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Kapitel 1

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Whitehorse, Kanada

Ende Juli 2016

Als Hanna den Erik Nielsen Whitehorse International Airport mit ihrem Gepäck gegen sechzehn Uhr Ortszeit verließ, klang immer noch das Echo des donnernden Tenors ihres Chefs in ihren Ohren.

»Frau Krüger. Wenn Sie Ihren Dienst morgen nicht wie üblich antreten, können Sie Ihre Sachen gleich mitnehmen und brauchen nicht mehr zurückzukehren.«

»Es handelt sich um einen Notfall. Das ist sonst überhaupt nicht meine Art«, hatte sie versucht, sich zu erklären. Sie rang ihre schweißnassen Hände und suchte vergeblich nach einem Ansatz von Verständnis in den Augen ihres Vorgesetzten. Valerio brauchte womöglich ihre Hilfe, ihr blieb keine Wahl.

Ihr Chef schlug wie so oft mit der Faust auf den Tisch. Irgendwie erinnerte er sie an King Louie aus dem Dschungelbuch. Die Ader an seiner Schläfe pulsierte erneut verdächtig. Hanna konnte es ihm nicht einmal verübeln. Sie versuchte es ein letztes Mal mit einem flehenden Blick. Vergeblich. Er verschränkte die Arme vor der Brust, ein autoritäres Funkeln in den Augen. Wütend hielt er die Lippen zusammengepresst. Das war wohl sein letztes Wort.

Hannas auch.

Damit rechnete er wohl nicht.

»Dann danke ich Ihnen für das bisher in mich gesetzte Vertrauen. Ich muss jetzt aufbrechen, es handelt sich wie gesagt um einen Notfall, der keinen Aufschub duldet.« Sie band ihre Schürze los und legte sie vor ihrem Chef auf dessen Schreibtisch.

Die Räder ihres Samsonite-Koffers quietschten, als sie den Trolley durch die Ankunftshalle schleifte. Ein Rad hatte die Kollision mit einem Bordstein nicht ganz unbeschadet überstanden. Das Gepäckstück trug aber auch schon einige Jahre auf dem Buckel, war es doch ein Weihnachtsgeschenk ihrer Eltern gewesen, zur Zeit von Studium Nummer zwei. Damals hatte man vermutet, dass das Fehlen von adäquatem Reisegepäck maßgeblich am Abbruch ihres ersten Studiums beteiligt gewesen war. Heute relativierte sich diese Theorie.

Hanna Krüger. Sogar mit »ü« geschrieben. Darunter stand: »Mag Bitterschokolade«.

Sie blieb wie angewurzelt stehen und starrte den Mann mit dem Pappschild hinter der Absperrung an. Die Damen in seinem Alter hätten ihn vermutlich als gut aussehend bezeichnet. Er war stattlich gebaut, mit silbernen Streifen an den Schläfen und Iriden, die so Blau waren wie das Wasser eines Bergsees. Das karierte Holzfällerhemd und die Jeans verliehen ihm ein typisch amerikanisches Aussehen. Tiefe Furchen gruben sich in sein Gesicht, besonders um seine Augen herum, die stets zu lächeln schienen.

Hanna hatte sich während des gesamten Flugs nach Kanada das Hirn zermartert, was sie in Whitehorse erwarten würde. Irgendwie hatte sie gehofft, Valerio zu treffen. Die Tatsache, dass sie von einem Fremden in Empfang genommen wurde, führte dazu, dass sich ihr Magen ängstlich zusammenzog. Das war kein gutes Zeichen und konnte eigentlich nur eines bedeuten: Valerio steckte in Schwierigkeiten und konnte deshalb nicht selbst herkommen.

»Keine Sorge, Frau Krüger, es ist alles bestens«, sagte der Fremde auf Englisch. Er besaß eine beruhigende, melodiöse Stimme. Offenbar musste ihr Gesicht Bände sprechen. Sie strich sich unsicher eine Haarsträhne hinters Ohr.

»Wo ist Valerio? Geht es ihm gut?« Sie konnte ihre Neugier und Besorgnis nicht länger unterdrücken. Der Fremde griff nach ihrem Gepäck.

»Folgen Sie mir. Es ist alles gut. Sie werden sehen.« Er wollte oder durfte also nicht darüber reden.

Nach den sommerlichen dreißig Grad, die in der Schweiz geherrscht hatten, fühlten sich die knapp zwanzig Grad im nördlichen Kanada an, als hätte Hanna einen Kurztrip nach Sibirien gebucht. Sie fröstelte und zog ihre Jacke enger um den Leib.

Der Himmel war von einem milchigen Blau, gesprenkelt mit Dunstknäueln, die an die Wolken eines Dampfschiffes erinnerten.

Der Fremde führte sie zu einem wenig vertrauenswürdig aussehenden, von Rost zerfressenen Auto, das in etwa dieselbe Farbe wie der Himmel hatte. Hanna wusste nicht, welcher Marke das Gefährt angehörte. Von Autos verstand sie ungefähr so viel wie von Abschlussprüfungen – wenig bis gar nichts.

»Ich bin übrigens George.« Der Fremde hielt ihr die Wagentür auf. Dass er nun einen Namen hatte, machte die Sache keinen Deut besser. Er lenkte den Wagen aus dem geschäftigen Chaos des Erik Nielsen Whitehorse International Airport und verließ Whitehorse.

»Waren Sie schon mal in dieser Gegend oder in Kanada?«, fragte er, um eine belanglose Konversation bemüht.

Hanna verspürte aber keine Lust auf Oberflächlichkeiten. »Wo ist Valerio, ist er verletzt?« Sie wandte den Blick zu George, der seinerseits angestrengt auf die Straße vor ihnen starrte.

»Um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, was ich Ihnen bereits gesagt habe: Es ist alles in bester Ordnung. Mein Auftrag lautete, Sie nach Dawson zu bringen. Nicht mehr und nicht weniger.« Er setzte dazu an, einen Lastwagen zu überholen. Mittlerweile befanden sie sich auf einem Highway.

»Dawson? Ich habe nie davon gehört, wo ist das?« Hanna hatte eine ungefähre Ahnung davon, wo sie jetzt war. Sie hatte sich während ihres Flugs im Internet schlaugemacht. Whitehorse war die Hauptstadt des Territoriums Yukon im Norden Kanadas. Die Stadt wurde ursprünglich nach Stromschnellen des Yukon Rivers benannt, deren Gischt sprühende Wellenkämme wie die windgepeitschten Mähnen weißer Pferde aussahen. Ab 1896, zur Zeit des Klondike-Goldrausches, war Whitehorse ein wichtiger Umschlagplatz und Verkehrsknotenpunkt für die nördlichen Territorien.

»Dawson liegt am rechten Ufer des Yukon, circa fünf bis sechs Autostunden von hier entfernt, an der Mündung des Klondike River. Die Stadt befindet sich an der Grenze zu Alaska, nur 240 km südlich des nördlichen Polarkreises. Die Siedlung wurde 1896, zu Beginn des Klondike-Goldrausches, gegründet und war früher sogar die Hauptstadt des Yukon-Territoriums. Sehr nette Gegend da. Traumhafte Landschaft.«

Hanna hörte ihm nur mit einem Ohr zu. War es ein Zufall, dass sich ein Schatzjäger ausgerechnet in einer ehemaligen Goldgräberstadt aufhielt? War Valerio womöglich auf der Spur eines neuen Mysteriums? Hatte es mit Gold zu tun?

»Fünf bis sechs Autostunden? Da gab es keine Inland-Flüge?«, fragte sie schließlich. Das war verdammt lang, um neben einem wortkargen Fremden zu sitzen, auch wenn er George hieß.

»Doch, die gibt es. Ein bis zweimal am Tag fliegt ein Kleinflugzeug die Schotterpiste außerhalb des Städtchens an. Der Morgenflug war bereits ausgebucht. Der Zweite startet erst gegen Mittag, sodass wir mit dem Wagen längst am Ziel sind. Nicht zu vergessen die wunderschöne Szenerie, die sich Ihnen auf der Anreise über die Schnellstraße bietet!« Ohne ihre Reaktion abzuwarten, fuhr er fort: »Soll ich das Radio anmachen? Wir nehmen den Klondike Highway nordwärts, da hat man guten Empfang.«

Wollte er ihr etwa mitteilen, dass sie bald von der Außenwelt abgeschnitten sein würden und keine Funkwellen mehr zu ihnen durchdringen konnten? Sie wollte es gar nicht wissen, weshalb sie sich die Frage sparte. Sie versuchte, ein wenig zu schlafen. Die Aufregung durch die SMS mit dem digitalen Boardingpass, der Langstrecken-Flug und die fremden Eindrücke forderten ihren Tribut. Hanna fühlte sich erschöpft. Sie ließ ihren Blick über die dahinziehende Landschaft gleiten.

Der Klondike Highway sah genauso aus, wie man ihn sich aus amerikanischen Roadmovies vorstellte. Eine mit einer gelben Mittellinie versehene Asphaltschlange, die sich durch eine spektakuläre Natur wand. In der Ferne ragten nackte Felsen in die Höhe, ihre Spitzen mit ewigem Schnee gepudert. Die Straße wurde von knorrigen Tannen, moosbewachsenen Felsvorsprüngen oder mit störrischem Grünzeug überzogenen Abhängen gesäumt. Unter anderen Umständen wäre Hanna von der atemberaubenden Wildnis, die sie auf diesem einsamen Weg in Richtung Norden begleitete, gebannt gewesen. Heute jedoch fielen ihr die zentnerschweren Augenlider nach einiger Zeit einfach zu. Sie schlief ein.

Etwa nach der Hälfte ihrer Fahrt, als sie gerade bei Pelly Crossing die Brücke über den Pelly River hinter sich gelassen hatten, erwachte Hanna.

»Hunger? Kaffee?« George musterte sie von der Seite und lächelte freundlich. Es war mittlerweile sieben Uhr abends. Auch wenn Hannas innere Uhr andere Schlaf- und Essenszeiten gewohnt war und der Jetlag sich bemerkbar machte, war es schon eine Weile her, seit sie etwas gegessen hatte. Sie hatte im Flugzeug nicht viel zu sich genommen, weil ihre Gedanken immer wieder zu Valerio zurückgekehrt waren. Immerhin war das Letzte, was sie in Kaiseraugst gehört hatte, das Lösen eines Pistolenschusses gewesen. Inwieweit es ihm gelungen war, den Gegner mit seinen Bumerangs in die Schranken zu weisen, wusste sie nicht.

»Mhm. Schätze ja, etwas essen wäre eine gute Idee.« Das erste Mal seit ihrer Ankunft in Kanada brachte Hanna ein schiefes Grinsen zustande.

George schien erleichtert und lenkte den Wagen auf den Schotterparkplatz einer riesigen Blockhütte aus hellem Holz.

Das Selkirk Center war Tankstelle und Selbstbedienungsladen in einem. Sogar Möglichkeiten für eine Übernachtung im Motel oder auf einem Campingplatz wurden angeboten. Hanna hatte es jedoch ebenso wie George eilig. Sie wollte die letzten drei Fahrstunden so rasch als möglich hinter sich bringen und Valerio finden.

Hanna betrat den Lebensmittelladen und hielt nach den Waschräumen Ausschau. Ein Schild wies ihr den Weg. Im Selkirk Center, so vielseitig das sonstige Angebot war, gab es nur ein Plumpsklo. Davon ließ sie sich jedoch nicht abhalten. Im Gegenteil. Einen dampfenden kanadischen Kaffee und einige Snacks später keimte in ihr der Abenteuergeist auf. Die drei Stunden Schlaf auf dem Highway hatten ihrem Gemütszustand eindeutig einen guten Dienst erwiesen. Ihre Lebensgeister erwachten langsam, ebenso ihre Zuversicht.

Zusammen mit George kaufte sie noch einige Lebensmittel- und Getränkevorräte für den Rest ihrer Reise in den Norden.

»Werde ich Valerio noch heute sehen?«, fragte sie und hoffte, nun endlich eine brauchbare Antwort aus George herauskitzeln zu können.

»Bis wir Dawson erreichen, ist es zehn Uhr abends. Bedauere, aber ich habe die Weisung, Sie dann in ein Motel zu bringen. Sie setzen ihre Reise am nächsten Morgen fort.«

Hanna wollte gerade einen Schluck Kaffee nehmen, hielt jedoch verdutzt inne, als ihr die Bedeutung seiner Worte bewusst wurde. »Heißt das, Sie verlassen mich in Dawson, George? Was ... reise ich dann allein weiter?« Wie sollte sie da bitte zurechtkommen?

George wirkte leicht verlegen. »Ihnen werden ein Fahrzeug und eine Landkarte zur Verfügung gestellt. Von Dawson aus soll es nur noch eine Stunde dauern, bis Sie Ihren Zielort erreicht haben.«

»Und wo wäre dieser Zielort?« Nun kamen sie der Sache schon näher ...

George zuckte entschuldigend die Schultern. »Das weiß ich leider nicht. Ich bringe Sie nur nach Dawson zum Motel. Jemand anders sorgt am nächsten Morgen dafür, dass Sie alles haben, was Sie für die Weiterreise brauchen. Wir sind es gewohnt, in Etappen zu arbeiten. Aus Sicherheitsgründen.« Er nahm einen Biss von seinem Snickers und hielt den Blick in die Ferne gerichtet.

»Wer ist wir? Sind Sie etwa Mitglied von diesem Schatzjäger-Orden?« Hanna spürte ein Kribbeln durch ihre Gefäße rieseln. Es war eine Mischung aus Aufregung, Neugier und aufkeimender Panik, weil sie am Ende ihrer Gedankenkette erneut bei Valerio angelangte.

George schwieg.

»Ich werte das als ein Ja.«

Georg schwieg immer noch und nippte nun an seinem Kaffee. Diese Schatzjäger, das waren wirklich harte Nüsse!

Nach dreißig Minuten nahmen sie ihre Route wieder auf und folgten dem Klondike Highway weiter Richtung Norden. Gegen halb elf Uhr abends erreichten sie endlich Dawson.

Die Sonne stand noch immer am Himmel. In diesen Breitengraden und um diese Jahreszeit versank der Feuerball erst nach Mitternacht hinter dem Horizont. Dies ermöglichte Hanna einen ersten Eindruck des Goldrausch-Städtchens an der Grenze Alaskas.

Dawson City sah genauso aus, wie man sich als Europäer eine Western-Filmkulisse vorstellte. Häuser, die an das Sammelsurium eines Kleinkindes erinnerten. Verspielt blickten ihre Holzfassaden, jede mit einer anderen Farbnuance des Regenbogens versehen, auf die Hauptstraße. Einzig die weiß gestrichenen Treppen- und Verandageländer waren ihnen allen gemeinsam. Ein charmanter Kolonialstil haftete den Bauten an. Hanna spürte sich sofort zurückversetzt ins Jahr 1896, als der Goldrausch an diesem Ort seinen Anfang genommen hatte. Selbst wenn die Hauptachsen heute asphaltiert waren, meinte sie, den Staub unter den Cowboystiefeln einstiger Goldsucher noch aufwirbeln sehen zu können. Dawson City war von dicht bewaldeten Bergketten umgeben, die bedrohlich auf die Stadt herabzuschauen schienen.

George parkte den Wagen vor dem Aurora Inn, einem ebenfalls im Kolonialstil gehaltenen, sandfarbenen Gebäude.

»Hier werden Sie übernachten. Die Zimmer sind rustikal und sauber, das Essen soll hervorragend sein. Sie bieten sogar selbstgebackenes Brot an – für die europäischen Touristen.« Seine Mundwinkel zuckten.

»Und Sie? Sie fahren doch wohl nicht mitten in der Nacht ohne eine Pause zurück nach Whitehorse?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich bleibe auch hier, ich übernachte bei Verwandten.«

»Dann erhalte ich doch morgen früh von Ihnen weitere Anweisungen?«

Erneut verneinte er. »Ich bin schon weg, wenn Sie die Augen aufschlagen. Ich muss zurück nach Whitehorse.«

Hanna stieg aus dem Auto und ließ sich von George das Gepäck ins Aurora Inn tragen. Dort erwartete man sie bereits. Sie verabschiedete sich mit einem Lächeln und einem Handschlag von ihrem kanadischen Fahrer, der ihr selbst nach sechs Stunden Autofahrt noch immer fremd war. Er deutete eine Verbeugung an und verschwand.

In ihrem Zimmer ließ sie sich mit einem Seufzer auf das Holzbett mit den weißen Laken fallen.

Da war sie nun, irgendwo am Ende der Welt. Ohne Plan.

Sie schaute sich in dem Raum um. Jemand, der sich um ihr Wohl sorgte, hatte auf dem Tisch am Fenster ein Sandwich und eine Flasche Wasser deponiert. Dann fiel ihr Blick auf ein riesiges Ungetüm in Schwarz und Blau, das man auf einen der Sessel im Raum drapiert hatte. Sie erstarrte.

Ein Treckingrucksack, der so groß war, dass man ihn gerade noch tragen, damit aber vermutlich einen Monat in der Pampa überleben konnte. Sie starrte ihren Samsonite-Koffer an und wusste, dass das, was auch immer sie morgen erwartete, nicht mit einem Trolley bewältigt werden konnte ...

Der Schatzjäger: The Hunters Girl

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