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PROZESS:
ERSTER TAG AARGAUER TAGBLATT:
DER SUHRER
GIFTMORDPROZESS VOR
SCHWURGERICHT NR. 230
MITTWOCH, 2. OKTOBER
1929

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Still, adrett wie immer, ein architektonischer Ausdruck der Korrektheit selber, steht das Aarauer Rathaus am Ende der Rathausgasse. Im trüben Schein des Herbstmorgens ist seine Physiognomie vielleicht um ein kleines weniger freundlich als in den langen Tagen herrlichen Nachsommers. Oder sind es die Flügelschatten der Erinnyen, die auf dem Hause liegen? Viel Volk aus allen Ständen strömt hinein. Zahlreicher als sonst zirkulieren Grünröcke treppauf und treppab. Oben im dritten Stockwerk ist der Korridor von einem Teil der 60 Zeugen angefüllt, auf deren Aussagen die sühneheischenden Erinnyen über dem Hause lauschen. Im Saal drin herrscht fühlbare Spannung. Zur Linken auf der Tribüne, dicht vor den drei Fenstern sitzt am schwarzen Tisch der Gerichtshof mit dem Schreiber. Linker Hand zur Seite konzentriert sich in der Gestalt des Staatsanwaltes die furchtbare Anklage. Den Rücken dem Licht des Tages zugewandt, vor sich die Akten, die auf zweifachen Giftmord lauten, sitzt im tiefsten Schwarz der Ankläger. Auf der rechten Seite der Tribüne, ebenfalls in feierlichem Schwarz, folgt mit gespannter Aufmerksamkeit sein Gegenspieler, der junge Verteidiger den Verhandlungen. Ist er besser im Licht platziert, ist’s das grosse, weisse Pochettchen im schwarzen Rock, das Bild ist um eine kleine Nuance weniger schwer, weniger düster, ein ganz klein wenig aufgehellt. Vor der Tribüne der Richter zur Linken reihen sich die Geschworenen und ihnen gegenüber sitzt in der ersten Bank der rechten Saalhälfte die Angeklagte, die ihren Wahrspruch angerufen hat: eine kleine rundliche Frau im weissen Haar, hoch in den Sechzigern, bewacht von einem Soldaten der Kantonspolizei. Das schwarze Schaltuch hat sie sich um die Schultern gezogen; ruhig liegen ihre Hände im Schoss und halten eine kleine schwarze Ledertasche. Ihr Gesicht ist eingefallen, gelb, beinahe wie das Holz der Gerichtsschranken. Die offenbaren Spuren der langen Gefängnishaft prägen sich in diesem Gesicht aus. Spärlich sind die Bewegungen und herb; die ganze Haltung verrät konzentrierte Spannung und sichtliche Bemeisterung. Kräftig schlägt ihr Herz, die angezogenen Schultern verraten es in regelmässigen kleinen Bewegungen. Mitunter schliesst sich der Mund kräftiger, als müsste ein Wort, eine Widerrede dahinter verschlossen werden. Mag sein, dass die Anklage des Staatsanwaltes das Bild aufdrängt, aber der Frau, die hier vor ihren Richtern sitzt, scheint nur ein Tisch zu fehlen, um Karten auszulegen und mit den etwas versunkenen Augen in die verschleierte Zukunft einzudringen. Sie ist in den Hauptpunkten des Giftmordes an einer Frau und an einem Manne angeklagt. Was geht hinter ihrer Stirne vor, da die Zeugen das eine Opfer im Kreuzfeuer der Zeugeneinvernahme lebhaft schildern? Wie spiegelt sich in ihrem Bewusstsein die Erinnerung an den Tag des Leichenbegängnisses, da die Verwandten der Toten nach Suhr kamen? Was weiss sie von den verschwundenen Sparkassenbüchern und Obligationen? Hier liegt das Geheimnis. Hinter diese verschliessende, das Geheimnis behütende Stirn müssen Geschworene, Staatsanwalt und Verteidiger eindringen, ehe das Gericht das Urteil fällt. Mit gespannter Aufmerksamkeit, oft mit deplatzierten Heiterkeitsausbrüchen folgen die Zuhörer auf der gedrängt vollen öffentlichen Tribüne im Hintergrund des Saales den Antworten der Zeugen, die einzeln an das kleine Tischchen in der Mitte des Saales gerufen werden. Die intimsten Verhältnisse einer Familie werden erörtert. Aufmerksam folgt auch die Angeklagte den Zeugenaussagen. Sie alleine wäre, falls sie schuldig ist, im Stande, mit wenigen Worten dem grausamen Spiel ein rasches Ende zu bereiten. Allein, sie hat ihre Schuld bestritten. Vor ihr gähnt das offene Tor des Zuchthauses. Warum spricht sie nicht? Ist es der starke Wille zum Leben, der unverkennbar diese Frau beherrscht, ist es – Schuldlosigkeit? Es geht um Schicksal. Spannung durchflutet den trüben Gerichtssaal, hochgespannte Erwartungen, ob die Angeklagte unter den Indizien zusammenbrechen oder die Position behaupten wird, die sie entschlossen einnimmt.

Über den ersten Verhandlungstag lassen wir nachstehend die Aufzeichnungen unseres Spezialberichterstatters folgen:

1. VERHANDLUNGSTAG VOM 1. OKTOBER 1929.

VORSITZENDER: Herr Oberrichter Rohr-Reiner. VIZEPRÄSIDENT: Herr Oberrichter Koch. WEITERES MITGLIED: Herr Oberrichter Kistler. GERICHTSSCHREIBER: Herr Zimmerlin. ÖFFENTLICHER ANKLÄGER: Herr Staatsanwalt Dr. Rauber. VERTEIDIGER DER ANGEKLAGTEN: Herr Dr. Fritz Meyer, Aarau. VORSITZENDER DER GESCHWORENEN: Herr Notar Bachmann, in Staffelbach.

Auf der Anklagebank sitzt Frau Verena Lehner, geb. Kaufmann, in Gränichen, geboren 1862.

Um 9.15 Uhr eröffnet der Vorsitzende die Verhandlungen. Der Zuhörerraum ist ziemlich stark besetzt. Der Gerichtsschreiber eröffnet die fünf Anklagen gegen die Angeklagte, welche lauten:

1

Auf Giftmord an Frau Elisabeth Schmidli, geb. Bertschi, in Suhr, geb. 1837, durch Beibringung von giftigen Arsenstoffen, infolge dessen die letztere am 31. August 1923 gestorben ist.

2

Auf Giftmord an Meier Adrian, pensionierter Bahnarbeiter, geb. 1852, von Winznau, wohnhaft gewesen im Rhyntal, Gemeinde Suhr, durch Beibringung giftiger Arsenstoffe, infolgedessen Adrian Meier am 2. August 1924 gestorben ist.

3

Auf Diebstahl an der im gleichen Hause im Rhyntal bei Suhr wohnenden Schmidli Elisabeth geb. Bertschi, im Betrag von über Fr. 900.-, um sich dieses wissentlich fremde Gut rechtswidrig anzueignen.

4

Eventuelle Anklage für den Fall der Verneinung der Anklage 3 auf Unterschlagung.

5

Auf Betrug durch Urkundenfälschung in verschiedenen Fällen gegenüber zwei Geldinstituten und Personen in erheblichen Beträgen.

6

Auf Betrug durch Urkundenfälschung in zwei Fällen und zum Teil erheblichen Beträgen.

Es sind im ganzen 76 Zeugen einzuvernehmen, für deren Einvernahme 3 Tage in Aussicht genommen sind, worunter auch ärztliche Experten.

Die Angeklagte, vom Vorsitzenden aufgerufen, erklärt, dass sie an der Bestreitung sämtlicher fünf Anklagen festhalte und die Entscheidung des Geschworenengerichtes anrufe.

Der Vorsitzende setzt in gedrängter Kürze die Entstehung dieser Untersuchung auseinander, die einmal von der Staatsanwaltschaft eingestellt und dann wieder aufgenommen wurde. Er klärt speziell auf, in welcher Weise diese Untersuchungen in Anlehnung an den Kriminalfall Dietiker neuerdings aufgegriffen worden sind. Die Anklagen berühren Tatbestände, die auf die Jahre 1923 und 1924 zurückgehen und sich im abgelegenen Rhyntal, Gemeinde Suhr, abwickeln, das in der Richtung Gränichen-Vorstadt zu liegt. Der Vorsitzende orientiert anhand der Karte über die örtlichen Verhältnisse. – Es sind auf heute 25 Zeugen vorgeladen.

Die sämtlich anwesenden 25 Zeugen werden in Pflicht genommen und zur Angabe der Wahrheit ermahnt. Der zweite Teil der vormittägigen Verhandlung wird durch die Einvernahme von 11 Zeugen aus Winznau bei Olten und Umgebung in Anspruch genommen. Es sind dies meistens Verwandte und gute Bekannte des am 2. August 1924 gestorbenen Adrian Meier, mit dessen unerwartetem Ableben sich die Anklage 2 befasst. Meier war 1852 geboren, bei seinem Tod also 72 Jahre alt. Diese Zeugen aus dem Amt Olten sprechen sich eingehend über die Person des Adrian Meier aus. Dieser wohnte bei nahen Verwandten in Winznau sowohl vor seiner 1910 erfolgten Pensionierung als Bahnbeamter wie auch nachher, bis er am 1. September 1922 zu der Angeklagten nach Suhr zog. Die Zeugen schilderten denselben als einen frohgemuten, rechtschaffenen Mann, der aber auch launenhaft und rechthaberisch sein konnte. Auch war er für mystische Dinge sehr empfänglich und liess sich bei vorübergehenden leichten Erkrankungen eher von fremden Quacksalbern als patentierten Ärzten behandeln. Die Einvernahmen ergeben, dass derselbe ein Vermögen von ungefähr 28 000 Fr. besass, das in Obligationen und Sparbüchlein auf der Aargauischen Bank und der Ersparniskasse Olten bestand. Mit seinen Verwandten stand er auf gutem Fuss, nur befand sich Meier im falschen Wahn, dass dieselben seine Bevormundung anstrebten, nachdem er nach Suhr verzogen war. Es scheint, dass ihn insbesondere sein Freund u. Altersgenosse Ad. Meier in Olten mit der Wahrsagerin und Kartenschlägerin Frau Lehner bekannt machte. Sein Verhalten und seine Antworten – der Mann ist 85 Jahre alt – lassen ihn denn auch als ein Original erscheinen. Aus den Aussagen einzelner Zeugen von Winznau, welche den Adrian Meier in Suhr besuchten und mit ihm auch in Olten zusammentrafen, wo er seine Pension holte, ist hervorzuheben, dass er anfänglich mit seiner Kostgeberin Frau Lehner zufrieden war, später aber nicht mehr und die Absicht äusserte, wieder nach Winznau zu seinen Verwandten zurückzukehren. Zu einzelnen Verwandten äusserte Meier, er möchte wieder fort, aber er dürfe es mit dieser Person nicht überstürzen, sie habe eine grosse Macht, es kämen grosse Herren zu ihr, sie könnte ihm ein Leid antun. Von besonderer Bedeutung sind die Aussagen der Eheleute Tanner, welche den Stiefgrossvater noch am 26. Juli 1924, also genau acht Tage vor seinem Tode, besuchen wollten. Dabei gab die Angeklagte diesen Verwandten den Bescheid, dass Meier nach Aarau an das Schützenfest gegangen sei. Nach den Angaben des behandelnden Arztes war Meier damals bereits derart ernstlich krank, dass ein Gang nach Aarau ganz ausgeschlossen war.

Die verwandten Zeugen, welche bei der ersten Inventur und der Nachinventur über den Nachlass Meiers zugegen waren, deponierten, dass nichts vorhanden gewesen war, als etwas Barschaft. Frau Lehner habe erklärt, es seien keine Wertschriften vorhanden und die Fahrhabe habe sie von Meier um Fr. 600.- gekauft, worüber sie ein Schriftstück des Meiers vorwies. Aber auch von dieser Barschaft war nichts vorhanden. Einzelne Zeugen machen Aussagen, dass Frau Lehner die Karten geschlagen und ihnen geweissagt habe. Über die Ursache des Todes von Adrian Meier befragt, hat sich die Angeklagte sowohl in ihrer Wohnung, als auch anlässlich der Beerdigung in Winznau dahin ausgesprochen, es habe derselbe unreife Beeren gegessen.

Die Verhandlung wurde ein Viertel vor 1 Uhr abgebrochen und um 2.30 Uhr wieder aufgenommen. – Die am Nachmittag einvernommenen Zeugen sprechen sich zum Teil über die Angeklagte aus, speziell bestätigen sie, dass in der Wohnung der Frau Lehner, die ein besonderes Sprechzimmer hatte, viele fremde Leute ein- und ausgingen. Eine Reihe von Zeugen machen nähere Angaben über die Witwe Elisabeth Schmidli, geb. Bertschi, welche am 31. August 1923 gestorben ist und mit deren Tod sich die Klage 1 befasst. Dieselbe kam mit 85 Jahren zu Frau Lehner und lebte dort noch etwa ein Jahr. Auch Frau Schmidli äusserte sich zu ihren nächsten Verwandten, sie wolle bei Frau Lehner nicht länger bleiben, und war im Begriffe, nach Buchs zu ihrem Schwiegersohn überzusiedeln. Obwohl von der Heimatgemeinde Thalheim verkostgeldet, besass sie noch ein Sparkassenbüchlein von etwa Fr. 900.-. Die alte Frau Schmidli war zwei Tage vor ihrem Tod noch auf der Kantonalbank und löste das Sparbüchlein ab. Nach den Aussagen hätte sie das Geld der Frau Lehner abgegeben; diese stellte in Abrede, solches erhalten zu haben. Ein Prokurist der aargauischen Kantonalbank wird als Zeuge aufgerufen. Derselbe macht über die Einlagen des Adrian Meier und der Frau Schmidli eingehende Angaben.

Auf Grund zweier Briefe vom Mai 1924, welche die Unterschrift des Adrian Meier tragen, wurden der Angeklagten Frau Lehner am 20. Mai 1924 zwei Einlagen von zusammen über Fr. 6000.- ausbezahlt und aus einer weiteren von Fr. 5048.- eine Kassaschuld der Frau Lehner getilgt. Über die Echtheit der Unterschrift des Adrian Meier auf den beiden Briefen haben sich die Schriftexperten noch auszusprechen. In Bezug auf das Guthaben der Witwe Schmidli bestätigte der Zeuge, dass ihr dasselbe zwei Tage vor dem Tode am Schalter der Bank ausbezahlt worden sei.

Der sowohl die Frau Schmidli, als den Adrian Meier behandelnde Arzt, Dr. Furrer in Gränichen sagt als Zeuge aus, dass er dem Adrian Meier keinerlei arsenhaltige Medikamente verabfolgt und dass er der 88-jährigen Frau Schmidli keinerlei Arzneien verschrieben habe. Diese habe sich über Darmstörungen und Bauchschmerzen beklagt, ebenso Meier. Bei letzterem war grosse Herzschwäche zu konstatieren. Nach den Angaben der Frau Lehner habe sich Meier erbrechen müssen. Dieser wurde als magenkrank behandelt. Der Zeuge besuchte Meier am 16., 18. und 19. Juli. Dass Meier am 26. Juli in Aarau gewesen sein könne am Schützenfest, erscheint ausgeschlossen. – Die heutigen Verhandlungen finden mit der Einvernahme des medizinischen Experten, Herr Dr. Remund, Oberarzt des medizinischen Institutes an der Universität Zürich, ihren Abschluss.

Herr Dr. Remund kommt einleitend auf den Vergiftungsfall Dietiker zu sprechen, ergeht sich sodann einlässlich über die Ergebnisse der Leichenuntersuchungen von Adrian Meier und der Frau Schmidli-Bertschi; erstere wurde am 25. September 1928 ausgegraben. In Bezug auf die Leiche Meier bemerkte der Zeuge, dass Magenkrebs und Arsenvergiftung die gleichen Symptome zeigen. Bei der Öffnung der Leiche Meier war die Bauchhöhle noch geschlossen und musste aufgeschnitten werden; die Leiche war eine sogenannte Wachsleiche. In der stark zusammengeschrumpften Leber wurden drei Milligramm Arsen konstatiert, ein Quantum, das mehr als genügt, um einen Menschen zu töten. Der Experte kommt zu dem Schluss, dass dem Adrian Meier zu Lebzeiten Arsen gegeben wurde.

In Bezug auf die Leiche der Frau Schmidli erklärt der Sachverständige, dass diese sogar noch in schönerer Form vorhanden gewesen war, als diejenige des Adrian Meier. Auch bei Frau Schmidli sei die Bauchhöhle noch geschlossen, alle Organe erhalten gewesen. In der Leber sei ein bedeutend grösseres Quantum Arsen festgestellt worden; aber auch der Dickdarm und der Dünndarm und andere Organe wiesen Arsenik auf. Auch in Bezug auf Frau Schmidli kommt der Experte zum Schluss, dass derselben zu Lebzeiten Arsen beigebracht worden sind. Diese Ausführungen machen sichtlich grossen Eindruck auf die sehr zahlreichen Zuhörer.

Die Angeklagte ist den Verhandlungen mit grösster Aufmerksamkeit gefolgt. Auf ihren Zügen war keine innere Erregung zu erkennen. Sie behielt von Anfang bis zu Ende dieselbe Ruhe.

Giftmord

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