich stechen und mit den Pistolen schießen. Wir dachten nicht anders, als dass unser letztes Stündlein jetzt gekommen sei. Eine halbe Stunde dauerte der Lärm. Dann schweres Stöhnen und Ruhe ... Russische Offiziere hatten ein Sektgelage abgehalten. Eine Maus war ihnen über die Füße gelaufen. Ihr galt die wilde Jagd durch das Hotel und seinen Garten, die erst aufhörte, als einer der Offiziere die Kugel eines Kameraden im Leibe hatte. Ob die Maus ebenfalls gefällt wurde, weiß ich nicht.

Wieder Mittag, wieder 45 Grad Hitze, wieder starren wir auf die Nikolaibrücke. Wieder erscheint ein Polizist, diesmal der Reviervorsteher in eigener Person, ein höchst widerwärtiger Mensch mit stechenden Augen, die uns am liebsten an die Wand spießten. Wieder ein Protokoll, das vierte. Dann plötzlich die Frage: „Sie sind also um die russische Untertanschaft eingekommen?“ Ich traue meinen Ohren nicht. „Das muss ein Irrtum sein. Ich denke nicht daran, den russischen Staat so zu beleidigen.“

Der Pristav zieht einen Bogen hervor, in den unsere Pässe eingeheftet sind. „Hier steht es“, sagt er wütend.

Außer unseren Pässen bemerke ich jetzt auch den österreichischen Pass des Polen, und nun geht mir ein Licht auf. Dieser kleine Privatdozent mit der goldenen Brille wollte ja Russe werden, wie er mir selbst erzählt hat. Also nimmt man an, dass ich es ebenfalls werden wolle, da unsere Pässe nun einmal unzertrennlich sind. Ich sage das dem Pristav, und er packt die Papiere wieder zusammen und protokolliert.

„Wo sind die drei Zeugen zur Unterschrift des Protokolls?“ fährt er mich an. Was geht das mich an? Ich bin auf seinen Besuch nicht vorbereitet. Das ist seine Sache. Er läuft aufgeregt durchs Zimmer und sucht nach einem Ausweg. Ich bin ihm aber nicht behilflich. Der Kerl ist mir zu widerwärtig. Er kocht innerlich, denn er muss ein andermal wiederkommen und wieder ein neues Protokoll machen, und es ist so heiß, und die Rjemez machen einem überhaupt so viel Scherereien, die Hunde ... Ich lasse ihn ruhig toben. Ich habe Zeit. Er stürzt aus der Tür und erscheint nach einiger Zeit wieder mit einem Kellner, einem Laufburschen und dem Zimmermädchen. Die beiden Männer sind Grusiner und können kaum Russisch. Angelesen unterschreiben sie mit kaum leserlichen Krakelfüßen, wie der Pristav ihnen befiehlt. Das russische Gesetz verlangt, dass drei männliche Zeugen so ein Protokoll unterschreiben. Der dritte Zeuge ist aber ein Zimmermädchen, also gewiss kein Mann. Nun, sie darf von ihrem Vornamen nur den Anfangsbuchstaben unter das Protokoll setzen. Wer will dann der Unterschrift noch ansehen, welchen Geschlechtes der Zeuge ist? ...

Es wird wieder einmal Abend. Ein russischer Herr lässt sich bei mir anmelden und ist überaus höflich und zuvorkommend. Besonders gegen meine Frau, mit der er Englisch spricht. Mit mir unterhält er sich französisch. Aber er wendet sich allmählich immer ausschließlicher an meine Frau, überaus liebenswürdig und charmant, und versucht, sie über mich auszufragen. Nun, das gelingt ihm nicht. Wir kennen nachgerade alle beide unser Sprüchlein auswendig, und wenn man uns mitten in der Nacht weckte, würden wir uns nicht versprechen. Da er merkt, dass hier nichts zu machen ist, wendet er sich wieder mir zu und interessiert sich sehr für Archäologie.

„Hören Sie, Herr Professor“, so nennt er mich jetzt in dem Glauben, das werde mir Eindruck machen, „ich habe einen Freund, der ist leidenschaftlicher Archäologe. Er ist speziell für die Chetiter interessiert. Würden Sie ihm die Freude machen, ihn zu besuchen?“

„Sehr gerne. Nur muss ich Sie leider darauf aufmerksam machen, dass ich das Hotel nicht verlassen darf.“

„Mein Freund gehört zum Generalstab. Er ist Adjutant des Statthalters. Er hat Ihnen schon die Erlaubnis erwirkt, ihn besuchen zu dürfen. Wenn es Ihnen recht ist, fahren wir gleich zu ihm.“

Ich mache mich fertig für den Ausgang. Unser Zimmer ist durch einen Vorhang in zwei Teile geteilt. In der vorderen Hälfte wohnen wir, in der hinteren ist das Schlafzimmer.

Ich hole mir den Sommerüberzieher aus dem Schlafzimmer, und meine Frau flüstert mir zu, ob sie die Papiere vernichten soll? Ich habe ein Empfehlungsschreiben des türkischen Botschafters in Berlin an die türkischen Zoll- und Polizeibehörden bei mir. Ich habe allerhand andere türkische Empfehlungsbriefe aus Konstantinopel für die türkische Provinz. Ich bitte meine Frau, das nicht zu vernichten. Kommen die Türken nach Tiflis, wie ich immer noch hoffe, können uns die Empfehlungen noch gute Dienste leisten. Will die russische Behörde aber etwas Ernstliches gegen mich unternehmen, dann kommt es auch nicht mehr darauf an, ob diese Papiere da sind oder nicht. Die Hauptsache ist: ruhiges Blut.

Der liebenswürdige Herr räuspert sich nebenan diskret. Ich erscheine wieder und schließe mich ihm an. Meine Frau ist sehr blass, aber gefasst.

Wir gehen nicht durch das Hotel, sondern durch den Hof. Um nicht unnütz aufzufallen, wie mir der liebenswürdige Herr zuflüstert. Auf der Straße pfeift er einem Wagen, und wir steigen ein. Wohin die Fahrt geht, kann ich bei der Dunkelheit nicht unterscheiden.

Wir fahren in einen Hof ein. Der liebenswürdige Herr geleitet mich in einen Büroraum. Solche Räume sind mir von der Polizei her wohl bekannt. Möglich, dass der Dienstraum eines Adjutanten genauso aussieht. Ich weiß es nicht.

Wir setzen uns und plaudern liebenswürdig miteinander. Es erscheint ein großer älterer, nicht gerade schlanker Herr. Wie ein Adjutant sieht er sicherlich nicht aus. Mein liebenswürdiger Herr stellt mich als den bekannten Professor vor, der über die Chetiter arbeite und Ausgrabungen im Wanbezirk machen wolle. So steht es ja auch in allen vier Protokollen.

Der ältere Herr ist auch sehr liebenswürdig, bietet mir Zigaretten an und verrät sofort ein brennendes Interesse für die Chetiter.

O, ich kann ihm dienen. Ich lüge nicht so dumm, wie diese Russen anzunehmen scheinen, ich sage in den Protokollen nur nicht die ganze Wahrheit, das ist alles. Ich interessiere mich wirklich für die Chetiter und wollte allen Ernstes bei meinen Reisen in Anatolien auch ihren Spuren zu folgen suchen. Im Sommer 1914 erschien das grundlegende Werk über diesen ganzen Fragenkomplex von Professor Eduard Meyer in Berlin „Reich und Kultur der Chetiter“, und der Verleger des Werkes hatte mir auf meine Bitte schon Anfang Mai die Aushängebogen dieses Werkes mit nach Konstantinopel gegeben, wo ich reichlich Zeit hatte, es gründlich zu studieren.

O nein, so leicht fing man mich nicht.

Mit der Zeit wurde dem älteren Herrn die Sache doch langweilig. Er bedankte sich sehr höflich für meine interessanten Ausführungen, behauptete, gar mancherlei daraus gelernt zu haben, was ich ihm gerne glauben will, und wir verabschiedeten uns.

Mein liebenswürdiger Herr brachte mich wieder zum Hotel.

Keinen der beiden habe ich seitdem wiedergesehen. Als ich glücklich wieder bei meiner Frau saß, die derweil in tausend Ängsten geschwebt hatte, verstieg ich mich in meiner Freude, der Polizei entwischt zu sein, und auch in dem Bedürfnis, ihr weiter Mut zuzusprechen, zu der in der Tat etwas kühnen Behauptung: „Du sollst sehen, wenn überhaupt noch Deutsche aus Russland herauskommen, dann sind wir es!“

Meine Frau nahm meine Behauptung als einen nicht gerade wirksamen Versuch, sie zu trösten. Es war aber mehr, wie sich denn auch später herausstellte.

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Kurt Aram: Nach Sibirien mit hunderttausend Deutschen

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