Читать книгу In Gedanken bei dir: Sonderausgabe mit vielen Fotos - Lara Myles Barbara Goldstein - Страница 5

Kapitel 2

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»Mommy, ich wollte nicht, dass Karen es dir sagt«, schluchzte Jolie an Cassies Brust. Die zarten Schultern unter dem Shirt zitterten und bebten vor Anspannung, vor Trauer, vor Angst, und die Kleine schmiegte sich ganz eng an sie. Mutter und Kind passten ineinander wie zwei Puzzleteilchen. Das Playmobil am Fallschirm hielt Jolie dabei fest in ihrer Hand.

Mit Jolie auf dem Schoß, den Kopf an ihrer Schulter, saß Cassie auf dem Krankenbett. Die neue Bettwäsche hüllte beide ein wie eine Kuscheldecke. Sanft schaukelnd wiegte Cassie ihre Kleine und summte eine tonlose Melodie, wie damals, als sie sie nach ihrer Geburt zum ersten Mal im Arm hielt. So saßen sie seit einer Stunde, fast regungslos, wie gelähmt vor Schmerz, versunken in eine Umarmung, die Beschützen war, Trost, Zärtlichkeit, Liebe. Die im Moment alles zu sein schien, was beide auf der Welt hatten. Einander, ganz nah.

Doch wer tröstet eigentlich wen, fragte Cassie sich. Ich meine Kleine, oder sie mich?

Jolie war einfach unglaublich. Cassie wusste noch, wie traurig Nick gewesen war, als Karen ihnen sagte, Jolie brauche noch eine Chemo. Als sie Nicks bebende Lippen sah, ging Jolie zu ihm, kletterte auf seinen Schoß und lehnte sich gegen ihn, einfach so. Sie sagte kein Wort, sie war nur für ihn da. Sie gab ihm einen Halt, an dem er sich festhalten konnte. Sie bot ihm eine Schulter, an der er seine Tränen vergießen konnte. Als Cassie ihre Kleine später ins Bett brachte und zudeckte, fragte sie, wie sie Nick getröstet hätte. Jolie zuckte mit den Schultern. Sie hätte ihn gar nicht getröstet. Sie wäre nur für ihn da gewesen, damit er weinen konnte.

Cassie rieb ihre Nase an Jolies pink geblümtem Kopftuch und küsste sie auf die Stirn. »Warum wolltest du nicht, dass Karen es mir sagt?«

»Weil, ich wollte nicht, dass du ganz doll traurig bist, wenn ich sterben muss. Und dass du wieder so viel weinst.« Jolie öffnete die Finger und betrachtete das Playmobil. Mit dem Daumen strich sie sanft über die schwarzen Haare und das lächelnde Gesicht. Dann schob sie nach: »Und Nick.«

Zärtlich drückte Cassie ihre Kleine an sich. »Hast du ihn lieb?«

Jolie nickte. »Ganz doll.«

Cassie wischte ihr die Tränen aus den Augenwinkeln. »Er hat dich auch ganz doll lieb, Jolie.«

Die Kleine schloss ihre Finger wieder um das Playmobil und presste es an ihre Brust.

Eine Träne rann Cassie übers Gesicht, und sie drückte ihre Wange gegen Jolies geblümtes Kopftuch.

Es tut mir gut, meine Kleine, mein Baby, so zu halten, dachte sie. Als ich sie zum ersten Mal so hielt, ein Neugeborenes, bis zur Nasenspitze in ein flauschiges Badelaken gewickelt, dachte ich, wie schön sie wäre. Und ich stellte mir vor, wie sie bei ihrer Hochzeit aussehen würde, wenn ihr Daddy sie zum Altar führen würde – Alex und ich hatten uns erst neun Monate zuvor getrennt, und die Zeit schwanger ohne ihn war ein Ausnahmezustand katastrophalen Ausmaßes gewesen.

Als ich mein süßes Baby ansah, stellte ich mir vor, dass Jolie Kinder haben würde, mit denen ich eines Tages herumtoben würde. Karens Diagnose vor zwei Jahren hat diese Träume zerstört und durch eine Hoffnung ersetzt: Dass Jolie geheilt werden kann, dass sie leben darf. Die Rückfälle nach den Remissionen haben auch diese Hoffnung sterben lassen. Jolies größter Wunsch war es gewesen, sechs zu werden und in die Schule gehen zu dürfen, wie alle anderen Kinder, die gesunden. Karens Prognose hat selbst diesen Wunsch vernichtet: nur noch Wochen.

Meine Tochter wird niemals sechs Jahre alt werden.

Sie wird bald sterben.

Cassie fiel es schwer, diesen Gedanken zu Ende zu denken, er war einfach zu schmerzhaft.

Nie mehr würde Jolie mit einem Schokoriegel Bilder an die Wand ihres Kinderzimmers auf dem Hausboot malen.

Nie mehr würden Cassie und Jolie gemeinsam Tauchexpeditionen in die Badewanne planen, mit Tauchbrille und Schnorchel und Flossen und Lego-Schatztruhe voller bunter Badeperlen – das Bad stand jedes Mal unter Wasser, weil Jolie mit den Flossen hohe Wellen schlug, die aus der Wanne schwappten.

Nie mehr würden sie zusammen fantasievolle Tiermasken aus Eierkartons, Fingerfarben, Fell und Federn basteln, Tiger und Löwen, wie in den WWF-Videos, Kängurus und Pinguine, oder einen Delfin, wie Jolie einen adoptiert hatte.

Nie mehr würden sie miteinander süßes Sushi herstellen, die Rolls aus Kokosreis mit Schokoglasur und einer Hülle aus Kekskrümeln, mit Mango statt Jakobsmuschel, Papaya statt Lachs, Erdbeeren statt Thunfisch, Cranberries statt Fischrogen und Kiwipüree anstelle von scharfem Wasabi. Keine California Rolls mehr, Apfel, Kiwi und Minzblättchen in einer feinen Schicht aus Zartbitterschokolade, umhüllt mit süßem Milchreis, getupft in Krokant. Hey, welches Kind mochte schon Obst? Aber so bekam Jolie immer die Vitamine, die sie brauchte, und manchmal auch Antibiotika. Sie liebte süßes Sushi über alles.

Cassie wusste nicht, ob sie den Schmerz ertragen konnte, Jolie zu vermissen, zu wissen, was sie alles versäumt hatte, noch mit ihr zu erleben. Wenn sie doch nur ...

»Mommy?« Jolie sah zu ihr auf, das Playmobil in der offenen Hand. »Weißt du, was ich mir am allerdollsten wünsche?«

Cassie rieb ihren schmalen Rücken, als sie schniefte. »Was wünschst du dir, meine Süße?«

Jolie zeigte ihr die Figur, die Alex darstellte, vor zehn Jahren, in Canyonlands. »Ich will Daddy kennenlernen.«

Wie viel Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Liebe steckt in diesen Worten!, dachte Cassie. Wie viele Umarmungen und Küsse hat sie nie bekommen, weil Alex mich verlassen hat, bevor sie geboren wurde, bevor ich überhaupt wusste, dass ich schwanger war. Wie viele Gute-Nacht-Geschichten wurden nie erzählt, wie viele Kinderbücher nie vorgelesen, weil Jolie keinen Daddy hatte – Nick tut alles für sie, versucht ihr den verlorenen Vater zu ersetzen, aber wir sind noch nicht mal zwei Jahre zusammen.

Ich will alles tun, um Jolies Wunsch zu erfüllen, den Karen vorhin als ihren letzten bezeichnet hat. Ich will ihr die verlorene Hoffnung wiedergeben.

Sein Brief ...

Ich weiß jetzt, wo Alex ist.

Ihre Augen schwammen in Tränen, und das Sprechen fiel ihr schwer, als sie mit dem Daumen den Ring an ihrem Finger drehte. »Meine Süße, ich werde deinen Daddy suchen und zu dir zurückbringen.«

Jolie blinzelte zu ihr hoch. »Aber wo ist er?«

»Ich hab vorhin ein Video von ihm gegoogelt. Soll ich’s dir zeigen?«

Die Kleine plinkerte, und ihre Augen funkelten vor ungeweinter Tränen. Sie zog den Mundwinkel hoch. »Mhm.«

Cassie nahm das Tablet ihrer Tochter vom Nachttisch und wischte auf dem Monitor den Screensaver weg.

Okay, Jolie hatte wieder auf panda.org/about_our_earth/ gesurft und sich Tiervideos angeschaut. Meeresschildkröten und Delfine. Für Jolie war die Website des World Wildlife Fund die Welt, die sie nie kennenlernen würde. Ihre Kleine, die selbst mit dem Tode gerungen hatte, setzte sich für bedrohte Arten ein. Sie spendete ihr Taschengeld, sie übernahm die Patenschaft für einen Delfin, dessen Foto sie als Lesezeichen benutzte, sie beobachtete wilde Tiere über Webcam, sie twitterte eifrig mit und stellte den Experten bei WWF viele Fragen per Mail: Wie fühlt es sich an, wenn ich einen Elefantenrüssel streichele? Oder: Wenn Delfine miteinander sprechen können und sich bei ihren Namen rufen, können sie auch übereinander lachen?

Cassie tippte den Internet Explorer auf. Okay, jetzt zu Wikipedia. Suche: Mount St Helens. Der Artikel mit dem Bild des rauchenden Vulkans erschien auf dem Bildschirm.

Jolie beugte sich vor und überflog den ersten Absatz: »Der Mount St Helens ist ein aktiver Vulkan in Washington, im pazifischen Nordwesten der USA ... Der Vulkan liegt in der Cascade Range am pazifischen Feuerring ... Der Mount St Helens ist gefürchtet wegen des katastrophalen Ausbruchs am 18. Mai 1980 um 8.32 Uhr, des tödlichsten und zerstörerischsten Vulkanausbruchs in der Geschichte der USA ... Das Mount St Helens National Volcanic Monument wurde gegründet, um die Folgen der Eruption wissenschaftlich zu erforschen ... Wow!« Jolie sah zu Cassie auf. »Und da ist Daddy?«

»Er ist Geologe. Er erforscht den Vulkan.« Cassie scrollte den Artikel nach unten, damit Jolie sich die Luftaufnahmen des Vulkans ansehen konnte. Über das Foto von der gewaltigen schwarzen Wolke über dem ausbrechenden Vulkan sprang sie hinweg, um Jolie nicht zu beunruhigen. Dafür zeigte sie ihr das 360°-Panorama vom Krater mit dem Spirit Lake im Hintergrund.

In den External Links unten auf der Seite öffnete Cassie die Website des US Forest Service. Dort tippte sie auf den Link Volcano Science and Research. Auf der Seite gab es eine Fotogalerie des US Forest Service über die Wiederkehr des Lebens nach der Katastrophe am Vulkan, Fotos und Videos des US Geological Survey, aber auch wissenschaftliche Publikationen von Dr Alex Lacey, USGS.

Jolie machte große Augen. »Daddy.«

»Ja, genau.« Cassie ging zurück zur Website des National Monument. »Guck mal das Video hier.«

Sie tippte auf Play, und das Logo des USGS erschien. Darunter stand: Science for a changing world. Cassie wusste, die ersten Aufnahmen zeigten den gewaltigen Vulkanausbruch und die Wissenschaftler, die den Mount St Helens überwachten – den Schock, dass ihr Daddy in Gefahr sein könnte, ersparte sie Jolie. Cassie schob den Regler einige Minuten vor und startete das Video mit dem Blick aus der Ferne in den tief verschneiten Krater. Die nächste Szene zeigte einen Forscher des US Geological Survey, der im rauchenden Krater seismische Messungen durchführte und Gasproben nahm. Im Hintergrund war ein Hubschrauber zu sehen, dessen Rotoren die aufsteigenden Fumarolen verwirbelten. Sie hielt das Video an, als der Wissenschaftler im neongelben Overall zum Heli hinüberlief und sich vor dem Einsteigen kurz zur Kamera umdrehte.

Jolie nahm das Tablet in beide Hände und sah sich das Standbild genau an. »Daddy«, flüsterte sie andächtig und berührte Alex’ lächelndes Gesicht auf dem Touchscreen mit den Fingerspitzen.

Das Video lief weiter. Alex stieg ein, der Hubschrauber hob ab und verschwand hinter dem Kraterrand.

Jolie hielt den Clip an, schob den Regler zurück und schaute sich die Szene noch mal an, stolz und ergriffen. »Tief im Herzen von dem Vulkan. Da ist mein Daddy.«

Alex ... in Großaufnahme herangezoomt ...

Nick starrte das Foto auf dem Bildschirm des Notebooks an, und ihm wurde heiß, so heiß, dass er schwitzte, während er in seinem Inneren vor Kälte zitterte.

Nachdem Cassie die Scheidungspapiere gelesen hatte, hatte sie ihren Ex gegoogelt.

Hat ihr Herz dabei geklopft wie meines gerade jetzt?, fragte er sich. War sie so aufgewühlt wie ich, als würde sie ihm gleich gegenübertreten, nach all den Jahren?

Was hatte Cassie sich alles angesehen?

Im Internet Explorer klickte er unter Favoriten den Verlauf ihrer Recherche auf. Unter Heute standen die Links. Nick zappte sie von oben nach unten durch. Alex Laceys Website. Schickes Design, sehr aufwändig programmiert, Flashbooks zum Umblättern mit Soundeffekt, Fotos und Videos, echt toll. Na gut, weiter. Amazon.

Ah, okay, Alex hatte einen Stapel Bücher geschrieben. Und noch mehr Videos gedreht. Nick scrollte nach unten. Grand Canyon. Monument Valley. Yellowstone. Ayers Rock. Great Barrier Reef. Rift Valley. Angel Falls. Mount Waialeale. Mauna Kea. Palau. Er klickte ins Look inside und sah sich Alex’ Buch über den Mount St Helens an. Spektakulär, diese Aufnahmen, der absolute Wahnsinn. Hatte er die alle selbst gemacht?

Facebook. Twitter. Youtube. Alex hatte eine riesige Fangemeinde, weltweit. Er produzierte auch eine spannende Doku-Serie fürs Fernsehen, ähnlich wie Carl Sagans Unser Kosmos oder David Attenboroughs Spiele des Lebens – ein bisschen Entdeckung, Forschung und Abenteuer, ein bisschen Landschaft und Wildlife und jede Menge Alex in Cargohosen und Wanderstiefeln am Lagerfeuer mitten im Nirgendwo, an gewaltigen Felsstürzen, im tropfenden Regenwald, unter tosenden Wasserfällen, in geheimnisvollen Kristallhöhlen, in Vulkankratern im Schein der glühenden Lava. Alex als Felskletterer, Alex als Taucher, Alex als Ruinenforscher, Alex mit Fallschirm im Helikopter, Alex mit tapsigen Tigerbabys im Arm. Clever und smart, taff und jungenhaft verschmitzt. Alex war Wissenschaftler, Abenteurer und Medienstar. Na klar, das war aufregender als in San Francisco mit den Fingern auf die Schreibtischkante zu trommeln und auf The Big One zu warten.

Im Verlauf fand Nick weiter unten eine Google Suche: Alex+Cassie+Lacey. Seine Hände zitterten, als er den Link anklickte und ein Bild von beiden erschien. Cassie und Alex, beide in kurzem Tauchanzug, schwebten im tiefblauen Wasser vor ... ah, da unten stand es, vor Hawaii. Cassie streckte ihren Arm aus und berührte die gefleckte Haut eines riesigen Walhais, der hinter ihr und Alex vorbeiglitt.

Wie oft hatte Cassie ihm von diesem Urlaub erzählt!

Auf der Suche nach Alex hatte sie sich an glücklichere Zeiten erinnert, an ihr gemeinsames Leben.

Nick schloss den Internet Explorer und starrte auf den Desktop mit dem niedlichen Foto von Jolie. Wie ernst war Cassie ihre Suche nach Alex? Was hatte sie dabei empfunden?

Er ging hinauf ins Schlafzimmer und öffnete die Bodenklappe zur winzigen Dachkammer. Über die Leiter kletterte er hinauf und schob sich in die Kammer wie ein Höhlenforscher. Der dunkle Raum war vollgestopft mit Umzugskartons. Einige waren herumgewuchtet und durchwühlt worden. Auf einer Holztruhe lag aufgeschlagen das Hochzeitsalbum der beiden.

Nick spähte in die offene Kiste, aus der Cassie das Album geholt hatte. Keine Ahnung, was sie sich alles angesehen hatte. Und er wusste auch nicht, ob irgendetwas fehlte. Aber er konnte ihr Tagebuch nirgendwo entdecken, ein Notizbuch mit blauen Rosen auf dem Papierumschlag. Sie hatte ihm von diesem Buch erzählt. Darin hatte sie sich die enttäuschendsten und schmerzhaftesten Augenblicke ihrer Ehe von der Seele geschrieben. Sie hatte ihm gestanden, dass sie jedes Mal Herzklopfen hatte, wenn sie das Tagebuch beim Stöbern wiederfand. Sie wollte es schon einmal wegwerfen, hatte es dann aber doch aufbewahrt. Wo war es jetzt?

Ende der Expedition in die Abgründe der Vergangenheit.

Nick ging wieder hinunter zu Cassies Schreibtisch und zog die oberste Schublade auf. Nichts. Die nächste? Auch nichts. In der untersten Lade fand er schließlich das Tagebuch.

Er atmete tief durch.

Und jetzt?

Okay, ja, ich verstehe, dass Cassie im totalen Ausnahmezustand steckt ... Jolies Krankheit und jetzt auch noch Alex’ Scheidung ... Aber, hey, haben wir nicht in den letzten Monaten gemeinsam alle Krisen gemeistert?

Nick erinnerte sich, wie Cassie und er Jolie an Weihnachten nach Hause geholt hatten. Es ging ihr so gut, dass sie die Klinik für einige Tage verlassen konnte, und sie glaubten fest an ein Happy End. Jolie und Connor flitzten im Hausboot herum und stellten Milch und Kekse für Santa Claus hin. Die Karotte für Rudolph, das rotnasige Rentier, hängten sie kichernd an das Verandadach: »Mal sehen, ob Rudy schwimmen kann.«

Jolie hatte ihre Engelsflügel aus Draht und Federn umgehängt. Um ihre Hausschuhe hatte sie Watte gewickelt und zerzaust, damit es aussah, als würde sie über Wolken laufen. Ihre Kleine so fröhlich herumhopsen zu sehen, voller Vorfreude auf den nächsten Morgen, wenn sie ihre Geschenke auspacken würde, war das schönste Geschenk für Cassie und Nick. Glück pur. Nur der Verband über ihrem Port für die Infusionen erinnerte sie daran, dass dieses Glück jeden Augenblick enden konnte. Aber so lange es dauerte, genossen sie es, gelassen und zufrieden. Die Freude, Jolie herumtoben und mit ihren Geschenken spielen zu sehen, hielt nur wenige Tage. Zuerst wurde die Kleine müde und lustlos, dann bekam sie hohes Fieber, und Cassie und er brachten sie zurück in die Klinik. In der Nacht schlief sie in seinen Armen im Krankenhausbett. Nick wusste noch, dass er den Gedanken hasste, sie wieder den Schmerzen und dem Leiden auszusetzen. Er liebte dieses Kind und er hoffte, wie jeder Vater, dass Jolie ein glückliches und erfülltes Leben haben würde.

Am nächsten Tag verlegte Karen die Kleine auf die Intensivstation. Nur Cassie blieb bei ihr und hielt ihre Hand, während Jolie ins Koma hinüberglitt.

Haben wir das alles nicht gemeinsam durchgestanden?, dachte Nick. Die Angst. Die Wut. Die Ohnmacht. Die Schuldgefühle. Die Selbstvorwürfe, ob wir die schwere Infektion verursacht haben oder ob wir sie hätten verhindern können.

Und jetzt auch noch Alex.

Cassie liebt ihn immer noch. Und ich glaube, darüber sollten wir reden. Denn ich fühle mich plötzlich wie ein Mann, der erfährt, dass seine Frau einen anderen liebt. Der wütend und verzweifelt ist, und ... ja, panisch.

Ich will, dass wir das hier durchstehen. Ich will, dass wir zusammenbleiben. Ich will, dass wir heiraten und dass Jolie meine Tochter ist und nicht Alex’ – er weiß ja nicht mal, dass er ein Kind hat.

Nick zog sein Handy aus der Tasche und drückte die Wahlwiederholung: The person you have called is temporarily not available.

»Verdammt!«

Er zog Cassies Notebook zu sich heran und klickte Skype auf. Wenn sie Jolie nicht besuchen konnte, skypte Cassie stundenlang mit ihrer Kleinen.

Die sanfte Klingelmelodie von Skype erklang.

Aber Jolie antwortete nicht. Der Bildschirm blieb dunkel.

Wo steckten Cassie und Jolie? Nick sollte sie doch anrufen. Schon vor Stunden.

Er wählte Karens Nummer. Es klingelte lange.

Dann ging sie ran. »Hi, Nick.«

»Hi, Karen. Ich kann Cassie nicht erreichen ... Ist etwas ...«

»Ganz ruhig, Nick!«, unterbrach sie ihn, und er stellte sich vor, wie sie beschwichtigend die Hand hob. »Mit Jolie ist alles in Ordnung. Cassie ist gerade im Interview. CBS SF sendet live ...«

Ein Blick zur Uhr: kurz nach fünf. Eyewitness News lief schon. Verdammt, er hätte es beinahe verpasst!

»Danke, Karen. Bis bald.« Nick warf das Handy auf Cassies Schreibtisch, stürmte wie ein Footballspieler durch das Wohnzimmer und hechtete über das Sofa, um die Fernbedienung an sich zu reißen und den Fernseher anzuschalten. Er zappte durch die Kanäle, bis er Cassie sah. Er drehte den Ton lauter, doch ihr kurzer Kommentar war beendet, und die Moderatorin erschien wieder. Im Hintergrund war ein Bild von Jolie eingeblendet, darüber der Schriftzug: Jolies Kampf.

Das Leben meines Kindes wird in dreißig Sekunden gepresst, dachte Nick. Die nächsten dreißig Sekunden waren Coop gewidmet, der nach San Francisco kommen wollte, um für Jolie sein Knochenmark zu spenden. Doch er starb auf der Straße nach Sydney, auf dem Weg zur Qantas-Maschine, die ihn zu Jolie bringen sollte.

Dann war wieder Cassie zu sehen, und sie sah traurig aus.

Die Moderatorin interviewte eine verzweifelte Mutter, die ihr Kind nicht retten konnte. Denn Cassie kam als Spenderin nicht infrage. Nick ahnte, was jetzt kam, und er ballte seine Fäuste. Keine Ahnung, woher die Moderatorin wusste, dass Cassie schwanger gewesen war und dass sie ihr Kind verloren hatte. Dass Cassie litt, konnte man ihr ansehen. Aber unter dem unausgesprochenen Vorwurf, mit Nick ein Designerbaby gezeugt zu haben, das mit seinen Stammzellen seiner kranken Schwester das Leben retten sollte, zuckte sie regelrecht zusammen, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht bekommen.

Der Beitrag legte nahe, sie hätten mittels Präimplantationsdiagnostik einen Embryo ausgewählt und Cassie einsetzen lassen, damit sein Nabelschnurblut Jolie heilen konnte.

»Hey, das ist nicht wahr!«, regte Nick sich auf, und seine Finger krallten sich um die Fernbedienung. »Die Schwangerschaft war doch nicht geplant gewesen! Wir waren noch nicht lange genug zusammen, um uns nach Jolies Diagnose noch ein Kind zu wünschen!«

Nick erinnerte sich an den Ultraschall-Termin, den schlimmsten Tag seines Lebens. Er saß neben Cassie auf der Liege und hielt ihre Hand, als der Arzt die Sonde über das Gel auf ihrem Bauch schob. Die verkniffenen Lippen und die verkrampften Finger um die Sonde warnten Nick, dass etwas nicht in Ordnung war. Er sah auf den Monitor, der über Cassie an der Decke hing. Nichts. Kein Herzschlag. Das Schlimmste war geschehen: Ihr Baby, ihre Hoffnung, ihr Glück, war gestorben.

Vom Bildschirm des Ultraschallgeräts schaute Nick in Cassies Gesicht, und er sah dort die Trauer und die Verzweiflung, die er selbst empfand. Er war so aufgeregt gewesen ... hatte sich darauf gefreut, sein Kind zu sehen ... den Herzschlag zu hören ... das erste Schmetterlingsflattern zu spüren ... Und jetzt?

Von Männern wurde erwartet, dass sie ihre Gefühle im Griff hatten. Dass sie stark waren, dass sie ihren Frauen Halt gaben, wenn sie zusammenbrachen. Aber in diesem Augenblick wollte er nur noch heulen.

Cassie und er weinten stundenlang, hielten sich aneinander fest, ohne dem anderen Halt geben zu können, und trauerten um ihr Kind. In einem Erinnerungsalbum voller Fotos, Briefe und Ultraschallbilder gedachten sie ihres kleinen Schmetterlings, der nie das Fliegen lernte.

Mommys trauerten anders als Daddys. Die Wochen nach dem Tod ihres Kindes waren sehr schwierig für Cassie, unbeschreiblich schmerzhaft, und sie zog sich immer mehr in sich selbst zurück. Als Jolies Zustand nach einer Infektion wieder einmal lebensbedrohlich wurde und Cassies Gefühle über ihr zusammenschlugen, trennte sie sich von ihm. Für mehr als eine SMS fehlte ihr die Kraft. Fünf Zeilen, das »Ich liebe dich« am Anfang und das »Ich werde immer an dich denken« am Ende nicht mitgerechnet. In diesem Augenblick hatte Nick alles verloren, sein Kind, auf das er sich gefreut hatte, die kleine Jolie, die er »ganz doll liebhatte«, und die Frau, mit der er sein Leben verbringen wollte. Es hatte ihm das Herz gebrochen.

Karen wurde jetzt eingeblendet. Dr Karen Mayfield stand in Jolies Krankenzimmer und kommentierte die gescheiterte Knochenmarktransplantation nach Coops tragischem Tod. Am unteren Bildrand wurde jetzt Cassies Website help-jolie.com eingeblendet, und Karen bat die Zuschauer, sich als Spender typisieren und registrieren zu lassen, um Jolies Leben zu retten. Im Hintergrund erkannte Nick den Infusionsständer mit dem Playmobil-Fallschirmspringer.

Jetzt kam Jolie ins Bild. Sie saß auf Cassies Schoß und schmiegte sich an sie. In der Hand hielt sie die kleine Figur, die sie an ihren Vater erinnerte. Aus dem Off kam der Kommentar, professionell gesprochen, mitfühlend, aber reißerisch:

»Der letzte Wunsch eines sterbenden Kindes: Ich will meinen Daddy wiederhaben! Der kleinen Jolie Lacey bleibt nicht mehr viel Zeit. Ihre letzten Tage verbringt sie im UCSF Medical Center in San Francisco. Ihr letzter Wunsch: Sie will ihren Daddy umarmen, während sie stirbt. Aber wo ist ...«

Nick fühlte sich, als bliebe sein Herz stehen. Der Schmerz wurde einfach unerträglich.

Jolie stirbt.

Er hatte noch die Kraft, den Fernseher abzuschalten, bevor er in heiße Tränen ausbrach.


In Gedanken bei dir: Sonderausgabe mit vielen Fotos

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