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Kapitel 1

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Luzern, Schweiz

August 2016

Man verfrachtete sie sofort nach ihrer Ankunft am Flughafen in Zürich in eine schwarze Limousine. Offiziell sah es so aus, als hätten sie die Wahl. Dem war aber nicht so. Die Schergen der Bruderschaft machten ihnen deutlich, dass es keine andere Option als Einsteigen gab. Die getönten Scheiben des Wagens trugen ihr Übriges dazu bei, dass sich Hanna in einer undurchsichtigen Finsternis wähnte. Die einzige vertraute Konstante war derzeit Valerios warme Hand in ihrer. Durch den Händedruck versuchte er, ihr Trost zu vermitteln. Ihr Bauchgefühl sagte ihr jedoch, dass dies ein trügerischer Frieden war. In Gegenwart seines Vaters und unter der autoritären Fuchtel der Bruderschaft wirkte er, als habe man ihn seines rebellischen Stolzes beraubt. Das bereitete Hanna große Sorgen. Diese Seite kannte sie an ihm bisher noch nicht.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten sie ihr Ziel. Der Wagen hielt an und die Tür wurde geöffnet.

»Verdammtes Affentheater!«, knurrte Valerio, ergriff besitzergreifend Hannas Hand und funkelte den Mann im schwarzen Anzug, der sich vor ihnen postiert hatte, böse an.

Hanna ihrerseits vergaß den Man-in-Black-Verschnitt augenblicklich, als ihr Blick an einem steinernen Koloss hängen blieb.

Ein Schloss.

Vor ihnen ragte tatsächlich die plastische Version eines Märchens in den Himmel. Rote Backsteine kletterten in Form verspielt zulaufender Türme den Wolken entgegen. Mit Ornamenten versehene Bogenfenster wechselten sich mit hohen, gradlinigen Scheibenfronten ab. Auf der Spitze der höchsten Turmzinne wehte eine Fahne im lauen Sommerwind, und auf einer mit Steinbalustraden gesäumten Terrasse waren Sonnenschirme aufgespannt. Rechts leckten die Äste eines Wäldchens mit ihren buschigen Blätterköpfen an der Steinfassade, während die Front und die linke Seite rund um das Herrschaftshaus von einer aufwendig gestalteten Gartenlandschaft umschlossen wurden. Zu geometrischen Kunstformen gestutzte Büsche wechselten sich mit dem geordneten Chaos blühender Rosensträucher ab. Der penibel getrimmte, sattgrüne Rasen hätte jedem Fußballfeld zur Ehre gereicht. Auch wenn Hanna auf dieser Seite des Anwesens keinen sehen konnte, so war sie sich doch absolut sicher, dass es irgendwo hinter oder neben dieser Dornröschen-Residenz einen Swimmingpool geben musste. Wer so viel Geld in die Frisur seiner grünen Gartenstatisten steckte, würde bestimmt nicht ausgerechnet bei der Anschaffung eines eigenen Planschbeckens kneifen.

»Das ist dann also dein Zuhause.« Hanna erinnerte sich an das Gespräch mit Valerio beim Abendessen in Augst.

»Etwas protzig, ich weiß. Zu meiner Verteidigung kann ich bloß sagen: Ich bin selten lange hier, bevor es mich wieder in die weite Welt zieht ...« Er zwinkerte ihr belustigt zu.

Der schwarze Anzugträger räusperte sich lautstark und brachte Hanna und Valerio somit zurück in die Realität.

»Der Herr des Hauses wünscht, dass Sie Ihre Zimmer beziehen und sich danach zur Anhörung im Saal einfinden.«

Valerios Blick verdüsterte sich. »Das ging aber schnell. Der Vorstand des Ordens ist bereits hier?«

»Die Sache duldet keinen Aufschub, so die Aussage Ihres Vaters.«

Valerio musterte den Angestellten feindselig. Der schien jedoch keine weiteren Informationen zu haben.

»Wir werden uns trotzdem kurz eine Dusche gönnen!« Ein Muskel an seinem Kinn zuckte verdächtig. Seine nachtschwarzen Augen verengten sich zu Schlitzen und blitzten angriffslustig.

Mit diesen Worten fasste Valerio Hannas Hand und führte sie nach drinnen. Hanna ihrerseits fragte sich, warum der Mitarbeiter in Bezug auf ihre Quartiere die Mehrzahl verwendet hatte ... Auch wich er nicht von ihrer Seite, obwohl Valerio bestimmt selbst wusste, wo sich sein eigener Wohntrakt, wie er in Augst erwähnt hatte, befand.

Als sie eintraten, sog Hanna beeindruckt die Luft ein. Das Äußere des Märchenschlosses hatte nicht zu viel versprochen. Das Innenleben war noch viel imposanter.

Auf Hochglanz polierte Rüstungen, gepaart mit modernen Kunstgegenständen säumten ihren Weg zu den Zimmern. Die Wände waren mit Bildern geschmückt, die aussahen, als seien sie dank ihrem pompösen Rahmen und Ausmaß dermaßen schwer, dass sie ein normaler Mensch ohne Beihilfe eines Krans gar nicht schleppen konnte. Teppiche, die vermutlich so viel kosteten wie ein Kampfjet zur Verteidigung der Schweizer Neutralität, dämpften ihre Schritte.

Der Schwarzgewandete heftete sich an ihre Fersen, als Valerio sie in den Südflügel des Anwesens führte.

»Das Gemach von Frau Krüger wäre im Westflügel«, beeilte er sich, zu erklären. Valerio hielt inne, drehte sich betont langsam um und lachte trocken.

»Bei allem Respekt für Ihre Diensttreue, aber Sie wissen genau, dass ich hier wohne und ... Hanna selbstverständlich bei mir übernachtet.« Mit diesen Worten ging er energischen Schrittes voran und ließ den Angestellten mitten im Flur stehen. Schließlich erreichten sie nach einigen Treppen am Ende eines weiteren langen Ganges eine Tür. Valerio lief zielsicher darauf zu, trat ein und knallte sie hinter sich und Hanna ins Schloss.

Die Fensterscheiben vibrierten leicht.

»So, das hätten wir geschafft. Das ist mein Zimmer« Er ließ sich seufzend auf sein Bett fallen.

Hanna legte sich neben ihn. Eine Weile starrten sie stumm an die Decke.

»Was erwartet mich an dieser Anhörung? Ich meine, ich bin eine Zivilperson. Dieses selbsternannte Gericht hat keinerlei rechtliche Befugnisse.« Hanna stützte sich auf den Ellenbogen und strich Valerio eine blauschwarz schimmernde Strähne aus dem Gesicht. Sie zeichnete gedankenverloren den Bogen seiner schön geschwungenen Augenbrauen nach.

Er rappelte sich ebenfalls auf, sodass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. »Da stimme ich dir zu. Rechtlich gesehen hat die Bruderschaft keinerlei Macht. Dennoch sind wir beide ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Sie haben überall ihre Agenten und Schatzjäger. Insbesondere die Schatzjäger, die Hunter, werden zu Kampfmaschinen ausgebildet. Der Orden hat reiche Gönner und wohlhabende Mitglieder. Wenn sie ein Verbrechen verüben wollen, können sie dies lautlos und spurlos tun. Es gibt Dinge, die durch das Gesetz nicht geregelt werden können, weil sie sich im Zwielicht der Gesellschaft verbergen und die ausführenden Gestalten flink und unsichtbar agieren – wie Schatten. Du hast keine Ahnung, wie mächtig dieser illustre Zirkel in Wahrheit ist. Es ... tut mir sehr leid, dass ich dich da hineingezogen habe. Dennoch habe ich mich nie lebendiger gefühlt als im letzten Monat. Die Tage an deiner Seite waren die bisher schönsten in meinem Leben.«

Er senkte den Blick. Seine Stimme hatte einen samtenen Klang angenommen, der dafür sorgte, dass sich ein wohliger Schauer in Hannas Körper ausbreitete.

Sie hob sein Kinn an, um ihm in die Augen sehen zu können. Zwei bewegte, dunkle Tümpel. Sie küsste ihn und genoss die Berührung seiner rauen Lippen auf ihren, das zarte Kratzen der Barstoppeln. Er zog sie näher zu sich heran und seufzte ergeben.

»Wenn wir schon duschen ... können wir das dann wenigsten zusammen tun?«, hauchte Hanna und ließ ihre Finger unter Valerios Shirt gleiten.

Ein feines Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Er erhob sich, streifte sich die restlichen Kleider hastig vom Leib und half ihr dabei, sich aus ihrer Stoffhülle zu schälen.

»Valerio?«

»Hm?

»Ich bin glücklich, dass du mich da mithineingezogen hast. Mir war nämlich schrecklich langweilig ...«

Sein raues Kichern, die zarte Melodie von Sandpapier auf hellem Holz, strich wie ein betörendes Sirenenlied über sie hinweg.

Sie hatte die Wärme und Nähe seiner bloßen Haut vermisst.

Der Saal des Schlosses verschlug Hanna erneut den Atem, auch wenn sie etwas ähnlich Prunkvolles erwartet hatte.

Fenster, die wie im Theater von schweren, roten Samtvorhängen umrahmt waren, standen wie Zinnsoldaten in Reih und Glied und ließen das letzte Sonnenlicht in den Raum.

Die Wände und die Decke besaßen die Farbe von Schlagsahne und waren mit goldenen Ornamenten geschmückt. Bilder, die wohl biblische oder antike Kriegs- oder Liebesszenen darstellten, deuteten ein weiteres Mal daraufhin, dass die Kunst im Hause Noberasco eine wichtige Rolle spielte. Ebenso wie die nackten Statuen, deren Männlichkeit jeweils wie durch Zufall gerade nicht durch die kunstvoll drapierte Toga verdeckt wurde ...

Ein Kristallkronleuchter hing von der Decke und sandte ein Meer aus regenbogenfarbigen Lichtpunkten durch den gesamten Raum.

In Hannas Kopf ertönten die Trompetenklänge und das Streichorchester aus Sissi, während sie ehrfürchtig durch den langen Saal schritt.

An der Stirnseite und einer hufeisenförmigen Tischformation, die rund einen Viertel des Saales einnahm, erwartete man sie bereits.

Hannas Kehle wurde augenblicklich trocken, und ihre Zunge klebte plötzlich am Gaumen. Sie spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte und sich die feinen Härchen auf ihren Armen aufstellten. Eine eiserne Hand schien nach ihrer Lunge zu greifen.

Valerios Vater, der im Zentrum der Stirnseite des Hufeisens Platz genommen hatte, erhob sich. An seiner Seite saßen je zwei streng dreinblickende Herren gesetzteren Alters. Als wäre das die Uniform der Bruderschaft, trugen auch sie einen schwarzen Anzug. Hannas Blick glitt beunruhigt über die Tischformation. Das war im wahrsten Sinne des Wortes ein Tribunal, nicht bloß eine nette kleine Zusammenkunft. Die in den Raum ragenden Arme des Hufeisens waren ebenfalls beidseitig mit schwarzgekleideten Herren und – man höre und staune – ebenso aristokratisch dreinblickenden Damen besetzt. Die Stille, die den Raum bei ihrem Eintreten befiel, führte dazu, dass Hanna das leise Atmen der Anwesenden vernehmen konnte. Ihre emotionslosen Mienen verhießen nichts Gutes.

Herr Noberasco wies wortlos auf zwei Stühle.

Hanna und Valerio setzten sich. Jedoch nicht, ohne vorher nochmals einen vielsagenden Blick zu wechseln. Hanna kam sich vor wie beim jüngsten Gericht. Absolut lächerlich! Sie war ein Freigeist, ein Blumenkind. So wie sie sich bisher an nichts gehalten hatte, was man ihr geraten oder nahegelegt hatte, so wenig konnte sie sich nun vorstellen, dass irgendein Fremder Macht über sie und ihren Alltag haben sollte. Dennoch genügte die Logik nicht, um ihr die beklemmende Furcht zu nehmen, die sie urplötzlich befiel.

Valerios Vater klopfte mit einem kleinen Holzhammer auf den Tisch. Hanna fühlte sich an die Gerichtsszenen in ihrem Lieblingskrimi erinnert.

»Das oberste Tribunal der Bruderschaft, deren Namen ich aus Vertraulichkeitsgründen nicht nennen darf, begrüßt Hanna Krüger und Valerio Noberasco.«

Die anwesenden Ordensmitglieder klopften mit den Fingerknöcheln auf den Tisch. Ein schauriges Trommeln.

Einer der fremden Herren auf der linken Seite sortierte einige Blätter. Er strich sich mit der Hand über die Stoppeln seiner kurzgeschorenen grauen Haare, ehe er sich auf ein stummes Zeichen von Valerios Vater hin räusperte.

»Wir sind hier versammelt, um über die Zukunft von Valerio Noberasco und Hanna Krüger zu befinden. Die Identität der Bruderschaft ist möglicherweise in Gefahr, da Valerio Noberasco gegen die Regeln der Integrität verstoßen hat. Er hat eine außenstehende, nicht ordenstreue Person teilweise mit den Tätigkeiten der Vereinigung vertraut gemacht. Wir werden nun darüber beraten, wie mit besagter Zivilperson, Hanna Krüger, vorzugehen ist, um den angerichteten Schaden für die Bruderschaft möglichst gering zu halten. Die Diskussion ist eröffnet.« Damit setzte er sich wieder.

»Was genau weiß Hanna Krüger über den Orden?« Die kühle Stimme einer ungefähr vierzigjährigen Frau mit blonden Haaren durchschnitt die Stille. Diese Frage war offensichtlich an Valerio gerichtet, da sich nun alle Augenpaare auf ihn richteten.

»Wie ich meinem Vater bereits sagte, hat sie keine Ahnung. Sie weiß lediglich, dass wir nach Mysterien jagen, um sie vor Missbrauch zu schützen. Sie weiß aber nicht, wer wir sind, wann, wo oder wie wir dabei genau vorgehen. Sie kennt weder die Struktur der Bruderschaft noch den Namen derselben oder deren Mitglieder.«

Hanna merkte erst, als es zu spät war, dass man in diesem Schloss nur sprechen sollte, wenn man dazu aufgefordert wurde.

»Meine Damen und Herren ... machen Sie sich bitte nicht lächerlich. So wie ich das sehe, sind Sie ein Verein kunstbegeisterter Narren. Nicht die Ersten und wohl auch nicht die Letzten in der Menschheitsgeschichte. Ich weiß von einem kosmetischen Geheimrezept für ewige Jugend, das irgendwo in der Pampa nahe Dawson City versteckt ist, und ich habe einen Kryptonit in Aktion gesehen, der anschließend im Schlund eines Vulkans versenkt wurde. Bei diesem scheinbar spektakulären Rezept weiß ich nicht einmal, ob die Behauptung stimmt, denn ich habe es nie ausprobiert. Aber mal ehrlich: Wenn ich das jemandem erzähle, wer wird mir denn bitte glauben? Viel wahrscheinlicher ist wohl, dass man mich für verrückt hält. Geheime Bruderschaft, Mysterien, esoterischer Schnickschnack ... das ist der Stoff, aus dem Hollywood Halloweenfilme macht, nicht die Realität.« Wie so oft unterstrich Hanna ihre Worte wie ein Orchesterdirigent mit wildem Herumfuchteln.

Die plötzliche, bleierne Stille fiel ihr erst auf, als sie erneut Luft holen und ihrer Meinung weiteren Nachdruck verleihen wollte. Sie schaute Valerio an. Sein Gesichtsausdruck war vollkommen regungslos. Hatte sie ihn mit ihrer Rede etwa beleidigt? Immerhin gehörte er auch zu diesem Narren-Verein. Er verstand doch bestimmt, dass Hanna nie an seinen Worten gezweifelt hatte? Sie hatte den Kryptonit selbst erlebt! Sie versuchte bloß, sich als das harmlose, pragmatische Mädchen darzustellen, vor dem man keine Angst zu haben brauchte, weil es diese Organisation belächelte und für kompletten Schwachsinn hielt. Etwas Besseres war ihr nun mal so auf die Schnelle nicht eingefallen.

Nun erhob sich Valerios Vater. Er starrte Hanna an, als gedenke er, sie bei lebendigem Leib aufzuspießen.

»Frau Krüger, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich kann nicht genau sagen, ob es der von Ihnen verliehene Narrentitel ist, der mich beleidigt, oder ob mich die Tatsache, dass Sie offenbar ein sehr lockeres Mundwerk besitzen, bestürzt. So sehr mich diese beiden Punkte auch schockieren, zeigen sie dennoch deutlich, dass mein Sohn bei der Partnerwahl kein besonders gutes Händchen bewiesen hat.«

Jegliches Beamtendeutsch vergessend, schwenkte sein bohrender Blick nun zu Valerio. »Bist du komplett von Sinnen, Sohn! Du warst der große Hoffnungsträger unserer Vereinigung – ein Talent, das seinesgleichen sucht – und nun das. Du schleppst uns eine minderbemittelte Bürgerliche ins Haus!«

Valerio stand so ruckartig und wütend von seinem Stuhl auf, dass dieser laut scheppernd umkippte. »Ich war euer Zirkusaffe, Vater! Ich hatte keine Kindheit, weil ich verschiedene Sprachen lernen musste; keine Jugend, weil ich Kampftechniken perfektionieren musste, und mein Erwachsenenleben ist ebenfalls dem Orden geopfert! Als wäre ich ein gottverdammter Jünger Jesus' und kein eigenständiger Mensch! Ich bin nicht euer Eigentum. Ich liebe meinen Beruf, ich erledige ihn pflichtbewusst und fast immer perfekt. Aber ... Hanna ist nicht verhandelbar!« Er ballte die Hände zu Fäusten.

Ein perfides Lächeln umspielte die Mundwinkel von Valerios Vater. »Gut ... du hattest deine Chance.« Er gab einem seiner Begleiter kaum merklich ein Zeichen. Bevor Hanna kapierte, was geschah, überstürzten sich die Ereignisse. Der angesprochene Anzugträger schwang sich mit einer verblüffenden Agilität über den Tisch hinweg, wobei er in die Tasche seines Jacketts griff. Gleichzeitig erhob sich eine Dame von ihrem Sitz und steuerte zielsicher auf Valerio zu.

Sie besaß zwar keine schwarzen Haare, sondern mahagonifarbene Locken. Der warme Farbton ihrer Wellen passte hervorragend zu ihrem karamellfarbenen Latino-Teint und ihren sensiblen Gesichtszügen. Letztere waren auch dafür verantwortlich, dass Hanna sofort wusste, wer diese Frau war. Valerios Mutter.

»Hanna, lauf!« Valerios Stimme überschlug sich und holte sie schlagartig in die Realität zurück.

Sie war jedoch wie paralysiert. Sie starrte den menschlichen Hurrikane, der auf sie zugeschossen kam, an, ohne zu begreifen, was sich gerade abspielte.

Etwas Silbernes blitzte auf, bevor Hanna einen scharfen Schmerz an ihrem Hals verspürte. Sie schrie entsetzt auf und wollte sich wehren, aber ihre Glieder gehorchten ihr plötzlich nicht mehr. Sie spürte, wie die Beine unter ihr nachgaben und ihre Sicht von einem dünnen Nebel überzogen wurde.

Sie hörte Valerio fluchen und schreien. Zwei weitere Anzugträger versuchten, ihn davon abzuhalten, sich Hanna zu nähern. Natürlich hätte er sich ihrer aufgrund seiner soliden Ausbildung problemlos entledigen können ... aber aus irgendeinem Grund tat er es nicht.

»Valerio!« Die dröhnende, kalte Stimme des Seniors. »Nimm endlich Vernunft an!« Es war jedoch schlussendlich die Hand der Mutter auf Valerios Schulter, die dazu führte, dass er einfach stehen blieb.

Ohne dass Hanna gesehen hätte, wie Herr Noberasco von seinem Platz hinter dem Tisch bis zu ihr gelangt war, schwebte sein Gesicht nun plötzlich bildfüllend über ihr. Sie blinzelte, hatte Mühe, ihn anzusehen. Immer wieder verschwammen die Gesichtszüge vor ihren Augen. Ihre Arme und Beine fühlten sich so schwer an ... sie war müde. Sehr müde. Warum griff Valerio nicht endlich ein?

»Wir werden Sie beobachten, Frau Krüger. Jede gottverdammte Minute. Seien Sie sich dessen gewiss. Sollten wir feststellen, dass irgendwas von dem, was die Bruderschaft betrifft, an die Öffentlichkeit gelangt, werden Sie sterben!«

Hanna atmete entsetzt ein. Sie wollte etwas sagen, aber ihre Lippen gehorchten auch nicht mehr. Das Denken fiel ihr schwer.

Sterben. Das Wort hing wie eine krankmachende Abgaswolke in der Luft.

Sterben.

»Haben Sie verstanden? Wir haben überall Ohren und Augen. Wenn Sie nur ein Wort über all das hier verlieren ... werden wir Sie töten!«

Herr Noberascos Worte waren ein tiefes Donnergrollen.

Klirrend kalt und gefährlich wie spitze Eiszapfen, die von einem Hausdach herunterhingen und von denen man nie wusste, wann sie einem auf den Kopf fallen würden ...

Sterben. Töten.

Hanna suchte Valerios Blick. Zerrissenheit zeigte sich darin. Er starrte sie flehend an, aber er bewegte sich nicht, obwohl ihn mittlerweile niemand mehr festhielt ...

Dann wurde es schwarz um Hanna.

Der Schatzjäger: Crazy About The Hunter

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