Читать книгу Lachen mit Tränen in den Augen: Sonderausgabe mit vielen Fotos - Lara Myles - Страница 4

Kapitel 1: Das Lächeln eines Fremden erwidern, ohne Worte

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Wie Meeresrauschen ...

Mit einem Lächeln schloss sie die Augen, um in dieses sehnsüchtige Gefühl einzutauchen und sich von einer Woge aus Donnern, Rauschen und Plätschern mitreißen zu lassen. Fast konnte sie das Zischen der Gischt am Strand hören, das leise Knistern des brodelnden Schaums der Brandung, über dem die nachfolgende Welle bricht, das Klappern der Steine und Muscheln im Sand. Wie die sanfte und doch starke Dünung des Pazifiks, die aus der Weite des Horizonts heranrollt, um den feinen Meeressand und die Algen zwischen ihren Zehen aufzuwirbeln, klangen die Turbinen im Landeanflug.

Eine Windbö erfasste das Flugzeug.

Plötzlich waren da Lichter! In the middle of nowhere! Fasziniert presste sie die Stirn gegen das Fenster und starrte in die Finsternis. Ein Wirbel von glitzernden Funken tauchte wie Gischt aus der schwarzen Tiefe des Pazifiks empor und schwappte an den Abhängen der Berge hoch. Die Lichter spiegelten sich auf den Wellen der Lagune. Sie sahen aus wie Pinselstriche in Gelb und Blau auf schwarzem Grund – gleißende Farbtupfen eines impressionistischen Gemäldes, das nie zur Ruhe kam.

Die Brandung der ringförmigen Korallenriffe glitt unter ihr vorbei. Wolkenschleier, fein wie Morgendunst, verhüllten jetzt das Glitzern der Lagune. Und das Funkeln dort? Die Overwater Bungalows, die künstliche Lagune, der tropische Garten? Das war ihr Hotel!

Wie eine Woge überkam sie ein lang vermisstes und unablässig ersehntes Gefühl: die Leichtigkeit des Seins, die Schwerelosigkeit des Glücks.

Bald ist es so weit!, dachte sie. Gleich bin ich da! Wie lange habe ich darauf gewartet! Sie lehnte sich zurück und genoss jeden Augenblick bis zur Landung.

In das schrille Dröhnen der Turbinen mischte sich in ihrer Vorstellung der rhythmische Klang einer Ukulele.

Wie so oft in den vergangenen Monaten, sang sie leise Somewhere over the rainbow. Israel Kamakawiwo’oles sanfte Stimme hatte ihr immer sehr viel Kraft geschenkt. Trost. Zuversicht. Gelassenheit in einer Zeit, in der ihr Leben über ihr zusammengebrochen war und ihre Träume unter sich begraben hatte.

Wieder eine Bö, die das Flugzeug hochriss.

Dreams really do come true. Träume werden wahr, wenn man die Hoffnung bewahrt und die Sehnsucht mit beiden Händen festhält, während man sich ans Leben klammert! Ich werde sie wahr machen, schwor sie sich. Ich werde mir alle meine Wünsche erfüllen!

Wie Sternschnuppen huschten die Lichter der Landebahn an ihr vorbei. Im Fenster reflektierte ihr Gesicht, dem sie mit einem Selbstbräuner einen sanften Bronzeton verliehen hatte. Die Fältchen um ihre Augen konnte die beste Gesichtscreme nicht mehr glätten, und ihre Haare waren immer noch auffallend kurz. Monatelang konnte sie sich nicht im Spiegel betrachten. Mit gesenktem Blick war sie daran vorbeigelaufen – nur nicht hinsehen! Aber jetzt schaffte sie es schon wieder.

Mit einem harten Ruck setzte die Maschine der Air France auf. Das Fahrwerk krachte, die Turbinen heulten während der Schubumkehr auf, das Flugzeug wurde langsamer. Sie atmete tief durch. Achteinhalb Stunden Flug von Los Angeles durch die Nacht über dem Pazifik gingen zu Ende. Eine kurze Reise im Vergleich zu dem Jahr, das hinter ihr lag. Ihr Herz krampfte sich zusammen, und sie rang mit den Tränen. Es war vorbei, endlich vorbei! Wenn in einigen Stunden die Sonne aufging, würde ein neuer Tag beginnen. Der erste ihres Lebens danach.

Träume werden wirklich wahr.

Sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln.

Die Air France 674 war mit röhrenden Triebwerken zum Stehen gekommen und wendete jetzt auf dem Runway, um zum Flughafengebäude von Faaa hinüberzurollen. Ihre Finger zitterten vor Aufregung, als sie nach der Schnalle ihres Gurtes tastete. Noch nicht ... noch nicht ...

Ping! »Mesdames et Messieurs, nous sommes arrivés à Tahiti. Ladies and gentlemen, we have landed in Tahiti ... Local Time is three fifty five a. m. Sunrise will be at six twenty six a. m.«

Shainee stellte ihre Uhr. Kurz vor vier. In San Francisco war es kurz vor sechs. Lexie schlief bestimmt noch, das Gesicht ins Kissen gekuschelt, ein verträumtes Lächeln auf den Lippen. Und Mark? Er hatte versprochen, in Gedanken bei ihr zu sein, wenn sie ankam. Sie stellte sich vor, wie er sich seufzend auf die Seite drehte, eine Hand auf ihr Kissen legte und die andere auf der Suche nach ihr unter die Decke schob. Aber sie war nicht mehr da. Und er wusste nicht, ob sie jemals zurückkehren würde.

Ein Jahr war sie schon fort – sie wusste, dass er so empfand und wie sehr er darunter litt. Sie merkte es an der Art, wie er sie ansah, wenn sie sich nahe waren, wie er die Hand nach ihr ausstreckte, um sie zu spüren. Es waren die kleinen Gesten, die sie anrührten. Ein Lächeln, ein Streicheln, ein kleines Geschenk, eine Schachtel Pralinen, ein Strauß Blumen, ein Ring. Oder eben eine Traumreise.

»Würdest du gern fahren, Shainee?« Auf ihrem Laptop hatten sie sich die Fotos angesehen. Blaue Lagunen, schwarze Strände, exotische Fische vor bunten Korallenriffen, Wasserfälle in smaragdgrünen Bergen, traumhafte Sonnenuntergänge unter Palmen. »Was hältst du davon, wenn ich dir die Reise schenke? Stell dir vor, du könntest dir jeden Wunsch auf deiner Liste erfüllen. Lass mich dir dabei helfen.«

Ihre Wunschliste – dass er daran gedacht hatte! Shainee war so gerührt gewesen, dass ihr die Worte gefehlt hatten.

Tahiti war schon immer das Ziel ihrer Sehnsucht gewesen! Mit einem ›Vielleicht irgendwann später ...‹ hatte sie die Erfüllung ihres Traums jahrelang vor sich hergeschoben. Nie hatte sie Zeit gehabt. Ihre Arbeit, ihre Bücher, ihre Familie – ihr Leben auf der Überholspur hatte sie immer in Atem gehalten. An dem Tag, an dem sie einen Roman beim Verlag abgegeben hatte, hatte sie schon mit den Recherchen für ein neues Buch begonnen. Drei Monate im Jahr war sie auf Lesereisen unterwegs gewesen. In den letzten drei Jahren waren vier ihrer Bücher verfilmt worden. Late-Night-Shows bei Jay Leno und Conan O’Brien, Talk bei Oprah Winfrey, Pressekonferenzen, Filmpremieren und Fotoshootings mit Will Smith und Scarlett Johansson – und Mark immer geduldig an ihrer Seite, auch bei den Auftritten in aller Welt für ihre ehrenamtlichen Tätigkeiten als UNICEF-Botschafterin. Sie hatte ihre Arbeit und ihre Familie gehabt – für anderes war einfach keine Zeit geblieben. Seit Jahren hatte sie unter dem ständigen Zeitdruck gelitten. Der Erfolg hatte sie in Atem gehalten. Durchatmen? Keine Zeit! Ein Traumurlaub, ohne ihr Laptop? Acht Tage, ohne ein Wort zu schreiben? Ohne Mark und Lexie? Ohne das tägliche Chaos, die Hektik, den Californian Way of Life mit zwei Autos in der Garage, ihrem Porsche Boxster und Marks schwarzem Lexus, seinem Trekking Bike im Vorgarten, dem Surfboard mit stylishem Graffiti in Lexies Zimmer, das eher an die Leinwand eines modernen Gemäldes erinnerte? Unmöglich! Darüber hatte sie erst gar nicht nachdenken müssen. Trotz des Stresses fand Shainee das, was sie machte, spannend und befriedigend. Sie war leidenschaftlich gern Ehefrau, Mutter und Schriftstellerin. Ihr Leben war ein nie endendes aufregendes Abenteuer.

Und von einem Tag auf den anderen ist plötzlich alles anders, erinnerte sie sich. Du hast Angst. Du bist wütend. Du fühlst dich hilflos. Und obwohl du einen Mann hast, der dich auf eine rührende Art liebt, und eine sechzehnjährige Tochter, auf deren Gefasstheit und Entschlossenheit du trotz ihrer Jugend stolz sein kannst, fühlst du dich allein. Dieses Empfinden willst du dir nicht eingestehen, um deinen Liebsten nicht wehzutun. Aber du kannst nicht anders. Du bist allein.

Nach einem weiten Schwenk kam das Flugzeug mit einem Ruck vor dem hell erleuchteten Flughafengebäude zum Stehen. Das schrille Geräusch der Turbinen wurde leiser. Mit einem Ping erlosch das Anschallzeichen. Das Klicken der Sitzgurte untermalte das aufgeregte Raunen der Passagiere und die Abschiedsworte aus dem Lautsprecher:

»Nous vous souhaitons une très bonne journée. We wish you a pleasant stay on the islands. Take care!«

Sehnsucht hatte in Marks Blick geschimmert, als er gestern Abend beim Abschied am Gate ihre Hand in seiner gehalten hatte. Traurigkeit. Schmerz. Aber auch Verunsicherung. Und ein bisschen Resignation. Dabei war die Traumreise seine Idee gewesen! Jede Reise endete irgendwann, und man kehrte nach Hause zurück. Das Wort Trennung hatte keiner von ihnen in den letzten Wochen ausgesprochen. Sie hatten beide zu viel Angst, alles würde noch schlimmer werden, sprächen sie es aus. Eine Reise, ja! Eine Zeit des Durchatmens, des Besinnens, des Sichwiederfindens. Eine Zeit des Erinnerns an all die schönen Dinge, die sie in den fast zwanzig Jahren ihrer Ehe gemeinsam getan hatten. Dann eine Entscheidung, klar und bewusst getroffen. Und vielleicht die Rückkehr in die offenen Arme des anderen.

Marks Umarmung wieder spüren! Seinen Herzschlag wieder hören! Die Erinnerung an das, was sie während der vergangenen Monate verloren hatten, trieb Shainee wieder die Tränen in die Augen. Ihre Kehle schnürte sich schmerzhaft zusammen, und sie musste schlucken. Langsam atmete sie aus und erinnerte sich daran, was Mark beim Abschied in San Francisco gesagt hatte:

»Das wird die Reise deines Lebens.«

Während sie die Stufen zum Rollfeld hinabstieg und tief die schwülheiße Morgenluft einatmete, dachte sie an Mark. Der Gedanke, nur zu ihrem Vergnügen zu reisen, machte ihr trotz allem, was ihr im letzten Jahr passiert war, ein schlechtes Gewissen. Wenn sie sich schon freinahm – sollte sie die Zeit dann nicht mit ihren Liebsten verbringen? Nein, Mark war ganz und gar nicht begeistert gewesen, dass sie ohne ihn geflogen war. Dass sie ihn mit Lexie allein gelassen hatte. Warum er die Reise dann überhaupt vorgeschlagen hatte? Weil er sie besser verstand als irgendjemand auf der Welt. Weil er wusste, dass er sie jetzt loslassen musste, um sie festzuhalten.

Keine Reue!, ermahnte sie sich. Kein Blick zurück, Shainee! Schau nur noch nach vorn!

Entschlossen folgte sie den anderen Passagieren über das Rollfeld zum Flughafengebäude.

Lag es an dem strahlenden Lächeln der Tahitianerinnen in bunten Pareos, die Blütenkränze und Muschelketten verteilten? Oder an der mitreißenden Musik der Band, die mit ausgelassener Laune eine entspannte Urlaubsatmosphäre verbreitete? Hinter den Musikern prangte in großen Lettern: Bienvenu à Tahiti – Tahiti welcomes you! Konnte man herzlicher empfangen werden? Der betörende Duft von Jasmin hing in der schwülheißen Luft, die sie seidenweich umschmeichelte. Ein plötzliches Empfinden unbeschwerter Leichtigkeit riss sie beinahe von den Füßen. Gleichgültig warum – auf dem Weg zum Gepäckband schlug ihre Stimmung um.

Dass sie während der Passkontrolle erkannt wurde, machte ihr nichts aus. Kein Tuch, keine Sonnenbrille, jetzt nicht mehr! »Shainee Ryker? Die Bestsellerautorin? C’est pas vrai! Ich habe Ihr letztes Buch gelesen. Es war wundervoll. Am Ende musste ich weinen.« Für das strahlende Lächeln der jungen Tahitianerin bedankte sie sich gerührt mit einem Autogramm auf einer Postkarte: ein malvenfarbener Sonnenuntergang über Moorea. Ihr Name verschwand zwischen den schroffen Bergen, den Wolken und dem Meer und wurde Teil der grandiosen Landschaft.

Im Stillen freute sie sich: Der erste Wunsch auf meiner Liste, die ich vor Monaten geschrieben habe, ist bereits am ersten Tag erfüllt. Das Lächeln eines Fremden erwidern, ohne Worte. Weiter so!

Ja, ich freue mich auf die Zeit, die vor mir liegt, von ganzem Herzen. Ich sehne mich danach, das wiederzufinden, was ich all die Monate verloren hatte.

Mich selbst.

Nach einem Welcome Drink mit Blick auf die künstliche Lagune und den tropischen Garten des Resorts betrat Shainee eine Stunde später ihren Overwater Bungalow im polynesischen Stil: Holz, Rattan und Bast verbreiteten mit einem Hauch von Luxus und Abenteuer eine exotische Strandhüttenatmosphäre. Die Vorhänge wehten in der leisen Morgenbrise. Ihr Gepäck stand bereits vor dem breiten Bett, auf dessen weißen Laken eine geflochtene Bastmatte mit orange-violetten Blüten lag. Der ganze Raum war erfüllt von ihrem betörenden Duft – der salzige Geruch des Meeres, dessen Wellen gegen die Stelzen des Bungalows plätscherten, trat dahinter zurück.

Den Korb voller Mangos, Papayas, Guaven, Ananas und Bananen hatte Mark bestellt. Auch die eisgekühlte Flasche Champagner stammte von ihm. Das verriet ihr die handgeschriebene Karte, die unter dem silbernen Kühler auf dem Nachttisch hervorlugte. Es war nicht seine schwungvolle Schrift, wohl aber waren es seine Worte:

Genieß die Zeit, mein Liebling. Erhol Dich. In Gedanken bin ich jetzt gerade bei Dir. Mark.

Wie süß von ihm! Aber so war er!

Warum sie die Karte umdrehte, wusste sie selbst nicht. Auf der Rückseite las sie:

Du glaubst doch nicht, dass das schon alles ist?

Öffne Deinen Koffer!

Oh, Mark!

In ihrem Gepäck fand sie einen cremefarbenen Umschlag. Ein Brief? Verwirrt riss sie ihn auf und zog das dicke, seidige Papier hervor. Ein warmes Gefühl rieselte durch ihren Körper, und sie begann zu zittern.

Das in den Brief eingefaltete Foto zeigte Mark und sie als Schattenrisse im Gegenlicht am Strand von Carmel. Er hatte seinen Arm um sie gelegt, und sie lehnte sich gegen ihn, während sie den rosenfarbenen Sonnenuntergang über dem Pazifik betrachteten. Shainee wusste noch, wie es sich anfühlte, von Mark gehalten zu werden. Sie wusste noch, wie warm dieser Abend gewesen war, wie schön, wie romantisch. Lexie hatte diese Aufnahme gemacht – es war Shainees Lieblingsbild. Aber der Anblick versetzte ihr jetzt einen Stich ins Herz. Denn das Foto zeigte das, was Mark und sie vor einem Jahr verloren hatten. Die Fähigkeit, sich mit allen Sinnen auf den anderen einzulassen und für ihn da zu sein. Ihre Angst zu vergessen. Einfach nur zu leben.

Sie musste schlucken, so gerührt war sie, als sie schließlich Marks Brief entfaltete.

Shainee, my love.

Die Kehle wurde ihr eng, als ihr Blick über seine Zeilen schweifte. Seine Gedanken und Gefühle, seine Ängste, Hoffnungen und Sehnsüchte – ihr ganzes gemeinsames Leben.

Sie kickte die Sandalen von den Füßen, klopfte die Kissen zurecht und legte sich aufs Bett, um den Brief zu lesen, den er ihr gestern Abend mit auf den Weg gegeben hatte.

Shainee, my love

Du fehlst mir jetzt schon. Aber wenn ich die Augen schließe, fühle ich mich Dir nah, obwohl Du nicht mehr da bist. Dann sehe ich Dich vor mir, und ich möchte Dich berühren, Dich streicheln und Dich umarmen, so wie früher. Dich beschützen. Dich nach Hause bringen.

Wie sehne ich die verlorene Zeit zurück, als alles so einfach und unkompliziert zwischen uns war. Ein Blick war ein Blick, ein Lächeln war ein Lächeln, ein Wort war ein Wort. Es gab keine unausgesprochenen Erwartungen an den anderen, keine verschwiegenen Ängste. Nur Vertrauen und Liebe. Du musst es mir nicht sagen – ich weiß, dass ich Dir in den letzten Monaten wehgetan habe. Dass Du Dich von mir bedrängt fühlst. Dass Du verunsichert bist, wie Du nun auf mich reagieren sollst. Glaub mir, Shainee, mir geht es nicht anders. Wie Du habe ich Angst. Und wie Dir fällt es mir schwer, mir das einzugestehen oder es Dir gegenüber laut auszusprechen, während ich Dir in die Augen sehe und Deine Hand halte.

In jeder Ehe gibt es Höhen und Tiefen, und fast zwanzig Jahre sind eine lange Zeit, die Liebe zueinander und die Achtung voreinander zu bewahren. Was haben wir in diesen zwei Jahrzehnten alles gemeinsam durchgestanden! Den Tod Deiner Eltern, um die Du mit Deinem Bruder getrauert hast. Die Krankheit meines Vaters, um den Du Dich hingebungsvoll gekümmert hast, als ich es nicht konnte. Die winzige Wohnung in Pacific Heights ganz am Anfang unserer Ehe. Das Wenige, mit dem wir viele Jahre auskommen mussten. Die viele Arbeit bis spät nachts. Die jahrelangen Misserfolge. Deine Bücher, die vom Markt genommen wurden, weil sie sich nicht verkauften. Das Gefühl des Scheiterns, der Verzweiflung, aber auch Dein Mut, an Dich zu glauben und einfach weiterzuschreiben. Aber es gab auch unvergesslich schöne Augenblicke in unserem gemeinsamen Leben. Wir haben eine wundervolle Tochter, die uns sehr viel Freude macht. Und wir haben uns – zumindest hatten wir einander noch vor einem Jahr. Und jetzt, Shainee? Was sind wir: Liebende oder Freunde?

Zwanzig Jahre – das ist unser halbes Leben! Und dann ein einziger schicksalhafter Augenblick, gefolgt von einer Zeit des Leidens! Kann dieses schmerzhafte Jahr, das nun endlich hinter uns liegt, wirklich alles zunichte machen?

Ich möchte, dass Du eines weißt, mein Liebling: Ich bewundere Dich für Deine Stärke und Deine Geduld mit mir. Ich bin so unglaublich stolz auf Dich. Ich liebe Dich von ganzem Herzen, und ich hoffe, dass Du Dir auf Tahiti darüber klar wirst, ob Du meine Gefühle noch erwiderst.

Ich werde auf Dich warten, Shainee, egal wie lange es dauert, bis Du zu mir zurückkehrst. Y Mark

Nachdem Shainee den Brief ein zweites Mal gelesen hatte, ging sie hinaus auf die Veranda und setzte sich tief durchatmend in einen der Rattansessel. Wie still es so früh am Morgen war! Außer dem leisen Plätschern des Wassers unter den Holzplanken war nichts zu hören.

Liebende oder Freunde?

Hatten Mark und sie noch eine Chance auf eine gemeinsame Zukunft?

Diese Frage ging ihr durch den Sinn, während sie beobachtete, wie sich der Himmel über Moorea langsam im ersten Licht verfärbte. Ein inspirierender Anblick, der sie jedes Zeitgefühl verlieren ließ! Der schwarze Schattenriss der Berge schälte sich aus dem feinen Morgennebel rings um die schroffen Gipfel, und das Funkeln der Sterne verblasste im Leuchten des Himmels. Das Meer war so ruhig, dass sich die blaugoldenen Wolken darin spiegelten. Die Sonne stieg höher und brachte den Horizont zum Glühen.

Ein neuer Tag begann. Ein neues Leben?

Ein Flattern ... ein Knistern, wie von Sand ... in der Ferne knattern Schüsse ...

»Doc?«

Er wendet sich zur Schwester um. »Yeah?«

Die Segeltuchwände des OP-Zeltes schwanken im heißen Wüstenwind, der über Benghasi hinweg aufs Meer hinaus weht. Ein NATO-Hubschrauber donnert im Tiefflug über das Zelt hinweg. Ein Rettungsheli? Mit wie vielen Verwundeten an Bord? Die Schwester, wie er in blauer Kleidung, bindet ihm den Mundschutz über der Kappe fest, während er seine schweißnassen Finger in die Latex-Handschuhe schiebt.

Das Radio übertönt das rhythmische Piepsen und Schnaufen der Geräte und die Unruhe vor der OP. Sein Assistent hat das iPhone an Lautsprecherboxen angeschlossen. »Heavy fighting continues in Libya. The international medical humanitarian organisation Médecins Sans Frontières evacuated its team from cities in the west, following repeated shelling. As the conflict continues, MSF is expanding its assistance in the cities of Misrata and Benghasi and in the camps along the border ...«

Der Assistent fummelt am iPhone herum. Ruhige klassische Musik erfüllt jetzt das OP-Zelt. Die Schüsse und Explosionen klingen allen im Team viel zu nah.

»Los geht’s.«

Die Herzoperation mitten in der Wüste ist ein Risiko. Der schwer verletzte junge Mann auf seinem Tisch ist ein Amerikaner mit Schusswunden in der Brust. Seine Patienten sind so international wie sein OP-Team – nur sein Assistent ist wie er ein Aussie.

Ein offener Brustkorb, ein blutverschmierter Rippenspreizer, ein stetig pulsierendes Herz. Das Gewebe daneben ist von Kugeln zerfetzt. Aber er wird es schaffen.

»Wie geht’s Ihrem Kleinen, Doc?«

Er blickt kurz auf, während er die Fäden zu einem Knoten schlingt. Sie sind gleich fertig. »Kyle? Prima. Ich habe gestern mit ihm geskypt, bis der Generator zusammenbrach und der Strom ausfiel. Er hat gefragt, wann ich endlich nach Hause komme. Schere!«

Der Faden wird abgeschnitten. »Und was sagt Mummy?«

Tim schnauft durch die Nase.

Ein verständnisvolles Lächeln unter dem Mundschutz – sein Assistent war auch nicht zu Hause, als seine kleine Tochter die ersten Schritte machte. Sie waren zusammen in Haiti, um den Erdbebenopfern zu helfen. Er muss sich zu Hause denselben Vorwürfen stellen wie Tim. Und er muss allein mit demselben Gewissenskonflikt fertigwerden. »Als Daddy eines Fünfjährigen haben Sie ja wohl total versagt, Doc«, meint der andere zynisch.

»Das findet Jodi auch«, sagt Tim, und es klingt ein bisschen verbittert.

Sein Assistent deutet auf den Patienten zwischen ihnen. »Er hier findet, dass Sie ein prima Herzchirurg sind. Einer der besten.« Er sieht Tim an. »Wie ist die Lage in Sydney? Will Ihre Frau die Trennung?«

Tim antwortet nicht. Ein Blick zum EKG: stabile Frequenz. Das Herz schlägt kräftig und stetig. Blutdruck und Puls in Ordnung. Das war’s. Er sieht sich nach der Schwester um. »Was jetzt?«

»OP-Zelt sieben, Doc. Schwere Thoraxverletzungen nach einer Explosion, Lunge kollabiert, hoher Blutverlust. Ein französischer Journalist. Er wäre im Rettungshubschrauber beinahe gestorben.«

»Alles bereit?«

»Intubiert und anästhesiert. Das OP-Team steht bereit. Sie warten nur noch auf Sie, Dr Winslow.«

»Dann los.«

Tim will schon das Zelt verlassen, um sich um den nächsten Patienten zu kümmern, als plötzlich ein schrilles Klingeln ertönt. Kammerflimmern!

Hektik bricht im Zelt aus. Es besteht die Gefahr eines plötzlichen Herztodes. Und der Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff. Schnell jetzt!

Das Fiepen des EKG übertönt den Alarm: Nulllinie!

Nur das nicht! Bitte nicht!

Herzdruckmassage! Die Spritze mit Lidocain? Der Defibrillator? Na los, beeilt euch!

Tim legt die Paddles an. »Alle zurück! Und Schuss!«

Der Körper bäumt sich auf, aber die Geräte zeigen keine Reaktion.

Intubieren! Eine Spritze mit Adrenalin!

Noch ein Schuss mit dem Defibrillator, stärker dieses Mal.

Atmung? Blutdruck? Herztöne?

Nichts, nichts, nichts!

Und noch ein Schuss.

Immer noch die Nulllinie.

»Skalpell! Rippenspreizer! Ich mache ihn noch mal auf.«

Dann hält er das leblose Herz in beiden Händen ...

Mit einem Keuchen schreckte Tim aus dem Traum, der ihn jede Nacht verfolgte. Sein Puls raste, sein Atem ging schwer, und er war schweißnass. Adrenalin strömte durch seine Adern. Sein Mund war trocken, und seine Augen brannten. Vor heißem Sand? Vor erstickendem Rauch? Oder vor Tränen? Stöhnend fuhr er sich mit dem Handrücken über die Stirn und schnaufte tief durch. Am ganzen Körper zitternd, drehte er sich auf die Seite und streckte die Hand nach Jodi aus. Er sehnte sich danach, von ihr im Arm gehalten zu werden, bis er sich beruhigt hatte.

Aber Jodi war nicht da, nicht mehr.

Er blinzelte das unberührte Kissen neben ihm an. Der Blütenkranz aus duftendem Jasmin war auf das zerwühlte Bettlaken gerutscht. Die leere Rotweinflasche und das Glas auf dem Nachttisch brachten mit dem schalen Nachgeschmack seine Erinnerung zurück. Okay, ja! Der lange Flug von Sydney nach Auckland und weiter nach Rarotonga. Die Ankunft in Papeete gestern Abend nach der zwölfstündigen Reise. Die Fahrt ins Resort, müde und genervt. Das Auspacken der Seesäcke und Transportboxen bei einer exzellenten Flasche Cabernet Sauvignon, die Wut, die Enttäuschung, die Einsamkeit. Und immer wieder die aufwühlenden Rückblenden auf jene OP vor fünf Tagen. Er kam damit einfach noch nicht klar. Das Gefühl, versagt zu haben, kannte er nicht. Weder als Doc noch als Daddy.

Tim setzte sich im Bett auf und starrte das Foto auf seinem Nachttisch an. Jodi hatte es in eine der Aluboxen gesteckt, die sie für ihn gepackt hatte.

Mein ganzes Leben passt in zwei große Transportboxen, dachte er. Mehr ist mir nicht geblieben. Meine Kleidung, mein Notebook, ein paar zerlesene Bücher, hauptsächlich Nelson DeMille, alle anderen als eBooks, meine CDs von Maria Callas und Alanis Morissette, eine Schachtel voller Fotos. Etwas zum Leben, etwas zum Erinnern. Aber, ganz ehrlich, braucht man mehr? Ich habe meine Frau und meinen Sohn verloren, die ich sehr liebe, ich habe meinen Job bei Médecins Sans Frontières hingeschmissen, der mir sehr viel bedeutet hat, und ich weiß nicht, wie es nun weitergeht. Seit meiner Abreise aus Sydney gleicht mein Leben einer Expedition in ein unbekanntes Land. Eine solche Reise sollte man mit leichtem Gepäck antreten.

Er nahm den Rahmen vom Nachttisch.

Das Foto war fünf Jahre alt. Jodi und er lagen nackt im zerwühlten Bett, zwischen ihnen strampelte Kyle, er hatte nur eine Windel an. Er hatte die Beine angezogen und die Arme weit ausgestreckt, um Mummy und Daddy zu erreichen, und er lachte vergnügt.

Eine glückliche Familie, dachte Tim. Jodi hat das Foto mit Bedacht eingepackt. Es zeigt, was ich verloren habe. In den Aluboxen habe ich nach einem neueren Foto von Kyle gesucht. Mein Sohn und ich, als wir ausgelassen am Strand herumtoben und Rugby spielen. Oder Kyle auf meinem Schoß, als er meinen Audi Q7 die Auffahrt unseres Hauses in Sydney hinunterfährt. Wie er sich gefreut hat, weil ich ihn mein Auto fahren ließ! Das war vor einem halben Jahr gewesen, an Kyles fünftem Geburtstag. Die Fahrt mit Daddy war das schönste Geschenk von allen gewesen! Na klar, Jodi hat das Foto absichtlich nicht eingepackt. Wozu auch? Als Vater bin ich ja ein Versager. Ich habe ihm nie die Windeln gewechselt, den Spinat aus dem Gesicht gewischt oder ihm Gutenachtgeschichten vorgelesen. Ich bin ja nie da für meinen Sohn.

Ihre Mail hatte ihn kalt erwischt. Nach dem Tod des jungen Amerikaners auf seinem OP-Tisch hatte Tim mit ihr reden wollen. Es war ihm gar nicht gut gegangen, trotz des Beruhigungsmittels und trotz des langen Spaziergangs durchs Camp, um all diejenigen zu besuchen, die er gerettet hatte, deren Wunden heilen würden, die weiterleben würden. Ihr dankbares Lächeln und ihr ausgelassenes »Hey, Doc!« hatten ihn nicht davon ablenken können, dass einer von ihnen nie mehr nach Hause zu seiner Frau und seinen Kindern zurückkehren würde. Bevor er versucht hatte, Jodi über Skype anzurufen, hatte er in seinem Zelt seine Mails gelesen.

Von: Homebase jodi.winslow@hotmail.com

An: Flydoc tim.winslow@sydney.msf.org

Kopie: Flydoc tim.winslow@live.com

10.06.2011 / 20:58

Betreff: Wo steckst Du?

Tim, hast Du meinen Brief bekommen? Mir ist klar, dass Du Zeit brauchst, um über alles nachzudenken. Aber lass mich zumindest wissen, ob Du ihn gelesen hast. Jodi

Eine zweite Mail war zwei Stunden später abgesandt worden.

Von: Homebase jodi.winslow@hotmail.com

An: Flydoc tim.winslow@sydney.msf.org

Kopie: Flydoc tim.winslow@live.com

10.06.2011 / 23:14

Betreff: Wieso meldest Du Dich nicht?

Tim, wenn Du mehr Zeit brauchst, kann ich das verstehen. Aber ich habe in den Nachrichten gesehen, was in Benghasi los ist. Ich mache mir Sorgen. Bitte sag mir, dass es Dir gut geht. Jodi

Auf seinen Anruf über Skype hatte Jodi nicht reagiert. Offenbar hatte sie nicht mit ihm reden wollen.

Was stand in dem Brief?

Von: Flydoc tim.winslow@live.com

An: Homebase jodi.winslow@hotmail.com

11.06.2011 / 00:19

Betreff: Aw: Wieso meldest Du Dich nicht?

Jodi, es geht mir nicht gut. Ein Patient ist heute gestorben. Ich bin völlig durch den Wind. Die Erinnerungen an meinen Bruder lassen mich einfach nicht los. Ich würde gern mit Dir darüber reden. Ich brauche Dich. Wieso beantwortest Du meinen Anruf nicht?

Was für ein Brief? Ich habe keinen bekommen. Was stand denn drin?

Ich liebe Dich, Tim

Er hatte ihre Mail abgewartet, die nach sieben Minuten eingetroffen war – in Sydney war es neun Stunden später. Jodi war also online gewesen und hatte, nachdem sie Kyle am Morgen in die Schule gebracht hatte, auf seine Antwort gewartet.

Von: Homebase jodi.winslow@hotmail.com

An: Flydoc tim.winslow@live.com

11.06.2011 / 00:26

Betreff: Mein Brief

Tim, es tut mir leid, dass Du es auf diese Weise erfahren musst. Der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig, ich weiß. Dass Jareds Tod nach all den Jahren schreckliche Erinnerungen in Dir aufwühlt, verstehe ich sehr gut.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll – vielleicht ist der Brief verloren gegangen. Ich habe ihn mit der Hand geschrieben und in einen Umschlag gesteckt, weil ich das für die persönlichste Weise hielt, Dir zu sagen, wie ich mich entschieden habe. Über Skype konnte ich das einfach nicht. Es ist so schwer, die richtigen Worte zu finden. Sorry, Tim, ich will Dir nicht wehtun, ganz sicher nicht.

Ich habe eben darüber nachgedacht, ob ich Dir den Brief heute überhaupt schicken soll, wo Du ohnehin schon völlig am Boden zerstört bist. Es wird nicht leicht für Dich. Aber nun weißt Du, dass ich Dir geschrieben habe und wirst keine Ruhe finden, bevor Du erfährst, was drin steht. Also, ich habe meine Zeilen an Dich als .pdf angehängt. Bitte lies sie.

Wir reden, wenn Du Dich entschlossen hast, nach Hause zu kommen. Ich warte auf Dich, Jodi

Anlagen Brief an Tim.pdf

Seine Hände hatten gezittert, als er die Datei anklickte und ihre Handschrift auf dem eingescannten Brief erkannte.

Tim,

ich möchte, dass Du eines weißt: Ich suche nach Worten, und die Tränen rinnen mir über das Gesicht, während ich Dir schreibe. Es ist so schwer, Dir zu sagen, wie ich mich nach Deiner Abreise fühle. Ich hatte so sehr gehofft, dass Du nicht gehst. Aber das weißt Du – wir haben so oft darüber geredet. Als Du mich verlassen hast, hast Du mich um Verzeihung gebeten. Und auch ich hoffe jetzt, dass Du mir das, was ich Dir zu sagen habe, irgendwann vergeben kannst.

Tim, ich mache mir Sorgen, die ganze Zeit. Es ist wie damals im Outback, als ich nicht wusste, ob mein ›Flydoc‹ zu seiner ›Homebase‹ zurückkehren wird oder ob er abgestürzt ist. Nein, Tim, es ist noch viel schlimmer. Ich sehe die Nachrichten, ich lese die Zeitung, ich surfe im Internet und habe schreckliche Angst. Ich zucke zusammen, wenn das Telefon klingelt, weil ich fürchte, die Nummer von Médecins Sans Frontières oder die der Herzchirurgie des Royal Prince Alfred Hospital zu sehen. Ich habe Angst vor dieser Nachricht: Mrs Winslow, zu unserem großen Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen, dass Ihr Mann, Dr Timothy Winslow, während seines freiwilligen humanitären Einsatzes getötet wurde.

Bitte versteh mich nicht falsch. Ich respektiere Deine Entscheidung, immer noch. Ich bin stolz auf Dich, wenn ich Dich in Interviews auf CNN oder Talkshows auf ABC sehe. Wie oft habe ich in den letzten Jahren zu meinen Freundinnen gesagt: Mit dem gut aussehenden Kerl mit dem charmanten Lächeln bin ich verheiratet. Ja, ich bin wirklich stolz auf Dich. Du leistest großartige humanitäre und medizinische Arbeit. Du rettest Leben. Du linderst Leid. In Erdbebengebieten in Haiti, in Kriegsgebieten in Libyen, in Äthiopien und im Tschad – aber das Katastrophengebiet unserer Ehe übersiehst Du dabei. Tim, ich halte das nicht länger aus. Und Kyle auch nicht. Unser Sohn leidet unter Deiner Abwesenheit, genau wie ich. Aber das merkst Du sicherlich, wenn Du mit ihm skypst. Wie oft fragt er Dich, wann Du zurückkehrst. Kyle sehnt sich nach Dir. Er braucht einen Daddy, der ihn während seiner ersten Schritte ins Leben begleitet.

Und ich brauche einen Mann, der für mich da ist, der mich in den Arm nimmt, der mich liebt, kein Foto von Dir neben meinem Bett, sondern einen Mann aus Fleisch und Blut in meinem Bett. Wie oft haben wir darüber gesprochen, dass Kyle nicht allein bleiben soll. Meinen Wunsch nach einem zweiten Kind habe ich noch nicht aufgegeben.

Tim, ich habe mich entschieden. Während ich darauf warte, dass Du nach Hause kommst, packe ich Deine Sachen. Ich vertraue darauf, dass Du mir das Haus überlässt. Kyle spielt so gern unter den Eukalyptusbäumen im Garten. Ich hoffe, dass wir es schaffen, als Freunde auseinander zu gehen. Ein Streit würde das zunichte machen, was uns all die Jahre verband. Und noch verbindet. Ich liebe Dich immer noch. Du bist ein großartiger Mensch. Gefühlvoll. Aufrichtig. Verständnisvoll. Sehr großzügig. Und immer bereit zu vergeben.

Die Jahre mit Dir waren die glücklichsten meines Lebens, die aufregendsten, die abenteuerlichsten, aber sie waren auch die unglücklichsten.

Es tut mir alles so leid. Jodi

Sie fehlte ihm. Und wie.

Und Kyle erst.

Er würde versuchen, sie anzurufen. Aber es war erst kurz vor sieben. Viel zu früh für einen Anruf in Sydney. Okay, also später.

Seufzend stellte Tim das Foto der glücklichen Familie zurück auf den Nachttisch, wo auch sein Ehering lag. Er hatte ihn gestern Abend abgenommen, irgendwann nach dem dritten oder vierten Glas Rotwein, als er seine Seesäcke und Alukisten ausgepackt und sich für die nächsten acht Tage häuslich eingerichtet hatte. Er wusste nicht mehr, was er eigentlich dabei empfunden hatte. Wut? Resignation? Trotz?

Jodi und er lebten jetzt getrennt, Worte wie Scheidung, Sorgerecht, Unterhalt und Vermögenswerte standen noch nicht zwischen ihnen. Aber ob es noch Hoffnung gab, dass sie wieder zueinander fanden, wusste er nicht.

Während des Fluges nach Sydney hatte er sich eingeredet, dass Jodi, erschrocken über die Bilder im Fernsehen und im Internet, einfach nur überreagiert hatte, weil sie Angst um ihn hatte. Aber nachdem er mit ihr gesprochen hatte, war ihm klar: Sie war von ihm enttäuscht, weil er ein unaufmerksamer Ehemann war, der den Hochzeitstag vergaß, der während der Geburtstagsparty seines Sohnes in die Klinik gerufen wurde, um eine Herztransplantation durchzuführen, der seinen Urlaub opferte, um in Krisengebieten humanitäre Hilfe zu leisten, der seinen Job, seine persönliche Befriedigung durch Erfolgserlebnisse, sein Selbstwertgefühl über das Glück seiner Familie stellte. Als ob das Jareds Tod ungeschehen machen konnte! Oder Tims Gewissen beruhigen! O ja, Jodi war enttäuscht und wütend. Und das schon seit Jahren. Tims Abreise nach Libyen war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Also noch mal: Ist unsere Ehe gescheitert?

Oder, anders gefragt: Kann ein Mensch sich wirklich ändern? Kann ich es? Kann ich auf die Dinge verzichten, die mein Leben ausmachen, weil sie mir wichtig sind? Will ich es? Ich brauche Zeit, um in Ruhe über alles nachzudenken. Es war zu viel auf einmal: der enorme Stress des humanitären Einsatzes während der Kämpfe in Libyen, der Tod des Patienten, der Brief von Jodi, der überstürzte Rückflug nach Sydney, die gepackten Kisten neben der Tür meines Hauses, der Abschied von Kyle, der sich weinend an mir festklammerte, die Fahrt zum Flughafen, das Halten am Straßenrand, weil ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte – seit fünf Tagen stehe ich irgendwie unter Schock.

Wenn ich nach Sydney zurückfliege, wird die Wohnung frei sein, die Jodi für mich gesucht hat. Sie liegt in Longueville, nicht weit von unserem Haus. Ich kann Kyle sehen, so oft ich will. Ich darf ihn für ein paar Tage zu mir holen, wenn ich das möchte. Oder mit ihm in Urlaub fahren, am Strand oder im Outback. Wie ein richtiger Daddy, der seinen Sohn liebhat. Das waren Jodis Worte.

Autsch!

Tim stand auf und streckte sich. Nackt tappte er ins Bad.

Nach der erfrischend kalten Dusche setzte er sich auf die Veranda seines Overwater Bungalows, legte die Füße hoch und wartete auf das Auslegerboot mit dem Frühstück. Das hatte er in Benghasi wirklich vermisst: den Geruch des Meeres, die Weite des Horizonts, die leuchtende Stille der Einsamkeit. Die unberührte Schönheit des erwachenden Tages ließ ihn endlich die Ruhe finden, die er gestern Nacht so verzweifelt gesucht hatte.

Sein Blick schweifte über das tiefblaue Wasser, in dem sich die goldenen Wolken über den Bergen von Moorea spiegelten. Da kam schon das Boot! Ein Mann mit buntem Lendentuch und Blätterkranz ruderte eine junge Frau, die kaum mehr trug als die Blütenketten um ihren Hals, zu ihm herüber. Mit einem strahlenden Lächeln winkte sie ihm zu, während das Boot an der Veranda des benachbarten Bungalows vorbeiglitt. Dort stand eine Frau mit einem Champagnerglas in der Hand und beobachtete die Szene. Tolle Figur: groß, schlank und sonnengebräunt. Kurzer, kesser Haarschnitt. Die hellen Strähnchen ließen sie jünger aussehen als Mitte vierzig. Irgendwie niedlich. Und ziemlich sexy. Als sie ihn schließlich bemerkte, nickte sie ihm zu. »Bonjour!«

Ihr Akzent war amerikanisch. Tim winkte zurück. »Hey! Ia orana!«

Sie lachte ausgelassen. »Ia orana.«

Unter ihm steuerte das mit Palmblättern und Blüten geschmückte Boot an die kleine Holztreppe heran, die von der Veranda ins Wasser führte, und drehte bei. Der Ruderer hob eine große Muschel an die Lippen und blies hinein. Ein dumpfes Dröhnen hallte über die stille Lagune.

»Bonjour, Monsieur!«, begrüßte ihn die junge Tahitianerin im Boot mit einem strahlenden Lächeln. »Le petit-déjeuner que vous avez commandé.«

»Merci. Maruru.« Als Tim wieder zum anderen Bungalow hinübersah, war seine Nachbarin verschwunden.

Die Tahitianerin im Pareo kam die Stufen herauf. In jeder Hand trug sie einen in Folie verpackten und mit Blüten verzierten Teller mit hübsch arrangierten exotischen Früchten und mariniertem rohem Fisch. Danach gab es Croissants mit Nougatfüllung und Café au lait. Während sie das luxuriöse Frühstück zwischen den Blüten auf dem Tisch arrangierte, öffnete ihr Begleiter die Champagnerflasche im Eiskühler und schenkte Tim ein.

»Maruru.« Er hob das Glas und trank einen Schluck. »Très bien. Maitai roa.«

Das Lächeln der jungen Frau war bezaubernd. »Können wir noch etwas für Sie tun, Monsieur?«

»Ja, das können Sie tatsächlich. Ich möchte heute Nachmittag nach Papeete fahren. Sightseeing. Shopping. Dinner am Hafenkai. Wie komme ich in die Stadt?«

Da, die Postkarte! Traumhaft schön!

Shainee nahm sie aus dem Drehständer und betrachtete sie.

Eine spiegelglatte Lagune mit sanften Wellen in allen Schattierungen von Tintenblau bis Türkis. Am Horizont, zwischen zwei palmenbewachsenen Landzungen, die Silhouette einer Insel. Die Aufschrift lautete: Tahiti et ses iles. Vue de Bora Bora, prise de Tahaa.

Die Postkarte wirkt auf mich ... wie soll ich sagen? ... aufrichtig, dachte sie. Keine blütengeschmückte Vahine mit strahlendem Lächeln, kein tattooverzierter Tane mit Bastrock und Blätterkranz. Kein inszenierter Traum vom Paradies, sondern die unverfälschte Schönheit der Natur. Wahrhaftigkeit. Einsamkeit. Das ist es, was ich auf Tahiti suche. Ich will mich selbst wiederfinden. Die Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit, die nie ganz verloren war. Die Erfüllung in lustvollem Sex und ausgelassener Lebensfreude, ohne Scham, ohne Unsicherheit, ohne Angst.

Leben will ich, nicht nur überleben.

Nichts ist, wie es früher einmal war. Für mich ist es ebenso schwer, das hinzunehmen wie für Mark. Ich werde ihm diese Postkarte mit ein paar Zeilen schicken, um ihm ein bisschen Hoffnung zu machen. Diese Reise war schließlich seine Idee. Er sieht darin eine Chance für unsere Partnerschaft, sagt er. Eine Chance, neue Wege zu gehen, neue Erfahrungen zu wagen und am Ende der Reise zueinander zurückzukehren, um uns, unsere Gefühle und unsere Sexualität neu zu entdecken.

Mit der Karte betrat Shainee den Souvenirladen und fragte gleich noch nach der passenden Briefmarke nach San Francisco. Sollte sie sich noch eine SIM-Karte für ihr iPhone besorgen, das auf den Inseln nicht funktionierte? Nein, lieber nicht. Sie wollte nicht ständig erreichbar sein. Mark und sie konnten ja abends skypen.

Sie steckte die Postkarte in die Strandtasche zu den anderen Souvenirs, die sie in den letzten zwei Stunden gekauft hatte. Die meisten Läden waren auf Tourismus eingestellt, und sie hatte einige Dinge gefunden, die ihren Liebsten gefallen würden, aber nichts für sich selbst. Für Mark hatte sie eine große Muschel als Briefbeschwerer für seinen Schreibtisch gefunden, für Lexie eine Kette aus schwarzen Tahiti-Perlen und ein Parfum, Noa von Cacharel. Wie sie wohl reagieren würde? Lexie gab sich schlaksig und jungenhaft. Weil sie viel schwamm und surfte, war ihr Körper sonnengebräunt, fest und durchtrainiert. In den weiten Klamotten, die sie ihretwegen trug, um ihre weiblichen Formen zu verbergen, steckte eine wunderschöne junge Frau. Shainee hatte schon vor Monaten mit Mark darüber gesprochen, deshalb wusste sie, dass es Lexies Entscheidung war, ihr mit dieser liebenswerten Geste zu helfen. Sie war einfach fantastisch. Im letzten Jahr war sie mehr als ein Jahr älter geworden, reifer, taffer. Sie konnte gar nicht sagen, wie stolz sie auf ihre Tochter war.

Als sie den Laden verließ und auf die Straße hinaustrat, setzte Shainee ihre Sonnenbrille auf und blickte auf die Uhr. Kurz nach vier. Die Verkaufsstände des Marché waren jetzt, nach der schwülheißen Mittagspause, wieder besetzt. Mit der Tasche über der Schulter schlenderte sie weiter.

Papeete war alles andere als ein verträumtes Südseestädtchen. Boutiquen, Souvenirläden, Restaurants und Cafés verliehen dem Boulevard Pomare, der die Hafenbucht voller Kreuzfahrtschiffe und Yachten aus aller Welt säumte, ein quirliges, kosmopolitisches Flair. Den Himmel über Papeete teilten sich die Seevögel mit den Fliegern von Air France und Air New Zealand, die mit röhrenden Triebwerken über dem Hafen in Richtung Moorea abdrehten. Nur die engen Straßen der Altstadt mit ihren Holzhäusern im Kolonialstil und ihren Gärten voller Blumen erinnerten noch an den Südseecharme des alten Papeete.

Was sie nicht gewusst hatte: Nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer trugen hier ganz selbstverständlich Blütenketten und Blätterkränze als Ausdruck der Lebensfreude und Naturverbundenheit. Shainee musste lachen, als sie in den Gassen rund um den Marché sogar ein Motorrad entdeckte, dessen Lenker mit einer Blumengirlande geschmückt war – nicht etwa aus Papier oder Plastik, wie in Hawaii, sondern aus duftenden Tiare-Blüten. Alles echt! Überall Blütenduft und fröhliche Musik!

Die Markthalle lag nur ein paar Schritte vom Hafen entfernt. Le Marché war laut Reiseführer einer der schönsten Märkte der Südsee, wo Früchte, Gemüse und Fisch angeboten wurden. Die Stimmung voller Farben und Düfte sollte besonders quirlig sein, wenn nachmittags die fangfrischen Meeresfrüchte angeliefert wurden. Das wollte sie sich unbedingt ansehen! Und dann brauchte sie dringend eine Verschnaufpause, bevor sie mit einem der Trucks, den öffentlichen Minibussen, die sie an die Cable Cars in San Francisco erinnerten, zum Abendessen wieder ins Hotel zurückfuhr.

An dem Laden mit den Pareos konnte sie einfach nicht vorbeigehen. Diese Farben und Muster! Mit großen Augen streifte sie durch den kleinen Shop und duckte sich unter den großen Tüchern hindurch, die an gespannten Leinen unter der Decke hingen und im Luftzug des Ventilators hin und her schwangen: Überall leuchteten Blüten, Blätter, Früchte, Muscheln, Fische und Wellen in fröhlichen Farben. Unter einem Ladentisch stand ein großer Pappkarton. Darin lag zusammengerollt ein kleiner Junge und schlief. Wie süß!

Eine Verkäuferin mit einer weißen Tiare-Blüte im Haar wollte ihr zeigen, wie ein Pareo gebunden wird. Shainee zögerte, aber die Lebensfreude der Tahitianerin riss sie mit. Sie nahm ein schwarzgrundiges Tuch mit einem leuchtenden Fleurs-des-Iles-Aufdruck und legte es Shainee über ihrer weiten Seglerhose um die Hüften. Die beiden Enden verschlang sie zu einem Knoten und lachte dabei. »Voilà, c’est tellement facile.« Sie steckte eine Hibiskus-Blüte in den Knoten. »Très sexy.«

Shainee betrachtete sich im Spiegel.

Die Verkäuferin bemerkte ihr Zögern, ihre Anspannung, und ihr Gesicht wurde sanft und ernst. Sie löste den Knoten und schlang den Pareo mit wenigen Handgriffen zu einer kurzen, schwingenden Hose mit zwei Knoten links und rechts der Taille, die sie geschickt mit perlenbesetzten Ringen schmückte.

Reglos starrte sie in den Spiegel.

»Madame«, sagte die Verkäuferin behutsam und deutete nach oben auf die Leinen, »aus den Tüchern hier kann ich ganz schnell eine Umkleidekabine machen.«

Shainees Blick glitt über die herrlichen Stoffe. Das sehnsüchtige Gefühl in ihr wurde stärker, und sie gab nach. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich würde gern einen Pareo als Robe Classique anprobieren.«

Die Verkäuferin lächelte freundlich und wartete ab, für welchen sie sich entschied. Klassische Ornamente, die an die Tattoos erinnerten, Ranken in Blau auf Gelb, stilisierte Blätter in Purpur auf Türkis? Zarte Blüten und Gräser? Bunte Muscheln und Fische? Oder ein Motiv wie die sitzenden Mädchen von Paul Gauguin?

Shainee konnte sich erst nicht entscheiden, die Tücher waren alle schön! Aber dann fand sie den genau richtigen Pareo: ein wundervolles Muster, Blau auf Gelb, das sie an einen indischen Sari erinnerte. Ganz zauberhaft!

Damit verschwand sie, hin und her gerissen zwischen Unbehagen und Übermut, in der rasch errichteten Umkleidekabine zwischen den Verkaufstischen.

Der Pareo war ein kostbares Stück aus Seide. Shainee warf ihn über die Leine und zog sich aus, Sandalen, Hose, Shirt, bis sie in Slip und Push-up vor dem großen Spiegel stand. Der Wonderbra saß perfekt, es war nichts zu sehen.

Sie legte sich den Pareo um, zog die beiden Ecken unter den Armen durch, verschlang sie vor der Brust und verknotete sie locker hinter dem Hals. In weichen Falten umschmeichelte der Stoff ihren Körper. Sie betrachtete sich im Spiegel, drehte sich auf Zehenspitzen und öffnete den Knoten wieder. Mutig geworden, schlang sie den Knoten über der Brust. Die langen Enden fielen hinunter bis zu ihrem Bauchnabel, und sie steckte die Hibiskus-Blüte in den Knoten. So hatte sie sich das vorgestellt. Aber die Träger des Wonderbras störten.

Shainee ließ den Pareo zu Boden fallen, fasste nach hinten, öffnete die Haken und zog ihn aus.

Nackt betrachtete sie sich im Spiegel. Nach der Vorfreude war der Anblick wie immer ernüchternd.

Die beiden Narben, die quer über ihre Brüste verliefen, wo andere Frauen ihre Brustwarzen haben, traten wegen des Bräunungssprays, das sie in den letzten Tagen aufgetragen hatte, nicht so stark hervor wie sonst. Aber der Bronzeton der getönten Pflegecreme war verwischt, und die wie Perlmutt schillernden Narben traten jetzt wieder deutlich hervor. Seit den Operationen hatten sie sich von einem dunklen Violettblau zu einem helleren Purpurrot verfärbt.

Shainee erinnerte sich, wie sie nach dem dritten Krankenhausaufenthalt zum ersten Mal den stützenden Verband abnahm. Sie hatte geheult. Ihre linke Brust hatte ausgesehen, als wäre sie in einem Stacheldraht hängen geblieben, die rechte war damals noch gesund und unversehrt gewesen. Und viel größer als die linke. Jetzt waren beide gleich. Die Narben waren glatt und glänzend wie Perlmutt, die verbrannte Haut war verheilt, konnte wieder sanfte Berührungen wahrnehmen und schimmerte wie Seide.

Ganz sanft legte sie ihre Hände um ihre kleinen Brüste, so wie Mark es immer tat, wenn er sie küsste und sie dabei streichelte. Sie empfand nichts dabei, denn unterhalb der langen Narben war die Haut noch immer gefühllos und würde es vermutlich auch für immer bleiben. Mark beteuerte, er fände sie immer noch attraktiv und begehrenswert und habe keine Probleme damit, dass beide Brüste amputiert und mit Silikon rekonstruiert waren, aber das stimmte nicht. Er gab sich unendlich viel Mühe, seine Gedanken und Gefühle vor ihr zu verbergen. Aber sie spürte, er war immer noch verunsichert und gehemmt, genau wie sie. Hoch sensibel und sehr verletzlich. Nichts war wie früher, nicht ihre Gefühle füreinander, die sie immer offen aussprechen konnten, nicht die Zärtlichkeit, nicht die Leidenschaft.

Plötzlich konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie presste ihr Gesicht in den Pareo und weinte mit zuckenden Schultern.

Ich will mein Leben zurückhaben.

Aber dieser Wunsch wird niemals in Erfüllung gehen.

Schniefend trocknete sie ihre Tränen und zog sich hastig wieder an. Sie konnte den Pareo nicht tragen, nicht ohne Push-up. Sie war noch nicht so weit!

Mit gesenktem Blick und dem blaugelben Tuch über dem Arm stolperte Shainee aus der improvisierten Umleidekabine ...

.... und stieß dabei mit einem Mann zusammen, der sich die bunten Pareos ansah, die von der Decke hingen.

Wüsten- und dschungeltaugliches Expeditionsoutfit, sieh mal einer an. Feste Schnürstiefel, sandfarbene Cargohosen mit einem Reiseführer in der Knietasche, khakifarbenes Shirt mit aufgekrempelten Ärmeln, weißer Stetson. Sehr eigenwillig, sehr abenteuerlich, ein bisschen wie Robert Redford in Out of Africa.

Als er sich zu ihr umdrehte, erkannte sie ihn. Vorhin, als sie auf ihrer Veranda gesessen und gelesen hatte, hatte er trotz der starken Strömung im Meer geschwommen. Obwohl er immer wieder zu ihr herübergesehen hatte, war kein erwartungsvoller Sie-kommen-mir-irgendwie-bekannt-vor-Blick dabeigewesen. Und auch jetzt konnte sie kein unverschämtes Ich-weiß-wer-Sie-sind-Lächeln entdecken. Hatte er sie denn nicht erkannt?

Er zog sich die Earphones seines BlackBerry, der in einer Gürteltasche steckte, aus den Ohren. Dann tippte er mit dem Finger an den Stetson und schmunzelte charmant. »Hey.«

Alanis Morissettes Uninvited zirpte aus seinen Ohrstöpseln – er hatte voll aufgedreht.

»Hey.« Shainee zwang sich zu einem entschuldigenden Lächeln. »Tut mir leid.«

»Kein Fall für den Notarzt«, witzelte er und winkte lässig ab. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte er mit australischem Akzent.

Doch eher Hugh Jackman in Australia, schoss es ihr durch den Kopf. Nur wesentlich smarter und attraktiver, definitiv ein Kandidat für die Endauswahl als Sexiest Man Alive.

Verlegen fuhr sie sich über die brennenden Augen. »Alles in Ordnung. Es geht mir gut.«

»Kann ich etwas tun außer toll auszusehen?«

Und gut zu riechen, dachte sie und schnupperte sanft an seinem klassisch-eleganten Eau de Toilette. Ein Duft für den Mann, der sich seiner Attraktivität sehr wohl bewusst ist. Der Duft der puren Männlichkeit, markant, lässig, natürlich.

Shainee lächelte matt, war aber sofort wieder ernst. »Nein, vielen Dank«, presste sie hervor und drängte sich an ihm vorbei zur Verkäuferin.

Die war enttäuscht, dass Shainee den Pareo nicht kaufen wollte. Aber sie merkte ihr an, wie schwer es ihr fiel, denn sie legte Shainee die Hand auf den Arm und lächelte ermutigend. Ihr Blick sagte: Lassen Sie sich Zeit. Überlegen Sie in Ruhe. Dann kommen Sie wieder.

»Merci. Au revoir!« Als Shainee sich umwandte, um den Laden so schnell wie möglich zu verlassen, stand der Aussie hinter ihr, und sie rannte ihn beinahe schon wieder um.

Er sprang rechtzeitig zur Seite, und sie hastete an ihm vorbei. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie seinen betroffenen Blick. Hatte er ihre Tränen gesehen?

Die kleinen Narben an ihrem Oberarm, wo der Ärmel ihres Shirts hochgerutscht war ...

Bestürzt sah Tim ihr nach, bis sie auf die Straße hinausstürmte.

Als er heute Nachmittag in der Lagune geschwommen hatte, saß sie im Liegestuhl auf ihrer Veranda und las im Schatten des Vordaches aus Palmwedeln. Nicholas Sparks, glaubte er. Aber er war nicht nahe genug gewesen, um den Titel auf dem Cover lesen zu können. Eine Weile hatte sie mit ihrem Coconut Kiss mit Ananasscheibe und pinkfarbenem Papierschirmchen auf den Stufen gehockt, die Füße ins Wasser gehalten und immer wieder zu ihm herübergesehen. Aber sie hatte sich nicht ihren Bikini angezogen und war zu ihm in die Lagune gesprungen. Okay, die Strömung, die zwei oder drei Schwimmstöße vor den Overwater Bungalows vorbeizog, war sehr stark. Aber wenn ihre Kräfte nicht ausgereicht hätten, hätte sie sich doch jederzeit zu den Stufen seiner Veranda treiben lassen können. Oder er hätte sie gerettet. Dass sie keinen Bikini getragen hatte, sondern eine weiße Hose und ein weites Shirt, lag ganz sicher nicht daran, dass sie nicht die passende Figur hätte, o nein, ganz sicher nicht! Sie war nicht der Typ, der den Bauch einzog und die Schultern straffte, wenn sie sich beobachtet fühlte. Sie war selbstbewusst genug, um zu wissen, dass Männer sich nach ihr umdrehten. Dass sie sich nicht genüsslich in der Sonne gerekelt hatte, obwohl sie braungebrannt war, musste einen Grund haben. Die kleinen Narben an ihrem Arm ...

Als sie in Richtung Marché verschwunden war, drehte Tim sich um und hob die Plastiktüte mit dem Modellbausatz für die HMS Bounty auf.

Okay, Revell-Bausätze mit derart vielen Teilen waren nichts für Fünfjährige, da wäre Lego besser, oder Playmobil, aber er wollte die Bounty zusammen mit Kyle bauen und bemalen. Sein Kleiner hätte bestimmt riesigen Spaß dabei, und er könnte etwas mit ihm zusammen unternehmen, was beiden in Erinnerung bleiben würde. Was Jodi hoffentlich versöhnlicher stimmen würde.

Als er vorhin mit Kyle geskypt hatte, klang der Kleine, sonst munter und fröhlich, ziemlich niedergeschlagen. Jodi hatte versucht, Tim zu beruhigen: Kinder hätten eben ihre Launen. Aber das war es nicht. Tim wusste, dass Kyle alles mitbekommen hatte, was zwischen Jodi und ihm passiert war – natürlich hatte er das, er war ein aufgeweckter Junge. Kyle wusste, dass Mummy und Daddy sich getrennt hatten. Dass er, wenn er nach Sydney zurückkehrte, nicht mehr in ihrem Haus leben würde. Na klar, das machte Kyle traurig, weil er es nicht verstand. Tim war auch traurig, sehr sogar. Da half kein »Ich hab dich lieb, mein Kleiner.« und kein »Ich hab dich auch lieb, Daddy.« Denn das mündete unweigerlich in die Frage: »Und Mummy? Was ist mit Mummy?« Tim hatte seine Tränen unterdrückt und das Gespräch rasch beendet, denn er wusste, wie sehr der Anblick eines weinenden Vaters Kinder erschrecken kann.

Er atmete tief durch.

Während er nach dem Skyponat überstürzt in die Stadt gefahren war, hatte er sich all die Dinge überlegt, die er mit Kyle unternehmen konnte, wenn der bei seinem Daddy schlief.

Die Verkäuferin, die noch den blau-gelben Pareo zusammenfaltete, riss ihn aus seinen Gedanken und blickte ihn erwartungsvoll an. »Monsieur?«

Jodi und er – das konnte noch was werden!

Tim deutete auf das Tuch. »Er ist sehr schön.«

»Oui.«

»Darf ich?«

Sie zögerte kurz und blickte zur Tür. Dann lächelte sie ihn an, entfaltete den Pareo wieder und breitete ihn schwungvoll vor ihm aus. »Bien sûr.«

Das Muster gefiel ihm! Und die Farben! Der Pareo war ein echter Hingucker. Sie sähe darin richtig toll aus. Er ließ seine Finger über den Stoff gleiten. »Ist das Seide?«

Sie nickte mit Blick auf seinen Ehering. »Pour votre femme?«

Tim überlegte nicht lange. Was soll’s! »Er gefällt mir. Ich nehme ihn.«

Wieso? Schwer zu sagen. Er war weder romantisch noch sentimental – würde Jodi sagen. Er hatte auch nicht die Absicht, sie zu beeindrucken, um sie rumzukriegen. Das schaffte er vermutlich sowieso nicht. Nein, seine Entscheidung, wie immer ziemlich spontan, hatte etwas mit dem Blick zu tun, mit dem sie ihn zuletzt angesehen hatte. Es war albern, das wusste er. Total durchgeknallt, würde Jodi sagen. Aber er wollte es so.

»Ça fait 11.900 Francs Pacifiques.« Als er zögerte, rechnete sie schnell um. »99 Euros.«

Das war es ihm wert. Er gab ihr seine Platin Card.

»Merci, Monsieur. Un moment, s’il vous plaît!«

»Okay, ich warte ...«

Die knusprige Waffeltüte mit dem Mango- und Vanilleeis tropfte, aber zum Glück auf ihre Finger, nicht auf ihr Shirt. Shainee stellte ihre Tasche in den Schatten einer Palme, hockte sich ins Gras und schleckte erst einmal ihr Eis, das in der schwülen Hitze viel zu schnell schmolz.

Der Pareo ging ihr nicht aus dem Kopf.

Seit Monaten freute sie sich darauf, ein solches Tuch zu tragen. Es war so schön. Und von den Narben war doch gar nichts zu sehen ...

Komm schon, Shainee! Ein bisschen mehr Mut!

Mit klebrigen Fingern knusperte sie an der Eiswaffel herum.

Okay, also schön, ich tu’s!

Sie würde den Pareo heute Abend im Hotelrestaurant tragen. Mit einer Tiare-Blüte im Knoten. Selbstbewusst und sexy. So wollte sie sich fühlen. War sie nicht genau deshalb nach Tahiti gekommen? Also los!

Sie sprang auf, schnappte sich ihre Strandtasche und ging zurück zum Laden. Da vorn war er schon!

Ihr Herz klopfte vor Aufregung, und die Vorfreude beschleunigte ihre Schritte ...

... doch in der Tür des Ladens, neben den Verkaufsständern mit den Sonnenbrillen und den Strohhüten, blieb sie so abrupt stehen, als wäre sie gegen eine Wand geprallt.

Das darf doch nicht wahr sein!

Die Verkäuferin gab dem Aussie gerade seine Kreditkarte zurück. Während er sie einsteckte, faltete sie den Pareo zusammen und schob ihn in eine Papiertüte.

Der Typ hat meinen Pareo gekauft!, dachte sie. Das kann er doch nicht tun! In diesem Laden hängen nun wirklich Hunderte von Tüchern! Wieso kauft er ausgerechnet das eine, das ich haben will ... Ihr Blick fiel auf den Ring an seinem Finger ... für seine Frau?

Einen Augenblick lang war sie so fassungslos, so enttäuscht, so wütend, dass sie sich nicht rühren konnte. Sie zitterte, so aufgeregt war sie.

Aber wieso eigentlich? Weil er ihren Pareo kaufte? Oder weil er verheiratet war?

Jetzt hob der Kerl die Tüte mit dem Spielzeug auf und griff nach dem Papierbeutel mit dem Pareo. Gleich würde er sich zu ihr umwenden und sie im Eingang stehen sehen.

Schon wieder den Tränen nah.

O nein, das brauchte sie jetzt wirklich nicht!

Nichts wie weg!

Shainee drehte sich um und flüchtete aus dem Laden.

Mit den Tüten schlenderte Tim am Boulevard Pomare entlang und genoss den Blick über die Blechlawine von ›Le Traffic‹ hinweg auf die weißen Segelboote, die an der Marina ankerten. Auf der Suche nach einem kühlen Bier entdeckte er in einem Shopping Center den kleinen Spielzeugladen. Der Teddybär Tahiti Style mit schwingendem Bastrock und Blütenkette war wirklich niedlich. Kyle würde begeistert sein.

Ein paar Schritte weiter fand er Le Marché, die große, helle Markthalle im polynesischen Stil. Es war ziemlich viel los. Und was es hier nicht alles zu kaufen gab! Tim ließ seinen Blick über die Verkaufsstände mit Obst, Gemüse und Meeresfrüchten schweifen, und tatsächlich, da war sie.

Sie futterte sich gerade durch den Stand eines Obstverkäufers, probierte verschiedene Früchte, die ihr aufgeschnitten angeboten wurden: kleine Bananen, eine Guave, eine Mango, eine Passionsfrucht. Dann bedankte sie sich herzlich, reichte einen Strauß zerknitterter Scheine über den Tisch und schlenderte weiter.

Der Marché aux Fleurs war ein Meer von Farben und Düften. Tropische Büten, wohin er schaute, zart, seidig, weich, in allen Schattierungen von Rot, Pink und Violett, dazwischen Bananen- und Palmenblätter. Wie die exotischen Blüten hießen? La Rose de Porcelaine, wurde ihm zugerufen, Héliconia, Anthurium, Tiare, Opuhi. Nie gehört. Aber richtig schön. Okay, welche sollte er nehmen? Die Rose de Porcelaine gefiel ihm am besten, weil sie sehr auffällig war. Aber, hey, eine Rose? Das könnte sie komplett falsch verstehen.

Fasziniert beobachtete er eine alte Vahine, die hinter einem Blumenstand mit geschickten Fingern ein Collier de fleurs flocht: Die Blüten waren wunderschön, und der Duft nach Jasmin war überwältigend. Genau das Richtige! Ça fait combien? Merci, Madame!

Mit dem Blütenkranz in knisternder Folie machte er sich auf die Suche nach ihr.

Er fand sie im oberen Stockwerk, über die Balustrade gelehnt, das iPhone in der Hand. Sie schoss ein Foto, und Tim konnte sich ihr unbemerkt nähern.

»Hey.«

Sie drehte sich zu ihm um. Sie trug duftig weite Kleidung, und an ihrem Handgelenk prangte eine teure Uhr, kein Gold, keine Diamanten, nur schlichte Eleganz, die zu ihrem unkomplizierten, lässigen Auftreten passte. Die Unsicherheit von vorhin, die Befangenheit, die Scham, das alles schien verflogen. Sie lächelte: »Hey.«

Tim trat näher. Sie duftete nach Sonnencreme, Kokos und Mango. Der Fruchtsaft war ihr eben über das Kinn gelaufen.

Er stellte seine Einkaufstaschen ab. Sie beobachtete ihn mit hochgezogenen Schultern, als er den Pareo aus der Papiertüte zog, schwungvoll entfaltete und ihr über den Arm geworfen hinhielt. »Hier – bitteschön.«

Sie sah ihn an und wusste offenbar nicht, was sie sagen sollte.

»Ich möchte Ihnen den Pareo schenken. Ich weiß, dass Sie ihn sehr gern haben wollten.«

Als sie immer noch nicht reagierte, trat der Aussie hinter sie, legte ihr den Pareo um die Schultern und umarmte sie dabei für einen kurzen, atemlosen Augenblick. Dann überreichte er ihr ein zauberhaftes Collier de fleurs. Wieder begegneten sich ihre Blicke. Shainee merkte, wie ihr Gesicht ganz heiß wurde.

»Ich hatte das unwiderstehliche Bedürfnis, einer wunderschönen Frau ein Geschenk zu machen, um sie ein wenig aufzuheitern.«

Sie legte den Kopf schief und musterte ihn. »Einfach so?«

Er nickte. »Glück ist ein Funke, der leicht überspringt. Wenn die Beschenkte glücklich lächelt, freut sich der Schenkende mit ihr.« Und im selben Atemzug: »Ich bin Tim.«

»Shainee.«

»Ich würde mich freuen, wenn Sie den Pareo morgen tragen, wenn Sie auf Ihrer Veranda sitzen.«

»Das werde ich.« Sie zog das Tuch von ihren Schultern, legte es sich über den Arm und strich mit den Fingerspitzen über die Seide. »Vielen Dank.«

Er winkte lässig ab. »Nicht der Rede wert.«

Sie sahen sich in die Augen und wussten beide nicht, was sie sagen sollten.

Die Situation war surreal. Kein Mann kaufte der Frau, die er vorhin in einem Laden getroffen hatte, ein Geschenk, nur weil er sie lächeln sehen wollte. Was hatte er vor? Er trug einen Ehering.

»Sie sehen toll aus«, lächelte er charmant.

Ihr Herz klopfte wie verrückt.

Entspann dich, Shainee, du bist fünfundvierzig und nicht fünfzehn.

Sie atmete tief durch. »Danke.«

Tim zögerte. Er wirkte plötzlich befangen. »Ich geh dann mal wieder.«

Schade!

»Nochmals vielen Dank für den wundervollen Pareo. Ich werde ihn beim Abendessen im Restaurant tragen. Die Blütenkette auch.«

»Ich hab zu danken. Für das zauberhafte Lächeln.«

Sie musste lachen. »Sie sind sehr nett.«

»Und Sie sind wunderschön.« Er beugte sich vor und küsste sie zart auf die Wange. »See you.«

»Bye.«

Shainee sah ihm nach, bis er in der Menge verschwand.

Mit den Spielzeugtüten kämpfte Tim sich durch das dichte Gedränge zwischen den Verkaufsständen. An einem Tisch mit einem Haufen Melonen blieb er stehen.

Auf der bunten Wachstischdecke hatte sich ein Baby in Windeln und Shirt zusammengerollt und schlief tief und fest. Schreckliche Erinnerungen an das Erdbeben in Haiti kamen in ihm hoch, Bilder von toten Kindern zwischen zertrümmertem Beton und verbogenem Stahl. Sein Job als Arzt bei Médecins Sans Frontières war aufregend und riskant und wurde in lebensgefährlichen Situationen von starken Adrenalin-Kicks begleitet. Aber das war nie das Wichigste für ihn gewesen. Er wollte den Menschen helfen, er wollte die Not lindern und Familien nach der Katastrophe wieder zusammenführen. Verrückt, oder? Denn genau daran war seine eigene Familie zerbrochen.

Er ging weiter, blieb aber immer wieder stehen und drehte sich nach ihr um. Wo war sie? Ah! Da drüben, bei den Fruits de mer. Er wartete ab, aber sie sah nicht zu ihm herüber.

Tja, dann eben nicht. Tim wandte sich ab und schlenderte weiter.

Ob man hier irgendwo ein kühles Bier kaufen konnte?

Die Fische zappelten noch, so frisch war der Fang. Die Farben waren so üppig wie auf dem Blumenmarkt: Zwischen den silbrigen Schuppen schimmerten die Flossen in Orange, Rot und Violett. Der große Moon Fish mit den korallenroten Flossen, die wie Flügel abgespreitzt waren, beeindruckte Shainee. Daneben lagen Fische auf Eis, die in allen Farben schillerten: Türkis, Grün, Gelb, Orange und Rot. Ein paar Schritte weiter gab es Sushi Tahiti Style. Das musste sie natürlich probieren. Während sie darauf wartete, dass ihr ein Plastikschälchen mit mariniertem rohem Fisch über den Tisch gereicht wurde, schaute sie hinüber zu Tim, der mit seinem Outback-Safari-Outfit und seinem Stetson von weitem auszumachen war. Aber er sah sie nicht.

Sie horchte in sich hinein: War sie enttäuscht? Ja, ein bisschen schon.

Zart und aromatisch zerging der marinierte Thunfisch auf ihrer Zunge, und sie bestellte gleich noch eine Portion.

Mit allen Sinnen genießen: Wieso stand das eigentlich nicht auf ihrer Wunschliste? Egal, das konnte sie ja noch nachtragen.

Klick! Das Foto erschien auf dem kleinen Bildschirm. Der Marché, die Menschen, die Farben und Düfte, die heitere Stimmung – das alles war eingefangen. Eine schöne Erinnerung.

Tim suchte sie in der Menge. Da war sie. Er zoomte sie heran. Sie lächelte, wie schön! Sein Herz klopfte, als er auf den Auslöser drückte.

Klick! In diesem Augenblick schaute sie zu ihm herüber. Und ihm stockte der Atem. Sie hatte gesehen, dass er sie fotografiert hatte.

Shainee ging zu ihm hinüber. »Hallo, Fremder.«

»Hallo.« Tim grinste unverfroren und schob sein BlackBerry in die Hemdtasche. »Jetzt haben Sie mich erwischt. Aber Ihr Fünf-Megapixel-Lächeln war einfach unwiderstehlich.«

Sie konnte nicht anders, sie musste lachen. »Ich nehme das als Kompliment.«

»So war’s gemeint.«

Es war schön, gemeinsam mit ihm zu lachen. Er hatte eine herzliche und spontane Art, die sie anrührte und die ihr gut tat. Sie mochte ihn. Sogar sehr.

»Ich hab keine Lust, heute Abend allein im Restaurant unseres Hotels zu hocken, verliebten Pärchen beim Knutschen und glücklichen Familien beim Händchenhalten zuzusehen. Das würde mich in tiefste Verzweiflung stürzen«, sagte Tim. »Sind Sie hungrig? Abends kommen Les Roulottes zum Hafenkai. Das ist nicht weit von hier. Wie wär’s, hätten Sie Spaß, heute Abend mit mir auszugehen?«

Eigentlich wollte sie bald Mark anrufen, der heute Abend ein Geschäftsessen mit jemandem von Walt Disney Parks and Resorts hatte. Disneyland zeigte Interesse an Marks neuestem Filmprojekt und zog bereits jetzt, Monate vor dem Kinostart eine Erweiterung des Parks in Betracht. Was für ein Erfolg für Mark! Fast so gut wie vorletztes Jahr der Academy Award!

Na ja, was soll’s, dachte sie. Ich kann auch später noch mit ihm telefonieren, wenn er wieder zu Hause ist.

Ein netter, unterhaltsamer Abend mit Tim? Sie freute sich darüber, dass er mit ihr essen gehen wollte, doch sie spürte, dass er ebenso unter Spannung stand wie sie.

Sie legte den Kopf schief und sah ihn an. »Ja, gern.«

Er lächelte, und was noch an Unsicherheit zwischen ihnen geblieben war, verflog. »Prima. Dann los.«

Lachen mit Tränen in den Augen: Sonderausgabe mit vielen Fotos

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