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Es ergab sich, daß der Gepäckträger Nr. 47 aus Warnemünde stammte, und der Freude und des Geredes war kein Ende, bis ich, diese landsmännische Idylle, der Zeit wegen, unterbrach. »Fährt der Gepäckträger mit? Dann könnt ihr euch ja vielleicht im Zug weiter unterhalten.« – »Olln Döskopp! Heww di man nich so!« sagte die Prinzessin. Und: »Wi hemm noch bannig Tid!« der Gepäckträger. Da schwieg ich überstimmt, und die beiden begannen ein emsiges Palaver darüber, ob Korl Düsig noch am »Strom« wohnte – wissen Sie: Düsig – näää ... de Olsch! So, Gott sei Dank, er wohnte noch da! Und hatte wiederum ein Kind hergestellt: der Mann war achtundsiebzig Jahre und wurde von mir, hier an der Gepäckausgabe, außerordentlich beneidet. Es war sein sechzehntes Kind. Aber nun waren es nur noch acht Minuten bis zum Abgang des Zuges, und... »Willst du Zeitungen haben, Lydia?« – Nein, sie wollte keine. Sie hatte sich etwas zum Lesen mitgebracht - wir unterlagen beide nicht dieser merkwürdigen Krankheit, plötzlich auf den Bahnhöfen zwei Pfund bedrucktes Papier zu kaufen, von dem man vorher ziemlich genau weiß: Makulatur. Also kauften wir Zeitungen.

Und dann fuhren wir – allein im Abteil – über Kopenhagen nach Schweden. Vorläufig waren wir noch in der Mark Brandenburg.

»Finnste die Gegend hier, Peter?« sagte die Prinzessin. Wir hatten uns unter anderm auf Peter geeinigt – Gott weiß, warum.

Die Gegend? Es war ein heller, windiger Junitag – recht frisch, und diese Landschaft sah gut aufgeräumt und gereinigt aus – sie wartete auf den Sommer und sagte: Ich bin karg. »Ja...«, sagte ich. »Die Gegend...« – »Du könntest für mein Geld wirklich etwas Gescheiteres von dir geben«, sagte sie. »Zum Beispiel: diese Landschaft ist wie erstarrte Dichtkunst, oder sie erinnert mich an Fiume, nur ist da die Flora katholischer – oder so.« – »Ich bin nicht aus Wien«, sagte ich. »Gott sei Dank«, sagte sie. Und wir fuhren.

Die Prinzessin schlief. Ich denkelte so vor mich hin.

Die Prinzessin behauptete, ich sagte zu jeder von mir geliebten Frau, aber auch zu jeder --: »Wie schön, daß du da bist!« Das war eine pfundsdicke Lüge – manchmal sagte oder dachte ich doch auch: »Wie schön, daß du da bist... und nicht hier!« – aber wenn ich die Lydia so neben mir sitzen sah, da sagte ich es nun wirklich. Warum --?

Natürlich deswegen. In erster Linie...? Ich weiß das nicht. Wir wußten nur dieses; Eines der tiefsten Worte der deutschen Sprache sagt von zwei Leuten, daß sie sich nicht riechen können. Wir konnten es, und das ist, wenn es anhält, schon sehr viel. Sie war mir alles in einem: Geliebte, komische Oper, Mutter und Freund. Was ich ihr war, habe ich nie ergründen können.

Und dann die Altstimme. Ich habe sie einmal nachts geweckt, und, als, sie aufschrak: »Sag etwas!« bat ich. »Du Dummer!« sagte sie. Und schlief lächelnd wieder ein. Aber ich hatte die Stimme gehört, ich hatte ihre tiefe Stimme gehört.

Und das dritte war das Missingsch. Manchen Leuten erscheint die plattdeutsche Sprache grob, und sie mögen sie nicht. Ich habe diese Sprache immer geliebt; mein Vater sprach sie wie hochdeutsch, sie, die »vollkommnere der beiden Schwestern«, wie Klaus Groth sie genannt hat. Es ist die Sprache des Meeres. Das Plattdeutsche kann alles sein: zart und grob, humorvoll und herzlich, klar und nüchtern und vor allem, wenn man will, herrlich besoffen. Die Prinzessin bog sich diese Sprache ins Hochdeutsche um, wie es ihr paßte – denn vom Missingschen gibt es hundert und aber hundert Abarten, von Friesland über Hamburg bis nach Pommern; da hat jeder kleine Ort seine Eigenheiten. Philologisch ist dem sehr schwer beizukommen; aber mit dem Herzen ist ihm beizukommen. Das also sprach die Prinzessin – ah, nicht alle Tage! Das wäre ja unerträglich gewesen. Manchmal, zur Erholung, wenn ihr grade so zu Mut war, sprach sie missingsch; sie sagte darin die Dinge, die ihr besonders am Herzen lagen, und daneben hatte sie im Lauf der Zeit schon viel von Berlin angenommen. Wenn sie ganz schnell »Allmächtiger Braten!« sagte, dann wußte man gut Bescheid. Aber mitunter sprach sie doch ihr Platt oder eben jenes halbe Platt: missingsch.

Das weiß ich noch wie heute... Das war, als wir uns kennenlernten. Ich war damals zum Tee bei ihr und bot den diskret lächerlichen Anblick eines Mannes, der balzt. Dabei sind wir ja rechtschaffen komisch... Ich machte Plüschaugen und sprach über Literatur – sie lächelte. Ich erzählte Scherze und beleuchtete alle Schaufenster meines Herzens. Und dann sprachen wir von der Liebe. Das ist wie bei einer bayrischen Rauferei – die raufen auch erst mit Worten.

Und als ich ihr alles auseinandergesetzt hatte, alles, was ich im Augenblick wußte, und das war nicht wenig, und ich war so stolz, was für gewagte Sachen ich da gesagt hatte, und wie ich das alles so genau und brennendrot dargestellt und vorgeführt hatte, in Worten, so daß nun eigentlich der Augenblick gekommen war, zu sagen: »Ja, also dann ...« – da sah mich die Prinzessin lange an. Und sprach: »Einen weltbefohrnen dschungen Mann --!«

Und da war es aus. Und ich fand mich erst viel später bei ihr wieder, immer noch lachend, und mit der erotischen Weihe war es nichts geworden. Aber mit der Liebe war es etwas geworden.

Der Zug hielt.

Die Prinzessin fuhr auf, öffnete die Augen. »Wo sind wir?« – »Es sieht aus wie Stolp oder Stargard – jedenfalls ist es etwas mit St«, sagte ich. – »Wie sieht es noch aus?« fragte sie. - »Es sieht aus«, sagte ich und blickte auf die Backsteinhäuschen und den trübsinnigen Bahnhof, »wie wenn hier die Unteroffiziere geboren werden, die ihre Mannschaften schinden. Möchtest du hier Mittag essen?« Die Prinzessin schloß sofort die Augen. »Lydia«, sagte ich, »wir können auch im Speisewagen essen, der Zug hat einen.« – »Nein«, sagte sie. »Im Speisewagen werden die Kellner immer von der Geschwindigkeit des Zuges angesteckt, und es geht alles so furchtbar eilig – ich habe aber einen langsamen Magen ...« – »Gut. Was liest du da übrigens, Alte?« – »Ich schlafe seit zwei Stunden auf einem mondänen Roman. Der einzige Körperteil, mit dem man ihn lesen kann...«, und dann machte sie die Augen wieder zu. Und wieder auf. »Guck eins ... die Frau da! Die is aber misogyn!« – »Was ist sie?« – »Misogyn ... heißt das nicht mickrig? Nein, das habe ich mit den Pygmäen verwechselt; das sind doch diese Leute, die auf Bäumen wohnen ... wie?« Und nach dieser Leistung entschlummerte sie aufs neue, und wir fuhren, lange, lange. Bis Warnemünde.

Da war der »Strom«. So heißt hier die Warne – war es die Warne? Peene, Swine, Dievenow... oder hieß der Fluß anders? Es stand nicht dran. Mit Karlchen und Jakopp hatte ich der Einfachheit halber erfunden, jeder Stadt den ihr zugehörigen Fluß zu geben: Gleiwitz an der Gleiwe, Bitterfeld an der Bitter und so fort.

Hier am Strom lagen lauter kleine Häuser, eins beinah wie das andre, windumweht und so gemütlich. Segelboote steckten ihre Masten in die graue Luft, und beladene Kähne ruhten faul im stillen Wasser. »Guck mal, Warnemünde!«

»Diß kenn ich scha denn nu doch wohl bißchen besser als du. Harre Gott, nein ... Da ische den Strom, da bin ich sozusagen an groß gieworn! Da wohnt scha Korl Düsig un min oll Wiesendörpsch, un in das nüdliche lütte Haus, da wohnt Tappsier Kroger, den sind solche netten Menschen, as es auf diese ausgeklürte Welt sons gah nich mehr gibt... Und das is Zenater Eggers sin Hus, Dree Linden. Un sieh mal: das alte Haus da mit den schönen Barockgiebel – da spückt es in!« – »Auf plattdeutsch?« fragte ich. – »Du büschan ganzen mongkanten Mann; meins, den Warnemünder Giespenster spüken auf hochdeutsch rum – nee, allens, was Recht is, Ordnung muß sein, auch inne vierte Dimenzion ...! Und ...« Rrrums – der Zug rangierte. Wir fielen aneinander. Und dann erzählte sie weiter und erklärte mir jedes Haus am Strom, soweit man sehen konnte.

»Da – da is das Haus, wo die alte Frau Brüshaber in giewohnt hat, die war eins so fühnsch, daß ich'n beßres Zeugnis gehabt hab als ihre Großkinder; die waren ümme so verschlichen... und da hat sie von 'n ollen Wiedow, dem Schulderekter, gesagt: Wann ick den Kierl inn Mars hat, ick scheet em inne Ostsee! Un das Haus hat dem alten Laufmüller giehört. Den kennst du nich auße Weltgeschichte? Der Laufmüller, der lag sich ümme inne Haaren mit die hohe Obrigkeit, was zu diese Zeit den Landrat von der Decken war, Landrat Ludwig von der Decken. Und um ihn zu ägen, kaufte sich der Laufmüller einen alten räudigen Hund, und den nannte er Lurwich, und wenn nu Landrat von der Decken in Sicht kam, denn rief Laufmüller seinen Hund: Lurwich, hinteh mich! Und denn griente Laufmüller so finsch, und den Landrat ärgerte sich ... un davon haben wi auch im Schohr 1918 keine Revolutschon giehabt. Ja.« – »Lebt der Herr Müller noch?« fragte ich. – »Ach Gott, neien – he is all lang dod. Er hat sich giewünscht, er wollt an Weg begraben sein, mit dem Kopf grade an Weg.« – »Warum?« – »Dscha ... daß er den Mächens so lange als möchlich untere Röck ... Der Zoll!« Der Zoll.

Europa zollte. Es betrat ein Mann den Raum, der fragte höflichst, ob wir ... und wir sagten: nein, wir hätten nicht. Und dann ging der Mann wieder weg. »Verstehst du das?« fragte Lydia. – »Ich verstehe es nicht«, sagte ich. »Es ist ein Gesellschaftsspiel und eine Religion, die Religion der Vaterländer. Auf dem Auge bin ich blind. Sieh mal – sie können das mit den Vaterländern doch nur machen, wenn sie Feinde haben und Grenzen. Sonst wüßte man nie, wo das eine anfängt und wo das andre aufhört. Na, und das ginge doch nicht, wie ...?« Die Prinzessin fand, daß es nicht ginge, und dann wurden wir auf die Fähre geschoben.

Da standen wir in einem kleinen eisernen Tunnel, zwischen den Dampferwänden. Rucks – nun wurde der Wagen angebunden. »Wissen möcht ich ...«, sagte die Prinzessin, »warum ein Schiff eigentlich schwimmt. Es wiegt so viel: es müßte doch untergehn. Wie ist das! Du bist doch einen studierten Mann!« - »Es ist ... der Luftgehalt in den Schotten ... also paß mal auf ... das spezifische Gewicht des Wassers ... es ist nämlich die Verdrängung ...« - »Mein Lieber«, sagte die Prinzessin, »wenn einer übermäßig viel Fachausdrücke gebraucht, dann stimmt da etwas nicht. Also du weißt es auch nicht. Peter, daß du so entsetzlich dumm bist – das ist schade. Aber man kann ja wohl nicht alles beieinander haben.« Wir wandelten an Bord.

Schiffslängs – backbord – steuerbord ... ganz leise arbeiteten die Maschinen. Warnemünde blieb zurück, unmerklich lösten wir uns vom Lande. Vorbei an der Mole da lag die Küste.

Da lag Deutschland. Man sah nur einen flachen, bewaldeten Uferstreifen und Häuser, Hotels, die immer kleiner wurden, immer mehr zurückrückten, und den Strand ... War dies eine ganz leise, winzige, eine kaum merkbare Schaukelbewegung? Das wollen wir nicht hoffen.

Ich sah die Prinzessin an. Sie spürte sogleich, wohinaus ich wollte. »Wenn du käuzest, min Jung«, sagte sie, »das wäre ein Zückzeh fuh!« – »Was ist das?« – »Das ist Französisch« – sie war ganz aufgebracht -, »nu kann der Dschung nich mal Französisch un hat sich do Jahrener fünf in Paris feine Bildung bielernt ... Segg mohl, was hasse da eigentlich inne ganze Zeit giemacht? Kann ich mi schon lebhaft vorstelln! Ümme mit die kleinen Dirns umher, nöch? Du bischa einen Wüstling! Wie sind denn nun die Französinnen? Komm, erzähl es mal auf Lydia – wir gehn hier rauf und runter, immer das Schiff entlang, und wenn dir schlecht wird, dann beugst du dich über die Reeling, das ist in den Büchern immer so. Erzähl.«

Und ich erzählte ihr, daß die Französinnen sehr vernünftige Wesen seien, mit einer leichten Neigung zu Kapricen, die seien aber vorher einkalkuliert, und sie hätten pro Stück meist nur einen Mann, den Mann, ihren Mann, der auch ein Freund sein kann, natürlich – und dazu vielleicht auch anstandshalber einen Geliebten, und wenn sie untreu seien, dann seien sie es mit leichtsinnigem Bedacht. Beinah jede zweite Frau aber hätte einen Beruf. Und sie regierten das Land ohne Stimmrecht – aber eben nicht mit den Beinen, sondern durch ihre Vernunft. Und sie seien liebenswürdige Mathematik und hätten ein vernünftiges Herz, das manchmal mit ihnen durchginge, doch pfiffen sie es immer wieder zurück. Ich verstände sie nicht ganz.

»Es scheinen Frauen zu sein«, sagte Lydia.

Die Fähre schaukelte nicht grade – sie deutete das nur an. Auch ich deutete etwas an, und die Prinzessin befahl mich in den Speiseraum. Da saßen sie und aßen, und mir wurde gar nicht gut, als ich das sah – denn sie essen viel Fettes in Dänemark, und dieses war eine dänische Fähre. Die Herrschaften aßen zur Zeit: Spickaal und Hering, Heringsfilet, eingemachten Hering, dann etwas, was sie »sild« nannten, ferner vom Baum gefallenen Hering und Hering schlechthin. Auf festem Land eins immer besser als das andre. Und dazu tranken sie jenen herrlichen Schnaps, für den die nordischen Völker, wie sie da sind, ins Himmelreich kommen werden. Die Prinzessin geruhte zu speisen. Ich sah ehrfürchtig zu; sie war eßfest. »Du nimmst gar nichts?« fragte sie zwischen zwei Heringen. Ich sah die beiden Heringe an, die beiden Heringe sahen mich an, wir schwiegen alle drei. Erst als die Fähre landete, lebte ich wieder auf. Und die Prinzessin strich mir leise übers Knie und sagte ehrfürchtig: »Du bischa meinen kleinen Klaus Störtebecker!« Und ich schämte mich sehr.

Und dann ruckelten wir durch Laaland, das dalag, flach wie ein Eierkuchen, und wir kramten in unsern Zeitungen, und dann spielten wir das Bücherspiel: jeder las dem andern abwechselnd einen Satz aus seinem Buch vor, und die Sätze fügten sich gar schön ineinander. Die Prinzessin blätterte die Seiten um, ich sah auf ihre Hände ... sie hatte so zuverlässige Hände. Einmal stand sie im Gang und sah zum Fenster hinaus, und dann ging sie fort, und ich sah sie nicht mehr. Ich tastete nach ihrem Täschchen, es war noch warm von ihrer Hand. Ich streichelte die Wärme. Und dann setzten sie uns wieder über ein Meerwasser, und dann rollten wir weiter, und dann – endlich! endlich! – waren wir in Kopenhagen.

»Wenn wir nach hinten heraus wohnen«, sagte ich im Hotel, »dann riecht es nach Küche, und außerdem muß noch vom vorigen Mal ein besoffener Spanier da sein, der komponiert sich seins auf dem Piano, und das macht er zehn Stunden lang täglich. Wenn wir aber nach vorn heraus wohnen, dann klingelt da alle Viertelstunde die Rathausuhr und erinnert uns an die Vergänglichkeit der Zeit.«

»Könnten wir nicht in der Mitte ... ich meine ...« Wir wohnten also nach dem Rathausplatz zu, und die Uhr klingelte, und es war alles sehr schön.

Lydia pickte auf ihrem Teller herum, mir sah sie bewundernd zu. »Du frißt ...«, sagte sie freundlich. »Ich habe schon Leute gesehen, die viel gegessen haben – und auch Leute, die schnell gegessen haben ... aber so viel und so schnell ...« – »Der reine Neid --«, murmelte ich und fiel in die Radieschen ein. Es war kein feines Abendessen, aber es war ein nahrhaftes Abendessen.

Und als sie sich zum Schlafen wendete und grade die Rathausuhr geklingelt hatte, da sprach sie leise, wie zu sich selbst: »Jetzt auf See. Und dann so ein richtig schaukelndes Schiff. Und dann eine Tasse warmes Maschinenöl ...« Und da mußte ich aufstehen und viel Selterswasser trinken.

Schloss Gripsholm

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