Читать книгу Der Schatzjäger: The Hunters Bride - Ladina Bordoli - Страница 6
Kapitel 2
ОглавлениеUlan Bator, Nordmongolei
Mitte Juni 2017
Sie hörten die Tonaufnahme nun schon zum dritten Mal. Roberto hatte sie ihnen vor ihrer Abreise übergeben.
Sie hatten den Chinggis Khan International Airport, der dreißig bis vierzig Minuten außerhalb des Stadtzentrums von Ulan Bator lag, um sechs Uhr morgens erreicht. Mittlerweile war es später Nachmittag.
»Für mich klingt das wie Walgesang, auch wenn das in einer Wüste eher unwahrscheinlich sein dürfte.« Hanna nahm die Stöpsel aus den Ohren, zuckte resigniert mit den Schultern und faltete gedankenverloren ihre Serviette.
Ein amüsiertes Schmunzeln huschte über Valerios Gesicht.
»Ich denke, dass wir Wale in der Wüste Gobi ausschließen können.«
Er nahm einen herzhaften Biss von seinem Sandwich.
Nachdem sie sich im Seven Summits, einem auf Trekking- und Outdoor-Aktivitäten spezialisierten Shop gleich gegenüber der Hauptpost, mit zahlreichen nützlichen Dingen für ihre kommende Tour eingedeckt hatten, saßen sie nun erschöpft in einem italienischen Café.
Die mongolische Hauptstadt hatte entgegen Hannas Vorstellungen nichts Exotisches oder Romantisches an sich. Traditionell gekleidete Menschen sah man kaum noch, die meisten Einheimischen trugen zwischenzeitlich einen der westlichen Mode angepassten Kleidungsstil. Ulan Bator war eine von Smog heimgesuchte, durch einen kommunistischen Baustil geprägte Großstadt geworden. Hochhäuser und Industriekomplexe reihten sich wie Legosteine aneinander. Einzig am Stadtrand, in den Jurte-Vierteln, wurde man Zeuge des einstigen Nomadentums der Einheimischen.
Obwohl Ulan Bator mit zahlreichen Museen, spannenden Tagestouren und erlebbarer Geschichte aufwartete, war Hanna froh, die Stadt bereits morgen in Richtung Süden verlassen zu können. Ein Inlandflug würde sie zum Hauptort des Südens, Dalandsadgad, bringen.
Gemäß der Meldung eines Agenten waren die seltsamen Tonaufnahmen auf der Website einer Gruppe von Spinnern aufgetaucht, die sich mit Geistern beschäftigten. Sie nannten es Mysteriöses Geisterklagen und Gesang der Gobi-Engel. Aufgrund des Stichwortes mysteriös wurde der Auskundschafter der Bruderschaft auf das Phänomen aufmerksam. Roberto Noberasco hatte infolgedessen beschlossen, Hanna und seinen Sohn zur Aufklärung in die Mongolei zu senden. Bisher war dem Orden kein derartiges Rätsel bekannt, jedoch war es dessen Pflicht, jedes Gerücht zu untersuchen. Es wäre fatal, würde die Bruderschaft ein wichtiges Geheimnis übersehen und somit dazu beitragen, dass es in falsche Hände geriet. Erfahrungsgemäß lag den meisten Anomalien ein schützenswertes Mysterium zu Grunde.
»Was hat dein Vater mit den Singenden Dünen gemeint, von denen sich der Walgesang der Tonaufnahme unterscheiden soll? Ich wagte nicht, ihn zu unterbrechen, da ich annahm, dass diese Kenntnisse wohl Teil der Essenziellen Literatur sind und ich es vermutlich wissen sollte ...« Sie biss sich verlegen auf die Lippen. Sie bemühte sich mit allen Kräften, eine gute Schatzjägerin zu werden, doch konnte sie nicht erwarten, in so kurzer Zeit auf demselben Bildungsstand zu sein wie jemand, der in diese Hunter-Dynastie hineingeboren worden war. Obwohl sich Hanna dessen bewusst war, ärgerte sie dieser Umstand wiederholt. Sie wollte kein dummer Anfänger sein.
»Bei den Singenden Dünen verhält es sich so, dass die Sandkörner durch den Nordwestwind, der über sie hinweg streicht, ein eigenartiges Sirren von sich geben. Diese Geräusche hier fielen, wie du aus dem Bericht unseres Agenten weißt, jedoch einem routinierten Touristenführer auf. Außerdem hörte er den Gesang bei den Flammenden Klippen von Bajandsag und nicht im Gurwan Sajchan Nationalpark, wo sich die Wanderdüne, deren Sand zu singen vermag, befindet.«
Hanna nickte, als habe sie es gerade begriffen. Sie erinnerte sich an Robertos erklärende Ausführungen, die sie laut wiederholte.
»Die Töne waren vorher nicht da. Man hörte sie außerdem nicht nur bei Wind oder zu bestimmten Tages- oder Nachtzeiten, sondern einem scheinbar zufälligen Muster folgend. Der Guide behauptete, sie würden die Luft erfüllen, als befände man sich in einer Kirche und lausche einem Chor. Ein seltsames Klangphänomen für die Weiten einer Wüste.«
Valerio pflichtete ihr nickend bei.
»Soweit also zum Stand der Dinge. Mehr wissen wir nicht.«
»Den Rest werden wir hoffentlich herausfinden, wenn wir morgen den Touristenführer in Dalandsadgad treffen und mit ihm zu der vereinbarten Privattour aufbrechen.« Hanna nahm nachdenklich einen Schluck ihres inzwischen kalt gewordenen Kaffees.
Ihr Touristenführer ... war eine Frau. Sie erwartete sie mit einem braunen Pappschild, auf dessen Vorderseite ihre Namen in einem nachlässigen Gekrakel angebracht waren. Das Kartonquadrat sah aus, als habe sie es auf ihrer Herfahrt zum Flughafen aus einer Mülltonne gefischt oder einem Obdachlosen geklaut.
»Ojuna. Ich bin die Touristenführerin. Mein Bruder Belmin ist für die Administration unseres bescheidenen Geschäfts zuständig. Mit ihm hattet ihr, beziehungsweise euer Kollege, bereits das Vergnügen. Belmin redet mit den Leuten und hält mich da raus. Ich bin lieber unterwegs. In der Gobi ... da weiß ich, was ich den Menschen erzählen soll. Die Gesangs-Geschichte hat uns viele neue Aufträge eingebracht. Eurer ist jedoch etwas Besonderes. Ihr interessiert euch wirklich für das, was in der Gobi los ist. Die meisten Touristen tun das nicht. Ich kann ihnen erklären, was ich will, und sie glauben es. Wollen auch nicht weiter nachforschen und fragen nie nach dem Warum.« Sie zuckte die Schultern.
Während sie redete, verzog sie keine Miene. Ihre Stimme klang, unabhängig davon, was sie erzählte, immer gleich monoton. Ihre dunklen Augen bargen jedoch ein intensives Funkeln, besonders, wenn der Name der Wüste Gobi über ihre Lippen kam. Sie hatte schulterlanges, rabenschwarzes Haar, das sie sich hinter die Ohren gesteckt hatte. Außerdem schien sie sich wenig aus Höflichkeitsfloskeln zu machen. Sie sprach Hanna und Valerio mit dem schnörkellosen Englisch an, das man sich sonst für Freunde und Bekannte aufhob.
»Gut, verlieren wir keine Zeit, ich möchte, dass wir gegen Mittag unser Zeltlager bei den Sedimentfeldern von Bajandsag aufschlagen können. Los geht’s!« Sie schritt zielstrebig voran, lotste Hanna und Valerio aus dem menschlichen Ameisenhaufen des Flughafengebäudes und führte sie zu einem sandfarbenen Jeep.
Obwohl dieser Provinzflughafen mit seinem blauen Dach nicht jeden Tag angeflogen wurde, tummelten sich nun scharenweise Touristen und Guides auf dem Gelände.
Die Gesichter der Ankommenden glühten erwartungsvoll, und ihre Augen suchten die Gegend ab. Ein Lächeln, als habe man ihnen Schokokekse versprochen, erhellte ihre Mienen, und sie schnatterten aufgeregt.
Die Abreisenden wirkten bisweilen erschöpft und trugen staubgepuderte Kleidung. Sie waren schweigsam und nachdenklich, jedoch mit einem zufriedenen Glitzern in den müden Augen.
»Die Gobi verändert die Menschen.« Ojuna musste Hannas inquisitivem Blick gefolgt sein und ihre Gedanken erraten haben. Als diese sich ertappt fühlte, grinste die Mongolin.
Sie verstauten ihr Gepäck im Geländewagen und nahmen Platz. Hanna auf dem Beifahrersitz und Valerio auf dem Rücksitz. Kaum hatten sie die Wagentüren geschlossen, manövrierte Ojuna das Fahrzeug auch schon aus der Parklücke. Hanna fragte sich, warum ihre Führerin so gehetzt wirkte. Ihr Ziel konnte maximal zwei bis drei Stunden entfernt sein, sonst wäre es unmöglich, bis zur Tagesmitte bereits dort anzukommen.
»Ich mag die Stadt und das Gewimmel der Menschen nicht. Ich verbringe die meiste Zeit in der Stille der Gobi.«
Hanna bemühte sich um ein einfühlsames Lächeln und krallte sich am Türgriff fest, als Ojuna einen wenig fachmännischen Schwenker machte, um auf die Hauptstraße einzubiegen.
Sie hatte sich die Wüste anders vorgestellt. Ein Meer aus Sand mit körnigen, cremefarbenen Wellen. Doch die Gobi war nichts dergleichen.
Sie wirkte wie ein ausgemergeltes Tier, das unter Aufbietung enormer Willenskraft ums Überleben kämpfte. Ein Wesen, das trotz all der Entbehrung nichts von seiner Würde und seinem Stolz eingebüßt hatte.
Zerklüftete Felsen wechselten sich mit steinigen Feldern ab. Strohige Grasbüschel stachen aus dem trockenen Boden wie grüne Bartstoppeln. Der Geländewagen wirbelte Staub auf und tauchte die Umgebung in gelblichen Dunst. Obwohl es für Hannas Vernunft kaum möglich war, wuchsen in dieser ausgetrockneten Einöde zahlreiche Saxaul-Bäume.
Eine Mischung aus verdorrtem Christbaum und bärtigem, tannengrünem Geflecht. Die Stämme und Wurzelstränge dieser störrischen Pflanze wanden sich wie treibholzfarbene Schlangenleiber über den kargen Untergrund. Immer auf der Suche nach einem Tropfen Wasser. Mancherorts wuchsen die krausen Zeitgenossen so dicht beieinander, dass man den absurden Eindruck hatte, einen Wald in der Wüste gefunden zu haben.
Sie erreichten ihr Ziel wie geplant gegen Mittag.
Hanna streckte sich und hörte ihre Gelenke knacken. Sie ließ den Blick über die endlose Weite vor ihnen gleiten.
Backsteinfarbene Felsen, teilweise zu seltsamen Türmen und Zacken erodiert, prägten die Landschaft. Das mussten die Flammenden Klippen sein.
Sie holten ihre Zeltausrüstung aus dem Kofferraum des Offroaders und machten sich daran, ihr Lager aufzuschlagen.
»Ich schlage vor, wir essen nun eine Kleinigkeit und begeben uns dann auf eine Nachmittagswanderung, bei der ihr euch mit der Gegend vertraut machen könnt. Morgen früh brechen wir dann zu dem Ort auf, an dem die Engel der Gobi singen.«
Bei der Erwähnung des Begriffs, den die Geistergläubigen erfunden hatten, verzog Ojuna das sonst teilnahmslos dreinblickende Gesicht zu einem abschätzigen Grinsen. Damit tat sie wortlos, aber nicht weniger deutlich, kund, was sie von den Geschichten hielt.
»Wir sind nicht hier, weil wir an Geister glauben«, stellte Valerio klar. »Woher, denkst du, kommt der Gesang?«
Ojuna starrte einige Sekunden schweigsam über die zerklüftete Landschaft. Ihre Augen fuhren, einer Liebkosung gleich, die gezackte Linie der Felsen nach.
»Es gibt zahlreiche Dinge, die wir Menschen an der Gobi nicht verstehen. Wir kennen sie zu wenig. Es gibt Lebewesen, die viel länger und symbiotischer mit der Wüste zusammenleben als wir. Sie sind allerdings aus Fleisch und Blut, nicht irgendeine Form trällernden Nebels.« Sie kniff den Mund zusammen, und eine Furche bildete sich zwischen ihren Augenbrauen. Offenbar verärgerte sie die Interpretation der Töne, welche die Spinner-Gruppe auf ihrer Internetseite vorgenommen hatte.
»Du denkst, es wäre möglich, dass noch bisher unentdeckte Dinosaurier hier leben? Solche, die nicht ausgestorben sind oder sich einfach weiterentwickelt und angepasst haben? Dass wir ihre Laute hören?« Hanna hielt aufgeregt die Luft an, als ihre Gedanken dabei waren, sich zu überschlagen.
Valerio hatte ihr auf der Hinfahrt erklärt, dass die Sedimentfelder von Bajandsag als der größte Dinosaurier-Friedhof der Welt galten. Hier wurden aufsehenerregende Fossilienfunde gemacht. Dazu gehörten beispielsweise die ersten Dinosaurier-Eier. Bis dahin hatte man keine Ahnung, dass diese gewaltigen Echsen Eier legten, um sich fortzupflanzen.
Ojuna zuckte die Schultern.
»Jedenfalls wäre das eine vernünftige Erklärung. In den Furchen, den versteckten Gruben oder Höhlen der Gobi kann allerhand gedeihen, ohne dass wir das je mitbekommen. Vielleicht wurden die Tiere aus ihrer naturgemäßen Umgebung vertrieben. Durch Umwelteinflüsse, natürliche Feinde, Touristen, was auch immer. Denkbar wäre es.«
»Hm.«
Valerio ließ seinen Blick ebenfalls über die rotbraunen Felsen streifen. »Denkbar wäre es«, wiederholte er Ojunas Schlussfolgerung.
Hannas Gedanken wirbelten bereits wie ein Farbsturm durch ihren Kopf. Sie versuchte, sich an die Töne auf Band zu erinnern, an jedes Detail. Sie hatte an Wale gedacht. Instinktiv dachte sie also an ein großes Tier ... so was wie ... ein Dinosaurier? Ein eiskaltes Frösteln kroch bei dieser Idee ihre Wirbelsäule nach oben und explodierte auf ihrem Scheitel. Bereits in nächster Sekunde schlugen die Bedenken wie ein Blitzschlag ein.
»Angenommen, wir würden lebende Nachkommen dieser seit Jahrmillionen totgeglaubten Tiere finden ... wie wollen wir das vor der Öffentlichkeit geheim halten? Dieses Mysterium können wir ja wohl schlecht wegfliegen und irgendwo in den Anden wieder aussetzen oder in der Arktis in ewigem Eis vergraben, oder? Außerdem: Sind Dinosaurier überhaupt ein Mysterium, das man vor der Allgemeinheit fernhalten darf?«
Valerio legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend. In seinen Augen glomm ein liebevolles Glitzern auf, während seine Züge einen weichen Ausdruck annahmen. Er musterte Hanna stumm, jedoch mit beredtem Blick.
»Lass uns jetzt erst einmal herausfinden, worum es sich handelt, dann suchen wir eine passende Lösung. Vielleicht haben wir es auch mit einem Schwindler aus dieser Gruppe von Verrückten zu tun, der mittels eines ausgeklügelten Schalltechnik-Systems alle glauben machen will, dass es Geister gibt. Solche Spuk-Scharlatane gab es auch schon zuhauf.«
Ojunas zweifelnder Blick bestätigte Hanna, dass auch sie nicht an die kunstvolle Installation eines Tonbandgeräts glaubte.