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Die tiefenpsychologische Deutung

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Schon die Herausarbeitung der theologischen Unterschiede zwischen den Schöpfungsberichten und dem babylonischen Enuma Elisch zeigte, wie grundlegend anders sich die biblischen Schöpfungsgeschichten verstehen. Jeder Schöpfungsmythos hat seine eigene Dramatik und Erzählfolge. Die Unterschiede sind nicht zu bestreiten. Dennoch haben alle Weltentstehungsmythen, wie wir im vorigen Kapitel bereits gelernt haben, erstaunliche Gemeinsamkeiten, übereinstimmende Muster, die Norbert Bischof tiefenpsychologisch deutet.

Auch Gen 1 beginnt zunächst mit der Vorwelt als einem ununterscheidbaren, unstrukturierten Ganzen, mit einer leeren Erde und einer finsteren Urflut, über welcher der Geist Gottes als Nebel brütet. (Dabei sollte man „Erde“ und „Urflut“ an dieser Stelle nicht allzu wörtlich nehmen, da die eigentliche Trennung von Meer und Festland ja erst am dritten Schöpfungstag erfolgte.) Norbert Bischof sieht in diesem leeren, dunklen, nebligen Zustand den Widerhall der frühkindlichen Phase des Menschen, der sich in einer Art symbiotischen Einheit mit seiner Urwelt (dem Uterus) erfährt, ohne sich selbst als ein Individuum getrennt von dieser Welt wahrzunehmen. Erst ab der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres erwacht im Kind allmählich das Bewusstsein der eigenen Identität und der Unterscheidung zwischen sich und der Umwelt, zwischen sich und den Eltern sowie zwischen der Mutter und dem Vater.

Nach dem Urzustand folgt der eigentliche Schöpfungsakt, der zunächst die Teilung von Licht und Finsternis bewirkt. Das Licht ist der Gegensatz von Dunkelheit und symbolisiert, mythologisch gesprochen, das erste frühmenschliche Erwachen aus einem dunklen Trancezustand. Der Trennung von Dunkelheit und Licht folgen weitere Trennungen, die mythologisch alle als frühkindliche Gewahrwerdung des eigenen Getrenntseins von der Welt gedeutet werden: die Trennung der Wasser unterhalb der Feste von den Wassern oberhalb der Feste, die Teilung von Wasser und Himmel sowie von Wasser und Festland. Auch die am vierten Tag geschaffene Sonne und der Mond teilen den 24-Stunden-Tag in einen hellen Tag und eine dunkle Nacht auf, und auch der fünfte Tag sieht eine Zweiteilung: die der Fische im Wasser und der Vögel in der Luft. Am sechsten Tag werden die Tiere und der Mensch geschaffen. Und selbst der Mensch kommt paarweise daher.

Schöpfung bedeutet hier Teilung. Das drückt sich sogar im hebräischen Wort für Schöpfung aus. Das Wort bara im Titel der Geschichte, „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, bedeutet sowohl „erschaffen“ als auch „teilen“. Man könnte also genauso gut lesen: „Am Anfang teilte Gott Himmel und Erde“, womit erneut klar wird, dass es sich hier um eine Überschrift und nicht um einen ersten Schöpfungsvorgang handelt, da, wie in vielen anderen Schöpfungsmythen festzustellen, zunächst der ungeteilte Urzustand beschrieben wird, bevor sich dann die Teilung bzw. Schöpfung vollzieht. Es ist Elohim, der diese Teilungen durch sein allmächtiges Wort bewirkt. In diesen Teilungsvorgängen sieht Norbert Bischof, wie bereits beschrieben, die Reflexion des erwachten Ichbewusstseins, das sich seiner selbst gewahr wird und sich somit seine eigene Welt erschafft. Das Kind wird nun durch diesen Schöpfungsprozess in die Lage versetzt, sich und seine Umgebung zu unterscheiden und auch seine Umgebung genauer zu differenzieren, d.h. aufzuteilen.

Bischof erkennt in Elohim, dem Gott von Gen 1, das erwachende Ich oder Ichbewusstsein, das nun die Teilung der Welt vornimmt. „Nach dem psychogenetischen Deutungsprinzip, dem wir bisher gefolgt sind“, so Bischof, „repräsentiert dieser Elohim … das Ich zwischen den Elternmedien.“6 Gott Elohim ist also das auseinanderbrechende Ich-Prinzip, das sich zwischen die (mütterlichen) Wasser der Urflut und die (väterlichen) Wasser des Himmels zwängt.

Anders ist es bei der jahwistischen Schöpfungserzählung von Gen 2, die in ihrer Urform als älter eingestuft wird als der elohistische Bericht des ersten Kapitels. Beim Jahwisten wird die Existenz der Erde bereits vorausgesetzt, aber es fehlen noch die Pflanzen, die Tiere und vor allem der Mensch, der als erster geschaffen wird, und zwar aus dem Staub der Erde und dem Odem Jahwehs. Der Mensch (hebräisch adam) steht in einer besonderen Beziehung zur Mutter Erde (hebräisch adama), sieht sich aber auch einem allmächtigen Vater (Jahweh) gegenüber, so dass wir hier eine Polarität von Erde (unten) und Jahwe (oben) haben, während das Menschenpaar das Ich-Prinzip versinnbildlicht, das im Zentrum steht. Anders als beim Elohisten, wo Gott die Trennung verursacht, ist es beim Jahwisten der Mensch, der im Verbund mit der Schlange die heile Welt zerstört und damit die (negativ verstandene) Trennung vom Paradies bewirkt.

Aus dem Umstand, dass es beim Elohisten Gott ist, beim Jahwisten jedoch der Mensch, wodurch jeweils die Trennung bewirkt wird, erklärt sich nach Bischof auch die Tatsache, dass gemäß Gen 1 der Mensch als „gottgleich“ beschrieben wird („nach dem Bilde Gottes schuf er ihn“), während beim Jahwisten die Gottgleichheit als eine Art Betriebsunfall gewertet wird, die den Ausschluss aus dem Paradies zur Folge hat („Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist … Da wies ihn Gott Jahwe aus dem Garten Eden.“ Gen 3,22–23)

Beim Elohisten (Gen 1) wird der sechstägige (von Gott verursachte) Trennungsvorgang positiv als vollkommene Schöpfung wahrgenommen, während beim Jahwisten der Trennungsvorgang (Sündenfall und Erkenntnis von Gut und Böse) als verlorengegangenes Paradies beklagt wird. Bischof schlussfolgert darum, „dass der jahwistische Text zu den nostalgischen, die Priesterschrift [der Elohist] hingegen zu den emanzipatorischen Mythen zu rechnen ist“.7

Zwar wird der Trennungszustand in beiden Fällen mit der Gottgleichheit verbunden, doch während er in Gen 1 positiv und gottgewollt dargestellt ist, wird er in Gen 2–3 negativ und als Sündenfall gedeutet. Damit können wir einen weiteren wesentlichen Unterschied zwischen Gen 1 und Gen 2 konstatieren.


Albrecht Dürer: Adam und Eva (1504).

Ich möchte an dieser Stelle nochmal betonen, was auch Bischof zugesteht: dass nämlich die tiefenpsychologische Deutung keinen Beweischarakter hat, dass ihr aber nach meiner Einschätzung eine hohe Plausibilität innewohnt, die sich darin zeigt, dass die frühkindlichen Phasen in nahezu allen Weltentstehungsmythen wiedererkennbar sind.

Wenn wir das psychogenetische Deutungsprinzip der Schöpfungsmythen als richtig voraussetzen, müssen wir in diesem Zusammenhang die Frage stellen, wie man sich das Einfließen des frühkindlichen Erlebens des Menschen in die traditionellen Erzählungen der Völker und Kulturen vorzustellen hat. Ich vermute, dass jeder Versuch eines Geschichtenerzählers, die Entstehung der Welt narrativ nachzuzeichnen, stets beeinflusst wurde von der tief im Unbewusstsein verwurzelten traumatischen Erfahrung der subjektiven Weltentstehung, wie sie der Erzähler als 2–3-Jähriges Kind erfahren hat.

Klar ist freilich, dass dieses Einfließen des frühkindlichen Erlebens in die traditionelle Erzählkultur unbewusst geschah und dass sich die unbewussten Elemente jeweils mit anderen, rationalen Vorstellungen und Gedankengängen vermischt haben: Da ist zum einen die reine Beobachtung der vorfindlichen Welt, die von der Tradition aufgegriffen wird (etwa, dass der Regen von oben kommt und das Quellwasser von unten, oder dass die Gestirne sich allesamt um die Erde drehen); auch geographische Besonderheiten flossen in die Mythen ein (dass das Paradies an Euphrat und Tigris lag, wie die Bibel zu berichten weiß), und natürlich haben auch die religiösen und theologischen Auffassungen ihren Einfluss auf die Schöpfungsmythen genommen: die spezifische Götterwelt ebenso wie die moralischen Vorstellungen eines Volkes.

Ich fasse zusammen: Die biblischen Schöpfungstexte von Gen 1 und Gen 2–3 müssen unter verschiedenen Gesichtspunkten und im Sinne unterschiedlicher Deutungsebenen verstanden werden: als Weltentstehungsmodelle, als theologische Konzeptionen, als kulturhistorische Dokumente und als psychogenetische Mythologien, die der frühkindlichen Erfahrung der Ichwerdung und subjektiven Weltentstehung entspringen. Die biblischen Schöpfungsgeschichten sind keine historisch-naturwissenschaftlichen Berichte und stehen nicht in Konkurrenz zu den modernen kosmologischen Weltentstehungstheorien, wie wir sie heute kennen. Nur wer die verschiedenen Deutungsebenen zu würdigen weiß, wird den biblischen Texten ausreichend gerecht werden können.

Und sie dreht sich doch!

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