Читать книгу Wir saßen auf der Wolke und ließen die Beine baumeln. Nachher - Kurt Tucholsky - Страница 9

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»Er ist ein Pedant, ein ganz lächerlicher Pedant!«, sagte er.

»Weißt du, wie viel Sternlein stehen …?«, sagte ich. »Gott der Herr hat sie gezählet … «

»Er hat alles gezählet!«, schimpfte er. »Gezählet – das feierliche e, das schon Liliencron nicht leiden konnte, genau so lächerlich wie dieser ganze alte Mann. Alles hat Er gezählet … Haben Sie einmal in unser Lebensbuch hineingesehen –?«

»Es war die größte Überraschung, die ich jemals erlebt – nein, die ich jemals gehabt habe«, sagte ich. »Das ist denn doch die Höhe.«

»Nicht wahr? Aufzuschreiben, wie oft man jede einzelne Handlung begangen hat; es ist ja – geisteskrank ist das, das ist ja … das übersteigt denn doch alles an Greisenhaftigkeit, was je …«

»Sie lästern«, sagte ich. »Sie müssen Ihn nicht lästern, dann kann dieses Buch nicht erscheinen. Gott ist groß.«

»Gott ist …«

»Nicht, nicht. Natürlich ist es lächerlich. Denken Sie sich: ich habe neulich einmal einen ganzen Nachmittag auf der Bibliothek verbracht und meinen Band durchgeblättert. Er ist sehr exakt geführt, das muss man schon sagen. Manches hätte ich nicht für möglich gehalten – summiert sieht es doch anders aus als damals, als man es tat.

Schlüssel gesucht: 393-mal. Zigaretten geraucht: 11 876. Zigarren: 1078. Geflucht: 454-mal. (Bei uns ist erlaubt, zu fluchen – daher kann ich es nicht so gut. Ich bin kein Engländer.) An Bettler gegeben: 205-mal. Nicht viel. Nugat gegessen – ist ein Mensch je auf den Gedanken gekommen, derartiges aufzuschreiben …! Nugat: 3-mal. Ich habe keine Ahnung, was Nugat ist. Die Handschrift des Buchhalters ist aber so ordentlich, dass es schon stimmen wird. Übrigens: die letzten tausend Seiten sind mit einer Buchhaltungsmaschine geschrieben. Man modernisiert sich.«

»Er zählt alles«, grollte er. »Er zählt Verrichtungen, die ein anständiger Mensch …«


»… non sunt turpia«, sagte ich. »Ich habe demnach, sah ich an jenem Nachmittag, recht mäßig gelebt, in Baccho et in Venere … recht mäßig. Ich mag Ihnen die Zahl nicht nennen – aber es grenzt schon an Heiligkeit. Jetzt tut es mir eigentlich leid … Das merkwürdigste ist –«

»Was?«, fragte er.

»Das merkwürdigste ist«, sagte ich, »zu denken, dass man dies oder jenes zum letzten Mal in seinem Leben getan hat. Einmal muss es doch das letzte Mal gewesen sein. Am vierzehnten Februar eines Jahres hat man zum letzten Mal ein Automobil bestiegen … Und man ahnt das natürlich nicht. Finales gibt es ja doch nur in den Opern. Man steigt ganz gemütlich in ein Automobil, fährt, steigt aus – und weiß nicht, dass es das letzte Mal gewesen sein soll. Denn dann kam vielleicht die Krankheit, die lange Bettlägerigkeit … nie wieder ein Automobil. Zum letzten Mal in seinem Leben Sauerkraut gegessen. Zum letzten Mal: telefoniert. Zum letzten Mal: geliebt. Zum letzten Mal: Goethe gelesen. Vielleicht lange Jahre vor dem Tode. Und man weiß es nicht.«

»Aber es ist gut, dass man es nicht weiß«, sagte er; »wie?«

»Vielleicht«, sagte ich. »Man sollte aber bei jeder Verrichtung denken: Tu sie gut. Gib dich ihr ganz hin. Vielleicht ist es das letzte Mal.«

»Aber Er ist doch ein gottverdammter Pedant …!«, fuhr er auf.

»Nennen Sie nicht Seinen Namen!«, sagte ich. »Er ist ein göttlicher Pedant.«

Wir saßen auf der Wolke und ließen die Beine baumeln. Nachher

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